88 Resilienz Stabil leben in schwierigen Zeiten - Projekt FAMILIEN ...
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PERSPEKTIVEN 88 MAGAZIN FÜR GLAUBEN, LEBEN UND GEMEINDE Resilienz Stabil leben in schwierigen Zeiten
2| RESILIENZ Inhalt Das Abo 3 › Ein Abo der PERSPEKTIVEN ist kostenlos Editorial und unverbindlich. 4 Stark werden als Erwachsener › Sie können Ihr Abo jederzeit ändern, erweitern 6 Getragen in Gemeinschaft oder kündigen. 8 Was Menschen stark macht › Die PERSPEKTIVEN sind ein Magazin für Glauben, 11 Hauskreise Leben und Gemeinde; sie erscheinen ca. 2x jährlich. 12 Resilienz in der Wüste Manchmal gibt es ergänzend eine Sonderausgabe. 14 Die Geborgenheit des Glaubens › MD aktuell ist ein Newsletter mit Infos zur Arbeit 16 Ein Indianer kennt seinen Schmerz der Missionarischen Dienste Württemberg; 17 Gottes Geist trägt mich durchs Leben er erscheint etwa 3x jährlich. 18 Natalies zweite Chance › Sie können jede Publikation auf Papier gedruckt 19 Du hast eine Wahl oder digital beziehen. 20 Stark werden in der Kindheit und Jugend Ihr direkter Weg zum ABO: 22 Von Zwergen und Riesen Die Abo-Seite im Internet 23 Wie Spiritualität Kinder und Jugendliche stark macht http://mdwue.de/aboservice 26 Kinder brauchen Bezugspersonen 27 Am Mittwoch um viertel nach zwölf ... Alternativ: Dieses Formular ausfüllen, abfotografieren 29 Religionsunterricht erleben und per Mail an margret.illi@elk-wue.de senden: 30 Jungschar und Kinderkirche – mehr als Peergroup und Schule Ihre Kontaktdaten 32 Keine Kindheit ist wie die andere 33 Freizeiten sind verdichtetes Leben Name: 34 HomeChurch – wo ich immer willkommen bin Mailadresse: 35 Wie Liebe die Fremde zur Heimat macht 36 Familien in schwierigen Zeiten begleiten Bei einem Papier-Abonnement brauchen wir 37 Unerschrocken in den Tod Ihre Postadresse: 38 Im Alter stärker werden Straße/Hausnr: 39 I werd oid (Konstantin Wecker) PLZ und Ort: 40 Einschränkungen hinnehmen und Kräfte entfalten 43 Im Alter dem Leben eine neue Perspektive abgewinnen Ihre Wahl 44 Die „Schtond“ – Heimat für den Glauben 46 Fröhlich altern Ich will die PERSPEKTIVEN, das Magazin abonnieren: 47 Biblischer Impuls: Selbstaufgabe durch einen Digital Papier Schicksalsschlag – Fehlanzeige! 48 Interview: Gott öffnet Türen Ich will MD aktuell, den Newsletter mit Infos zur Arbeit 50 Ich wäre so gerne Lehrer geworden ... der Missionarischen Dienste Württemberg, abonnieren: 51 Interview: Zum Aufgeben habe ich keine Zeit 52 Miteinander essen – Wohltat für Leib und Seele Digital Papier 45 Bibel aktuell: Resilienz von Gott gegeben 58 Im Leben betend Schritte wagen 60 Was bringt’s? 62 Schwierige Zeiten hinter sich lassen 64 Widerstandskräfte wachsen durch das Beten mit Psalmen 65 Glauben trotzt den Stürmen des Lebens 67 Impressum und Kontakte 67 Zu guter Letzt
RESILIENZ | 3 Liebe Leserinnen und Leser der PERSPEKTIVEN, „Sieh zu, dass du Land gewinnst!“ – Spielräume zu nutzen (siehe S. 19). Einige Artikel Ein guter Ratschlag, wenn einer auf unsicherem beschäftigen sich mit den Grundlagen, woher es Boden steht. Aber wie gewinnt man festen Boden kommt, dass manche Menschen wie Stehaufmänn- unter den Füßen, wenn das Leben sich auf sturmum- chen sind und andere nicht (vgl. Maike Rönnau-Böse wogten Stegen abspielt? Nachdem mir der Boden S. 8, Bettina Hertel S. 40 und zur Geschichte und Idee unter den Füßen weggezogen worden, mein Leben der Resilienzforschung S. 60). Die meisten Beiträge ins Wanken gekommen ist, will ich wieder festen vertiefen einen speziellen Aspekt über Resilienz in Tritt unter die Füße bekommen. Von „stabil leben“ der Jugend, im Erwachsenenalter, im Alter. Es lohnt wollen wir dabei gar nicht reden (oder doch?), aber sich, hier auf Entdeckungsreise zu gehen. Nicht zu- zumindest von „stabiler leben“. letzt sind die zwei Beiträge von Konstantin Wecker für unser Magazin mehr als nur lesenswert, etwa Vor kurzem hätte ich hier noch von individuellen Kri- ganz launisch sein Song "I werd oid" oder seine be- sen gesprochen, durch die jeder Einzelne von uns durch denkenswert bitteren Aussagen über das Sterben in muss. Die aktuellen schwierigen Zeiten sind jedoch ein Coronazeiten (S. 39 und S. 53). globales Phänomen. – Wieder einmal. Vor rund zwei Jahrzehnten starb mein Großvater. Mit seiner Parkin- Mich persönlich fordert die Frage heraus, wozu es son-Erkrankung war er eine gebrochene Persönlich- denn Glauben, Spiritualität und die Beziehung zu keit. Er hatte den Krieg nie verkraftet. Dagegen strotzte Jesus Christus braucht, wenn die meisten Resili- der andere Großvater vor Kraft. Die Erfahrungen im enz-Faktoren auch ohne Gott auskommen. – Oder Nationalsozialismus hatten ihn tyrannisch gemacht. doch nicht? (Vgl. Wilfried Veeser und Thomas Mayer Doch er war innerlich unheilbar zerbrochen und zer- ab S. 64, besonders aber Elias D. Stangl S. 14). brach menschlich rund um sich herum alles, was nicht rechtzeitig die Flucht ergriff. – Zeiten, die als Katastro- Neben vielen großartigen Erzählungen, Tipps und phen, Kriege, Krisen in die Geschichte eingegangen Eindrücken aus aller Welt vergessen Sie die großfor- sind, haben Gesellschaft, Kultur und die Persönlichkeit matigen, oft sehr emotionalen Fotos nicht, die zum jedes Einzelnen geprägt und tiefe Furchen darin hin- Verweilen einladen und selbst schon eine kleine terlassen. Erst spätere Zeiten werden zeigen, wie Men- Therapie für die Seele sind, empfiehlt schen unserer Zeit geprägt wurden von Lockdown und Öffnung, Gewährung von Freiheiten und deren Wider- Ihr rufung, Covid und Longcovid und Kontaktreduktion. Aber sind wir wirklich nur das? – Der Psychologe Viktor Frankl hat sich darüber Gedanken gemacht, ob wir nicht doch mehr sein können sind als Kinder Thomas Wingert, Redaktionsleiter, unserer Umstände. Er hat Mut gemacht, die inneren mit dem ganzen Redaktionsteam
RESILIENZ | 5 Das Leben ist ein Kraftakt. Auf Kraft und Balance kommt es an. Doch immer wieder geraten wir dabei aus dem Gleichgewicht. Auch und gerade in Lebensphasen, in denen wir uns sicher und gefestigt fühlen. Wir suchen nach Kraftquellen, aus denen wir schöpfen können.
