MAGAZIN 01/18 - Stiftung Mercator Schweiz
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MAGAZIN 01/18 WALDEXPERIMENT Kinder entdecken die Natur und schaffen sich mit viel Fantasie ihre eigene Welt JUGENDRADIO Jugendliche gestalten eine Sendung zum Thema Religion Nach der Flucht: SMARTPHONE In einer Studie zur Medien- Integration durch Bildung nutzung arbeiten Forschende eng und Begleitung mit Jugendlichen zusammen
Liebe Leserinnen und Leser INHALT 68,5 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Konflikten, Gewalt und Verfolgung. 25,4 Millionen von NACHRICHTEN ihnen suchen Schutz in anderen Ländern. In der Schweiz S. 2— 4 leben über 120 000 Personen mit Fluchthintergrund. FRAGE AN DIE Darunter sind mehr als 36 500 Kinder und Jugendliche. Wir haben Statistiken studiert und blicken im Themen- schwerpunkt unseres Magazins hinter diese Zahlen (S. 6–23): Warum sind so viele Menschen auf der Flucht? Was bedeuten die Fluchtbewegungen für die Schweiz? WISSENSCHAFT S. 5 Wie kann man geflüchteten Kindern und Jugendlichen gute Zukunftschancen eröffnen? Fachpersonen geben Ant- worten. Sie machen deutlich: Geflüchtete brauchen von Anfang an die Chance, sich einzubringen und ihr Leben SCHWERPUNKT ≥ neu zu definieren. Insbesondere für junge Menschen sind S. 6 — 61 ein möglichst rascher Zugang zur Schule und zu Bildungs- EINBLICKE angeboten, eine persönliche Begleitung sowie soziale Kontakte wichtig, um in der Gesellschaft anzukommen. In den vergangenen Jahren sind mit Unterstützung S. 56—79 unserer Stiftung verschiedene Projekte für junge Geflüch- tete entstanden, die dies berücksichtigen. Wir schauen EIN WALD VOLLER WUNDER in unserem Magazin Menschen über die Schulter, die im S. 56—59 Rahmen von ‹Welcome to School› (S. 24–29) und ‹Inte- gration Intensiv› (S. 30–34) junge Asylsuchende auf den LIVE AUF SENDUNG Einstieg in die Berufslehre vorbereiten. Wir treffen zwei S. 60—63 Jugendliche, die dank des Förderprogramms ChagALL (S. 35–37) den Sprung aufs Gymnasium geschafft haben. AUSFLUG IN DIE WELT DER KINDER Wir besuchen eine syrische Familie, die in schulischen S. 64—67 Fragen von einer ‹Copilotin› (S. 38–42) unterstützt wird. Jugendorganisationen erklären, wie sie mit Hilfe des RAUS AUS DER KOMFORTZONE Kompetenzzentrums Varietà (S. 43–45) geflüchtete Kinder S. 68—72 und Jugendliche in ihre Angebote integrieren. Studie- rende berichten, wie sie sich mit dem Projekt ‹Perspekti- NICHT OHNE MEIN SMARTPHONE ven – Studium› (S. 46–51) für den Hochschulzugang S. 73—75 von Geflüchteten einsetzen. Und ein interkultureller Ver- mittler (S. 52–55) gibt Einblicke in seine Arbeit. Es sind EIN KRITISCHER BLICK IN DEN SPIEGEL sehr persönliche Erfahrungen von Projektleitenden, S. 76—79 Freiwilligen und jungen Geflüchteten, die im Zentrum un- seres Magazins stehen. Ankommen brauche Zeit, sagen sie. Ankommen bedeute, das persönliche Potenzial entfal- ten und Zukunftsperspektiven entwickeln zu können. ENGAGIERT Ankommen heisse, Gemeinschaft zu erfahren. Wir setzen S. 80 uns dafür ein, dass geflüchtete junge Menschen diese Möglichkeit erhalten und irgendwann sagen können: «Ich bin angekommen.» Andrew Holland Geschäftsführer STIFTUNG MERCATOR SCHWEIZ Die Stiftung Mercator Schweiz setzt sich für eine engagierte und weltoffene Gesellschaft ein, die verantwortungsvoll mit der Umwelt umgeht und allen Kindern und Jugendlichen in der Schweiz gute Bildungschancen bietet. Dafür initiiert sie Projekte und fördert Vor- haben von Organisationen und Institutionen, die dieselben Ziele verfolgen. Die Stiftung ermöglicht Wissenschafts- und Praxisprojekte, stärkt Organisationen in ihrer Entwicklung und sorgt dafür, dass Erfahrungen und Erkennt- nisse verbreitet werden. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Förderung junger Menschen in der Schweiz. www.stiftung-mercator.ch
