Arbeitswelten der Zukunft - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...

 
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No 91 | Oktober 2018

I RS AKTUELL
Magazin für Raumbezogene Sozialforschung

Arbeitswelten der Zukunft

Kreative Routine? – Neue Perspektiven auf den Begriff Arbeit
Digitalisierung – Lokales Handeln und virtuelle Räume
Wissensökonomie und Kohäsion – Herausforderungen für Europa
Erfolgreich evaluiert – Überzeugende Weiterentwicklung des IRS
Arbeitswelten der Zukunft - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
In dieser Ausgabe

Raum- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven auf den Begriff Arbeit   5

Was wir meinen, wenn wir von „Arbeit“ sprechen                                 6

Digitalisiertes Arbeiten als Chance für ländliche Regionen                     10

Wissensökonomien, Arbeitskräftemobilität und soziale Kohäsion in Europa        15

Zukunft der Arbeit: Kreative Startup-Szene oder Sieg der Routine?              18

Multifunktionale Dienstleister in einer digitalisierten Welt:
Zur Arbeit von Stadtplaner/-innen gestern und heute                            21

   Nachrichten aus dem Institut                                                24
   Personalien                                                                 45
   Impressum                                                                   47
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Liebe Leserinnen und Leser,

                        „Arbeitswelten der Zukunft“ – das Thema des diesjährigen Wissenschaftsjahres hat uns angeregt,
                        darüber nachzudenken, welchen Beitrag wir dazu aus der IRS-Forschung leisten können. Dass wir
                        dabei fündig geworden sind, zeigen die Beiträge dieser Ausgabe von IRS aktuell.

                        Unter der Überschrift „Was wir meinen, wenn wir von ‚Arbeit‘ sprechen“ berichten wir beispielsweise
                        über unser „Brandenburger Regionalgespräch“, in dem wir Ende Juni dieses Jahres gemeinsam mit
                        rund 30 Vertreter/-innen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft darüber debattiert
                        haben, welche Implikationen der Wandel der Arbeitswelten für die Region und den Raum haben.
                        Einig waren sich die Expert/-innen darin, dass mit der Digitalisierung der Arbeitswelt einerseits
                        die wissensintensiven Anforderungen an Arbeitnehmer/-innen und andererseits die sozialen und
                        kommunikativen Anforderungen an das Individuum steigen. Ein anderes Beispiel: In einem Inter-
                        view erläutern zwei IRS-Doktoranden wie sich die Dimensionen von räumlicher Nähe und Distanz
                        unter dem Einfluss der Digitalisierung verändern und welche Folgen dies für die Organisation der
                        Zusammenarbeit in Startups wie auch von Kreativität hat, die wir nicht nur als mentalen Prozess
                        eines brillanten Individuums, sondern auch als kollaborative Leistung mehrerer Personen verstehen.
                        Weitere Themen sind die Chancen der Digitalisierung für strukturschwache ländliche Regionen, die
                        von arbeitsmarktbedingter Abwanderung betroffen sind, wie auch der Wandel der Arbeit von Stadt-
                        planer/-innen in einer digitalisierten Welt.

                        Über ein weiteres Ereignis können wir in diesem IRS aktuell berichten: über die positive Stellungnahme
                        des Senats der Leibniz-Gemeinschaft vom 11. Juli 2018, mit der das wissenschaftliche Evaluierungsver-
                        fahren des IRS erfolgreich abgeschlossen worden ist. Der Senat verweist auf die überzeugende Weiter-
                        entwicklung des Gesamtkonzepts des IRS, die deutlich verbesserte Sichtbarkeit durch die Umbenennung
                        in „Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung“ die gut profilierten und bis zu „sehr gut bis
                        exzellent“ bewerteten Forschungsabteilungen, die überzeugenden Publikationsleistungen sowie die
                        einzigartigen Bestände der Wissenschaft lichen Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der
                        DDR. Er befürwortet einen von der Bewertungsgruppe empfohlenen Sondertatbestand für die wei-
                        tere Erschließung der Sammlungsbestände über Datenbanken und Online-Angebote sowie für die
                        Entwicklung modellhafter Verfahren für kleine Archive und Sammlungen.

                        Unser Mitarbeiter Jan Zwilling, der seit Frühsommer 2012 die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des
                        IRS in verantwortlicher Position ausgestaltet und damit an der Profi lierung des IRS mitgewirkt hat,
                        hat auf eigenen Wunsch das IRS zum 15. August 2018 verlassen, um sich neuen beruflichen Heraus-
                        forderungen zuzuwenden. In seiner über sechsjährigen Tätigkeit hat Herr Zwilling immer wieder
                        unter Beweis gestellt, dass sein Engagement für Wissenschaft und Forschung weit über die eigentliche
                        Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hinausgeht. Dafür danke ich ihm sehr herzlich, auch im Namen
                        des gesamten Instituts. Ich freue mich sehr, dass wir mit Dr. Felix Müller, bisher Senior Researcher
                        in der IRS-Forschungsabteilung „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“, diese Funktion zeitnah und
                        kompetent wieder besetzen konnten.

                        Mit dieser Ausgabe von IRS aktuell möchte auch ich mich von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser,
                        verabschieden, da ich zum 01. Oktober 2018 altersbedingt aus dem IRS ausscheiden werde. Meine
                        bisherige wissenschaft liche Stellvertreterin, Prof. Dr. Gabriela Christmann, wird das Institut bis auf
                        Weiteres kommissarisch leiten.

                        Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

                        Prof. Dr. Heiderose Kilper

IRS AKTUELL No 91 | Oktober 2018                                                                                             3
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Nachruf
    Prof. Dr. Werner Rietdorf
    Von Dr. Manfred Kühn und Prof. Dr. Christoph Bernhardt

    Der ehemalige IRS-Abteilungsleiter Werner Rietdorf ist am 9. April dieses Jahres
    im Alter von 79 Jahren in seiner Heimatstadt Luckenwalde verstorben. Werner
    Rietdorf wurde im Jahr 1939 in Luckenwalde geboren, studierte von 1958 bis
    1964 Architektur an der Technischen Universität Dresden und promovierte dort
    im Jahr 1970 zum Dr.-Ing. Ab 1964 war er drei Jahre wissenschaftlicher Mit-
    arbeiter am Institut für Städtebau und Architektur (ISA) der Bauakademie der
    DDR, anschließend arbeitete er mehrere Jahre in der Bauabteilung des Kom-
    binates Kernkraftwerks-Bau Berlin.
    Zwischen 1970 und 1991 arbeitete Werner Rietdorf am Institut für Städte-
    bau und Architektur (ISA) der Bauakademie der DDR. Seine Ernennung zum
    Professor erfolgte 1978. 1982 wurde er Leiter der Abteilung Wohngebiete, ab
    Frühjahr 1991 stellvertretender Direktor des ISA. In seiner Zeit am ISA wurde
    die Entwicklung der Wohngebiete und insbesondere der Großwohnsiedlungen
    in der DDR zu seinem Lebensthema. Er veröffentlichte viele Bücher zu diesen
    Themen, u.a. gab er 1972 zusammen mit Siegfried Kress den reich illustrierten Bildband „Wohnen in Städten:
    Planung und Gestaltung der Wohngebiete“ heraus. Auf der Grundlage seiner Reisen in die UdSSR, benachbarte
    Länder und durch die DDR spezialisierte er sich auf das Thema „Neue Wohngebiete sozialistischer Länder“. Sein
    Interesse an Siedlungsstrukturen und seine Liebe zu Luftbildern spiegelte sich in der Herausgabe des Bildbandes
    „Überflug: Die DDR aus der Vogelperspektive“ im Jahr 1983 wider. In den letzten Jahren der DDR widmete er sich
    auch dem innerstädtischen Bauen und der Stadterneuerung.
    Als Mitarbeiter des ISA bis 1991 erlebte Werner Rietdorf den Niedergang der DDR, die „Wende“ 1989 und die
    deutsche Wiedervereinigung. Auf der Grundlage einer positiven Evaluation wurde er ab ersten Januar 1992 Mit-
    arbeiter des neu gegründeten IRS – damals „Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung“. Ab Juni 1992
    hatte er die Position des Abteilungsleiters „Siedlungsstrukturelle Entwicklung“ im Institut inne, die er bis zu sei-
    nem altersbedingten Ausscheiden im Jahr 2002 behielt. Im IRS engagierte sich Werner Rietdorf zunächst für die
    Weiterentwicklung der Großwohnsiedlungen. In enger Kooperation mit dem damaligen Bundesbauministerium
    führte er in der Beratung zur Städtebauförderung eine Reihe von anwendungsbezogenen Drittmittelprojekten
    durch. Er zeigte sich aber auch offen für neue Ansätze, zum Beispiel der Selbsthilfe in Wohnungsbauprojekten.
    Mit dem Aufkommen von Leerstandsproblemen in vielen Großsiedlungen und der Schrumpfungsdebatte in der
    Stadtforschung Ende der 1990er Jahre, vollzog auch Werner Rietdorf seinen persönlichen Perspektivenwechsel
    auf die „Platte“. Als Mitglied einer Bund-Länder-Kommission zum Umgang mit städtebaulichen Leerständen
    engagierte er sich für den planmäßigen Abriss von Wohnungen und bereitete damit den „Stadtumbau Ost“ als
    städtebauliches Programm vor, mit dessen wissenschaftlicher Begleitung sich das IRS zu einem Kompetenz-
    zentrum auf diesem Gebiet entwickelte.
    In der Institutsleitung genoss Werner Rietdorf mit seiner Sachkenntnis und seinem ausgleichenden Wesen hohe
    Wertschätzung. Nach seinem Ausscheiden aus dem IRS hielt er den Kontakt und berichtete den ehemaligen
    Kolleg/-innen wiederholt in stark besuchten Dia-Vorträgen über seine Fernreisen. In den Wissenschaftlichen
    Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR des IRS werden Unterlagen seines einflussreichen Wir-
    kens im Städtebau Ostdeutschlands aufbewahrt, die in letzter Zeit zunehmend das Interesse der historischen
    Forschung gewinnen. Werner Rietdorf wurde von seinen Kollegen sehr geschätzt.
    Das IRS wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