6| RESILIENZ Getragen in Gemeinschaft Wie eine Großfamilie leben die acht Christusträger-Schwestern Das hilft auch in wirtschaftlicher Hinsicht weiter. aus Braunsbach-Hergershof zusammen. Sie sind eine evan- Der Verein der Christusträgerinnen bekommt kei- gelische Kommunität und haben sich einem gemeinsamen ne Kirchensteuereinnahmen, sondern arbeitet wie Leben ohne Besitz und Ehepartner verpflichtet. Eine ein Kleinunternehmen. Die Kosten müssen gedeckt Verzichtsleistung, der jedoch ein Gewinn an anderer Stelle sein und darüber hinaus noch etwas zum Leben gegenübersteht. bleiben. Zum Leben freilich brauchen sie nicht viel: Die Grundversorgung, ein eigenes Zimmer und ein Im Corona-Lockdown haben sie es mal wieder ge- Taschengeld, das ist alles. spürt, was ihre Gemeinschaft wert ist. Während überall sonst Menschen über Isolation klagen, ein- „Am Anfang war das schwer“, gibt Schwester Sig- sam oder zu zweit in einem Haushalt leben, fühlen rid (61) zu, die mit Inge zusammen den Hergershof sie sich in ihrer großen Runde der acht Schwes- leitet. Als sie 1983 eintrat, konnte sie sich ein Leben tern gut aufgehoben. Eigentlich sind sie ja sogar fast ohne eigenes Einkommen kaum vorstellen. Die zu neunt: Denn Gott ist immer dabei, wenn sie in sozialen Kontakte nach außen, das Briefeschreiben ihrem Haus in Braunsbach-Hergershof zusam- und Telefonieren, wovon sollte sie das bezahlen? menkommen. „Die gemeinsamen Andachten und Am nächsten Tag kam von ihrer Mutter ein Päck- Gebetszeiten sind sehr wichtig, eine große Kraft- chen mit vielen Briefmarken. „Es war wie ein Sym- quelle“, sagt Schwester Inge. bol“, sagt sie heute, „wir bekommen das, was wir brauchen.“ Inge Majer (56) gehört zum Leitungsteam der Chris- tusträger-Schwestern in Hergershof. Acht Frauen Längst hat auch Inge Majer erkannt, dass die leben dort unter dem Dach eines ehemaligen Bau- Knappheit der persönlichen Besitztümer besondere ernhofs in Hohenlohe. Zwischen 37 und 78 Jahren Qualitäten in sich birgt. Über ein Jahr lang hat sie sind sie alt, eine recht gute Mischung, erst kürzlich auf eine Digitalkamera gespart. Als sie sie hatte, war kam mit Schwester Carmen eine neue Novizin dazu. das etwas ganz Besonderes, eine Wertschätzung, die denen fremd geworden ist, die immer gleich Der Begriff stammt aus der Welt der Klöster. Und alles kriegen, was sie haben wollen. ein wenig wie im Kloster ist das Leben der Schwes- tern ja auch: Sie verzichten auf persönlichen Besitz, Die Christusträger-Schwestern teilen beinahe alles, heiraten nicht und ordnen sich den selbst ihre Freizeit. Einmal im Jahr mieten sie ein Miteinander unterwegs sein im Leben wie im Glauben Regeln ihrer Gemeinschaft unter. Ferienhaus und fahren zu acht in Urlaub. Belgien, Wer ihnen begegnet, merkt das Bayern, Rügen, der Spreewald. Es sind keine Luxus- zunächst kaum: Christusträger-Schwestern tragen reisen, aber wertvolle Auszeiten, die die Verbun- keine Tracht, behalten ihre bürgerlichen Vorna- denheit stärken. Miteinander unterwegs sein, für men und gehen teilweise ihren Berufen außerhalb die Schwestern gilt das im Leben wie im Glauben. der Gemeinschaft nach. Die Autobahnkirche Viele kennen die Christusträger-Schwestern aus Braunsbach- Hergershof, weil sie für die Autobahnkirche auf der A6 am Rastplatz Kochertalbrücke verantwortlich sind. Die kleine Kirche ist Christophorus gewidmet, eben jenem Heiligen, der Christus trug. Christus tragen und sich von ihm tragen lassen: Beides ist Teil des Selbstverständnisses der Christusträger-Schwestern. Neben der Gemeinschaft in Hergershof finden sich weitere Schwestern-Kommunitäten in Künzelsau, Rödermark und Bensheim-Auerbach. Es gibt auch Christusträger-Brüder, die jedoch in einem eigenen Verein organisiert sind. Mehr über die Christusträger-Schwestern in Hergershof unter Tel. 07906 8671 | www.christustraeger-schwestern.de
RESILIENZ | 7 Natürlich gibt es dabei auch Konflikte. „Das ist so, Der bestimmt sonst nämlich auch den Alltag überall, wo Menschen sind“, sagen Schwester Inge der acht Christusträgerinnen aus Braunsbach- und Sigrid. Dann geht man einander auch mal aus Hergershof: Bei Kirchengemeinderatsklausu- dem Weg. Und braucht womöglich einen Dritten, ren, Frauenfreizeiten und Einkehrtagen können der die Initiative ergreift und den Impuls gibt: „Klärt Außenstehende einen Eindruck des Lebens in der doch das mal.“ Die Gemeinschaft als Helfer und Seis- Kommunität bekommen. Viele, die schon einmal mograph für größere und kleinere Erschütterungen. da waren, haben geschrieben in der Zeit des Lock- downs, Spendengelder geschickt, ihre Verbunden- Das gilt auch für den Glauben. „Es gibt Zeiten, in heit zum Ausdruck gebracht. denen es schwerer fällt, in denen man zweifelt”, sagt Schwester Inge. Dann ist es ein gutes Gefühl, „Das tat sehr gut“, sagen Inge und Sigrid, die sich auf nicht allein zu sein, gemeinsam vor Gott zu stehen die Rückkehr der Gäste freuen. Die Zeit der Abge- und loslassen zu können. Getragen in der Gemein- schiedenheit haben sie dennoch nicht als trist und schaft, die mehr ist als ein professionelles Zweck- hoffnungslos erlebt, im Gegenteil: Die Corona-Pause bündnis, sondern ein existentielles Ganzes. war auch eine Phase des zur Ruhe Kommens, des stillen Austauschs mit Gott und der demütigen Die Christusträger-Schwestern sind füreinander Erkenntnis, „dass nicht wir es sind, die alles im da. Ohne Wenn und Aber. Vom ersten bis zum letz- Griff haben“. Man darf sich Gott getrost anvertrauen ten Tag. Die Alten werden versorgt, wenn sie nicht und darauf bauen, dass nach einem strengen mehr arbeiten, und helfen ganz nebenbei mit ihrer Winter ein neuer Frühling kommt. Das Pflänzchen Rente auch der Gemeinschaft weiter. In der Corona- der Hoffnung, das im schönen Garten der Hergers- Krise war das Ruhestandsgeld zweier Schwestern hofer Schwestern liebevoll gehegt und gepflegt ein wichtiger Bestandteil des wirtschaftlichen wird. Lebens, nachdem sämtliche Einnahmen aus dem Gästebetrieb weggebrochen sind. Andreas Steidel ist Journalist und arbeitet unter anderem beim Evangelischen Gemeindeblatt in Württemberg.
