MAGAZIN - Mehrsprachigkeit und Übergänge im Bildungssystem
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DEZEMBER 2020 MAGAZIN Mehrsprachigkeit und Übergänge im Bildungssystem gkeit und Integration Köln KONZEPTE • NACHRICHTEN Zeitschrift des Zentrums für Mehrsprachi PROJEKTE • VERANSTALTUNGEN
Impressum Herausgeber: Redaktion: Editorial-Design, Satz & Layout: Peter Liffers, agentur für unternehmenskommunikation ZMI Rosella Benati www.liffers-webdesign.de Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration Elcin Ekinci c/o Petr Frantik Bildnachweis: Stadt Köln, Amt für Integration und Vielfalt Titelfoto: Pixabay/ZMI, S. 6, 8: G. Groten-Wolters, Kommunales Integrationszentrum Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt S. 15: M.Triulzi, S. 21 A. Streinesberger Marmolejo, S.22, 23: A. Küppers, S. 25-27 F. Casale, S. 29 H. Terhart/ Kleine Sandkaul 5 bei den Autorinnen und Autoren der jeweiligen Beiträge. LehrkräftePlus Köln, S. 30 Pressestelle der Bezirksregierung 50667 Köln Auflage 2.000 Köln, S. 46 M. Odabaşı, alle übrigen Archiv des ZMI. www.zmi-koeln.de Köln, Dezember 2020 zmi-Magazin | 2020
Inhalt DEZEMBER 2020 MAGAZIN 4 Leitwort Von Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Maria Dorn und Susanne Kremer-Buttkereit 6 Fragen an Robert Voigtsberger Beigeordneter für Bildung, Jugend und Sport der Stadt Köln. Das Gespräch führte Elcin Ekinci Wissenschaft und Forschung 9 Die vier Jahreszeiten in drei Sprachen – mehrsprachige Schulen in den italienischen Alpen von Prof. Dr. Ildikò Erika Stephanie Risse 11 Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler im Übergang – und danach? von Prof. Dr. Nicole Marx 13 Von der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse – Übergänge gestalten von Jun.-Prof.’in Dr. Nora von Dewitz & Dr. Stefanie Bredthauer 15 Brücken bauen zum Bildungserfolg von Schüler*innen mit begrenzter oder unterbrochener Bildungskarriere von Marco Triulzi & Andrea DeCapua 17 „Als Lehrer hat man ja schon die Macke, dass man erstmal sieht, was nicht richtig ist.“ Herausforderungen mehrsprachigkeits- und kompetenzenorientierter Sprachdiagnostik von Dr. Ina-Maria Maahs 19 Sprache und Mehrsprachigkeit im Geographieunterricht von Dr. Veit Maier 21 „Say their names“ – learn their languages • Sprachenlernen in der postmigrantischen Gesellschaft am Beispiel einer Mehrsprachigkeits-Werkstatt an einer Schule in Frankfurt am Main von Dr. Almut Küppers und Aylin Alşahin Praxis und Projekte: Aktuelles aus dem ZMI 25 Zweite Auflage des Gedichtwettbewerbs GEDICHTE DICHTEN von Francesca Casale 28 LehrkräftePLUS Köln – ein Programm zur beruflichen Weiterqualifizierung für neu zugewanderte Lehrkräfte von Ariane Elshof, Semra Krieg, Arman Lee, Dr. Henrike Terhart 30 LehrkräftePLUS Köln & ILf Köln – Internationale Lehrkräfte fördern von Carmen Cardaci & Detlef Sarrazin Stadt und Land: Ideen und Projekte aus der Region 32 Jeder Mensch ist eine Welt – jede Sprache ein Schatz Von Andreas Fischer & Elizaveta Khan (Integrationshaus e.V.) 36 Das Sprachförderprogramm des Bundes und die Kölner Dienststelle des BAMF – Ein Kurzüberblick von Jens Buttler 38 Digitalisierung in HSU-Klassen: Corona-Notstand oder eine nachhaltige Lösung? von Dr. Nicola Brocca Das ZMI-Magazin ist die Zeitschrift des Neue Publikationen im ZMI / Zuletzt erschienen Zentrums für Mehrsprachigkeit und Integration Köln: 40 Aktuelle Neuerscheinungen, vorgestellt vom ZMI Veranstaltungen 44 HSU – Herkunftssprachen in der Schule • Sprachfest am 28. Januar 2020 45 Fortbildungstag Deutsch standpunkt: interkulturell 46 Bildungspolitische Ziele von Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani zmi-Magazin | 2020
4 Leitwort Leitwort rotzek, Maria Dorn und von Prof. Dr. Michael Becker-M Susanne Kremer-Buttkereit Das Jahr 2020 war geprägt von weltweiten Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie und stellte alle Bereiche der Gesellschaft vor Herausforderungen. Auch das Bildungssystem musste sich auf bisher unbekannte Herausforderungen einstellen und neue Formen des Lehrens und Lernens entwickeln. Dank der über Jahre gewachsenen Vernetzung des ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration mit vielen Bildungsinstitutionen und -akteur*innen in Köln gelang es gemeinsam, das Ziel der Verankerung der Mehrsprachigkeit in Bildungsprozesse weiter voranzubringen. Hierfür möchten wir uns bei allen Kooperationspartner*innen des ZMI herzlich bedanken. Als Schwerpunktthema standen im Jahr 2020 die Übergänge im Bildungssystem im Mittelpunkt der Ar- beit des ZMI, die hier in Verknüpfung mit Mehrsprachigkeit und dem Einbezug der Herkunftssprachen in Bildungsprozesse gestaltet wurden. Außerdem gab es eine personelle Veränderung. Auf Seiten der Be- zirksregierung Köln verließ Herr Höhne die Steuerungsgruppe. Seine Aufgaben übernimmt fortan Maria Dorn. Aufgrund der Corona-Pandemie musste das ZMI seine Aktivitäten Schwerpunktthema des ZMI für das Jahr 2020 waren Übergänge im und Kommunikation auf die neuen Gegebenheiten umstellen. Work- Bildungssystem - und zwar in einem weiten Sinn. Neben den planmä- shops und Veranstaltungen des ZMI, wie zum Beispiel der Fortbil- ßigen Bildungsübergängen von der Kita über die Primar- und die Se- dungstag Deutsch 2020 (siehe Bericht S. 45), mussten kurzfristig als kundarstufen I und II zur Berufsausbildung bzw. zum Studium, wer- digitale Formate umgesetzt werden. Es ist der Flexibilität der zahl- den auch alle weiteren Übergänge und Seiteneinstiege, wie z.B. der reichen Teilnehmenden, Dozierenden und Kooperationspartner*innen Wechsel von der Vorbereitungsklasse in das Regelschulsystem, be- zu verdanken, dass die Umstellung nahezu reibungslos funktionierte. rücksichtigt. Hierbei begreift das ZMI die Mehrsprachigkeit der hete- Die digitale Neugestaltung vieler Bildungsangebote in der Kölner Bil- rogenen Kölner Schülerschaft als wichtige Ressource bei der Gestal- dungslandschaft birgt die große Chance, neue Medien verstärkt bei tung von Übergängen. Auf diese Weise soll Schüler*innen ermöglicht der Entwicklung von mehrsprachigen Bildungsangeboten einzubin- werden, ihre gesamtsprachlichen Kompetenzen für vielfältige Lern- den – auch wenn sie ursprünglich der Vermeidung von Kontakten prozesse zu nutzen und auch ihre Kenntnisse in Herkunftssprachen diente. und Fremdsprachen auf bildungssprachlichem Niveau zu vertiefen. So hat das ZMI in Kooperation mit dem Schulamt für die Stadt Köln Auch der Arbeitsschwerpunkt des ZMI aus dem Jahr 2019, die her- mit der Implementation der mehrsprachigen digitalen Lernplattform kunftssprachliche Bildung, wird kontinuierlich weitergeführt. Die so WeltABC an ausgewählten Schulen begonnen. So kann die Krise auch aufgebauten Strukturen werden systematisch mit anderen themati- eine Chance sein, die Möglichkeiten als auch die Grenzen der Digita- schen Schwerpunkten fortgeführt und weiterentwickelt. Ein Beispiel lisierung für die Förderung der Mehrsprachigkeit zu evaluieren und ist GEDICHTE DICHTEN, das in dem Beitrag von Francesca Casale nä- Konzepte für ein funktionierendes Ineinandergreifen von analogen her beschrieben wird und das sich nun in verschiedenen Kölner Stadt- und digitalen Lernformen zu finden. teilen etabliert hat. Durch seine Aktivitäten, Publikationen und Kon- zmi-Magazin | 2020