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Arbeitswelten der Zukunft - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Raum- und gesellschaftswissenschaftliche
Perspektiven auf den Begriff Arbeit
Der Wandel ist das zentrale Kennzeichen der Arbeitswelt. Kaum eine Generation hat keinen Umbruch in der Art und
Weise, wie gearbeitet wird, erlebt – von der Einführung des Fließbandes bis zur Einführung einer bezahlten Elternzeit
für Arbeitnehmer/-innen. Dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Wissenschaftsjahr 2018
unter den Titel „Arbeitswelten der Zukunft“ gestellt hat, zeugt von einer Phase beschleunigten Wandels und vielen offe-
nen Fragen zur Arbeit der Zukunft. Das Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung ist jedoch kein klassisches
Arbeitsforschungsinstitut. Warum also eine Ausgabe von IRS aktuell zum Wissenschaftsjahr? Die Antwort lesen Sie hier
und auf den folgenden Seiten.

 Arbeit ist einer der zentralen Organi-       In der Forschungsabteilung „Dyna-          Schließlich erlaubten Forschungen und
 sationsmechanismen unserer Gesell-           miken von Wirtschaftsräumen“ wird          eine Hospitation in einem Planungs-
 schaften. Die Übereinkunft, sich die         beispielsweise erforscht, wie sich         büro einer Doktorandin der Histori-
 Erledigung essenzieller Aufgaben des         Wissenszirkulationen global ver-           schen Forschungsstelle Einblicke in die
 Zusammenlebens zu teilen und darauf          ändern und dabei sowohl neue digi-         sich wandelnde Arbeitswelt der Raum-
 aufbauend immer komplexer werdende           tale Kommunikationswege (und damit         und Stadtplaner/-innen in Geschichte
 Tausch- und Entlohnungsprinzipien            Möglichkeiten für Wissensaustausch,        und Gegenwart (siehe Seite 21).
 zu entwickeln, hat vieles erst möglich       Innovationen und ökonomische Pro-
 gemacht, was heute selbstverständlich        zesse) als auch neue Orte der Arbeit wie
 ist: Die Spezialisierung bestimmter          Coworking Spaces oder Labs entstehen
 Tätigkeiten, die Abkehr vom Sub-             (siehe Seite 6). Zugleich erforschen die
 sistenzprinzip und damit die Heraus-         Wissenschaft ler/-innen dort, welche
 bildung von Städten, wo jeder sein           Auswirkungen Organisationsformen
„Brot verdient“ und nicht selbst erzeugt.     wie Seed-Acceleratoren auf die Start-
 Der Bogen lässt sich bis in die Gegen-       up-Szene haben oder wie Organisa-
 wart schlagen, in der Arbeit das zent-       tionen Kreativität gezielt fördern oder
 rale soziale Konstrukt ist, an dem die       steuern können (siehe Seite 18).
 Menschen ihren Alltag und ihr Leben
 orientieren, und das das Fundament           In der Forschungsabteilung „Kom-
 für alle wirtschaft lichen Kreisläufe ist.   munikations- und Wissensdynami-
                                              ken im Raum“ stehen hingegen peri-
Durch diesen Blickwinkel wird deut-           pherisierte ländliche Räume im Fokus:
lich, welche Bezüge die Forschungen           Gemeinsam mit Dr. Mareike Meyn
des IRS zur Arbeit haben: Die Fragen,         (Andreas Hermes Akademie) spricht
wie Zusammenarbeit von Menschen               Abteilungsleiterin Prof. Dr. Gabriela
räumlich organisiert ist, welche Poten-       Christmann in einem Interview über
ziale bestimmte Konfigurationen der           die Chancen, die die Digitalisie-
Zusammenarbeit für Innovationen und           rung den von arbeitsmarktbedingter
Kreativität in Organisationen haben           Abwanderung betroffenen struktur-
oder wie Migrationsbewegungen oder            schwachen ländlichen Regionen bie-
sozialräumliche Disparitäten direkt           ten könnte (siehe Seite 10).
mit dem Faktor Arbeit verbunden
sind, zeigen die hohe Interdependenz          In der Forschungsabteilung „Regenerie-
des Faktors Arbeit und von Aspekten           rung von Städten“ wurde kürzlich
räumlich-gesellschaft licher Transfor-        ein Projekt abgeschlossen, in wel-
mation auf.                                   chem Langzeitdaten zur Wirtschafts-
                                              struktur, zu den Arbeitsmärkten sowie
An unterschiedlichen Punkten knüpfen          der Binnenwanderung innerhalb der
die Forschungen im IRS daher an das           Europäischen Union ausgewertet wur-
Thema des Wissenschaftsjahres 2018 an.        den (siehe Seite 15).

IRS AKTUELL No 91 | Oktober 2018                                                                                              5
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Was wir meinen, wenn wir von „Arbeit“
sprechen
 Es gibt in industrialisierten Gesellschaften ein traditionelles Bild davon, was in Bezug auf „Arbeit“ als normal angesehen
wird: Ein geregeltes Einkommen, feste Arbeitszeiten, Aufstieg innerhalb eines Unternehmens, der wohlverdiente Ruhe-
stand als Fernziel jeder Karriere, eine feste Rollenverteilung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und klare räum-
 liche und zeitliche Trennungen von Arbeit und Freizeit. Dieses Relikt aus industriell geprägter Zeit ist in den Köpfen der
 Menschen so manifest, dass es auch jenseits von Fließband- oder Fabrikarbeit lange Bestand hatte und bis heute als
„normaler“ Maßstab an neue Arbeitsformen angelegt wird und auch den sozialen Sicherungssystemen zugrunde liegt.
 In der Praxis bröckelt es jedoch an vielen Stellen: Startup-Szene, global vernetzte Projektarbeit oder Arbeit als Selbst-
verwirklichung sind einige Schlagworte, die aufzeigen, dass sich die Arbeitswelt derzeit nachhaltig verändert. In der
 IRS-Forschungsabteilung „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“ sind mit neuen Orten der Arbeit wie Labs oder Cowor-
 king Spaces, neuen Organisations- und Arbeitsprozessen sowie mit Kreativität und Unsicherheit einige Aspekte dieses
Wandels Gegenstand von raumbezogener Sozialforschung.