FLUCHT, INTEGRATION, BILDUNG Warum sind so viele Menschen auf der Flucht? Wie kann Integration gelingen? Welche Rolle spielt das freiwillige Engagement für Geflüchtete? Wie kann man geflüchteten Kindern gute Zukunftschancen eröff- nen? Fachpersonen beantworten Fragen rund um Flucht, Integration und Bildung. S. 6—23 EINE AUFGABE IM ALLTAG Sie wollen die Zeit bis zum Asylentscheid sinnvoll nutzen: Junge Asylsuchende lernen Deutsch, Mathematik und allgemeinbildende Fächer, um sich auf eine Berufsbildung vorzubereiten. Unterrichtet werden sie von Freiwilligen. S. 24—29 AM ANFANG IST ALLES NEU Das Programm ‹Integration Intensiv› hilft jungen Asyl- suchenden dabei, in der Schweiz Fuss zu fassen. Neben Unterricht prägen ausserschulische Aktivitäten das Angebot. Denn Integration beginnt im Alltag. S. 30—34 EIN KLARES ZIEL VOR AUGEN Es ist ein hartes Stück Arbeit, um als begabter junger Flüchtling den Sprung aufs Gymnasium zu schaffen. Die Sprache ist dabei die grösste Herausforderung. Mit einem gezielten Training wird der Traum wahr. S. 35—37 ORIENTIERUNG IM SCHULALLTAG Für geflüchtete Familien ist in der Schweiz alles neu. SCHWERPUNKT Wie funktioniert das Bildungssystem? Was erwartet die Schule von den Eltern? Wie können sie ihre Kinder AN(GE)KOMMEN unterstützen? ‹Copiloten› begleiten Familien in schulischen Fragen. Viele junge Menschen S. 38—42 sind in den vergangenen GEMEINSCHAFT, KONTAKTE UND ZUSAMMENHALT Vereine und Verbände bieten Kindern und Jugendlichen vielfältige Möglichkeiten, Gleichaltrige zu treffen, sich Jahren in die Schweiz zu bilden und zu entfalten. Sie können einen wertvollen Beitrag zur Integration leisten – wenn sie sich inter- geflüchtet. Wie können kulturell öffnen. S. 43—45 wir sie dabei unter- DER TRAUM VOM STUDIUM stützen, Zukunftspers- Unter den jungen Menschen, die in die Schweiz flüchten, sind auch Studierende. Viele träumen davon, ihr Studium pektiven zu entwickeln? fortzusetzen. Gasthörerprogramme und eine Website zeigen ihnen ihre Möglichkeiten auf. S. 46—51 S. 6—55 BRÜCKENBAUER ZWISCHEN DEN KULTUREN Wenn die richtigen Worte in der neuen Sprache noch fehlen, kann es zu Fragen und Missverständnissen kommen. Personen, die interkulturell vermitteln und dolmetschen, helfen bei der Verständigung. S. 52—55
NACHRICHTEN VERNETZUNG FÜR MEHR MITWIRKUNG Der Campus für Demokratie schafft regelmässig Begegnungen für Akteure aus Bildung, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Forschung und Politik, um die Partizipation von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Die lokalen Vernetzungsanlässe bieten vielfältige Austauschmöglichkeiten und vermitteln Ideen und Informationen, wie die Partizipation von Kindern und Jugendlichen gelingen kann. «Ziel ist es, dass bis 2020 in jedem Kanton und im Fürsten- tum Liechtenstein ein solcher Anlass stattfindet», erklärt Carol Schafroth, Geschäftsführerin vom Campus für Demokratie. ‹Ohne Partizipation keine Demokratie› war das Schwerpunkt- thema an der ersten Veranstaltung im Oktober 2017 in Bern. In Luzern ging es im März 2018 um das Lernen über, durch und für Menschenrechte. In St. Gallen diskutierten die Teilnehmenden im April 2018 über eine veränderte Gesellschaft und neue Partizi- pationsmöglichkeiten. In Basel stand im Juni 2018 die Partizipation im Zeitalter der Migration im Zentrum. Die Schwerpunktthemen wechseln, ebenso die Partnerorganisationen. Der Campus für Demo- kratie bietet regionalen Akteuren die Möglichkeit, ihre Arbeit im Rahmen der Anlässe vorzustellen und mit den Anwesenden über gute Beispiele zu diskutieren. Nach den ersten Anlässen zeigt sich: «Es ist den Teilnehmenden ein grosses Anliegen, sich mit anderen Akteuren zu vernetzen und voneinander zu lernen», sagt Carol Schafroth. Viele haben im Anschluss weitere Treffen geplant. 