8| RESILIENZ Was Menschen stark macht Was brauchen Menschen, um sich gesund zu entwickeln und Entwicklungsaufgaben und weniger kritische All- mit Belastungen und Herausforderungen gut umgehen zu tagssituationen zu bewältigen. Die Einzelkompeten- können? Aus der Perspektive der Resilienzforschung lassen zen entwickeln sich in verschiedensten Situationen, sich darauf verschiedene Antworten finden. Eine Annäherung werden unter Belastung aktiviert und manifestieren an einen spannenden Begriff, der längst auch ein Modewort sich dann als Resilienz. Fingerle (2011) verwendet geworden ist. in diesem Zusammenhang den Begriff des „Bewäl- tigungskapitals“: „Über Bewältigungskapital zu Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen stehen bei verfügen bedeutet, Ressourcen zu identifizieren, dem Konzept der Resilienz im Vordergrund. Es zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene wird danach gefragt, was Menschen stärkt und wie Ziele zu erreichen, das eigene Potential von Pro- sie darin unterstützt werden können, ihre Kompe- blemen und Krisen weiter zu entwickeln und am tenzen zu entwickeln und zu entfalten. Dabei geht gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (ebd., S.213). es nicht darum, die Schwierigkeiten und Proble- me aus dem Blick zu verlieren, sondern anders mit Unstrittig sind aber drei Merkmale, die als charak- ihnen umzugehen. Die Resilienzforschung kann teristisch für das Konstrukt Resilienz angenommen inzwischen auf eine 50-jährige Geschichte zurück- werden (Wustmann, 2011, S. 28f): blicken. Die Anfänge lagen in den 1970er-Jahren und können als Gegenbewegung zur Entwick- 1. Resilienz ist ein dynamischer Anpassungs- und lungspsychopathologie gewertet werden. Während Entwicklungsprozess, d.h. Resilienz entwickelt letztere hauptsächlich Risikoeinflüsse auf die sich aus einem Interaktionsprozess zwischen menschliche Entwicklung untersucht, steht im Individuum und Umwelt und ist abhängig von Mittelpunkt der Resilienzforschung die positive den bewältigten Ereignissen und den Erfahrun- Entwicklung von Individuen trotz schwieriger gen, die wir im Laufe unseres Lebens machen. Bedingungen. Der Fokus liegt somit mehr auf den 2. Resilienz ist eine variable Größe, d.h. es handelt Schutzfaktoren und Ressourcen von Menschen – sich bei Resilienz nicht um eine stabile Fähigkeit. unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Risiken. Im Hinblick auf eine Resilienz im Erwachsenenalter bedeutet dies, dass sich Resilienz im Laufe des Das Konzept der Resilienz, also die „psychische Lebens eines Menschen verändert und Entwick- Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, lungen in jedem Lebensabschnitt möglich sind. psychologischen und psychosozialen Entwick- 3. Resilienz ist situationsspezifisch und multi- lungsrisiken“ (Wustmann, 2011, S.18) schreibt dimensional. Resilienz ist kein allgemeingültiges dem Individuum eine aktive Rolle zu, die es ihm und universelles Phänomen, sondern zeigt sich ermöglicht, durch soziale Unterstützung Belas- eher in verschiedenen Bereichen unterschiedlich. tungen und Entwicklungsaufgaben erfolgreich zu D.h. die Fähigkeit, mit belastenden Lebenssitua- bewältigen. Die weltweit durchgeführten – inzwi- tionen umzugehen, kann sich auch in verschie- schen 19 – Langzeitstudien konnten eine Reihe denen Lebensbereichen unterscheiden. von Schutz- und Resilienzfaktoren nachweisen, die eine gelingende Entwicklung unter Die vielfach positiven Ergebnisse dürfen aber Eine Krise zu bewältigen Risikobedingungen unterstützen gleichzeitig nicht über eine kritische Entwicklung bedeutet nicht, dass sie einem nichts anhaben kann und möglich machen (vgl. dazu hinwegtäuschen: Resilienz ist zu einem Mode- Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff, wort geworden, das Konzept wird allzu häufig als 2020). Inzwischen wird das Konzept der Resilienz Allheilmittel für unterschiedlichste Situationen auf viele verschiedene Bereiche angewendet und verwendet und nicht selten für wirtschaftliche und findet sich in jeder Fachdisziplin. Dies führt zu politische Zwecke missbraucht (Ungar et al., 2013; einer Vielzahl an Definitionen und Anwendungs- Karidi, Schneider & Gutwald, 2018). So schießen möglichkeiten. immer mehr Resilienztrainings aus dem Boden, die bei genauerem Hinsehen nur ihr Label verändert In einer weitergefassten Definition wird Resili- haben: Was vorher Stressbewältigungsprogramm enz als eine Kompetenz verstanden, die sich aus war, wird jetzt unter einem neuen Namen verkauft verschiedenen Einzelfähigkeiten zusammensetzt und vor allem dem Laien suggeriert, dass jeder (vgl. z.B. Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff, 2020). für sein Schicksal selbst verantwortlich ist – das Diese Kompetenzen sind nicht nur relevant für individuelle Verhalten soll sich ändern, die Krisensituationen, sondern auch notwendig, um Verhältnisse nicht. Fortsetzung ›
RESILIENZ | 9 NICHTS KANN DEN MENSCHEN MEHR STÄRKEN ALS DAS VERTRAUEN, DAS MAN IHM ENTGEGENBRINGT. – PAUL CLAUDEL
10 | RESILIENZ Schutz- und Resilienzfaktoren Die seit Beginn der Resilienzforschung durchge- für eine resiliente Entwicklung. Diese Selbstwirksam- führten Langzeitstudien konnten einen Kern von keitserwartung wird insbesondere dadurch gefördert, Schutzfaktoren identifizieren, die eine unangepass- wenn andere Menschen mir etwas zutrauen und mir te Entwicklung verhindern oder abmildern sowie meine Kompetenzen spiegeln. Sich selber bewusst- die Wahrscheinlichkeit einer positiven Entwicklung machen, welche Situationen im Leben gut bewältigt erhöhen. Dabei kann zwischen personalen und sozi- wurden und welche der eigenen Fähigkeiten dazu alen Ressourcen unterschieden werden. Eine hohe beigetragen haben, hilft diese Stärken auf die jetzige Bedeutung kommt dabei einer unterstützenden und Situation zu übertragen. Weitere Resilienzfaktoren zugewandten Beziehung zu. sind z.B. Problemlösefähigkeiten, damit verbunden Positive Beziehungen eröffnen spätere Entwicklungsmöglichkeiten Die Befunde der zahlreichen ist eine Planungskompetenz, strategisches Denken Studien zu diesem sozialen und Reflexionsfähigkeiten oder auch sich selber Schutzfaktor machen deutlich, dass eine warme, regulieren zu können. emotionale Beziehung zu mindestens einer Be- zugsperson nicht nur im Kindesalter eine große Eine Krise zu bewältigen bedeutet allerdings nicht, Rolle spielt, sondern ebenso für das Erwachsenenal- dass sie einem nichts anhaben kann. Ein Resilienzpro- ter bedeutsam ist. Wustmann (2011, S.352) bezeich- zess beinhaltet immer auch Trauer, Angst, Schmerz net diese Personen als „Schlüsselpersonen …[die] oder auch Wut. Der Unterschied ist dann aber, ob man als ‚Türöffner‘ für neue Perspektiven und Möglich- in diesen Gefühlen gefangen bleibt oder es schafft, keiten fungieren, Kraft und Zuversicht ausstrahlen diese zu überwinden. Hier geht es aber auch nicht oder Wärme und Geborgenheit geben“. Positive Be- darum, dass dies besonders schnell gehen muss: ziehungen haben nicht nur unmittelbare Auswir- Krisen und Belastungen zu überwinden bedeutet kungen, sondern tragen maßgeblich zur resilienten auch, sich den damit verbundenen Gefühlen zu stellen Entwicklung über die Lebensspanne bei bzw. eröff- und sie zu durchleben. Das ist anstrengend und be- nen spätere Entwicklungsmöglichkeiten. Der Erfah- nötigt viel Kraft. Die Bewältigung der verschiedenen rung einer stabilen Beziehung kommt deshalb eine Belastungen mag gelingen aufgrund verschiedener besondere Position im Lebensverlauf zu. Aber auch Schutzfaktoren, der Weg dahin wird dadurch aber unterstützende soziale Netzwerke, wie z.B. die nicht zwangsläufig einfacher für die Betroffenen. Gemeinde, ein Verein, ein Freundeskreis o.