Als das Bundesministerium für Bildung     Arbeitswelt“ deutlich pluralistischer, als   und Sicherheiten, die mit der Arbeit ver-
und Forschung das Wissenschaftsjahr       es ein Singular vermitteln könnte. Die       knüpft sind. Das Nebeneinander von
2018 unter den Titel „Arbeitswelten der   Variationen betreffen dabei nicht nur        Schichtarbeit und Projektarbeit, von
Zukunft“ stellte, war der Plural wohl-    den professionell bedingten Arbeits-         Home Office und Stempelkarte, von
gewählt. Obgleich sich der Wandel der     alltag, der sich beispielsweise bei einer    Niedriglohnsektor und Beamtenlauf-
Arbeit auf große, übergreifende Ent-      Pflegekraft im Schichtbetrieb maß-           bahn oder von Selbstverwirklichung
wicklungen von hoher Relevanz für         geblich von dem eines Lehrers unter-         und notwendigem Übel sind wesent-
nahezu alle Arbeitsbereiche bezieht –     scheidet, sondern berühren funda-            liche Kennzeichen von Arbeitswelten
die Digitalisierung vieler Prozesse von   mentale Fragen der Organisation von          im Wandel.
der Produktion bis zu Dienstleistungen,   Arbeit, von Orten und Zeiten sowie von
Beratung oder Management –, ist „die      Fragen der Erwartungen, Perspektiven

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Arbeitswelten der Zukunft - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Statt eines notwendigen                                                               abteilung, Prof. Dr. Oliver Ibert. Er
  Übels mit angemessener                                                                forscht mit seinen Mitarbeiter/-innen
                                                                                        seit mehreren Jahren zur der Frage
   Entschädigung in Form
                                                                                        veränderter Räumlichkeit durch glo-
    von Lohn oder Gehalt,                                                               balisierten Wissensaustausch. Digi-
    sehen viele Arbeitende                                                              tale Kommunikationsinfrastrukturen
                                                                                        haben ermöglicht, dass sich Praktiker-
   heute ihre Tätigkeit als
                                                                                        und Wissensgemeinschaften ohne phy-
              sinnstiftende                                                             sische räumliche Nähe herausbilden
  Selbstverwirklichung an.                                                              können, beispielsweise im Computer-
                                                                                        spielbereich. Dadurch würden konkrete
                                                                                        Orte jedoch nicht obsolet, nur in ihrer
                                                                                        Funktion und Nutzung stark verändert,
Teil des Wandels sind mehrere Prozesse,                                                 so Ibert, man denke an LAN-Events für
die in ihrem Zusammenwirken die                                                         die Computerspiel-Industrie. Im aktu-
Dominanz traditioneller Arbeitsmodelle                                                  ellen Leitprojekt seiner Abteilung spre-
in Frage stellen. Wissenschaftler/-innen                                                chen die Wissenschaftler/-innen daher
in der IRS-Forschungsabteilung „Dyna-                                                   auch von „lokalen Ankern translokaler
miken von Wirtschaftsräumen“ haben                                                      Wissensgemeinschaften“.
einige dieser Prozesse näher untersucht.
                                                                                        Was für den Wissensaustausch im All-
Zunächst konstatieren sie einen erheb-                                                  gemeinen gilt, ist natürlich von zen-
lichen Umbruch in der Organisation                                                      traler Bedeutung für Arbeitsprozesse
von Arbeit, der durch die Zunahme von       wird dabei nicht mehr nur monetäre          aller Art: Längst gehört es zum All-
Freelancer-Tätigkeit, projektartig orga-    Kompensation erwartet, sondern auch         tag, dass teils in physischer, teils in
nisierter Arbeit, mobiler und Telearbeit    symbolische Gratifikation, also das Tun     virtueller Ko-Präsenz zusammen-
sowie durch global vernetzte Kollabo-       als sinnstiftendes Erlebnis oder als Bei-   gearbeitet wird und sich dabei beide
rationen sichtbar ist. Dies hat enorme      trag zur Verbesserung des sozialen          Formen durchdringen und über-
Auswirkungen auf „Zusammenarbeit“           Zusammenlebens.                             lagern. Auch in der klassischen Pro-
im klassischen Sinne, weil damit nicht                                                  duktion steigt die Translokalität vie-
mehr die gleichzeitige Präsenz an           Diese Transformationen haben wich-          ler Prozesse, etwa wenn Messdaten von
einem Ort verbunden sein muss. Es           tige zeitlich-räumliche Komponen-           der Produktionsschiene einer Auto-
hat aber auch Implikationen für Fra-        ten, betont der Leiter der Forschungs-
gen sozialer Sicherheit, nicht nur, weil
sich eine Absicherung durch die Sozial-                                                 Das physische
systeme für Freiberufliche anders dar-                                                  Zusammentreffen an
stellt als für Angestellte oder Beamte,
                                                                                        attraktiv gestalteten
sondern auch weil ein Wechsel zwi-
schen diesen Systemen nicht vor-                                                        Orten offeriert die
gesehen ist und daher mit erheblichen                                                   Abwechslung und
Nachteilen einhergeht.
                                                                                        Reibung, die für
Der organisatorische Wandel bringt                                                      kreative oder innovative
auch Veränderungen in der Räumlich-                                                     Arbeitsprozesse oft
keit der Arbeit mit sich, durch ortsüber-
                                                                                        nötig seien.
greifende Kollaborationen und Arbeits-
beziehungen, sowie auch durch neue
Orte der Arbeit mit spezifischen loka-                                                  mobilfabrik zur Qualitätskontrolle
len Eigenschaften. Nicht zuletzt wird                                                   online übertragen werden. Die von
die Arbeit nicht mehr nur als Zweck-                                                    der Forschungsabteilung besonders
gemeinschaft zwischen Arbeitgeber und                                                   intensiv beforschten „Open Creative
Arbeitnehmer angesehen: Statt eines                                                     Labs“ zeigen auf, dass konkrete Orte
notwendigen Übels mit angemessener                                                      als lokale Anker die digitale Wissens-
Entschädigung in Form von Lohn oder                                                     zirkulation erst ermöglichen. Sie bieten
Gehalt, sehen viele Arbeitende heute                                                    konkrete soziale Einbettung und mate-
ihre Tätigkeit als sinnstiftende Selbst-                                                rielle Ausstattung zur Ausübung einer
verwirklichung an. Als Entlohnung                                                       Praxis. Ohne dies gäbe es das Wissen

IRS AKTUELL No 91 | Oktober 2018                                                                                              7
Arbeitswelten der Zukunft - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
gar nicht, zu welchem sich Akteure – vornehmlich in nutzungsgemischten                  wandels in der Hauptstadtregion
über Distanz austauschen. Zugleich Innenstadtquartieren wiederfinden.                   überlagern. Prof. Kuhn betonte in
reichern gerade Open Creative Labs Das lokale Umfeld der Arbeitsorte wird               seinem Beitrag zur Transformation
diese Praktiken auch an, indem sie durch die enge Verflechtung von Freizeit             der Lausitzer Seenlandschaft, dass es
auch anderen Tätigkeitsfeldern eine und Arbeit wieder wichtiger. Viele die-             entscheidend sei, möglichst früh und
Heimat bieten und damit Gelegen- ser übergreifenden Entwicklungen sind                  dauerhaft tragfähige lokale und regio-
heiten eröffnen, dass die anderweitig auch in Berlin und Brandenburg sichtbar.          nale Spezifi ka des Strukturwandels
getrennten Praktiken sich wechsel-
seitig wahrnehmen und inspirieren, so
Ibert. Das physische Zusammentreffen
an attraktiv gestalteten Orten offeriert
die Abwechslung und Reibung, die
für kreative oder innovative Arbeits-
prozesse oft nötig seien.