2 MERCATOR MAGAZIN
MEHR KULTURELLE TEILHABE ERNÄHRUNGSFORUM Kulturelle Teilhabe schafft gesellschaft- NIMMT ARBEIT AUF liche Teilhabe. Sie stärkt den positiven Selbstbezug, ermächtigt zur verantwor- tungsvollen Mitgestaltung der Umwelt Woher stammen die Lebensmittel, die wir geniessen? Wurden und wirkt dem Auseinanderfallen sie unter fairen Bedingungen hergestellt? Genügen sie hohen immer komplexer werdender Gesell- ökologischen und tierethischen Standards? Um diese Fragen zu schaften entgegen. Entsprechend diskutieren und Verbesserungen in die Wege zu leiten, haben befindet sich die kulturelle Teilhabe mittlerweile ganz oben auf der Agenda 69 Firmen und Organisationen zusammen mit 32 Einzelpersonen der Kulturpolitik. Kaum eine öffentli- das Ernährungsforum Zürich gegründet. Viele von ihnen sind als che Kulturinstitution kommt ohne ent- Gemüsegärtnerinnen, Landwirte, Lebensmittelverarbeiter, Händler sprechende Massnahmen aus. Doch und Gastronomen bereits mit Innovationen im Ernährungssystem die Umsetzung der hohen Ziele der Zürich aufgefallen. Mitglieder sind auch Fachmedien, Bildungs- kulturellen Teilhabe in der täglichen Praxis ist eine grosse Herausforderung und Forschungsinstitutionen, Beratungsunternehmen und Interes- für Kulturinstitutionen, Kulturvermitt- senorganisationen sowie zahlreiche Einzelpersonen, die sich lerinnen und -vermittler. für gutes Essen und Trinken in Zürich einsetzen. Die Publikation ‹Zurücktreten Das Ernährungsforum Zürich orientiert sich an Vorbildern, bitte! Mehr kulturelle Teilhabe durch rationale Kulturvermittlung› von die in englischsprachigen Ländern ‹Food Policy Council› und der Kulturwissenschaftlerin Wanda in Deutschland ‹Ernährungsrat› genannt werden. Es lanciert Pro- Wieczorek nimmt die Nöte der Praxis jekte, organisiert Diskussionsrunden und Betriebsbesichtigungen, ernst und geht den dringendsten betreibt Bildungsarbeit und erarbeitet Empfehlungen für die Fragen einer auf Teilhabe und Mitbe- Stadt. Alles mit dem Ziel, ein nachhaltiges Ernährungssystem im stimmung ausgerichteten Kulturver- mittlung auf den Grund. Grundlage Raum Zürich zu fördern. Das Ernährungsforum Zürich geht auf sind die Erfahrungen aus dem Praxis- den Erlebnismonat ‹Zürich isst› zurück: 100 Organisationen hatten projekt ‹Die Kunstnäher_innen› des im September 2015 auf Initiative der Stiftung Mercator Schweiz Institute for Art Education der Zürcher und der Stadt Zürich über 200 Veranstaltungen – Ausstellungen, Hochschule der Künste; einem Projekt, Vorträge, Workshops oder Aktionen in Schulen und im öffent- das ausdrücklich einer teilhabeorien- tierten Kunstvermittlung verpflichtet lichen Raum – auf die Beine gestellt, um die Öffentlichkeit für die war. In der Publikation werden nicht nur Bedeutung einer nachhaltigen Ernährung zu sensibilisieren. An die Herausforderungen der teilhabe- der Abschlussveranstaltung kam der Wunsch auf, einen Runden orientierten Kulturvermittlung sichtbar, Tisch zu organisieren, der Akteure im Bereich Ernährung in der sondern auch Möglichkeiten disku- tiert, wie ein Umgang damit gefunden Stadt Zürich vernetzt. In einem Zukunftslabor und an Vernetzungs- werden kann. Das Buch ist im kopaed tagungen wurden Ideen für Aktivitäten entwickelt. Daraus ist am Verlag erschienen. 