ä. sind hilfreich in Krisensituationen. Die schützende Wir- Resilienz entwickelt sich aus einem Zusammenspiel kung von kulturellen Traditionen und Religionen von Risiko- und Schutzfaktoren. Beide Aspekte sind liegt in der Bereitstellung von Ritualen und Struktu- notwendig, sonst laufen wir Gefahr, alles wieder ren zum Umgang mit verschiedenen Situationen, wie nur aus einer Perspektive zu betrachten und das z.B. Sterberituale, Gebete oder Meditationen. Letztere Konzept der Resilienz auf reine Ressourcenorien- unterstützen die Fähigkeit, sich selbst regulieren zu tierung zu verkürzen. können; die Verbundenheit mit Gott oder anderen spirituellen Figuren kann ein Gefühl der Sicherheit Literatur: ____ erzeugen (vgl. Crawford, Wright & Masten, 2006). Crawford, E., Wright, M.O.D. & Masten, A.S. (2006). Resilience and spirituality in youth. In P.L. Benson, E.C. Roehlkepartain, P.E. Kind & L. Wagener (Eds.), The handbook of spiritual development in child- Personale Schutzfaktoren, auch Resilienzfaktoren hood ____ and adolescence (pp.355-370). Thousand Oaks, CA: Sage. genannt, sind Fähigkeiten, die sich durch Erfahrun- Fingerle, M. (2011). Resilienz deuten – Schlussfolgerungen für die Prävention. In M. Zander (Hrsg.), Handbuch Resilienzförderung gen in der Interaktion mit der Umwelt und durch er- (S.208-218). ____ Wiesbaden: VS. folgreiche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben Karidi, M., Schneider, M. & Gutwald, R. (2018). Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. entwickeln. Beispielhaft soll hier die sogenannte Wiesbaden: Springer. ____ Selbstwirksamkeitserwartung genannt werden. Da- Rönnau-Böse, M. & Fröhlich-Gildhoff, K. (2020). Resilienz und runter wird die Fähigkeit verstanden, sich Situationen Resilienzförderung über die Lebensspanne. 2. erw. u. akt. Auflage. Stuttgart: ____ Kohlhammer nicht hilflos ausgeliefert zu fühlen, sondern eigene Stär- Ungar, M., Bottrell, D., Tian, G-X & Wang, X. (2013). Resilienz: Stärken ken und Ressourcen zu kennen und adäquat einzuset- und Ressourcen im Jugendalter. In C. Steinebach, & K. Gharagabi (Hrsg.), Resilienzförderung im Jugendalter (S.1-20). Berlin: Springer zen. Die Bewertung eines Ereignisses als Resultat eige- ____ Wustmann, C. (2011). Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern ner Handlungen erweist sich hier als besonders relevant in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz Prof. Dr. Maike Rönnau-Böse ist Professorin und Studiengangsleitung für Pädagogik der Kindheit an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte als Co-Leitung des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung liegen im Bereich der Resilienz und Gesundheitsförderung. | roennau-boese@eh-freiburg.de
RESILIENZ | 11 Hauskreise und Kleingruppen Mit einer Pizza fing alles an Hauskreise und Kleingruppen können Menschen zu Nach meinem Schulabschluss, als alle Mitschüler in die Resilienz verhelfen, wenn in den Gruppen verlässliche weite Welt verteilt waren, stand ich etwas verloren bei und vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden. einer Gemeindeveranstaltung herum. Da war eine Grup- Vertrauen in der Gruppe entwickelt sich, wenn Ver- pe von Menschen, die ich vom Sehen her kannte. Sie schwiegenheit nach außen vereinbart wird. luden mich für die nächste Woche zum Pizzaessen ein. Gruppenmitglieder können dann ihre Gefühle frei Ich wusste noch nicht, dass sie einen Hauskreis bildeten. äußern und die anderen Gruppenmitglieder sollten Aber ich spürte, sie wollten, dass ich dazu gehöre. Zuerst empathisch zuhören, ohne Lösungsvorschläge zu ging ich wegen der Pizza hin, aber so nach und nach unterbreiten. Wenn alle bereit sind, an ihren persön- habe ich gemerkt, da steckt mehr dahinter. Das ist eine lichen Problemen Anteil zu geben, entwickelt sich besondere Gemeinschaft. Wir sind Freunde, wir gehören Vertrauen untereinander. Entwickeln Hauskreise diese zusammen, so unterschiedlich wir auch sein mögen. „geschützte Atmosphäre“, dann ist es für die Mitglieder Diese Pizza hat mein Leben geprägt. Nein, natürlich hat eine Hilfe zur psychischen Stabilität. Der Glaube an mich der Hauskreis geprägt. Aber dort habe ich fest- Gott ist eine weitere Säule von Resilienz. Diese entfaltet gestellt: Ich bin meinem Hauskreis so wichtig, dass ich sich in den Gruppen, indem die Mitglieder sich im dazu gehören darf. Das hat mein Selbstwertgefühl und Glauben gegenseitig ermutigen und bei Zweifeln und mein Selbstvertrauen erheblich gesteigert. Das ist lange Problemen einander zur Seite stehen. Diese Unterstüt- her. Den Hauskreis gibt es nicht mehr, aber viele Freund- zung kann auch praktische Hilfe sein. schaften sind geblieben. Und mein Selbstvertrauen auch. Markus Munzinger Daniela Reiner ist Diakon und leitender Referent für ist Datenbank-Consultant und Kleingruppen- und Hauskreisarbeit. ehrenamtliche Vorsitzende des Landesarbeitskreises für Kleingruppen- und Hauskreisarbeit.
12 | RESILIENZ Resilienz in der Wüste Wir sind unterwegs zu einem Flüchtlings-Camp im Sudan. Als wir uns dem Unterstand von Abrar nähern, Einige Journalisten sind bei uns. Sie wollen Menschen sehen wir sie zusammengesunken unter der Plane interviewen, die vor dem Krieg im Darfur geflohen sind. sitzen. Die Nachbarn schütteln den Kopf und sagen, Das Camp liegt bei der Stadt Nyala im Süd-Darfur. Verschie- dass Abrar bisher nicht viel gesprochen hätte. dene Organisationen arbeiten in diesem Camp. Wasser, Hirse, Medizin, Kochgeschirr ... Alles brauchen die Menschen, Wir bleiben in respektvoller Entfernung stehen. Der die es lebend hierher schaffen. Und heute wollen wir solche Übersetzer William geht bis zum Unterstand und Menschen interviewen. klatscht in die Hände. Als Abrar müde aufblickt, beginnt er zu sprechen. Er gestikuliert, weist zu Frau Abrar ist vor zwei Tagen im Camp angekom- uns hinüber. Als Abrar uns da in der Sonne stehen men. Sie hat ein Massaker überlebt. Das Dorf, sieht, scheint plötzlich Bewegung in sie zu fahren. in dem sie und ihr Mann mit den Kindern lebte, Sie springt auf, wischt sich mit einem Zipfel wurde überfallen. Bewaffnete trieben alle Leute ihres Tuches Staub und Schweiß vom Gesicht. zusammen. Die meisten Männer und Mit heller Stimme gibt sie Anwei- ältere Jungen wurden gleich auf dem EINE sungen an umherstehende Kinder. Dorfplatz gefoltert und getötet. Ihr AFRIKANISCHE Diese rennen los. Sie schickt weitere Mann und ihre Söhne starben vor ihren DEFINITION VON weg, klatscht ermunternd in die Hände. Augen. Von den Kindern, die das Massaker RESILIENZ Kurz darauf kommen die Kinder überlebten, wurden die meisten beladen mit Holzbänken, Sitzkissen, mitgenommen, wohl als Kindersoldaten. Und bevor Wasserkanistern, Plastikbechern; sogar eine Art die Rebellen abzogen, warfen sie etliche Leichen in Fächer aus einer Astgabel und einem Stück den Brunnen und sprengten diesen dann. Nach drei schwarzer Plastiktüte bringt ein Junge daher. Tagen Marsch durch die Wüste kamen Abrar und Und ganz schnell verwandelt sich der elende einige Überlebende im Camp an. Not-Unterstand in einen kleinen Empfangssaal,