Leitwort 5 Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Maria Dorn Susanne Kremer-Buttkereit Mercator-Institut Bezirksregierung Köln Kommunales Integrationszentrum Universität zu Köln der Stadt Köln zepte zur Einbindung der Herkunftssprachen bauenden Programmen LehrkräftePLUS Köln Beiträge von zwei Teilnehmerinnen der Podi- in den Regelunterricht leistet das ZMI auch der Universität zu Köln und ILF – Internatio- umsdiskussion zum Thema „Herkunftsspra- einen wichtigen Beitrag, auf den das in NRW nale Lehrkräfte fördern der Bezirksregierung chen in der Schule“ auf dem letzten ZMI- gestartete Landesprogramm „Mit dem HSU Köln beschreiben, wie der Übergang von im Sprachfest, Ildikò Erika Stephanie Risse so- auf dem Weg zur mehrsprachigen Grund- Ausland ausgebildeten und neu zugewan- wie Almut Küppers gemeinsam mit Aylin schule“ des Ministeriums für Schule und Bil- derten Lehrkräften in das deutsche Schulsys- Alşahin, gewähren einen Blick über NRW dung zurückgreifen und aufbauen kann. tem durch Weiterbildung systematisch und hinaus und geben Beispiele zur Einbindung Diesem Leitwort folgt ein Interview mit Ro- kooperativ begleitet wird. Das Verständnis von Mehrsprachigkeit in Tirol sowie in einer bert Voigtsberger, seit April 2019 Dezer- von Sprachenvielfalt in Interkulturellen Zen- Werkstattschule in Hessen. Ergänzt werden nent für Bildung, Jugend und Sport der Stadt tren wird im Beitrag von Andreas Fischer & die Artikel wie immer mit Berichten zu Tätig- Köln, in dem er seine Ziele und persönlichen Elizaveta Khan skizziert und hier unter ande- keiten des ZMI und Hinweisen zu neuen Ver- Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit darstellt rem auf die Sprachförderung durch Interkul- öffentlichungen etc. und das ZMI als wichtigen Partner für Fra- turelle Zentren bei dem Übergang von der gen der Mehrsprachigkeit und Integration Schule in den Beruf bezogen. Wir wünschen Ihnen viel Freude und Anre- herausstellt. Der Zusammenhang von Über- Die Einbindung der Herkunftssprachen bzw. gungen beim Lesen des Magazins.! gängen und Mehrsprachigkeit wird in dieser Mehrsprachigkeit im Bildungsprozess wird Aufgabe des ZMI Magazins in vielen Beiträ- unter verschiedenen Blickwinkeln beleuch- gen thematisiert. So beleuchten die drei Bei- tet, so zum Beispiel von Ina-Maria Maahs träge von Nicole Marx, Nora von Dewitz & mit einem Schwerpunkt auf Sprachdiagnos- Stefanie Bredthauer sowie von Marco Triulzi tik, von Veit Maier in Bezug auf den Geogra- & Andrea DeCapua aus verschiedenen Per- phieunterricht oder von Nicola Brocca mit ei- spektiven zentrale Herausforderungen bei nem Fokus auf Digitalisierung. Zudem stellt dem Übergang von der Vorbereitungsklas- Jens Buttler, Leiter Regionalstelle Köln des se in das Regelschulsystem und geben somit Bundesamtes für Migration und Flüchtlin- wichtige Impulse für Praxis und Forschung. ge, die Bedeutung der Mehrsprachigkeit in Die beiden Beiträge zu den aufeinander auf- der Arbeit mit neu Zugewanderten dar. Die zmi-Magazin | 2020
6 Wer gehört wo dazu? Fragen an © Gerhard Groten-Wolters Robert Voigtsberger und Sport der Stadt Köln Beigeordneter für Bildung, Jugend Das Gespräch führte Elcin Ekinci. Sie waren zuvor Beigeordneter der Stadt Stol- Mich hat vor allem die Vielfalt der Kölner Bildungslandschaft be- berg und Dezernent für Jugend, Kultur, Schule, eindruckt. Für alle Altersstufen und Lebenssituationen entlang Soziales, Sport und Tourismus. Wie sind Sie zu der Bildungskette finden sich Bildungs- und Beratungsangebote. Ihrer neuen Aufgabe als Bildungsdezernent ge- Damit meine ich nicht nur die klassischen Bildungseinrichtun- kommen und was hat Sie an der Aufgabe gereizt? gen wie Kitas, Schulen, Hochschulen, Ausbildungsbetriebe und andere, sondern zum Beispiel auch die Stadtteilbibliotheken, Ich habe mich bereits als Dezernent in Stolberg sehr für die stra- die Museen und andere kulturelle Einrichtungen. Das hat sich tegische Neuausrichtung der Stolberger Schul- und Sportland- seither natürlich kontinuierlich weiterentwickelt und wir müssen schaft engagiert. Ein weiterer Schwerpunkt war die Initiierung immer stärker darauf achten, dass die Angebote bedarfsgerecht und Umsetzung des „Integrierten städtebaulichen und sozialen im Stadtgebiet vorhanden und somit für alle Bürgerinnen und Handlungskonzeptes“. Köln ist natürlich von einer ganz anderen Bürger auch leicht zugänglich sind. Dimension geprägt als meine damalige Wirkungsstätte. Aber auch kleinere Kommunen haben mit ähnlichen Problemen zu Was verbinden Sie mit dem Begriff Integration? kämpfen, die auch Köln zu bewältigen hat, z. B. mit einem Man- gel an Schulplätzen. In Stolberg konnte ich erfolgreich zu einem Mit Integration verbinde ich kulturelle Vielfalt und Gemeinschaft. Ausbau der Gesamtschulplätze und damit der Weiterentwicklung Dafür braucht es wechselseitigen Respekt und Vertrauen, Zu- der Bildungslandschaft beitragen. sammengehörigkeitsgefühl und gemeinsame Verantwortung. Dass uns die Integration von Zugewanderten gut gelingt, ist für Sie sind seit rund eineinhalb Jahren im Amt, was unser Zusammenleben in der Stadt grundlegend wichtig und finden Sie besonders in Köln? Was macht die Köl- setzt Chancengleichheit und tatsächliche Teilhabe in allen Berei- nerinnen und Kölner aus? chen voraus. Gute Bildung ist meines Erachtens mit der wichtigs- te Schlüssel zur Integration. Ich lerne Köln jeden Tag ein bisschen mehr und neu kennen. Spannend finde ich, dass die mitunter sehr unterschiedlichen Hat sich in der Zeit, in der Sie im Bereich der Bil- Bezirke und Stadtteile, obwohl sie oft dicht beisammen liegen, dung arbeiten, die Wahrnehmung von Integrati- alle jeweils einen eigenen Charme und eine Individualität aus- on und Mehrsprachigkeit geändert? strahlen. Die Kölnerinnen und Kölner lieben ihre Stadt. Das ist ein Lebensgefühl, dass es in dieser Ausprägung so vermutlich Das möchte ich bestätigen. Die Integration von Einwanderinnen nicht oft gibt. und Einwanderern wird heute viel mehr als Chance und Berei- cherung gesehen - und zwar nicht nur als Ausweg aus dem Vor Jahren waren Sie bereits als Student in Köln Fachkräftemangel. Mehrsprachigkeit wird auch deutlich selbst- und sind jetzt Bildungsdezernent. Wie haben Sie verständlicher als Ressource und Potenzial gesehen. Projekte und die Kölner Bildungslandschaft kennengelernt? Maßnahmen für Integration und die Förderung der Mehrspra- zmi-Magazin | 2020