Als zweiten übergreifenden Befund
stellten die Wissenschaft ler fest, dass
sich auf der Seite der Arbeiter die ide-            Arbeitswelten im Wandel
elle, zeitliche und räumliche Trennung              Widersprüchliche Entwicklungslinien in der Region Berlin-Brandenburg
von Freizeit und Arbeit immer stärker
auflöst – die vielgestaltige Entgrenzung
von Arbeit und Karrieren. Die Fluidi-        Im Kontext des Wissenschaftsjahres hat und die damit verbundenen Chan-
tät der Grenzen bedeutet beispielsweise,     das IRS am 27. Juni 2018 ein „Branden- cen für dessen Gestaltung und Wett-
dass die Freizeit in die Arbeit übergreift   burger Regionalgespräch“ durch- bewerbsfähigkeit in den Blick zu neh-
– symbolisiert durch den Kicker, die         geführt, auf dem Vertreter/-innen aus men. Ansätze, wie die Entwicklung
Tischtennisplatte oder das Sofa im           Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schwimmender Häuser auf den neu
Arbeitsbereich vieler Startups – und         gemeinsam darüber diskutiert haben, entstehenden Seen der Braunkohlerest-
umgekehrt die Arbeit in die Freizeit         welche Implikationen der Wandel für landschaft, seien vor 15 Jahren noch als
ausstrahlt. Zum Beispiel nach „Dienst-       die Region hat. Insbesondere waren die „Spinnerei“ diskreditiert worden, heute
schluss“ die E-Mails checken, im Home        widersprüchlichen Entwicklungslinien würde sich ihr wirtschaft liches und
Office arbeiten oder das Strategiepapier     der Metropole Berlin und der branden- damit auch arbeitsmarktpolitisches
nicht im Büro zwischen neun und fünf         burgischen Peripherie Thema, die nicht Potential erst voll zeigen. Daniel Pro-
verfassen, sondern abends am heimi-          unbeträchtliche Herausforderungen für rep ergänzte, dass die Digitalisierung in
schen Schreibtisch.                          die Politik darstellen.                 Brandenburg zwar in vollem Gange sei,
                                                                                     er die These vom „Jobkiller Digitalisie-
Die Entgrenzung von Arbeit und Kar-          Gemeinsam mit rund 30 Teilneh- rung“ aber nicht bestätigen könne. Pro-
riere steht auch in einem Spannungs-         mer/-innen diskutierten Prof. Dr. Oli- rep bezog sich auf den druckfrischen
verhältnis zu bis heute einflussreichen      ver Ibert und Prof. Dr. Suntje Schmidt Bericht „Arbeit 4.0 in Brandenburg“
städtebaulichen Idealen und Vor-             unter der Moderation von Dr. Verena der WFBB. Karl Täuscher hob in sei-
stellungen der Bauleitplanung, die ihre      Brinks (alle IRS) mit Daniel Prorep von nem Statement auch die Schatten-
Wurzeln wie das traditionelle Bild der       der Wirtschaftsförderung Branden- seiten der Digitalisierung hervor, da
Arbeit in der Hochphase der Indust-          burg (WFBB), Rudolf Lange von der sich die Entlohnung der erweiterten
rialisierung haben: Motiviert durch          Agentur für Arbeit in Frankfurt (Oder), Erwerbsmöglichkeiten sozial höchst
die Emissionen der Industrie und aku-        Prof. Dr. Rolf Kuhn, Vorsitzender des ungleich verteilen und wenige Super-
ten Platzmangel in den Innenstädten,         IBA-Studierhauses Lausitzer Seen- stars einen Großteil der Belohnung für
etablierte sich eine weitgehende Tren-       land e.V. und ehemaliger Geschäfts- sich abschöpfen würden.
nung von Wohnen und Arbeiten in              führer der Internationalen Bauaus-
den Städten der Moderne, die durch           stellung (IBA) Fürst‐Pückler‐Land Einig waren sich die Experten darin,
die Charta von Athen von 1933 als            GmbH sowie Karl Täuscher von der dass mit der Digitalisierung der
dominantes stadtplanerisches Leit-           Universität Bayreuth.                   Arbeitswelt einerseits die wissens-
bild verankert war. Der gegenwärtige                                                 intensiven Anforderungen an Arbeit-
Wandel der Arbeitswelten läuft dieser        In den Diskussionen wurde deutlich, nehmer/-innen und andererseits
Orientierung nun teilweise entgegen,         dass sich die übergreifenden Aspekte die sozialen und kommunikativen
da sich die lokalen Anker der trans-         des Wandels der Arbeitswelt mit den Anforderungen an das Individuum stei-
lokalen Wissensgemeinschaften – ob es        spezifischen Herausforderungen eines gen. Zu dieser Einschätzung kam auch
nun ein Lab oder eine Webagentur ist         andauernden regionalen Struktur- Rudolf Lange, der sich auf das Monito-

8                                                                                                   IRS AKTUELL No 91 | Oktober 2018
Arbeitswelten der Zukunft - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
ring der Arbeitsagentur bezog. In der        noch vor 15 Jahren im Gegensatz zu          KONTAKT:
Agentur für Arbeit in Frankfurt (Oder)       heute keine strukturpolitische Rolle
mache er zunehmend die Erfahrung,            spielen konnten. „Insofern bedeutet
dass lebenslanges Lernen inzwischen          dann lebenslanges Lernen nicht nur
eine Grundvoraussetzung sei, um              die Anpassungsfähigkeit von Personen,
sowohl technisch-digitale Vorgänge als       sondern auch von Regionen“, sagte er in
auch interkulturelle und soziale Fähig-      seiner Abschlussbetrachtung.

                                                                                         Prof. Dr. Oliver Ibert
                                                                                         Tel. 03362 793 150
                                                                                         oliver.ibert@leibniz-irs.de

                                                                                         Oliver Ibert ist Leiter der Forschungsabtei-
                                                                                         lung „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“
                                                                                         und Professor für Wirtschaftsgeographie
                                                                                         an der Freien Universität Berlin. Zu seinen
                                                                                         Forschungsschwerpunkten gehören Inno-
                                                                                         vationsprozesse, neue Orte der Wissens-
                                                                                         ökonomie und Resilienzforschung. In seinen
                                                                                         Forschungen thematisiert er immer wieder
                                                                                         Arbeitsprozesse im Kontext der (räum-
                                                                                         lichen) Reorganisation wirtschaftlichen
                                                                                         Handelns.