20. März 2018 das Ernährungsforum Zürich entstanden. IMPULSE FÜR PROJEKTIDEEN Die VSUZH Impulsfabrik unterstützt das gesellschaftliche Engagement von Studierenden an der Universität Zürich. Wer eine eigene Projektidee umsetzen oder eine Organisation gründen möchte, erhält von der Impulsfabrik Unterstüt- zung. Wer sich engagieren möchte, aber noch nicht weiss, welche Initiative für ihn interessant ist, findet dort Rat. Auch studentische Organisationen, die neue Mitstreiter suchen, können um Hilfe bitten. Mit der ‹Activity Fair› hat die Impulsfabrik, die von Studierenden geführt wird, eine Messe im Haupt- gebäude der Universität Zürich orga- nisiert, an der sich die vielfältigen studentischen Organisationen der Hoch- schule präsentieren konnten. 3
NACHRICHTEN BILDUNG ALS ALLTAGSERLEBNIS Im Zentrum des Openki-Festivals vom 2. bis zum 6. Mai 2018 und zuvor an der Openki-Night vom 16. Februar 2018 stand das kollek- tive Lernen. Mehr als 40 Kurse haben Zürcherinnen und Zürcher an verschiedenen Orten in der Stadt Zürich – darunter die Kunst- halle, Photobastei und der Impact Hub – auf die Beine gestellt. Die Kurse waren so vielfältig wie das Wissen und die Interessen in der Bevölkerung: Sticken, Partnerakrobatik, Beatboxen, Deutsch lernen, Arabisch kochen, Programmieren … Daneben fanden Diskus- sionsrunden rund um das Thema selbstorganisierte Bildung statt. «Wir waren überwältigt von den vielen Personen, die sich mit Kurs- ideen bei uns meldeten und unentgeltlich ihren Kurs am Festival durchführten», sagt Projektleiterin Flavia Fries zufrieden. Das Openki-Festival war der Startschuss für eine selbstorgani- sierte lokale Lerngemeinschaft in Zürich: Bildung soll ein kollek- KULTUR BEEINFLUSST tives Alltagserlebnis werden – selbstorganisiert, partizipatorisch, KUNSTUNTERRICHT offen für alle. «Jede und jeder hat Wissen, Erfahrungen und Fähig- Studierende der Zürcher Hochschule keiten, die sie oder er mit anderen teilen kann», betont Flavia Fries. der Künste begegnen angehenden Damit das selbstorganisierte Lernen funktioniert, hat eine Gruppe Lehrpersonen für den Kunstunterricht aus dem Südkaukasus: Das Austausch- Freiwilliger eine Web-Plattform entwickelt: Openki.net macht projekt ‹Art matters› der artasfounda- Bildung für alle hürdenfrei zugänglich. Menschen können auf der tion organisiert zweiwöchige Treffen Plattform selbst vorschlagen, was sie lernen oder was sie anderen in Abchasien /Georgien und Tawusch / beibringen möchten. So entstehen selbstorganisierte Lerngruppen. Armenien mit Gegenbesuchen in Zü- Diese können sich in ihren eigenen Räumen oder den Räumen, die rich. Im April 2018 reiste eine Gruppe aus Zürich erstmals nach Suchumi, ihnen Openki erschliesst, treffen. Von Openki organisierte Work- um Einblicke in die pädagogischen An- shops und Treffen fördern den Erfahrungsaustausch und die Weiter- sätze an dortigen Schulen zu gewinnen. entwicklung des selbstorganisierten Lernens. Veranstaltungen Sie erkannten, welchen Einfluss das sollen auch künftig zum kollektiven Lernen motivieren. Dass dies kulturelle Erbe auf den Kunstunterricht klappt, zeigen die Erfahrungen des Openki-Festivals im Mai 2018: hat und machten wertvolle Erfahrun- gen für den Unterricht in einer kulturell Im Anschluss an das Festival wurden auf der Internetplattform vielfältigen