Fragen an Robert Voigtsberger 7 chigkeit werden dementsprechend immer weiter ausgebaut. Na- und Kommunikation“ gehen wir explizit auf die Bedeutung der türlich dürfen wir auch weiterhin mit unseren Maßnahmen nicht Mehrsprachigkeit ein. Lassen Sie mich einen Satz zitieren, der die nachlassen. Erstsprache der Kinder in den Blick nimmt: „Sie ist die Sprache des Herzens und ein wichtiger Teil der Identität.“ Entscheidend Sehen Sie Sprache als Ressource zur Integration? hierfür ist die Haltung unserer Pädagoginnen und Pädagogen, in der sich eine natürliche Mehrsprachigkeit entwickeln kann. In den sogenannten Gastarbeiterzeiten in den 60er Jahren Dazu gehört das Ermutigen der Kinder, in ihren Erstsprachen zu wurde die Sprache komplett vernachlässigt. Inzwischen ist die sprechen. Das stellt das Qualitätshandbuch klar heraus. Unse- Interkulturalität und die Sprachvielfalt dank dem gesamtgesell- re mehrsprachigen Pädagoginnen und Pädagogen nutzen ihre schaftlichen Diskurs mehr in den Vordergrund gerückt. Sprache Sprachkenntnisse bei Bedarf im Alltag. wird als Mittel zur Integration gesehen, wobei hier natürlich oft das Erlernen der deutschen Sprache gemeint ist. Für mich ist es In Köln ist in den letzten Jahren auch ganz konkret viel zur För- aber ebenso wichtig, dass man die Komponenten Deutsch als derung der Mehrsprachigkeit von Kindern auf den Weg gebracht Zweitsprache, Mehrsprachigkeit, Förderung der Erstsprache und worden: Interkulturalität gemeinsam betrachtet. Die Globalisierung der Lebensverhältnisse trägt maßgeblich zur Sprachenvielfalt bei. 158 Kölner Kindertageseinrichtungen – davon 98 städtische - So ist es heutzutage fast normal, dass man noch zwei oder drei nehmen teil am Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache weitere Sprachen neben der Familiensprache spricht. Demzufol- der Schlüssel zur Welt ist“. Die Sprach-Kitas werden fachlich ge sind die individuelle Förderung mehrsprachiger Kompetenzen unterstützt durch ein halbe Fachkraftstelle und begleitet durch sowie die Schaffung günstiger Voraussetzungen für Mehrspra- Sprachfachberatungen. Mehrsprachigkeit ist in den dazugehö- chigkeit - also dem Aufwachsen und Leben mit mehr als einer renden Qualifizierungen ein großes Themenfeld. Auch die mitt- Sprache - insbesondere in den Institutionen des Bildungswesens lerweile 233 als PlusKITAs geförderten Einrichtungen fördern die wichtige bildungspolitische Aufgaben, denen auch ich mich in Kinder unter Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit. Es handelt meiner Rolle gern stelle. sich dabei um Kitas mit einem hohen Anteil von Kindern mit be- sonderem Unterstützungsbedarf. Wie können Kitas und Schulen mehrsprachigen Kindern gerecht werden? Welche Maßnahmen Zusätzlich arbeiten mittlerweile etwa rund 70 Kitas mit bilingu- schlagen Sie vor, um den Bereich Integration, alem Konzept in Köln, die meisten Deutsch-Englisch. Die Stadt Mehrsprachigkeit, Schule und Kita zu stärken? Köln tritt dafür ein, dass die in den Kindertageseinrichtungen vorkommenden Herkunftssprachen der Kinder in den bilingua- Basis für uns ist zunächst, Kinder in ihrer Mehrsprachigkeit wert- len Konzepten Berücksichtigung finden. Ich freue mich, dass die zuschätzen. Jedem Kind, egal mit welchen Sprachkenntnissen, Stadt Köln seit 2017 den Ausbau von bilingualen Kindertages- vermitteln wir, dass wir die Talente fördern, die es mitbringt. einrichtungen auch finanziell unterstützt. Es stehen hier jährlich In Kölner Schulen finden wir Kinder und Jugendliche aus 120 Fördermittel in Höhe von 264.000 Euro zur Verfügung. Die För- verschiedenen Nationalitäten. Sprachförderung kommt nicht derung können die Kitas für Sprach- und Personal-Coaching so- nur mehrsprachigen Kindern zu Gute, sondern ist auch ein Ge- wie bilinguales Arbeitsmaterial verwenden. winn für die noch einsprachigen Schülerinnen und Schüler. Wir haben in Köln den Verbund Kölner europäischer Grundschulen, Laut der Studie MehrKita1 trauen sich viele Erzie- dem bereits 16 Grundschulen angehören. Selbstverständlich un- herinnen und Erzieher nicht die Herkunftsspra- terstützen wir diesen Verbund weiterhin und stärken ihn, damit chen in den Kitaalltag einzubeziehen, weil Ihnen auch andere Grundschulen die Mehrsprachigkeit in ihren Schulen die (z.B. didaktische) Kompetenzen fehlen. Wie systematisch ausbauen und ins Schulleben integrieren können. könnte man diese Fachkräfte fördern? Mehrsprachigkeit ist darüber hinaus fester Bestandteil des Sprach- Es gilt das vorhandene Potenzial – und zwar sowohl das Poten- konzeptes aller städtischen Kindertageseinrichtungen und findet zial an Sprachkenntnissen als auch das Potenzial an Sprachler- sich im Qualitätshandbuch wieder, das letztes Jahr veröffentlicht nerfahrungen – zu nutzen und auszubauen. Gleichzeitig muss wurde. Das Handbuch bildet die pädagogische Grundlage für Mehrsprachigkeit in der kindlichen Entwicklung stärker mit ande- alle städtischen Kindertageseinrichtungen. Im Kapitel „Sprache ren wichtigen Kontextbedingungen vernetzt betrachtet werden. 1 Die Studie MehrKita wurde von der Universität zu Köln im Auftrag der Stadt Köln und mit Unterstützung des ZMI durchgeführt. Für mehr Informationen siehe den Beitrag im ZMI-Magazin 2015: https://zmi-koeln.de/publikationen/ZMI_2015.pdf zmi-Magazin | 2020
8 Fragen an Robert Voigtsberger Sowohl Einrichtungen der Kindertagesbe- Fachaustausches für unsere Erzieherinnen entscheiden können, nur so können sie treuung als auch Schulen sehen sich vor und Erzieher zum Thema Mehrsprachig- ihre eigene Zukunft mitbestimmen. Gera- die Aufgabe gestellt, Synergien zwischen keit unterstützen. de in Bezug auf die Einbindung der Her- der Förderung der Herkunftssprachen und Für wertvoll erachte ich auch unseren kunfts- und Familiensprachen erfordert der Sprachförderung in Deutsch für Kinder Austausch im Arbeitskreis Bilinguale Kitas dies noch vielerorts ein Umdenken, das mit Einwanderungsgeschichte, sowie dem des Integrationsrates. aber essentiell für nachhaltige und inno- Fremdsprachenunterricht für alle Schüle- Dieser Arbeitskreis ist für alle Kindertages- vative Bildungslandschaften ist. rinnen und Schüler zu identifizieren und einrichtungen, Trägervertreter*innen und zu nutzen. Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeiter*innen der Jugendverwaltung Welche Sprache würden Sie ger- Eltern, aber auch die Berücksichtigung eine gute Form der Vernetzung und kolle- ne noch lernen? Und warum? non-formaler Gelegenheiten für das Spra- gialen Beratung. chenlernen stellen dabei wichtige Aspekte Im Jahr 2018 nahmen zum Beispiel durch Ich spreche fließend Englisch, ein wenig dar. diese Kooperation die Teilnehmer*innen Französisch und habe das kleine Latinum. des Arbeitskreises auch an einem Fachtag Mein Großvater stammte ursprünglich von Das ZMI kooperiert bereits eng „Mehrsprachigkeit“ der städtischen Kin- der Krimhalbinsel und sprach fließend Tür- mit Schulen in Köln. Wie kann dertageseinrichtung teil. Für 2020 war kisch. Das hätte ich gern von ihm gelernt. das ZMI auch die städtischen Ki- ein erneuter Fachtag „Mehrsprachigkeit“ tas noch stärker unterstützen? für Fachkräfte aus Kölner Kitas in Zusam- Vielen Dank für das Gespräch. Wo sehen Sie hier Kooperati- menarbeit mit dem ZMI und dem Verein onsmöglichkeiten für die nähe- „Zebra e.V.