RESILIENZ | 13 PRAXISTIPP: SO WIRD RESILIENZ LEBENDIG Den Lebens-Akku auffüllen Um im Alltag kraftvoll und gesund zu agieren, be- nötigen wir ausreichend Lebens-Energie. Auch wir modernen Menschen können nicht mehr Energie verbrauchen, als wir zur Verfügung haben. Unsere mobilen Endgeräte versorgen wir stets sehr schnell an der nächsten Steckdose, meist schon bevor die Energieanzeige auf Rot steht. Doch wie sieht es mit Ihrem persönlichen Lebens- Akku aus? Denken Sie daran, diesen stets rechtzei- sogar mit einem Teppich als Unterlage. Und tig mit Energie zu versorgen! Dabei hilft Ihnen eine aus der traurigen Frau, die alles verloren hat, Bestandsaufnahme: Wie gefüllt ist mein Lebens-Akku ist in wenigen Minuten eine umsichtige im Moment? Gastgeberin geworden, die uns mit einem klei- nen Empfang ehrt. Wir bekommen frisches Zeichnen Sie sich ein Sinnbild für Ihren Lebens- Wasser, später Tee, dann noch Hirsebrot und Akku! Das kann ein Fass, eine Batterie oder etwas Bohnen. Sie fragt, wie unsere Reise war, wie Ähnliches sein. Anschließend spüren Sie in sich es uns geht, sie fragt nach unseren Familien hinein: Wie voll ist Ihr Speicher? Wieviel Energie steht und trägt uns auf, Grüße auszurichten. Ihnen momentan zur Verfügung? Dann notieren Sie Erst nach einer guten Stunde können die sich auf der linken Seite alle Gedanken, Dinge, Perso- Journalisten erste Fragen stellen. Und erst viele nen und Situationen, die Ihnen Energie rauben. Rechts Stunden später brechen wir zum Rückweg auf. notieren Sie alles, was Ihnen Energie gibt. Abrar und eine große Schar Camp-Kinder be- gleiten uns bis zum Auto und winken uns nach. Auf welcher Seite haben Sie mehr notiert? Sind Sie Wir fahren in die Stadt zurück mit dem etwas überrascht? Stimmt Ihre Energiebilanz? Fühlen Sie fremden Gefühl, auf einem Fest gewesen zu sich im Gleichgewicht? Was werden Sie gleich mor- sein – als Ehrengäste. gen unternehmen, um Ihre Lebensenergie langfristig und nachhaltig zu stärken? Seien Sie es sich wert, Auf der Rückfahrt fragen wir William, wie eine denn das Tun, nicht das Wissen, macht den Unter- so trauernde und traumatisierte Frau wie Abrar schied! Sorgen Sie jeden Tag bewusst für eine positive so schnell zur Gastgeberin werden konnte. Energiebilanz. William denkt lange nach. Dann sagt er: „In unserem Volk lernen wir das schon als Kinder: Waltraud Koller Nichts, was uns passiert, wie schlimm auch immer, ist Resilienzbegleiterin mit eigener Praxis in Reutlingen. Sie weiß aus Erfahrung, ist wichtiger als das Wohlergehen eines Gastes. wie wichtig es ist, dass Menschen, Denn Gäste bringen Kraft, Ehre und Gemeinschaft die sich für Kirche, Familie und Schule in unser Leben.“ Und dann fügt er hinzu: „Und engagieren, auf sich aufpassen. daraus – daraus entsteht Würde und Respekt – und die gibt neue Kraft, auch im größten Schmerz.“ – Eine großartige, afrikanische Definition von Resilienz. Matthias Hiller ist Seelsorger an Flughafen und Messe. Von 1995 bis 2013 war er für den EJW-Weltdienst in verschiedenen Ländern Afrikas unterwegs. Im Sudan hat er vor allem in der Flüchtlings- und Katastrophenhilfe gearbeitet. | www.ejw-weltdienst.de
14 | RESILIENZ Die Geborgenheit des Glaubens Das Wort Resilienz ist in der Pädagogik positiv besetzt, Ein dritter Aspekt ist spezifisch für Resilienz: Die weil es mit psychischer Widerstandskraft zu tun hat. Viele gelingende Auseinandersetzung mit widrigen Um- glaubende Menschen wissen zudem, dass der Glaube die ständen hat positive Folgen. Diese Folgeerscheinun- persönliche Entwicklung unterstützen kann. Gibt es darin gen werden positiv wahrgenommen; sie werden im etwas, das uns stark macht? Begriff Gedeihen gebündelt. Zum Gedeihen gehören Offenheit gegenüber Lernprozessen, Lebenszufrie- Mit dieser Frage habe ich mich wissenschaftlich denheit und die Entfaltung der Persönlichkeit. Die- einige Jahre auseinandergesetzt. In einer Stu- se geschieht in einer steten Interaktion zwischen die habe ich aufgezeigt, inwiefern aktiv gelebter der Person und ihrem Umfeld und findet lebenslang Glaube zu Resilienz beiträgt. Resilienz setzt vor- statt. Nach Frankl „‘ist‘ der Mensch Person und ‚wird‘ aus: Es gibt mindestens eine Widrigkeit (Krise Persönlichkeit“; diese wird von der Liebe geprägt, oder Schicksalsschlag). Schwierigkeiten müssen dem „tiefste(n) Ja zum Leben“ (Böschemeyer 84). sodann bewältigt werden und die Entwicklung des Einzelnen verläuft mittel- oder langfristig po- Und welche Rolle spielt der Glaube? sitiv. In diversen Publikationen zur personalen Resilienz ist man sich einig, dass Beziehungen bzw. Glauben vollzieht sich im Zusammenwirken von soziale Vernetzung die wichtigste Rolle spielen: konfessioneller Zugehörigkeit und selbst geleb- Eine Vertrauensperson oder ein emotional stabi- ter und verantworteter Spiritualität. Letztere ge- ler Kontakt ist ein entscheidendes, aber nicht das schieht in großer Vielfalt und Weite. Vier Dimensi- alleinige Kriterium für Resilienz. onen sind elementar: Inwiefern betreffen Krisen und Resilienz jeden? Erfahrung: Für die Entwicklung von religiösem Glauben ist die Erfahrung einer vertrauensvollen Jeder Mensch ist im Laufe seines Lebens immer wie- Beziehung zu einer Person zentral. Menschliche der zu Veränderungen herausgefordert. Sie sind Begegnung und auch der Weg zu Gott setzen Ver- von außen verursacht oder rühren her aus einem trauen voraus (vgl. Krenzer 74ff). Wandel der Einstellung oder des Entwicklungsver- laufs. Stets werden dem Menschen Wissen und Fühlen: Hier geht es um Glaubenswis- Entscheidungen bergen Entscheidungen abverlangt. Auch sen. Glaubensinhalte werden gelernt und als Le- immer gewisse Risiken und können zu Krisen führen Veränderungen zu ignorieren ist benswissen erschlossen. Es entsteht eine Haltung eine Entscheidung. Entscheidun- des Vertrauens, denn auch Wissen erschließt sich gen bergen immer gewisse Risiken und können zu nicht rein rational. Es bleibt auf die Lebenserfah- Krisen führen. Diese entstehen durch Veränderun- rung der Menschen bezogen und steht damit im gen oder aufgrund von Entscheidungssituationen. Zusammenhang. Einige qualitativ-empirische Stu- Störungen und Probleme im Lebensverlauf gehören dien zum christlichen Glauben beschreiben reli- unabdingbar zum Leben. giöse Emotionen, etwa das Wachsen eines Gefühls der Geborgenheit oder des Getragenseins von der Was ist das Besondere an Resilienz? Güte Gottes, gepaart mit einem Gefühl der Freiheit. Religiöses Wissen und religiöses Gefühl bilden eine Das Konzept der Resilienz zielt auf Handlungs- untrennbare Einheit, in der sich das einzigartige oder Entwicklungsergebnisse und nimmt Bezug auf Verhältnis zwischen Gott und Mensch vollzieht. meistens zwei Aspekte: Handeln: Weder reine Innerlichkeit noch allein die 1. Eine Schwierigkeit wird bewältigt. Das kostet äußerlich nachvollziehbare Handlung machen die Kraft und Energie und kann zur vorübergehenden christliche Frömmigkeit aus. Alles, was spirituell Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit und Le- erfahren wird, drängt (vgl. 2 Kor 5,14a) den Men- benszufriedenheit führen. schen zu Bekenntnis und Tat. Insofern ist der Glau- be eine Verbindung von Theorie und Praxis. 2. Der Prozess der Bewältigung führt nicht zu einer körperlichen Krankheit oder psychischen Störung, Potenzial: Glaube, der einer vertrauensvollen Er- vielmehr wird der ursprüngliche stabile Zustand fahrung entspringt und gelebt wird, hat Potenzial. wiedererlangt. Die Heilspraxis Gottes kann auf die Überwindung