keiten auf Dauer verstehen zu kön-           Wie sieht es also aus, das neue Bild der
nen. Dem schloss sich Prof. Schmidt          Arbeit? Die Forschungen der Abteilung
in ihrem Beitrag an. Umso wichtiger          und die aktuellen Diskussionen zeigen,
sei es, so Schmidt, angesichts des Wan-      dass sich viel verändert hat: Wir arbei-
dels seitens der Politik künftig mehr        ten anders, mit anderen Motiven, ande-
                                                                                         Prof. Dr. Suntje Schmidt
Räume, Gelegenheiten und Strukturen          ren Technologien und an anderen Orten.      Tel. 03362 793 172
für lebenslanges Lernen und für den          Doch nicht für alle ändert sich dies in     suntje.schmidt@leibniz-irs.de
dynamischen Wandel von Erwerbsbio-           gleicher Weise und die Veränderungen        Suntje Schmidt ist stellvertretende Leite-
grafien bereit zu halten. Als inzwischen     bieten Chance und Risiken für unter-        rin der Forschungsabteilung „Dynamiken
                                                                                         von Wirtschaftsräumen“ und Professorin
dramatisch bezeichnete Rudolf Lange          schiedliche Teile der Bevölkerung und       für Angewandte Wirtschaftsgeographie an
die Bewerbungslage in vielen Teil-           unterschiedliche Regionen. Arbeit, das      der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrer
regionen Brandenburgs. Immer öfter           ist auch 2018 nicht nur Selbsterfüllung,    Forschung untersucht sie die räumliche
                                                                                         Organisation der Kreation neues Wissens.
könnten frei werdende Stellen nicht          sondern Existenzgrundlage. Es ist           Schwerpunkte legt sie auf die Frage der
mehr besetzt werden. Junge Menschen,         unveräußerliches Rückgrat der Öko-          Partizipation in der Wissensgenerierung,
                                                                                         Unsicherheiten und Resilienzstrategien auf
so Lange, litten zunehmend unter             nomie. Auch in globalisierten Arbeits-      volatilen Arbeitsmärkten sowie die Bedeu-
hoher Orientierungslosigkeit. Eine           prozessen sind lokale Verankerungen         tung offener Kreativorte für Partizipation
                                                                                         und Resilienz.
zentrale Aufgabe sieht er darin, die         und regionale Interessen wichtig. So
frühe Berufsorientierung für Jugend-         bestätigt sich einmal mehr, dass es rich-
liche gezielter zu fördern.                  tiger nicht sein kann, als von „Arbeits-
                                             welten“ im Plural zu sprechen.
In den Statements kam schließlich
immer deutlicher zum Ausdruck, wel-
che hohe Bedeutung künftig der öffent-
liche Umgang und die Haltung gegen-
über dem Strukturwandel zukommen.                                                        Dr. Verena Brinks
                                                                                         Tel. 03362 793 281
Prof. Ibert plädierte dafür, den Struktur-                                               verena.brinks@leibniz-irs.de
wandel nicht allein nach heutigen Maß-
                                                                                         Verena Brinks arbeitet als wissenschaftli-
stäben zu bewerten, sondern als Weg                                                      che Mitarbeiterin in der Forschungsabtei-
zu verstehen, auf dem es im Zeitver-                                                     lung „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“.
lauf gelte, neue spezifische Gelegen-                                                    Neben Innovationsprozessen stehen Open
                                                                                         Creative Labs als neue Orte der Wissens-
heiten und Entwicklungen zu identi-                                                      arbeit im Fokus ihrer Forschungen. Derzeit
fizieren, die erst im Wandelungsprozess                                                  ist sie Teil eines Projektteams, das die Rolle
                                                                                         von Beratung bei der Schaffung und Nut-
erkennbar würden. Als Beispiel nannte                                                    zung von „Gelegenheiten“ in Krisenverläu-
Ibert Coworking Spaces und Labs, die                                                     fen untersucht.

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Arbeitswelten der Zukunft - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Digitalisiertes Arbeiten als Chance für
ländliche Regionen
Die Suche nach einer sicheren Arbeit mit guten Entwicklungsperspektiven ist eines der zentralen Motive für die Abwanderung
insbesondere junger und gut qualifizierter Menschen aus ländlichen Regionen. Dieser simple Mechanismus hat weit-
reichende Folgen, denn wer nicht mehr im Heimatdorf wohnt, fragt dort keine Infrastruktur nach oder bringt sich nicht
mehr in die Diskurse vor Ort ein. Ein für periphere Regionen oft unumkehrbarer Kreislauf, denn Negativdiskurse oder
schlecht genutzte und daher oft marode Infrastruktur erhöhen den Abwanderungsdruck. Mit dem Schlagwort „Digi-
talisierung“ verbinden sich Hoffnungen, diese Kreisläufe zu durchbrechen: Ein Dorf mit Breitbandanschluss könnte für
bestimmte Arbeiten nahezu dieselben Standortbedingungen bieten wie ein Lab in einer Metropole, so eine Denkrichtung.
Ob dies Wunschdenken oder realistische Chance für Landgemeinden ist und welche Facetten die Digitalisierung für länd-
liche Räume noch aufweist, beleuchten Mareike Meyn, Referentin bei der Andreas Hermes Akademie dialog ländliche
räume, und Prof. Dr. Gabriela Christmann, Leiterin der IRS-Forschungsabteilung „Kommunikations- und Wissensdyna-
miken im Raum“ in einem gemeinsamen Gespräch.

Frau Meyn, Frau Christmann, was sind     nur über ihre Defizite wahrgenommen       schwachen Regionen leiden zudem
denn typische Problemlagen struktur-     werden. Natürlich gibt es weiterhin       erheblich darunter, dass die Nahver-
schwacher ländlicher Regionen?           strukturschwache Regionen und die         sorgung unzureichend ist und es nur
                                         Notwendigkeit, etwas dagegen zu           sehr reduzierte ÖPNV-Angebote gibt.
Meyn: Da muss ich schon gleich ein-      unternehmen. In der Öffentlichkeit        Vor diesem Hintergrund sehen viele
haken: Alleine die Kennzeichnung         vermisse ich aber oft eine positive       Menschen auf dem Land keine Chan-
einer Region als „strukturschwach“ hat   und dabei nicht romantisch-verklärte      cen mehr für sich. Bis heute führt dies
eine negative Signalwirkung. Richtig     Stimme für ländliche Räume.               immer noch dazu, dass sowohl jüngere
ist: Es gibt in Deutschland ländliche                                              Menschen als auch Personen mittle-
Regionen, die schwierige Ausgangs-       Christmann: Das sehe ich auch so. Das     ren Alters abwandern und in städti-
lagen in den klassischen Bereichen       größte Problem liegt dennoch in einer     sche Gebiete ziehen. Als ein weiteres
Wirtschaft und Infrastruktur haben.      unterdurchschnittlichen wirtschaft-       großes Problem ist daher eine stark
Das betrifft vor allem Mobilität und     lichen Produktivität sowie in geringen    zunehmende Alterung der ländlichen
Daseinsvorsorge. Wichtig ist jedoch,     Ausbildungs- und Berufsperspektiven.      Gesellschaft zu nennen – mit den damit
dass ländliche Regionen nicht immer      Landbewohner/-innen in struktur-