“ bereits geplant. Dieser wird re Zukunft? sicherlich nachgeholt, sobald es wieder möglich ist. Das ZMI ist Partner für den Elementarbe- reich, die Jugendhilfe, die schulische Bil- dung, die Weiterbildung und die Integration Was sind Ihrer Meinung nach die insgesamt, die als Querschnittsaufgabe größten Herausforderungen, um info aller Institutionen und Fachrichtungen mehr Teilhabe junger Menschen begriffen wird. Weiterhin ist es durch an Bildungsprozessen zu ermög- außerschulische Lernorte wie Museen und lichen und wie können wir ihnen Bildungseinrichtungen, wie beispielsweise begegnen? Kontakt die Stadtbibliothek, eingebunden. Unsere Erzieherinnen und Erzieher benötigen Bildungsgerechtigkeit und Chancengleich- Robert Voigtsberger praktische Modelle, um den Regelbetrieb heit, Teilhabe der Betroffenen an der Dezernat IV - Bildung, Jugend und Sport Stadthaus Deutz - Westgebäude nicht zu stören und auf die individuellen Gestaltung des Bildungssystems sowie Willy-Brandt-Platz 2 Bedarfe der Kinder einzugehen. inklusive und partizipative Rahmenbedin- 50679 Köln gungen und Handlungsweisen spielen hier Postfach 10 35 64 Ich würde mich freuen, wenn uns das ZMI eine sehr große Rolle. Junge Menschen 50475 Köln Telefon: 0221 / 221-36666 und auch die Universität in der weiteren und auch neu eingewanderte Kinder und E-Mail: Schuldezernat@stadt-koeln.de Ausrichtung der Fortbildungen und des Jugendliche müssen mitsprechen und mit- zmi-Magazin | 2020
mehrwert: 9 Aus Wissenschaft und Forschung Die vier Jahreszeiten in drei Sprachen – mehrsprachige S chulen in den italienischen Alpen von Prof. Dr. Ildikò Erika Stephanie Risse Deutsch ist rot, Italienisch ist gelb und Ladinisch ist grün – so einfach ist das in der Welt der drei Sprachen Ladiniens. Schon ab der ersten Klasse der Grundschule lernen die Kinder hier, gleichzeitig in drei Sprachen zu lesen und zu schreiben. Ganz selbstverständlich greift also der achtjährige Janpaul zum roten Buntstift und schreibt „die 4 Jahreszeiten“, darunter in Gelb „le 4 stagioni“ und schließlich in grüner Farbe „les 4 sajuns“. Ladinisch ist die Sprache, die hauptsächlich in der Familie gesprochen wird, in seinem Heimatort Wengen. Die knapp 4000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Gemeinde – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Skiort in der Schweiz – gehört zum Gadertal, das mit dem benachbarten Gröden zu den Regionen gehört, wo die ladinische Sprache fest verankert ist und gepflegt wird. Es handelt sich hier um bildungspolitische Sonderfälle – zumindest in Europa –, denn hier werden Kinder von der ersten Klasse an parallel in drei Sprachen alphabetisiert. Das Gadertal und Gröden gehören politisch-administrativ zur Au- ihnen selbst getragen wird. Im zweiten Falle (wie unserem ladini- tonomen Provinz Bozen, besser bekannt als „Südtirol“, jener einst schen Beispiel) handelt es sich um Schulen, die autochthone Sprach- konfliktreichen Region an der Grenze zu Österreich, aber bereits auf minderheiten oder zumindest solche, die eine längere Migrationsge- italienischem Staatsgebiet gelegen. Während an den übrigen Schu- schichte aufweisen, einbeziehen. len Südtirols die großen Nationalsprachen Italienisch und Deutsch als ausschließliche Unterrichtssprachen dominieren, wird in den la- Das „paritätische Schulmodell“ dinischen Tälern Südtirols der Unterricht in Ladinisch, Deutsch und Italienisch ab der ersten Klasse bis zum Abitur „paritätisch“ angebo- Als Ladinisch, auch Dolomitenladinisch genannt, wird eine Reihe ro- ten. Obgleich die Bezeichnung eine andere ist, wird in Ladinien seit manischer Dialekte bezeichnet, die in mehreren Alpentälern Ober- Jahrzehnten der Ansatz verfolgt, den man in Deutschland mit „För- italiens gesprochen werden. Trotz der sprachlichen Verwandtschaft derung von Herkunftssprachen“ bezeichnet. Insbesondere das Ladi- zum Italienischen können tatsächlich alle der über 20.000 Ladinerin- nische als eine echte Minderheitensprache ist auf diese Weise seit nen und Ladiner in Südtirol gleichermaßen auch sehr gut Deutsch. vielen Jahren fest im Bildungssystem verankert und behauptet sich Grund dafür sind die dreisprachigen Schulen, aber auch die Lebens- seit Jahrzehnten gegenüber den „großen“ Nationalsprachen Italie- welt, in der die Kinder aufwachsen. So sind die malerisch gelege- nisch und Deutsch. nen ladinischen Dörfer am Fuße der Dolomiten gleichzeitig Touris- Dreisprachige Schulmodelle wie das hier beschriebene ladinische mushochburgen, die jährlich Tausende insbesondere italienisch- und sind weltweit auf dem Vormarsch oder werden stärker wahrgenom- deutschsprachiger Touristen anziehen. Daher ist das tägliche „Swit- men als früher. Man kann dabei grob zwei Typen dreisprachiger chen“, also Hin- und Herwechseln, zwischen mehreren Sprachen für Schulen ausmachen: Beim ersten handelt es sich um den Typ priva- diese Alpenbewohnerinnen und -bewohner der Normalfall. te „Eliteschule“, die sich an exklusive Elterngruppen richtet oder von zmi-Magazin | 2020
10 Aus Wissenschaft und Forschung In den Grund- und Mittelschulen der Ladine- Die Fragestellungen lauteten: und Ladiner zeitlich teilweise deutlich ver- rinnen und Ladiner findet der gesamte Un- schoben. Zum Schulende hin gleichen sich terricht je zur Hälfte in deutscher und ita- u Kann sich Ladinisch in diesem paritäti- diese Unterschiede aber aus. lienischer Sprache statt, nur einige wenige schen Schulsystem behaupten oder neh- Positiv auffallend ist durchgehend das hohe Stunden sind der ladinischen Sprache vorbe- men die Schreibkompetenzen im Verlauf Maß an Sprachbewusstheit, so fragen ladi- halten. Das mag auf den ersten Blick über- der Schulzeit ab? nische Schülerinnen und Schüler eher nach, raschen, denn gerade das Ladinische als u Sind am Ende der Schulzeit die Schreib- sind zu Korrekturen beim Schreiben und „Herkunftssprache“ könnte hier doch ei- kompetenzen in Deutsch und Italienisch Sprechen bereit und verfallen nicht in ein nen höheren Anteil im Unterricht einneh- gleich, so wie es das paritätische Schulsys- Verhalten, das man als „Vermeidungsstra- men. Die jahrzehntelange Erfahrung und tem anstrebt? tegie“ bezeichnen kann. Die Dreisprachigen Praxis zeigt aber, dass diese wenigen Stun- u Wie sehen diese Kompetenzen im Vergleich probieren aus, sie schreiben und formulieren den ausreichen, um diese Sprache lebendig zu denjenigen aus, die im Rest der Provinz nach Herzenslust, da sie von klein auf ge- als Muttersprache zu erhalten. Zudem nut- Bozen im deutsch- und italienischsprachi- wohnt sind, dass man in einer Sprache nicht zen die Lehrkräfte sehr bewusst das Ladini- gen Schulsystem erreicht werden? „perfekt“ sein kann und dies auch nicht sche auch als sogenannte Brückensprache: sein muss. Andererseits nehmen sie auch Vor allem für die ganz Kleinen ist es wichtig, Die erste Fragestellung trifft das Herz jeder bereitwilliger Korrekturen zur Kenntnis und dass sie selbstverständlich jederzeit, auch im Sprachminderheit, die gewillt ist, die tra- orientieren sich ihrerseits stärker an gram- Unterricht, ihre Herkunftssprache benutzen dierte, als eigen empfundene Sprache zu matischer Korrektheit als deutschsprachige dürfen. Und ebenso selbstverständlich ist es erhalten. Eine dauerhafte Beobachtung der Schülerinnen und Schüler der Kontrollgrup- auch, dass