RESILIENZ | 15 der Krise des Menschen zielen. Zur Vielfalt des Le- bens mit schwierigen und guten Phasen gehören ZUM GEDEIHEN GEHÖREN Krisen – auch Glaubenskrisen. Sie können dazu OFFENHEIT GEGENÜBER führen, dass sich zu einem anderen Zeitpunkt der Glaube in der Krise als hilfreich erweist. Glaube hat LERNPROZESSEN, bergeversetzende, neuschaffende Kraft, weil sich zu ihm die Macht Gottes gesellt. Er kann persönlich LEBENSZUFRIEDENHEIT bedeutsame und heilvolle Veränderungen bewir- UND DIE ENTFALTUNG ken (Lk 7,50; 8,48; 17,19). Bei allen Höhen und Tie- fen ist der Glaube relevant für das Leben. DER PERSÖNLICHKEIT Resümee »Vertrauen ist das Fundament, auf dem alle unsere Entwicklungs-, Bildungs- und Sozialisierungspro- zesse aufgebaut werden« und das jedes Individuum »braucht, um sich der Welt und anderen Menschen offen … zuwenden und auch schwierige Situationen meistern zu können« (Hüther 51). Vertrauen ist also nicht nur Grundhaltung des Glaubens, sondern auch Voraussetzung für Prozesse des Gedeihens. Es ist entscheidend sowohl für Sinngebung des Da- seins, Bewältigung der Angst vor dem Tod und an- deren Krisen als auch für Gewinnung und Stärkung eines Selbstwertgefühls. Haltung und Handlung im Glauben stehen stets »mit Sinnorientierung in einem positiven Zusammenhang und fördern … Lebenszufriedenheit und positive Gestimmtheit« (Grom 203). Glaube trägt entscheidend bei zur Ent- wicklung von Resilienz. Eine offene Haltung der Person ermöglicht Entwicklung und führt dazu, dass Gott das Seine dazu gibt. »Damit ihr durch den Glauben das Leben habt« (Joh 20,31). Ein Leben im Glauben führt im Sinne der bibli- schen Botschaft zu einer Fülle an Leben. Wenn Menschen aufeinander bezogen bleiben, werden sie auch Wichtiges im Leben teilen: Begabungen werden eingesetzt, sodass Verantwortlichkeit zum Ausdruck kommt; Liebe wird gelebt, sodass bei der liebenden Person ebenso wie bei der ge- liebten Freude wachsen. Literatur: ____ Frankl, ____ Viktor E., Der leidende Mensch, Bern 1984 Böschemeyer, ____ Uwe, Warum es sich zu leben lohnt, Salzburg 2010 Krenzer, ____ Ferdinand, Morgen wird man wieder glauben, Limburg 2000 Hüther, Gerald, Resilienz, in: Günter Opp, Was Kinder stärkt, München 2007 Dr. Elias D. Stangl hat sich in seiner Doktorarbeit mit dem Thema „Resilienz durch Glauben?“ beschäftigt. Er ist Fortbildungsbeauftragter bei der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese Augsburg e.V.
16 | RESILIENZ Ein Indianer kennt seinen Schmerz Wer seine Gefühle zulässt, fühlt sich besser. Der Schmerz, Wie gut tut es, wenn ich mit den biblischen der geäußert werden darf, entlastet die Seele. Die Bibel kann Geschichten entdecken darf, dass ich mit meinen helfen, ehrlicher zu sich und der Welt zu sein. Gefühlen von Gott gemacht, gesehen und gewollt bin. Und dass ich sie bei Gott auch ausleben darf, weil „Was löst das in Ihnen aus?“ – So lautet eine der häu- er mich aushält: laut und leise, wimmernd und herz- figsten Fragen, die während eines Kurses bei Stufen lich lachend, zermürbt und voller Enthusiasmus. – des Lebens gestellt wird. Die Frage nach den Gefühlen in bestimmten Alltagssituationen. Und genau diese – Im Kurs „Beten – Atemholen der Seele“ tauchen wir Alltagssituationen oder auch bekannte Alltagsgefühle – ein in die Geschichte von der „Heilung des besesse- Alltagssituationen und begegnen uns in vielen biblischen nen Knaben“ aus Mk 9. Vater und Sohn sind ganz Alltagsgefühle begegnen Geschichten. Wir können uns darin eng durch die Krankheit verbunden. Aneinanderge- uns eigentlich in jeder selbst entdecken. Wir kommen darin bunden. Ihre Lebensgeschichten miteinander ver- biblischen Geschichte vor, manchmal eher versteckt, aber woben. Kenne ich das? Welche Gefühle löst dieses manchmal schauen wir uns durch sie direkt in die Au- Bild in mir aus? Ich weiß um die Beziehung zu mei- gen, wie in einen Spiegel, der uns vorgehalten wird. nem Vater, auch um die problematischen Punkte. Diese Frage nach den Gefühlen in mir ist zentral für Ich kenne diese biblische Geschichte, unzählige mein Leben. Gefühle wahrnehmen zu können, sie Male gehört. Und dann spricht mich dieses Boden- zu benennen, sie zu achten und mit ihnen adäquat bild im Kurs an. Vom Erkennen und Verstehen umzugehen macht mich stark für meinen Alltag, komme ich ins Fühlen. Diese Gefühle in mir fangen für mein Leben – macht mich sozusagen resilient. an zu brodeln – wie im Kochtopf das Wasser anfängt zu simmern – und die ersten Wasserblasen kommen Nicht jeder lernt das Wahrnehmen der eigenen Ge- in Form von Tränen aus mir heraus. Ich bin berührt. fühle von Kindesbeinen an. Immer noch sind wir Und da ist Jesus mit im Bild. Er hat die Verbunden- beim Erziehen unserer Kinder gut dabei, Heulsusen heit gelöst und Sohn und Vater in die Freiheit ge- auszubremsen, „Indianer, die den Schmerz runter- führt. Er ist es in diesem Moment in mir, der die schlucken“, zu loben und Kinder zu dämpfen, die vor Gebundenheit zu meinem Vater an dieser wunden Freude laut jubeln: ja nicht zu viel Gefühl zeigen! Stelle löst. Etwas in mir wird freier. Festgezurrte Aussagen über mich lockern sich. Ich kann aufrech- Wie gut tut es da, wenn Raum geschaffen wird, in ter stehen. Beide Beine fester auf den Boden stellen. dem Gefühle sein dürfen, angesprochen werden Dem Leben entgegenschauen mit Kraft. und miteinander ausgehalten werden. Damaris Friedrich leitet das Werk „Stufen des Lebens“ (SdL). Sie sie findet es faszinierend, wie sich biblische Geschichten mit der eigenen Lebensgeschichte verbinden lassen. | www.stufendeslebens.de
RESILIENZ | 17 Gottes Geist trägt mich durchs Leben Als Erstgeborener von vier Jungs in meiner Familie Dadurch begegnen sie auch diesem himmlischen Vater lernte ich schon früh, Verantwortung zu übernehmen und ihr Herz wird berührt und erfüllt. Heute, viele Jahre und für andere da zu sein. Schon beim ersten Mal in später und um viele Erfahrungen reicher, auch mit den der Jugendarbeit erlebte ich, wie Annahme und Wert- herausfordernden und anstrengenden im Leben, darf ich schätzung mein Herz erreichte und stärkte. Werte, die genau das erleben: Gott trägt mich mit seiner Liebe und ich sonst in meinem Alltag im Fußballverein und in der Gnade, im und durch dieses Leben. Schule nicht so wahrnahm, geschweige denn in der Fir- ma, in der ich lernte und in fünf Jahren kein einziges Ein starkes Erlebnis hatten meine Familie und ich an Wort des Lobes hörte. Heiligabend 2019. Unterwegs auf der A8 hat sich unser Auto auf regennasser Fahrbahn zweimal überschlagen. Auf meiner Reise des Glaubens spürte ich die Verände- Wie durch ein Wunder hatten wir nur leichte Blessuren. rung in meinem Leben. Einen ersten Höhepunkt erlebte Wir sind dankbar für das Geschenk unseres Lebens. ich, als ich durch Gottes Geist erkennen durfte, dass Gott mein himmlischer Vater ist. Er ist voller Liebe und Gnade Aleko Vangelis für mich und nimmt mich genauso an, wie ich bin! Das ist Consultant bei Steinbach & Partner Loch, dass ich als junger Mensch verspürte und das mir in Deutschland. Zuvor war er einige Jahre mein irdischer Vater nicht füllen konnte, wurde dadurch Leitender Referent von SoulDevotion, einer gefüllt. Seitdem kann ich nicht nur gestärkt durchs Jüngerschaftsbewegung, die Menschen Leben gehen, sondern ich kann den Menschen auch mit aus verschiedenen Gemeinden, Organisa- dieser Liebe, Annahme und Wertschätzung begegnen. tionen und Kirchen verbindet.