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verbundenen Problemen der Gesund-         die nicht wegziehen möchten und              Hier möchte ich wohnen und arbei-
heits- und Pflegeversorgung.              immer mehr Menschen in den Städ-             ten! Beispiele hierfür gibt es zuhauf
                                          ten, die von einem Leben auf dem Land        wie etwa die „Allgäuer Job-Challenge“,
Abwanderung scheint ein                   träumen. Zudem sitzen viele „hidden          bei der eine Bloggerin ein halbes Jahr
Schlüsselproblem zu sein, das mit         champions“ auf dem Land, sie sind auf        in 30 Jobs eintaucht und über ihre
vielen anderen in wechselnden             der Suche nach Fachkräften und ver-          Erfahrungen und die Region bloggt.
Ursache-Wirkungs-Zusammen-                suchen, diese anzuwerben. Dass hier          Weiße Flecken auf der Landkarte sicht-
hängen verbunden ist. Welchen             dann eben nicht nur die Arbeit stim-         bar und damit erfahrbar zu machen,
Stellenwert haben denn Arbeits-           men muss, sondern auch das Umfeld,           ist eine wichtige Herangehensweise. So
markt-Perspektiven für die Ent-           lässt sich schnell ableiten: Ist ein Dorf-   zeigen die US-amerikanischen „Sili-
scheidung, eine Region zu verlassen?      laden vor Ort? Können meine Kinder           con Prairie News“ die (ländlichen)
                                          in die Schule gehen und wie sieht das        Innovationsstandorte außerhalb des
Christmann: Natürlich sind fehlende       feierabendliche Entertainment aus?,          Silicon Valleys, von denen vorher kaum
Berufsperspektiven ein zentrales          sind hier nur einige Fragen, die die         berichtet wurde. Dabei gilt: Die Infor-
Problem für die Menschen auf dem          Wohnortwahl beeinflussen.                    mationen müssen im Internet verfüg-
Land. Aus Umfragen wissen wir, dass                                                    bar sein. Ist etwas nicht im Netz, exis-
sie das Landleben durchaus schät-         Es scheint ein Henne-Ei-Problem              tiert es heutzutage für den Großteil der
zen, den einen oder anderen Nach-         zu sein: Es gibt wenig gute Arbeit           Bevölkerung nicht.
teil dort in Kauf nehmen und in ihrer     für Qualifizierte und zugleich finden
Region bleiben würden, wenn sie eine      Firmen wenig qualifiziertes Personal.         Die Arbeitswelt verändert sich
Chance hätten, sich beruflich dort zu     An welcher Stelle kann man denn              derzeit rasant und mit der Digitali-
verankern. Statistiken zeigen außer-      ansetzen, um diesen Teufelskreis zu          sierung verbindet sich die Hoffnung,
dem, dass es typischerweise junge         durchbrechen?                                dass die strukturschwachen länd-
qualifizierte oder sich qualifizierende                                                lichen Regionen die Abwärtsspiralen
Menschen sowie Menschen mittle-           Christmann: Es gibt bereits viele            durchbrechen können. Worin liegen
ren Alters sind, die den Regionen den     Lösungsansätze für dieses Problem.           denn die Potenziale der Digitalisie-
Rücken kehren. Es liegt nahe, anzu-       So kann eine enge und dauerhafte             rung für den ländlichen Raum?
nehmen, dass sie dies angesichts feh-     Kooperation zwischen Schulen und
lender Bildungs- oder Job-Angebote        Betrieben dafür sorgen, dass auf bei-        Christmann: Es gibt durchaus eine
tun. Indem sie abwandern, setzen sie      den Seiten Berührungsängste und Vor-         beachtliche technologische Durch-
in strukturschwachen Gebieten inso-       urteile abgebaut und Auszubildende           dringung der Landwirtschaft. Das
fern eine Abwärtsspirale in Gang, als     schon in der Schlussphase ihrer              Stichwort lautet „Kuhstall 4.0“, um
sich wirtschaft liche Entwicklungs-       schulischen Ausbildung gewonnen              nur ein Beispiel für Digitalisierungen
chancen dieser Gebiete wegen feh-         werden. Jeder Betrieb hat auch die           in der Landwirtschaft zu nennen, das zu
lender Fachkräfte verschlechtern. Die     Möglichkeit, seine Ausbildung inte-          Veränderungen geführt hat. Zum einen
wenigen existierenden – lokal oder        ressant zu gestalten – beispielsweise        ändert sich dadurch die Tätigkeit der
regional ansässigen – Unternehmen         durch Auslandsaufenthalte von Azu-           Bauern selbst, zum anderen können
finden kaum noch qualifizierte            bis in Partnerunternehmen. Quali-            weitere Effizienzsteigerungen in der
Arbeitskräfte. Mit der Abwanderung        fizierte Mitarbeiter/-innen lockt man        Landwirtschaft erzielt werden. Nicht
von sehr gut Ausgebildeten ist es auch    eben nicht nur durch eine bessere Ver-       zuletzt können Bauern am Wissensfluss
eine Frage, wie kleine Unternehmen        gütung, sondern auch mit Hilfe von           in globalisierten agrartechnologischen
vor Ort im weltweiten Konkurrenz-         modernen Arbeitszeitmodellen, einem          Communities partizipieren. Das Digi-
kampf mit anderen Unternehmen über-       guten Betriebsklima oder einer guten         tale eröffnet zudem neue Vertriebswege
haupt innovativ sein können. Da sich      Vereinbarkeit von Familie und Beruf.         für Produkte, die in strukturschwachen
Hochqualifizierte – neben dem Beruf                                                    Räumen hergestellt werden, zum Bei-
– oft für gesellschaft liche Belange      Meyn: Weiterbildung und Bildung sind         spiel für den exquisiten Kräuter-Ziegen-
verschiedenster Art engagieren, feh-      aus meiner Sicht essenziell. Hierfür         käse eines Hofladens, der sich vor Ort
len mit ihrem Weggang nicht zuletzt       sind nicht nur Kooperationen zwischen        ohne den überregionalen Vertrieb gar
auch zivilgesellschaft liche Impulse in   Unternehmen und Schulen wichtig,             nicht halten könnte. Abgesehen von der
der Entwicklung neuartiger Lösungs-       sondern auch Weiterbildungsmöglich-          Arbeit in der Landwirtschaft eröffnet
ansätze für ländliche Problemlagen.       keiten innerhalb und außerhalb der           die digitale Kommunikation natür-
                                          Unternehmen. Auch die Öffentlich-            lich auch die Möglichkeit des ortsun-
Meyn: Für Arbeitnehmer/-innen war         keitsarbeit ist von zentraler Bedeutung,     gebundenen Arbeitens vieler anderer
der Zugang zum Arbeitsmarkt schon         denn nur wenn sich eine Region positiv       Arbeitnehmer/-innen, die auf dem Land
immer ein wichtiger Aspekt der Wohn-      ins Licht rückt, ihre Vorzüge hervor-        wohnen. Zumindest lassen sich viele
ortwahl. Allerdings gibt es auch viele    hebt und mögliche Arbeitgeber prä-           Office-Jobs partiell sehr gut im Home
Bewohner/-innen ländlicher Räume,         sentiert, entwickelt sich der Gedanke:       Office erledigen.

IRS AKTUELL No 91 | Oktober 2018                                                                                             11
Meyn: Digitalisierung entkoppelt von         wird und die Unterschiede zwischen         Regierung, dies zu ändern. Wichtig
Raum und Zeit und führt dazu, dass           Stadt und Land aufgehoben werden.          ist, dass man sich auf der Forderung
die Karten ein Stück weit neu gemischt       Beim dritten Modell geht es um neue        nach Breitband nicht ausruht, sondern
werden können. Wenn ein Dorf mit             Fördermöglichkeiten. Hier wurde ein        bereits mit vorhandenen Ressourcen
Highspeed Internet ausgestattet ist,         „Ministerium für endogene Potenziale“      den digitalen Wandel einleitet. So
bietet dies einen enormen Standortvor-       erdacht, welches Innovationen fördert      könnte schon jetzt jede Dorfstraße
teil bis hin zu einem möglichen Vor-         statt Defizite auszugleichen.              freies Internet bereitstellen, denn
sprung gegenüber Städten. Schließlich                                                   durch die Abschaff ung der Störer-

sind auf dem Land oftmals die Ressour-       Wenn es so viele Chancen gibt,             haftung können Betreiber öffentlicher
cen zu finden, die Städter missen: fri-      warum können dann die Potenziale           W-LAN Hotspots nicht für Urheber-
sche Luft, Platz, Natur, um nur einige       nicht ausgeschöpft werden? Woran           rechtsverletzungen belangt werden.
zu nennen. Diese sind im Übrigen             hapert die Digitalisierung im länd-        Der Bewusstseinswandel, der mit der
auch nachweislich wichtig, um krea-          lichen Raum?                               Digitalisierung einhergehen muss,
tive Ideen zu entwickeln. So bekommt                                                    braucht aber Zeit. Schließlich müssen
die Geschäftsidee der Gemeinschafts-         Christmann: Dafür gibt es zahlreiche       viele Bereiche völlig neu und in Ver-
büro-Arbeitsplätze, des „Co-Wor-             Gründe, von denen der mangel-              netzung gedacht werden.
king“, auf dem Land eine völlig neue         hafte Breitbandausbau nur die
Bedeutung. Wichtig ist, dass man die         Spitze des Eisbergs darstellt. Auf der     Digitalisierung erfordert eine neue
Menschen dabei mitnimmt und sensi-           Seite der Betriebe gibt es beispiels-      Verantwortungs-, Zuständigkeits-
bilisiert für die Potenziale der Digitali-   weise Unsicherheiten im Umgang             und Raumstruktur, denn während
sierung und immer nach dem Grund-            mit IT-Technik und -Sicherheit.            hierzulande das Silo- und Zuständig-
satz agiert: Nur was gebraucht wird,         Diese Unsicherheiten werden durch          keitsdenken herrscht, ist dies in der
wird auch genutzt! So hat die And-           anspruchsvolle Rechtsetzungen wie          Logik der digitalen Welt erst einmal
reas Hermes Akademie in Zusammen-            Datenschutzrichtlinien oder Urheber-       nicht vorgesehen. Diese Freiheit klug
arbeit mit dem Fraunhofer Center for         rechte nicht gerade geringer. Auf der      zu nutzen, ist wichtig und bedarf eini-
Responsible Research and Innovation          Seite der Landbewohner fehlt zuweilen      ger Sensibilisierung. Menschen müs-
mit Menschen vom Land ihre digita-           auch schon mal die nötige Offenheit        sen über die Möglichkeiten der Digi-
len Zukunftsvisionen für übermorgen          gegenüber der Digitalisierung.             talisierung aufgeklärt werden: Was
erarbeitet. Herausgekommen sind drei                                                    kann die Blockchain-Technologie für
Modelle, die die digitalen Möglich-          Meyn: Natürlich muss die notwendige        meinen Handel tun? Wie kann ich mit
keiten ländlicher Räume mit Visions-         Infrastruktur geschaffen werden. Ohne      Hilfe von digitalen Tools den Grund-
kraft und Bodenhaftung beleuchten:           schnelles Internet ist die Gleichwertig-   schülern eines peripheren Dorfes die
Ein Modell beleuchtet die radikale           keit der Lebensverhältnisse nicht          globale, vernetzte Welt näherbringen?
Vernetzung eines Dorfes, ein weiteres        gegeben. Zurzeit sind die ländlichen       sind nur Beispielfragen – die persön-
die dynamischen Sphären einer Region,        Räume leider digitale Resträume, doch      lichen Fragen muss sich jeder selbst
bei der heute Statisches morgen mobil        es gibt das erklärte Ziel der jetzigen     stellen. Damit dies geschieht, braucht