die Lehrpersonen selbst dreispra- Sprachkompetenzen, vor allem wenn es sich pen. Und für den Erhalt der Herkunftsspra- chig sein müssen. Bis zum Ende der Schulzeit vorwiegend um mündlich tradierte Sprachen che die beste Nachricht: Die Kompetenz in sinkt der Anteil an Ladinischstunden, viele handelt, ist für eine Sprachminderheit von der Familiensprache Ladinisch ist beim Ab- Schülerinnen und Schüler wechseln dann höchster Bedeutung, hier und anderswo. itur auf demselben Niveau wie in den an- auch in die jeweils einsprachigen deutschen Und genau diese Fragstellung ist auch re- deren beiden Sprachen, Deutsch und Italie- oder italienischen Schulen des Landes, ihre levant für die einsprachig auf das Deutsche nisch. Die paritätische Schule der Ladinerin- Dreisprachigkeit haben sie aber auch dann ausgerichteten Schulmodelle in Deutsch- nen und Ladiner in Südtirol: ein mehrspra- noch immer im Gepäck. land, bei denen die Förderung von Her- chiges Erfolgsmodell für Europa. Dennoch sahen und sehen sich die Ladi- kunftssprachen vor vergleichbaren Heraus- nerinnen und Ladiner immer wieder dem forderungen steht. Vorurteil ausgesetzt, sie könnten zwar drei Sprachen, aber keine von denen so richtig Positive Ergebnisse der dreisprachigen gut. Dieses Argument wird gerne von ihren Schulen info deutsch- und italienischsprachigen Nachba- rinnen und Nachbarn Südtirols immer wie- Die Ergebnisse und die laufenden Beobach- der dann auf den Tisch gelegt, wenn es gilt, tungen vor Ort sind eindeutig: Die Sprach- die einsprachig ausgerichteten Schulen zu kompetenzen der ladinischen Schülerin- verteidigen. Daher war und ist es dem la- nen und Schüler sind in allen drei Sprachen Kontakt dinischen Schulamt wichtig, dieses beson- gleichermaßen hoch, auch im Vergleich zu Prof. Dr. Stephanie Risse Fakultät für Bildungswissenschaften dere Schulsystem wissenschaftlich untersu- Kindern und Jugendlichen der einsprachig Freie Universität Bozen chen und begleiten zu lassen. So hat man deutsch- und italienisch ausgerichteten Regensburger Allee 16 zwischen 2008 und 2013 die dreisprachigen Schulen. Diese wurden als Kontrollgruppen I-39042 Brixen-Bressanone Tel.: +39 0472 014 115 Schreibkompetenzen der Schülerinnen und bei der Studie herangezogen. Es gibt aller- Fax: +39 0472 014 009 Schüler in allen Schulstufen auf einer brei- dings Unterschiede: So verläuft der Spra- Mail: stephanie.risse@unibz.it ten, statistisch validen Basis untersucht. cherwerb der dreisprachigen Ladinerinnen zmi-Magazin | 2020
Aus Wissenschaft und Forschung 11 Neu zugewanderte Schülerin nen und Schüler im Übergang – u nd danach? von Prof. Dr. Nicole Marx Allein im letzten Schuljahr besuchten in der Region Köln um die 2.000 neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler rund 145 Vorbereitungsklassen in der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Diese Lernenden haben für einige Monate, manche bis zu einem Jahr, an vorbereitendem Deutschunterricht teilgenommen, bevor sie voll in die Regelklassen integriert wurden. Sie gehören jetzt – in diesem Schuljahr – zu den „Regelschülerinnen und Regelschülern“ des Kölner Schulsystems. Wie geht es mit ihnen nun nach dem Übergang weiter? Welche schulischen Erfolge haben sie zu verzeichnen und was müssen wir als Beteiligte der Bildungsinstitutionen wissen, um sie weiter zu fördern? In Deutschland ist die Antwort auf diese Fragen gewissermaßen ei- Schülerinnen und Schüler investiert haben und inzwischen wichti- ne „black box“. Wir wissen fast nichts über die sprachliche und fach- ge Informationen zu deren Schullaufbahnen und, besonders zent- liche Weiterentwicklung von neu zugewanderten Schülerinnen und ral, zur Effektivität unterschiedlicher Beschulungsmaßnahmen vor- Schülern. Das ist aus unterschiedlichen Gründen problematisch: weisen können. (1) Erstens werden Empfehlungen für den Übergang dieser Lernen- Der Mangel an Informationen liegt nicht im Desinteresse der wis- den in den Regelunterricht ausgesprochen, ohne konkrete Informa- senschaftlich Tätigen oder der Bildungspolitik begründet. Vielmehr tionen darüber zu haben, ob die sprachlichen Fähigkeiten für eine trägt eine Kombination unterschiedlicher Faktoren dazu bei. Hier- gleichberechtigte Teilhabe am Unterricht und somit an Bildung aus- zu gehört, dass die Gruppe der neu zugewanderten Schülerinnen reichen. Oder anders formuliert: Reicht ein Jahr im Vorbereitungsun- und Schüler im Schulsystem oft wenig sichtbar ist, obwohl sie 2019 terricht aus, damit eine Schülerin, die im Alter von 13 Jahren zuge- in NRW bereits ca. 11% der gesamten Schülerinnen- bzw. Schü- wandert ist, bald den Leistungsdurchschnitt ihrer Mitschülerinnen lerpopulation ausmachte. Zudem bündeln auch andere systemische und Mitschüler erreicht und eine gute Perspektive auf einen erfolg- und soziale Veränderungen (wie z. B. Digitalisierung) die Aufmerk- reichen Schulabschluss hat? samkeit auf unterschiedlichen Ebenen stark. Ein Grund liegt auch (2) Zweitens ist der sprachliche Erwartungshorizont unklar. Lehren- darin, dass der wissenschaftliche Zugang zu dieser Gruppe durch- de im Regelunterricht aller Fächer können dementsprechend nicht aus eine Herausforderung darstellt. So ist eine längerfristige Beglei- einschätzen, ob sich Lernende erwartungsgemäß über- oder unter- tung dieser Schülerinnen und Schüler auf Grund überdurchschnitt- durchschnittlich weiterentwickeln und ob weitere Fördermaßnah- lich häufiger Schulwechsel schwierig. Hinzu kommt die extrem hohe men empfehlenswert sind. Diversität der Zielgruppe in Bezug auf wichtige Faktoren, die den (3) Und schließlich ist nicht geklärt, ob sich bestimmte Beschulungs- schulischen Erfolg dieser Bildungsteilnehmenden sehr stark beein- maßnahmen wie z. B. vorgeschaltete Vorbereitungsklassen oder der flussen können, wie beispielsweise Alter, bisherige schulische Bil- vollintegrative Unterricht als effektiver erweisen als andere. dungserfahrung, Familiensprachen, familiale Bildungsbiographien Trotz der jahrelangen Erfahrungen mit neu zugewanderten Schüle- oder Fluchterfahrung. rinnen und Schülern – die erste größere bemerkbare Gruppe kam Wenn wir neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler erfolgreich immerhin vor ca. 50 Jahren ins Land – tappen wir im Bildungssys- in das deutsche Schulsystem aufnehmen und ihnen gute Chancen tem diesbezüglich leider immer noch im Dunkeln. Das steht im Kon- auf eine schulische und nachschulische Bildung gewährleisten wol- trast zum Forschungsstand in vielen anderen Ländern, die schon len, benötigen wir mehr Informationen. Bislang fokussieren Studien früh in die Erforschung der Bildungsverläufe neu zugewanderter allerdings eher die Beschreibung von Beschulungsmaßnahmen (vgl. zmi-Magazin | 2020