18 | RESILIENZ Natalies zweite Chance Seit einem schweren Motorradunfall ist Natalie Henkel (36) Auch ihre Familie war immer für sie da. Vater, Mut- querschnittgelähmt. Eine Schockdiagnose, doch sie hat sich ins ter, der große Bruder. Zu ihnen zieht sie zurück, ins Leben zurückgekämpft. Die Familie und der Glaube haben ihr Haus nach Dettingen an der Erms. Auf dem Weg zu- Kraft gegeben. rück in die Selbstständigkeit braucht sie Hilfe. Sie hat Schmerzen, kann manchmal nicht fassen, wie immo- An den 4. Juni 2015 hat Natalie Henkel nur noch bil sie ist. Doch sie gibt nie auf. Schritt für Schritt vage Erinnerung. Eine Kurve bei Blaubeuren, Roll- geht es voran. Bald auch im ganz wörtlichen Sinne: splitt, ein schwerer Sturz, Blackout. Koma und Quer- Mit einem Rollator und Schienen kann sie selbst ein schnittlähmung, kurz nach ihrem 30. Geburtstag. paar Meter gehen. Sie macht den Führerschein für Das Leben einer sportlichen jungen Frau war von ein Spezialfahrzeug mit Rolli-Verladesystem. Auto- heute auf morgen zum Stillstand gekommen. fahren ohne fremde Hilfe, was für ein Luxus. Das Erstaunliche ist, dass Natalie Henkel sich schon Natalie Henkel will nichts schönreden. Nicht jeder früh mit dem Tod beschäftigt hatte. Zum Zeitpunkt Tag ist gleich, nicht jede Stunde voller Hoffnung. des Unfalls besaß sie eine Patientenverfügung, die Und doch kann sie dem Leben wieder sehr viel ab- besagte: keine künstliche Beatmung! Also schalte- gewinnen. Auf eine ganz neue Weise lernt sie die ten die Ärzte am nächsten Tag die Maschine ab. alltäglichen Dinge schätzen. Wo früher alles immer schnell gehen musste, lässt sie sich nun Zeit: fürs Es war das erste Wunder, dass ihre eigene Atmung Essen, Natur genießen, Sonne tanken, mit anderen sofort wieder zurückkam. „Ich habe eine zweite Menschen zusammen sein. Auf eine ganz neue Chance bekommen“, sagt sie heute, auch Weise die alltäglichen wenn sie mit den Rahmenbedingungen „Ich bin sehr dankbar“, sagt sie. Im Winter hielt sie Dinge schätzen lernen dieser zweiten Chance zunächst nicht gut einmal am Straßenrand an und ließ sich vom glit- umgehen konnte: Das Leben ging weiter, aber auf zernden Schnee auf den Tannenzweigen verzau- ziemlich reduzierte Weise. bern. „Ich hatte Tränen in den Augen“, erzählt sie, „ein himmlischer Moment.“ Sie hat oft mit Gott gesprochen in jenen Tagen. Geschrien, geschimpft, ist mit ihm laut geworden. Natalie Henkel ist zurück im Leben. Es ist ein Kampf, „Das hat mir Kraft gegeben, das Gefühl, nicht allein noch immer. Die täglichen Mühen und Schmerzen. zu sein, auch in den einsamen Stunden zu spüren, Aber jeder noch so kleine Fortschritt zählt. Und dass jemand da ist“, erinnert sie sich. Geglaubt hat jeder noch so kleine Moment. Sie hat den Unfall sie schon immer, doch nun bekommt alles eine ganz überlebt, Gottseidank, auch wenn es nie wieder so existenzielle Bedeutung. sein wird wie vorher. Andreas Steidel
RESILIENZ | 19 Du hast eine Wahl Das Leben verläuft selten in geordneten Bahnen. Immer wieder Man mag sich fragen, ob eine solche Lebenskraft gibt es Höhen und Tiefen, ebene und krumme Wege. Dabei ist und innere Orientierung nur besonderen Personen es erstaunlich, wie manche Menschen selbst in aussichtloser vorbehalten ist. Ich glaube nicht. In meiner Zeit Lage nicht verzweifeln. Ein Beispiel aus dem Konzentrations- als Krankenhausseelsorgerin bin ich immer wie- lager und dem Alltag Schwerstkranker. der Menschen begegnet, die diese Wahl für sich getroffen haben, mehr zu sein Was bleibt uns, wenn uns Schweres geschieht, als ein schwerkranker Mensch. Ich bin mehr als das, was ich erleiden muss Unabänderliches in unser Leben tritt? Sind wir un- So erstaunlich es klingen mag: serem Schicksal einfach ausgeliefert? Auch wenn Ich habe bei ihnen Freiheit gefunden, über die Ge- wir es nicht ändern können, haben wir eine Wahl, genwart ihres Leidens hinauszusehen, sei es, dass uns zu ihm zu verhalten. Dass dies selbst unter un- der Blick sich dankbar zurückrichtete auf stärkende menschlichsten Bedingungen möglich ist, hat der Erfahrungen in der Vergangenheit oder vorausging jüdische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl in zu freudigen Ausblicken in die Zukunft. Was ich bei seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen“ ein- diesen Menschen erlebt habe, geht über das vielge- drücklich beschrieben. In extremer trostloser Situ- priesene positive Denken hinaus. Dieser innere Weg ation in mehreren Konzentrationslagern findet er des Erkennens, ich bin mehr als das, was ich erleiden Kraft, indem er über das Vorfindliche hinausblickt muss, mehr als das, was mir angetan wird, gehört für in eine Zukunft. Er stellt sich vor, dass er in einem mich zur Würde und Größe des Menschseins. hellen, warmen Vortragssaal steht und vor einem interessierten Publikum einen Vortrag hält über Eine solche Widerstandskraft finde ich im „Den- die Psychologie des Konzentrationslagers. So ist es noch“ der biblischen Psalmen: „Dennoch bleibe ich ihm immer wieder möglich, zu seinem eigenen Leid stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten einen Abstand zu gewinnen, sich nicht von ihm ver- Hand“ (Psalm 73,23). Ich muss mein Leben nicht auf schlingen zu lassen und auch nicht abzustumpfen. meinen eigenen Schultern tragen. Ich muss mich Im Gegenüber zu seinen Mitgefangenen will er die nicht selbst halten. Dies zu wissen, weniger im Kopf Menschlichkeit nicht aufgeben. als viel mehr im Herzen, das setzt in mir Kräfte frei und lässt mich über meine engen Grenzen hinaus- sehen und auch hinausgehen. Gertraude Kühnle-Hahn ist Leiterin des Seminars für Seelsorge-Fortbildung im Evangelischen Bildungszentrum im Haus Birkach.