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es qualifizierte Moderatoren, die den       sind, wird auch der digitale Arbeits-      Meyn: Im internationalen Vergleich
Prozess anstoßen und dabei die Bedarfe      markt kein alleiniges urbanes Phäno-       hinkt Deutschland bei der flächen-
der Menschen vor Ort nie aus dem            men sein.                                  deckenden Versorgung mit Breitband
Blick verlieren.                                                                       hinterher. Zoomt man in einzelne
                                            Christmann: Aus meiner Sicht kann ich      Regionen Deutschlands, sieht man:
Dennoch scheint die digitale                zwei wesentliche Gründe für die Stadt-     Die Breitbandverfügbarkeit variiert je
Dynamik im Arbeitsmarkt eher ein            zentrierung betonen. Auf der einen         nach Bundesland und nach Gemeinde-
urbanes Phänomen zu sein. Woran             Seite ist der Teil des Arbeitsmarktes,     prägung. Je städtischer der Raum, desto
liegt das?                                  der sich derzeit im rasanten Wandel        größer die Breitbandverfügbarkeit. Die
                                            durch die Digitalisierung befindet, im     ländliche 50 Mbit/s Versorgung liegt
Meyn: Dezentralität ist ein Charak-         Wesentlichen von wissensintensiven         laut dem aktuellen Breitbandatlas mit
teristikum der digitalen Welt. Digi-        Tätigkeiten geprägt – und das für die      43 Prozent mit einer Differenz von
tale Echtzeitkommunikation ist aus          Wissensökonomie nötige diversifizierte     mehr als 50 Prozentpunkten hinter
allen Ecken der Welt möglich. Digi-         und reichhaltige Bildungssystem kön-       den Städten. Im EU-Vergleich liegt dies
tale, dynamische Arbeitsmärkte              nen nur die großen Städte bieten. Von      unterhalb des durchschnittlichen Wer-
machen auch vor dem Land nicht              der anderen Seite betrachtet, pfle-        tes. Letztes Jahr war ich in den USA
halt, so gibt es z.B. bereits jetzt digi-   gen digital vernetzte Wissensarbeiter      und habe dort geschaut, inwieweit die
tale Arbeitsnomaden, die gerade             typischerweise einen urbanen Lebens-       Möglichkeiten der Digitalisierung auf
die ländliche Idylle in Brandenburg         stil. Ihre Inspiration beziehen sie aus    dem Land genutzt werden. Auch dort
bevorzugen. Allerdings sind hierfür         kultureller Vielfalt und internationaler   sieht die Infrastruktur für den Inter-
einige Voraussetzungen notwendig.           Diversität. Auch dies ist etwas, was das   netzugang nicht gut aus – die „digital
So benötigt es nach dem amerika-            Land nicht bieten kann.                    divide“ klafft weit zwischen den digita-
nischen Wirtschaftswissenschaft ler                                                    len, städtischen Blasen und den oftmals
Richard Florida Talent, Technologie                                                    abgehängten ländlichen Räumen. Und
und Toleranz, damit sich eine krea-                                                    Kürzungen im föderalen Budget für die
tive Wirtschaft formieren kann. Wo die                                                 Entwicklung ländlicher Räume, wel-
drei T zusammenkommen, kumulieren                                                      ches auch den Breitbandausbau beein-
sich Humankapital, Infrastruktur und                                                   flusst oder die Abschaff ung der Netz-
Lebensqualität und der Region geht es                                                  neutralität, sind Entscheidungen, die
gut. Talente, die Know-how und intel-                                                  die digitale Entwicklung ländlicher
lektuelle Fähigkeiten mitbringen, sind                                                 Räume in den USA einschränken.
essenziell für die Entwicklung einer
Region. Diese Talente können sich                                                      Digitalisierung bedeutet allerdings
aber mittlerweile aussuchen, wohin sie                                                 viel mehr als nur eine gute Breitband-
gehen; der „war for talents“ ist ein glo-                                              infrastruktur. Sicher, sie ist hierfür
baler – nicht nur Arbeitnehmer/-innen                                                  eine Voraussetzung. Aber um eine
konkurrieren weltweit, sondern auch                                                    wirkliche Nutzbarmachung zu ermög-
Unternehmen müssen attraktiv sein,                                                     lichen, bedarf es einer Strategie, wie
dies auch öffentlich bewerben und ggf.                                                 Roberto Gallardo vom Extension Ser-
sogar dort ansiedeln, wo ihre poten-                                                   vice in Mississippi mir erklärte. Der
ziellen Mitarbeiter/-innen wohnen.                                                     Extension Service ist im ländlichen
Dabei ist die Infrastruktur, die Techno-    Trotz vielversprechender Ansätze           Raum der USA verankert und dort
logie ausschlaggebend. Gibt es nur          scheint die Digitalisierung ländlicher     wichtiger Ansprechpartner für land-
unzureichende Internetgeschwindig-          Räume in Deutschland noch nicht            wirtschaft liche Fragestellungen und
keit, ist auch eine Nachbarschaft in        wirklich in Gang zu kommen, man            Dorfentwicklung. Hier ist auch das
Berlin unattraktiv – für Talente wie        könnte von digitalen Wüsten                „Intelligent Community Institute“
für Unternehmen gleichermaßen. Ein          sprechen. Wie sieht es in anderen          angegliedert, mit dem Ziel, Dörfer in
wichtiger Punkt in Floridas Theorie der     Ländern aus?                               Mississippi auf ihren Weg in das digi-
drei T ist die Toleranz. Damit meint                                                   tale Zeitalter zu begleiten. Dabei ist ein
er Toleranz für andere Lebensstile,         Christmann: Von Wüsten würde ich           wichtiger Schritt, die Menschen vor Ort
Offenheit für Minderheiten, Migran-         nicht sprechen. Freilich könnte die        für die Potenziale der digitalen Welt zu
ten, Künstler etc. Jedes Dorf ist somit     Digitalisierung aber in ländlichen         sensibilisieren und eine Kultur des Aus-
gefragt: Gibt es bei uns ein toleran-       Gebieten schon weiter sein. Land-          tauschs zu etablieren. Die intelligenten
tes Klima, in dem Zugezogene und            bewohner/-innen fordern das auch           Gemeinschaften im ärmsten Bundes-
wir uns wohl fühlen? Wenn die drei          zunehmend ein. Doch Frau Meyn kann         staat der USA zeigen: Die eigentliche
T, die miteinander einhergehen, auch        dazu sicher mehr sagen.                    Hürde für ein digitales Empowerment
in den ländlichen Räumen zu finden                                                     ist nicht nur die fehlende Infrastruktur,