12 Aus Wissenschaft und Forschung Massumi/Dewitz 2015) oder gehen auf sehr nehmen wir an, denn auch nicht zugewan- Erwartungshorizonte der sprachlichen und spezifische sprachliche Teilkompetenzen ein, derte Schülerinnen und Schüler verbessern fachlichen Entwicklung der zugewanderten die nicht zwingend in direktem Zusammen- sich vom Anfang der 7. bis zum Ende der 8. Bildungsteilnehmenden abstecken. Anderer- hang mit sprachlichen und schulischen Leis- Klasse. Sondern wir haben gefragt, ob sich seits werden Bildungsstudien mit Fokus auf tungen stehen. in den ersten zwei Jahren im Regelunterricht Wirkungsforschung benötigt, die Hinwei- Um diese „black box“ etwas zu beleuch- die offene „Schere“ zwischen den neu zu- se darauf geben, welche Beschulungsmo- ten, hat unser Projektteam in den Schul- gewanderten und den nicht zugewanderten delle mit welchen Inhalten in welchem Um- jahren 2016/2017 und 2017/2018 eine Stu- Schülerinnen und Schülern zu schließen be- fang und welcher zeitlichen Länge bei wel- die an 15 Schulen in Bremen und Hamburg ginnt – also ob die Leistungsunterschiede chen Lernenden die besten Erfolgschancen durchgeführt (Marx/Gill/Brosowski 2021). sich verringern. versprechen. Bis dahin bleibt die Frage, ob Dabei wurden 653 Sekundarstufenschüler- Trotz der recht geringen Anzahl getesteter und wie die sprachliche Bildung neu zuge- innen und ‑schüler, darunter 135 neu zu- Schülerinnen und Schüler waren die Unter- wanderter Schülerinnen und Schüler bei und gewanderte, zwei Jahre lang in ihrer Le- schiede zwischen den neu zugewanderten nach dem Übergang in den Regelunterricht seentwicklung beobachtet. Zu Beginn der und den nicht zugewanderten bei allen Er- gelingen kann, weitgehend unbeantwortet Studie waren sie entweder in der 6. oder hebungen sehr groß. Die neu zugewander- – und deren Förderung und Unterstützung der 7. Klasse, am Ende standen sie kurz vor ten Schülerinnen und Schüler lagen nicht im deutschen Schulsystem damit unzurei- dem Abschluss der 7. oder der 8. Klasse. Die nur in Bezug auf die basale Lesekompetenz chend. neu zugewanderten Schülerinnen und Schü- und das Leseverstehen mit mindestens einer ler hatten zu Beginn der Studie bereits ei- Standardabweichung deutlich hinter den an- Literaturverzeichnis Marx, Nicole; Gill, Christian; Brosowski, Tim (2021): „Are nen Vorbereitungsunterricht absolviert, der deren Regelschülerinnen und Regelschülern; migrant students closing the gap? Reading progression unterschiedlich lange (von einigen Monaten sie begannen auch im Laufe der ersten drei in the first years of mainstream education“. In: Studies in bis zu einem Jahr) andauerte. Sie waren zum Jahre im deutschen Schulsystem – ein Jahr Second Language Acquisition (SSLA). Massumi, Mona; Dewitz, Nora von (2015): Neu zugewan- Teil gerade in den Regelunterricht gewech- im Vorbereitungsunterricht und zwei Jah- derte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. selt, andere besuchten diesen schon länger. re im Regelunterricht – kaum, diesen Leis- Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Universität zu Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch In jeder Klasse, in der sich neu zugewan- tungsrückstand aufzuholen. Sie verbesser- als Zweitsprache und Zentrum für LehrerInnenbildung der derte Schülerinnen und Schüler befanden, ten sich zwar, aber das taten auch die nicht Universität zu Köln. wurde der gesamte Klassenverband getes- zugewanderten Schülerinnen und Schüler. tet, wodurch eine direkte Vergleichsgrup- Dieses Ergebnis ist bedenklich. Offenbar pe gegeben war. Zu dieser Vergleichsgrup- unterstützt das derzeitige Schulsystem die pe der „nicht Zugewanderten“ zählten so- neu zugewanderten Bildungsteilnehmenden wohl Schülerinnen und Schüler mit als auch nicht in dem Maße, das nötig wäre, damit info solche ohne Migrationshintergrund. Damit diese Lernenden den erwarteten Leistungs- wurde einer echten, sprachlich und kultu- stand erreichen. In vielen Fällen werden sie rell heterogenen Klassenzusammensetzung das Schulsystem verlassen, ohne je die Ge- Rechnung getragen. legenheit gehabt zu haben, gleichwertige Im Fokus der Studie standen sowohl basa- Bildung und Bildungsabschlüsse erhalten zu Kontakt le Lesekompetenzen als auch das Lesever- können. Prof. Dr. Nicole Marx Mercator-Institut stehen in narrativen Texten (Märchen) und Bei dem beschriebenen Forschungspro- Philosophische Fakultät, IDSL-II in Sachtexten aus dem Biologieunterricht. jekt handelt es sich lediglich um eine ein- Universität zu Köln Wichtig dabei: Wir haben nicht gefragt, ob zelne Studie in diesem Feld. Es werden Albertus-Magnus-Platz 1 50923 Köln die neu zugewanderten Schülerinnen und dringend mehr und größer angelegte Stu- Telefon: 0221-470 76354 Schüler insgesamt im Laufe der zwei Jah- dien benötigt. Solche Studien müssen ei- Email: n.marx@uni-koeln.de re in diesen Bereichen besser wurden – das nerseits durch Grundlagenforschung die zmi-Magazin | 2020
Aus Wissenschaft und Forschung 13 Von der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse – Übergänge ge stalten Jun.-Prof.’in Dr. Nora von Dewitz & Dr. Stefanie Bredthauer Besuchen Schüler*innen, die neu nach Deutschland gekommen sind, anfangs eine sogenannte Vorbereitungsklasse, steht nach einiger Zeit der Übergang in die Regelklasse, also den „normalen“ Fachunterricht, bevor. Dieser wird von allen Beteiligten häufig als Herausforderung wahrgenommen und wurde daher im Rahmen der BiSS-Initiative im Projekt VeRbinden - Übergänge von Vorbereitungs- in Regelklassen untersucht: In leitfadengestützten Interviews wurden hierzu insgesamt 14 Lehrkräfte als Expert*innen mit langjähriger Erfahrung im Unterrichten von Vorbereitungsklassen befragt. Die Lehrpersonen aus sieben Bundesländern (Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) unterrichten in unterschiedlichen Schulformen der Sekundarstufe I. Ziel war es zu rekonstruieren, welche Herausforderungen bestehen und was einen gelungenen Übergang ausmacht, sowie systematisch aufzuarbeiten, welche Maßnahmen dazu beitragen (vgl. von Dewitz & Bredthauer 2020). Was macht einen gelungenen Übergang aus? sein müssen, sondern im Sinne einer durchgängigen Sprachbildung Um einen Übergang in die Regelklasse als gelungen zu bezeichnen, auch die Lehrer*innen in den aufnehmenden Regelklassen. Hinzu müssen für die befragten Lehrkräfte mehrere Ebenen betrachtet kommt die Unterstützung durch Mitschüler*innen, Eltern, weiter- werden. Zum einen geht es um den Erfolg der neu zugewanderten führende Förderung im Deutschen, die Schulsozialarbeit sowie ggf. Schüler*innen in der Regelklasse. Die meisten Lehrkräfte bemessen weitere Angebote. Ein Aspekt fällt jedoch in den Interviews beson- diesen an den Noten, dem angestrebten Schulabschluss und den da- ders auf: Die Lehrkräfte heben die Relevanz der sozialen Einbindung mit verbundenen beruflichen Zukunftsperspektiven sowie der Fähig- der neu zugewanderten Schüler*innen hervor: Es sei wichtig, dass keit, selbständig zu lernen. Von einigen wird jedoch die persönliche „sie nicht Außenseiter sind, sondern vollwertiges Mitglied der Klas- Entwicklung in den Mittelpunkt gerückt: sen.“ (6.2.) Dazu gehören soziale Kontakte und Freundschaften „Wenn der Schüler den Weg nimmt, den er im besten Fall gehen ebenso wie ein allgemeines Wohlbefinden, um Ängste abzubauen kann. [...] das ist jetzt nicht der Abschluss oder irgendetwas, das und gut lernen zu können. kann man überhaupt nicht sagen. Sondern, wenn sozusagen die Po- tenziale des Schülers, die eigentlich da sind, auch wirklich ausge- Mit welchen Maßnahmen kann der Übergang unterstützt schöpft werden können.