20 | RESILIENZ RESILIENZ Stark werden in der Kindheit und Jugend
RESILIENZ | 21 Zunächst sind es meistens Eltern, die ihren Kindern zeigen, wie sie Hindernisse im Leben überwinden, Grenzen sprengen und aus Niederlagen gestärkt hervorgehen können. Später treten schulische und außerschulische Wegbegleiter mit weiteren Impulsen dazu. Religiöse Erziehung kann diesen Prozess des Erwachsenwerdens begleiten und entscheidend fördern, so dass aus Kindern souveräne Erwachsene werden.
22 | RESILIENZ Von Zwergen und Riesen Für die Pionierin der Resilienzforschung, Emmy Werner, Biblische Geschichten stärken Kinder in dem stand es zweifelsfrei fest: Eine religiöse Überzeugung ist ein Glauben, dass sich die Dinge letztlich zum Guten Schutzfaktor im Leben von „Risikokindern“, wie sie Kinder mit wenden werden. Dieses Grundvertrauen ist zentral ungünstigen Startbedingungen nannte. Aber wie genau kann für die Bildung von Resilienz. Wo ein Kind sich mit der Glaube Kinder stark machen? den Personen biblischer Geschichten identifiziert, geschieht noch etwas weiteres. Das Kind erschließt Da steht er. Für sein Alter genau richtig. Aber im für sich die Möglichkeit, ebenso in Beziehung zu Vergleich zum Riesen auf der anderen Seite: win- einem starken und fürsorglichen Gott treten zu zig. Das grölende Lachen aus dem feindlichen Lager können wie David, Mose oder Mirjam. Im besten lässt keinen Zweifel daran, dass ihn niemand dort Fall werden die Geschichten so erzählt, dass das ernst nimmt. Für David ist das kein Grund, den Mut Kind spürt: Dieser Gott ist auch mir zugewandt zu verlieren oder gar zu resignieren. Ungerührt und wird mich in einer Notlage nicht allein lassen. zückt er seine Steinschleuder, legt einen Stein ein, Tatsächlich zeigt die Forschung, dass stärkende wirbelt ihn durch die Luft, lässt los. Das Lachen ver- Bindungserfahrungen auch in der Gottesbeziehung stummt sofort. Der Zwerg hat den Riesen erlegt. gemacht werden, vorausgesetzt ihr liegt ein positives Gottesbild zugrunde. Ein einfacher Baustein religiöser Erziehung ist das Erzählen von biblischen Geschichten. Die Bibel ist Gottesbeziehung und Gottesbild entstehen nicht voller „Resilienz-Geschichten“. Geschichten, die im luftleeren Raum. Sie entstehen beim Hören davon erzählen, wie der Held und die Heldin eine von Geschichten, beim Erleben und Gestalten von scheinbar ausweglose Situation meis- Ritualen, im Spüren von Geborgenheit, tern, tiefe Krisen überwinden und über GRUNDVERTRAUEN IST im Beobachten und selbst Ausprobieren sich hinauswachsen. Mose, Mirjam, ZENTRAL FÜR DIE von Gebeten, im Mithineingenommen- Joseph, Esther, Bartimäus. Die Liste BILDUNG VON RESILIENZ Werden in die Gottesbeziehung ande- ließe sich lange fortführen. Natürlich, rer und in den vielen Augenblicken „Resilienz-Geschichten“ gibt es auch im säkularen dazwischen. Wo ein Kind in seiner Familie davon Kontext. Aber mehr noch als säkulare Geschichten etwas erfährt, da wächst auch die Zuversicht, als haben biblische Geschichten das Potential, den Blick Zwerg einen Riesen erlegen zu können. über die Alltagsrealität und -not hinaus zu weiten. Sie erzählen von einer größeren Wirklichkeit und von einem Gott mit größeren Möglichkeiten zur Überwindung von Krisen. Mirjam Wolfsberger ist Pfarrerin an der Jakobus-Gemeinde in Tübingen. Während ihres Master-Studiums im Fach „Religion und Psychotherapie“ hat sie sich ausführlich mit dem Thema Resilienz befasst.
RESILIENZ | 23 Wie Spiritualität Kinder und Jugendliche stark macht Spiritualität ist einer der großen Faktoren im Leben junger Folgende Elemente sind Teile von Menschen, der sie in einzigartiger Weise stärken oder stärkender Spiritualität: auch Schaden nehmen lassen kann. Daher ist es wichtig, • Glaube an eine liebevolle höhere Macht sowohl die stärkenden Seiten von Spiritualität zu kennen als • Achtung und Respekt gegenüber allen auch deren Schattenseiten. Wesen – und somit auch sich selbst gegenüber • Akzeptanz, dass andere Weltsichten Dabei besteht keineswegs Einigkeit darüber, was ebenfalls wertvoll sind Spiritualität eigentlich ist. • Förderung von Gemeinschaft • Prinzipielle Offenheit gegenüber allen, statt z.B. Die meisten Definitionen beinhalten jedoch die nur einer speziellen Elite, einer speziellen Rasse folgenden Punkte: oder nur einem Geschlecht offen zu stehen • Das Erleben von Transzendenz und/oder die • Eigenverantwortlichkeit wird ebenso betont Überzeugung, dass neben der Alltagsrealität noch wie das Vertrauen auf die höhere Macht eine höhere Realität existiert (z.B. Gott). Diese ist • Ausrichtung, die beinhaltet, dieses Leben zu für unser Leben zentral und es gilt, sich an ihr genießen sowie dessen Herausforderungen gut auszurichten. zu bewältigen. • Praktiken, die das Ziel haben, mit dieser höheren Realität in Kontakt zu leben und dieser einen Die folgenden Elemente wirken dagegen Platz im eigenen Leben zu geben. schädlich bzw. schwächend: • Das Bestreben, das eigene Potential voll zu entfalten. • Annahme einer überwiegend bösen oder strafenden höheren Macht Alle gängigen Spiritualitätsdefinitionen beinhalten • Annahme der Überlegenheit der eigenen zudem das Suchen und/oder Finden von Sinn. Und Gruppe sowie Hass, Abwehr, Herabwürdigung dies ist bereits der erste große Resilienzfaktor: das oder Ausgrenzung einzelner bzw. von Gruppen Leben an sich, alles Geschehen um sich herum so- • Alleiniger Wahrheitsanspruch wie das eigene Handeln als sinnvoll zu erleben. Wo • Verantwortungsabgabe an andere oder immer Sie jungen Menschen helfen, Sinn zu erleben die höhere Macht und sinn-voll zu handeln, stärken Sie diese. • Geringachtung des Lebens und komplette Ausrichtung auf ein Jenseits Stärkende und schädliche Spiritualität • Zwang, sich einem spirituellen Weltbild zu unterwerfen oder Nötigung zu spirituellen Kinder und Jugendliche mit einer stärkenden Spi- Handlungen, die den eigenen Werten ritualität haben u.a. ein besseres Selbstwertgefühl, widersprechen. sind körperlich und psychisch gesünder, erleben bessere Beziehungen, haben mehr Verantwor- Kinder und Jugendliche mit einer solchen Spiritu- tungsgefühl, zeigen mehr ehrenamtliches Engage- alität zeigen nicht nur deutlich weniger der oben ment, sind weniger anfällig für Drogen und kom- benannten Eigenschaften, sie sind auch gewalt- men seltener mit dem Gesetz in Konflikt. bereiter sowie anfälliger für Extremismus und Fanatismus. Fortsetzung › Martin Baierl Praxishandbuch Ritualeendhilfe für die Kinder- und Jug Buchempfehlung r erleben Spiritualität als Resilienzfakto Spiritualität ist einer der großen Resilienzfaktoren für erfolg- reiche Krisenbewältigung und positive Lebensgestaltung. Autor Titel Rituale sind dabei universelle Werkzeuge, um Spiritualität als Ressource nutzen zu können. Martin Baierl: Praxishandbuch Rituale für die Kinder- und Jugendarbeit 174 Seiten | Erschienen im Oktober 2020 bei Vandenhoeck und Ruprecht Preis: 20 € | ISBN-13: 9783525690123
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