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sondern steht und fällt mit der Moti-      probieren können, sei es am 3-D-Dru-        KONTAKT:
vation und Vorstellungskraft der Men-      cker, Lasercutter oder beim Program-
schen vor Ort. Diese Herangehensweise      mieren. Gerade auf dem Land braucht
könnte auch ein Vorbild für Dörfer in      es analoge Orte für den Austausch, dass
Deutschland sein.                          diese dann auch digital angereichert
                                           sind und alle Möglichkeiten neuester
Digitales ist ja nicht nur Selbstzweck,    Technologien anbieten, finde ich sehr
sondern macht auch viele Anschluss-        wichtig.
aktivitäten möglich. Am IRS steht
künftig auch das Zusammenwirken            Welche politischen Handlungs-
                                                                                       Prof. Dr. Gabriela Christmann
digital-technischer und sozialer           empfehlungen lassen sich aus diesen         Tel. 03362 793 270
Innovationen auf dem Land im               Erkenntnissen und Erfahrungen               gabriela.christmann@leibniz-irs.de
Fokus der Forschung. Welche Bei-           ableiten? Wie kann die Digitalisie-
spiele gibt es denn dafür? Welche          rung ländlicher Räume in Deutsch-           Gabriela Christmann ist Leiterin der
Rolle spielt die Digitalisierung für       land unterstützt und gefördert wer-         Forschungsabteilung „Kommunikati-
                                                                                       ons- und Wissensdynamiken im Raum“
die Innovationsfähigkeit struktur-         den?
                                                                                       und außerplanmäßige Professorin für
schwacher Regionen?                                                                    Raum-, Wissens- und Kommunikations-
                                           Meyn: Digitalisierung führt dazu, dass      soziologie an der Technischen Universi-
Christmann: Keine Frage: Digitale          eine Dezentralisierung möglich ist.         tät Berlin. Zu ihren Forschungsschwer-
Geschäftsmodelle können auch auf           Warum müssen Universitäten, staatliche      punkten zählen unter anderem soziale
dem Land entwickelt werden. Und            Institutionen, Organisationen, aber auch    Innovationen in der Stadt- und Regio-
                                                                                       nalentwicklung, auch und insbesondere
mit Hilfe der Digitalisierung können       Unternehmen in den großen Städten sit-
                                                                                       im Kontext von strukturschwachen
bestimmte Herausforderungen auf            zen? Wenn u.a. in Bezug auf die digitale    ländlichen Regionen.
dem Land bewältigt werden. Aller-          Infrastruktur die Gleichwertigkeit der
dings würde ich die Digitalisierung        Lebensverhältnisse gegeben ist, wage ich
nicht als zwingende Notwendigkeit          die These, dass es eine Renaissance der
für die Innovationsfähigkeit struktur-     ländlichen Räume gibt und der Trend
schwacher Regionen betrachten. Die         zur sozialräumlichen Polarisierung auf-
Innovationsfähigkeit ist entscheidend      gebrochen werden kann.
abhängig von Schlüsselfiguren, Netz-
werken, Ideenreichtum, Wissen und          Christmann: Die Digitalisierung des
Kompetenzen sowie dem Mut, neue            ländlichen Raumes ist kein Selbst-
Wege zu beschreiten.                       läufer. Der Staat ist gefordert, in         Mareike Meyn
                                                                                       Tel. 030 58 63 20 673
                                           eine zukunftsfähige Infrastruktur
                                                                                       m.meyn@andreas-hermes-akademie.de
Meyn: Ja, Schlüsselfiguren und Netz-       zu investieren. Er muss die Förder-
werke sind wichtige Stichworte. Auf        impulse setzen, damit Unternehmen           Mareike Meyn gehört zum Team der
dem Land hängt es oft an ihnen, etwas      die Chancen der Digitalisierung nut-        Andreas Hermes Akademie (AHA). Sie ist
in Gang zu schieben und eine Region        zen und die Risiken der Digitalisierung     Geschäftsführerin der Plattform Länd-
attraktiv zu machen. So gibt es z.B. die   minimieren. Das tut er beispielsweise       liche Räume und Referentin im AHA
                                                                                       dialog ländliche räume.
der Andreas Hermes Akademie, um            mit dem Programm „go-digital“. Es ist
eben jene engagierte, querdenkende         aber auch die Aufgabe des Staates, in
Menschen hervorzuheben und die             eine leistungsfähige, digitalisierte Ver-
Power einer Region zu betonen. Mit         waltung zu investieren und die nöti-
Hilfe digitaler Möglichkeiten ist die      gen Regelungen für digitale Services
Vernetzung der Schlüsselfiguren viel       wie eine telemedizinische Versorgung
einfacher geworden und auch Netz-          zu treffen.
werke können sich weiter stärken und
miteinander arbeiten. Digitalisierung
fördert Kollaboration, eine Arbeits-
weise, die oft zu Innovationen führt.
Ideen entstehen aber nicht nur über
Impulse von außen, sondern auch vom
Mut und der Möglichkeit, etwas aus-
probieren zu können. So bin ich ein
großer Fan der Labs, die es mittlerweile
auch auf dem Land gibt und in denen
Menschen ihre Ideen einfach aus-

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Wissensökonomien, Arbeitskräfte-
mobilität und soziale Kohäsion in Europa
Zwischen Beschäftigung, Mobilität und Migration besteht bekanntermaßen ein enger Zusammenhang. Die Aussicht auf
eine dem Ausbildungsniveau angemessene Beschäftigung ist ein wichtiger Anreiz zur Migration. Andererseits folgen
nicht nur die Menschen den Jobs. Auch Firmen setzen auf ein lokales Arbeitskräftereservoir, wenn sie Standortent-
scheidungen treffen – und zwar ganz besonders im Bereich der hochqualifizierten Beschäftigung. Welch große Dynamik
sich aus diesem Zusammenhang entwickeln kann, haben viele Regionen Ostdeutschlands nach der Wiedervereinigung
erlebt: Auf ökonomische Umbrüche folgten Arbeitsplatzverluste und Abwanderungen mit erheblichen Folgen für die
sozialräumlichen Disparitäten. Die jüngst abgeschlossene, im Rahmen des Europäische Forschungsnetzwerk für Raum-
entwicklung und territorialen Zusammenhalt (ESPON) erstellte Studie „The Geography of New Employment Dynamics
in Europe“ widmet sich den Chancen und Risiken, die sich aus der Entwicklungsdynamik der Wissensökonomie und den
damit verbundenen Migrationsbewegungen für die soziale Kohäsion in Europa ergeben. Die Studie konzentriert sich auf
die letzten 15 Jahre. Mit Hilfe qualitativer Teilstudien (Szenarien, regionale Fallstudien und Policy-Analysen) identifiziert
sie Handlungsperspektiven für die europäischen Regionen.

Die Studie wurde von der IRS-             (zu Berlin und Mecklenburg-Vor-            großen und kleinen Bundesländern,
Forschungsabteilung „Regenerierung        pommern). Das umfangreiche Karten-         inklusive Stadtstaaten, sowie Teilein-
von Städten“ gemeinsam mit dem Isti-      werk wurde in der Kartenwerkstatt der      heiten großer Flächenländer. Die Aus-
tuto per la Ricerca Sociale in Mailand    Technischen Universität Berlin erstellt.   wertung der verfügbaren quantitativen
und dem Institute for Employment                                                     Indikatoren – etwa Bevölkerungsanteil
Studies in Brighton von Mai 2016          Das Fundament der Studie bildet eine       mit Hochschulausbildung, Größe des
bis November 2017 erarbeitet. Die         quantitative Erfassung der Dynamik         Forschungs- und Entwicklungssektors
Forschungsabteilung brachte hier ihre     der Wissensökonomie in der EU ins-         sowie Ausstattung mit Forschungs-
konzeptionelle Expertise zu Fragen von    gesamt und auf Ebene der NUTS-2            einrichtungen und Hochtechnologie-
Migration, Mobilität und sozialräum-      Regionen (Nomenclature des unités          firmen – machte deutlich, dass die
licher Entwicklung ein. Sie erarbeitete   territoriales statistiques). In Deutsch-   Bedeutung der Wissensökonomie in
zwei von sechs regionalen Fallstudien     land entspricht diese Ebene mittel-        der vergangenen Dekade überall in

IRS AKTUELL No 91 | Oktober 2018                                                                                         15
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