“ (1.1.) werden? Zum anderen ist aus Sicht der Lehrkräfte ein gelungener Übergang Die konkreten Maßnahmen zur Begleitung des Übergangs lassen immer begleitet und wird unterstützt. Diese Unterstützung erfolgt in sich nach unterschiedlichen Kriterien kategorisieren, z. B. nach ihrer erster Linie durch die Lehrkräfte der aufnehmenden Klasse, für die Zielsetzung. Für den vorliegenden Beitrag haben wir eine chrono- ein neu hinzugekommenes Kind „wirklich ein Mitglied der Klasse ge- logische Anordnung versucht, um eine schnelle Orientierung zu er- worden ist, für das man, um das man sich Gedanken macht [...]aber möglichen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Maßnahmen, wir // wissen, wir müssen immer mal wieder noch ein Auge drauf die den gesamten Übergang begleiten und kontinuierlich umgesetzt haben und ihn oder sie begleiten.“ (7.1.) Betont wird, dass also nicht werden müssen. Dazu zählen beispielsweise alle Maßnahmen der nur die DaZ-Lehrpersonen aus den Vorbereitungsklassen qualifiziert Zusammenarbeit mit den Eltern oder der Schulentwicklung. zmi-Magazin | 2020
14 Aus Wissenschaft und Forschung Maßnahmen vor dem Klassenwechsel Informationen, z. B. zum Arbeits- und Sozi- DaZ-Lehrkräften selbst vorangetrieben wer- Die meisten Lehrkräfte berichten, dass sie alverhalten und der Lebenssituation. den. Welche konkreten Maßnahmen eta- ein teilintegratives Modell umsetzten, in dem Mit den Schüler*innen selbst und ihren El- bliert und in welcher Form sie umgesetzt die Schüler*innen schon vor dem Klassen- tern werden überwiegend persönliche Ge- werden, hängt allerdings oft von den Res- wechsel anteilig – und meist zunehmend – spräche geführt, wobei die Lehrkräfte sourcen und Bedingungen vor Ort ab, so am Unterricht einer Regelklasse teilnehmen. meist versuchen, den Kontakt zu den El- dass jede Schule ihren eigenen Weg finden Die Lehrkräfte halten dies für sinnvoll. Zu- tern schon von Beginn des Schulbesuchs an muss. Es lässt sich jedoch festhalten, dass dem werden an einigen Schulen Lehrkräfte aufzubauen. eine enge Zusammenarbeit innerhalb der aus Sachfächern in die Vorbereitungsklasse Schule und eine über die Vorbereitungs- eingebunden und es werden außer Deutsch Maßnahmen nach dem Klassenwechsel klasse hinausgehende Unterstützung der weitere Fächer – vor allem Mathematik und Den Lehrkräften zufolge ist es besonders re- Schüler*innen als notwendig erachtet wird. Englisch – unterrichtet. Auch beziehen vie- levant, die Förderung im Deutschen auch Kooperative Strukturen und ein professiona- le der befragten DaZ-Lehrkräfte Themen aus nach dem Wechsel in die Regelklasse wei- lisiertes Personal kommen hinzu. Im Gegen- weiteren Fächern, wie beispielsweise Bio- terzuführen. Abhängig von den Ressourcen satz zu der häufig starken Fokussierung des logie oder Geografie in ihren eigenen Un- können Formen und Stundenanzahl variie- Schulerfolgs zeichnen die befragten Lehr- terricht ein, um den Schüler*innen den An- ren. Die Förderung sollte nach Ansicht der kräfte ein umfassenderes Bild: Neben Ler- schluss im Regelunterricht zu erleichtern. befragten Lehrkräfte jedoch unbedingt auf nerfolgen im Deutschen und den übrigen Betont wird außerdem die Wichtigkeit des die fachlichen Inhalte der Klasse abgestimmt Schulfächern gehören die individuelle Ent- Methodenlernens: Nicht alle Schüler*innen sein und die sprachlichen Anforderungen wicklung und Förderung sowie die soziale sind mit Lern- und Arbeitsformen vertraut, des Unterrichts zum Thema machen. Ebenso Einbindung der Schüler*innen in eine Klas- die in den Regelklassen oft vorausgesetzt wichtig ist unseren Interviewpartner*innen sen- und Schulgemeinschaft für sie unab- werden. zufolge die Rolle der aufnehmenden Lehr- dingbar zu einem gelungenen Übergang. Die Lehrkräfte bemühen sich größtenteils, kräfte. Sie betonen, dass diese professio- die neu zugewanderten Schüler*innen von nalisiert werden sollten, um ihren Unter- Literatur Von Dewitz, N. & Bredthauer, S. (2020): Gelungene Anfang an in den Schulalltag einzubinden, richt sprachsensibel durchzuführen, aber Übergänge und ihre Herausforderungen – von der sei es durch gemeinsame Aktivitäten aller auch prinzipiell für die Unterstützungsbe- Vorbereitungs- in die Regelklasse. In: Info DaF, 2020/4, Schüler*innen in AGs, Projektwochen, bei darfe ihrer neuen Schüler*innen sensibili- 429-442. Online unter: https://doi.org/10.1515/info- daf-2020-0063. Sportveranstaltungen oder der Hausaufga- siert sein sollten. Eine Lehrkraft formuliert benbetreuung etc. Auf Ebene der Lehrkräfte es so: „Wenn der [Fachlehrer] nicht die Ein- erleben sie eine Einbindung in das Kollegi- stellung hat, diesen Schülern helfen zu wol- um als hilfreich für die Zusammenarbeit und len und von vorne herein sagt: ‚Nein, solche den Austausch. Allerdings wird die Zusam- Schüler, die interessieren mich nicht.’, dann menarbeit mit den Kolleg*innen der aufneh- habe ich keine Chance.“ (2.1). Um eine Ein- menden Klasse gleichzeitig häufig als her- bindung in die Klassengemeinschaft voran- info ausfordernd und stark personengebunden zubringen, werden an einigen Schulen auch wahrgenommen. Patenschaften auf Peer-Ebene umgesetzt. Kontakt Fachkräfte wie Schulsozialarbeiter*innen, Jun.-Prof.’in Dr. Nora von Dewitz Juniorprofessorin für Sprachliche Maßnahmen beim Klassenwechsel interkulturelle Koordinator*innen oder Bildung und Mehrsprachigkeit nora.dewitz@mercator.uni-koeln.de Rund um den Klassenwechsel selbst benen- Schulpsycholog*innen erweitern das Netz- Telefon: 49 (0) 221-470 1382 Universität zu Köln nen die Lehrkräfte Maßnahmen, die beson- werk, das in der Regel von den DaZ-Lehr- Mercator-Institut für Sprachför- derung und Deutsch als Zweit- ders den Informationsaustausch zwischen kräften etabliert wird und die einzelnen sprache / Institut für deutsche Sprache und den Lehrkräften, aber auch die Kommunika- Schüler*innen möglichst von Beginn ihres Literatur II Albertus-Magnus-Platz tion mit den Schüler*innen betreffen: Hier- Schulbesuchs solange unterstützt, wie sie es 50923 Köln bei werden Übergabegespräche und/oder brauchen. Dr. Stefanie Bredthauer -protokolle sowie weitere Dokumente wie Wissenschaftliche Mitarbeiterin Mercator-Institut für Sprachför- z. B. verbale Beurteilungen, Förderpläne und Fazit derung und Deutsch als Zweit- sprache Lerntagebücher genutzt. Die weitergegebe- Der Beitrag gibt einen Einblick in die viel- Postanschrift: Universität zu Köln | Triforum | Albertus-Magnus-Platz nen Informationen umfassen meist nicht nur zähligen Maßnahmen zur Begleitung des | 50923 Köln Besuchsanschrift: Universität zu den Sprachstand im Deutschen, sondern Übergangs von der Vorbereitungsklasse in Köln | Triforum | 3. Etage | Innere Kanalstraße 15 | 50823 Köln auch fachliche Leistungen sowie weitere eine Regelklasse, die zum Großteil von den zmi-Magazin | 2020
Aus Wissenschaft und Forschung 15 Brücken bauen zum Bildung serfolg von Schüler*innen mit begrenzter oder unterbroch ener Bildungskarriere von Marco Triulzi & Andrea DeCapu a Der funktionale Umgang mit dem Gedruckten (literacy) ist die Grundlage zum Lernen durch Lesen und Schreiben in formalen Bildungssystemen. Für Schüler*innen, die eine Einschränkung oder eine Unterbrechung ihrer Bildungskarriere erleben mussten, beispielsweise aufgrund von Krieg und Flucht, kann das eine große Herausforderung darstellen. Das wird in der Übergangsphase von dem geschützten Raum der Vorbereitungsklassen in den Regelunterricht besonders sichtbar. Daher ist es für eine adäquate Bildung notwendig, ein didaktisches Angebot zu formulieren, das auf individuellen Kompetenzen und Voraussetzungen der Schüler*innen basiert. Ein übliches Alltagsszenario in einer allgemeinbildenden Schule: Schüler*innen dann auf, ihre Hefte zu holen und den eigenen Be- Die Schüler*innen üben das Schreiben eines Berichts und wissen, richt zu verfassen. Während die Schüler*innen schreiben, geht Frau dass ein Test bevorsteht. Die Lehrerin, Frau Krings(Name wurde ge- Krings im Klassenzimmer umher und sieht, dass die meisten Kinder ändert), sagt Ihren Schüler*innen, sie sollen sich eine Traumreise fleißig an ihren Entwürfen arbeiten, doch einige sind nicht mit dem vorstellen, um darüber zur Übung einen Bericht zu schreiben. Sie Schreiben des Berichts beschäftigt. Eine Schülerin blättert im Lehr- zeigt ihnen auch ein Beispiel eines Reiseberichts und fordert die buch herum, eine andere schreibt das Beispiel mühsam ab. Zwei zmi-Magazin | 2020
16 Aus Wissenschaft und Forschung Schüler starren einfach auf das Muster. Was eingebaut werden. Bei der Konzeption von ist los? Warum schreiben sie nicht, obwohl Partner- beziehungsweise Gruppenarbeiten sie wissen, dass das für das Bestehen des können beispielsweise unterschiedliche Teil- Tests relevant ist? aktivitäten geplant werden, für die einzelne Diese vier Schüler*innen, die erst seit ei- Schüler*innen verantwortlich sind, während nem Jahr in Deutschland leben, haben zwar bei anderen Aktivitäten die Verantwortung ähnliche Migrationshintergründe wie ihre auf die gesamte Gruppe übertragen werden Mitschüler*innen, dennoch weisen sie an- kann. dere Lernvoraussetzungen auf. Inwiefern? 4. Wichtig ist außerdem, dass innerhalb und Bevor sie nach Deutschland kamen, hatten Fähigkeiten zu unterstützen und zu för- auch außerhalb der Klasse Vernetzungs- sie aus unterschiedlichen Gründen keine Ge- dern – doch trotz aller Bemühungen kommt möglichkeiten geschaffen werden, die die legenheit, ohne Unterbrechung an einer al- es manchmal zu einem Szenario wie dem Interaktion unter den Lernenden, mit den tersgerechten schulischen Bildung teilzuneh- oben beschriebenen. Wie also kann man Lehrenden und auch mit den Familien un- men. Infolgedessen verfügen sie über sehr Schüler*innen mit eingeschränkter oder un- terstützen. Solche Beziehungen sind ein geringe Lese- und Schreibkenntnisse und terbrochener Bildungskarriere darin unter- Schlüsselelement für eine Steigerung der sind nicht mit Schulaufgaben vertraut, die stützen, sich im Regelunterricht voll zu ent- Lernmotivation. für das deutsche Bildungssystem üblich sind. falten? Hier ist es empfehlenswert, das eige- 5. Ziele und Durchführung abstrakter Auf- Spätestens ab dem ersten Tag in der Vorbe- ne Lehrangebot vor dem Hintergrund der fol- gabenstellungen im Unterricht sollten auf reitungsklasse waren sie mit dem Lernen der genden fünf Hinweise zu reflektieren: der Basis der oben genannten Überlegun- deutschen Sprache konfrontiert. Doch die gen eingeführt werden, damit Schüler*innen Vermittlung der Sprache basiert in der Re- 1. Der Unterricht sollte so gestaltet werden, schrittweise darauf vorbereitet werden, mit gel auf der Annahme, dass grundlegende li- dass er für die Schüler*innen unmittelbar ungewohnten und für sie nicht auf Anhieb teracy-Kompetenzen und weitere Fähigkei- relevant erscheint. Dabei sollte nicht davon nachvollziehbaren Aufgaben umzugehen. ten, um sich mit den Herausforderungen des ausgegangen werden, dass das, was man Regelunterrichts auseinanderzusetzen, bei als Lehrperson für relevant hält, auch tat- Diese Art der Unterrichtskonzeption be- den Kindern bereits vorhanden seien. Viele sächlich relevant ist, sondern berücksichti- rücksichtigt die (Lern-)Identität(en) der Aufgaben im Unterricht, wie hier das Sch- gen, dass Schüler*innen selber gut wissen, Schüler*innen und würdigt das, was sie be- reiben eines Berichts, erfordern eine gewis- was für sie wichtig ist. Zwischen dem Lern- reits wissen und können. So werden Brü- se Vertrautheit mit abstrakten Denkmustern, stoff und den tatsächlichen Lebenswelten cken gebaut und Schüler*innen ausgehend die primär durch die Beteiligung an formaler der Schüler*innen sollten formale und in- von ihren individuellen Lernvoraussetzungen Schulbildung gefördert wird. Aus der Pers- haltliche Verbindungen hergestellt werden, im Übergang zu den Erwartungen und An- pektive der vier Schüler*innen in der Klasse sodass der Sinn des Lernens unmittelbar für forderungen des Regelunterrichts angemes- ist es schwer nachvollziehbar, warum sie ei- sie sichtbar wird. sen begleitet. nen derartigen Bericht schreiben sollen. Wo- 2. Schüler*innen sind nicht unbedingt sofort zu schreibt man über eine Reise, die nicht in der Lage, Inhalte zu verstehen, die mit- stattgefunden hat? Aufgrund ihrer Lebens- tels gedruckten Materials vermittelt werden. erfahrungen vor dem Besuch der Schule in Schriftliche Aufgaben sollten durch mündli- info Deutschland sind sie möglicherweise eher che Erläuterungen und Einordnung der In- an das Konkrete, die Auseinandersetzung halte (mündliches Scaffolding) eingeleitet Kontakt mit dem „Hier und Jetzt“, gewöhnt. Die werden und Mündlichkeit (hören, sprechen) Marco Triulzi DAAD-Lektor von der Lehrerin gestellte Aufgabe ist für sollte mit Schriftlichkeit (lesen, schreiben) Universität La Sapienza (Rom, Italien) die Schüler*innen also besonders herausfor- kombiniert werden. Beispielsweise können Centro Linguistico di Ateneo dernd, weil sie 1) literacy-Kompetenzen vo- Schüler*innen mit stärkeren literacy-Kompe- E-Mail: marco.triulzi @uniroma1.it raussetzt, die über ihr Niveau hinausgehen tenzen anderen Mitschüler*innen ein Text- und 2) ein Verständnis von Funktion und beispiel oder eine Aufgabe vorlesen und Andrea DeCapua, Ed.D. Department of Teaching, Zweck abstrakter Aufgaben erfordert, das die Schüler*innen können sich Fragen zum Learning & Curriculum ihnen nicht vertraut ist. Verfahren generell mündlich stellen und College of Education University of North Florida, USA Frau Krings gestaltet ihren Unterricht gene- beantworten. E-Mail: drandreadecapua@gmail.com rell sprachsensibel und orientiert sich dabei 3. Beim Übergang von einer geteilten zur an der Mehrsprachigkeitsdidaktik, um al- individuellen Verantwortung für die Ergeb- le Schüler*innen gemäß ihren sprachlichen nisse einer Aufgabe sollten Zwischenschritte zmi-Magazin | 2020
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