Schweiz. verschiedene Kurse angemeldet und durchgeführt. DRAUSSEN UNTERRICHTEN Wie geht Mathematik draussen? Errei- che ich die Lehrplanziele für Deutsch auf dem Waldsofa? Wie argumentiere ich in meinem Team und bei meiner Schulleitung, wenn ich mehr Zeit mit meiner Klasse im Freien verbringen möchte? Damit Lehrpersonen ihren Unterricht in der Natur lehrplangerecht gestalten können, bietet die Stiftung Silviva ihnen neben Kursen, Veranstal- tungen und Beratungen das Praxis- handbuch ‹Draussen unterrichten› mit einer Vielfalt an Ideen, Argumenten und Werkzeugen. Das 280-seitige Hand- buch ist im April 2018 im hep-Verlag erschienen. Über 150 Lehrpersonen haben die darin vorgestellten Aktivi- täten getestet. Weitere Fachpersonen haben zum Inhalt beigetragen. 4 MERCATOR MAGAZIN
FRAGE AN DIE WISSENSCHAFT Tatsächlich verfolgt eine steigende Zahl von Kon- sumenten und Produzenten solidarökonomische SOLIDARÖKONOMIE: Strategien. Dies spiegelt sich in der Zunahme neuartiger und altbewährter Formen der solidar- EINE CHANCE FÜR ökonomischen Zusammenarbeit wider. Unter die solidarökonomischen Strategien fallen unter DEN BIOLANDBAU? anderem die 65 regionalen Vertragslandwirt- schaftsinitiativen in der Schweiz. Dank einer ver- traglich verbindlichen Abnahme von Produkten BETTINA SCHARRER zu fairen, garantierten Preisen unterstützen die UMWELTHISTORIKERIN Initiativen Biobetriebe unabhängig von saisonalen Schwankungen in ihrer Existenz. Auch Produ- zenten-Konsumentengenossenschaften wie die Solidarökonomische Strategien sind im Bioland- Agrico in Basel fördern erfolgreich die Verbreitung bau kein neues Phänomen. Schon in der frühen des Biolandbaus. Für etwa 850 aktive Mitglieder Phase des Biolandbaus spielten Produzenten- und und ungefähr 2000 Nicht-Mitglieder produzieren Konsumentengenossenschaften wie die 1972 sie auf 20 Hektar eigener und 75 Hektar gepach- gegründete ‹Biofarm-Genossenschaft› eine wich- teter Fläche Biogemüse. tige Rolle. Seither hat der Biolandbau seine Nische längst verlassen und eine beeindruckende Ent- AUSWEGE AUS DER ZWICKMÜHLE wicklung erfahren: Heute werden 14,4 Prozent der Ein weiteres Modell der Solidarökonomie sind landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Schweiz Produzentengenossenschaften, die dank einer biologisch bewirtschaftet. Bioprodukte erlangen eigenen Vermarktung oder auch Verarbeitung die 9 Prozent des Marktanteils an Nahrungsmitteln. Existenz vieler Biobetriebe sichern. Dazu zählt Sie gelangen mehrheitlich über die Grossverteiler die Genossenschaft ‹La Terra e il Cielo› in Italien, zu den Konsumentinnen und Konsumenten. Doch die über 100 kleinere und mittlere biologisch dieser Erfolg schafft auch neue Abhängigkeiten. produzierende Betriebe vereint und ihnen die Ab- nahme ihrer Ernte zu fairen, kostendeckenden HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE PRODUKTION Preisen garantiert. Da die biologische Produktions- Eine grundsätzliche Herausforderung für die weise eine Bedingung für den Eintritt in solche Ausweitung der biologischen Produktion ergibt Genossenschaften ist, werden Betriebe zur Umstel- sich aus der dominanten industriellen Produk- lung motiviert. Diese Beispiele werfen ein Schlag- tions- und Marktlogik, die ein qualitativ und quanti- licht auf die Vielschichtigkeit und das Entwick- tativ gleichförmiges, vorhersehbares Angebot von lungspotenzial solidarökonomischer Strategien zur möglichst preiswerten Nahrungsmitteln fordert. Förderung des Biolandbaus. So unterschiedlich Diese Anforderungen drängen auch Biolandwirte die Strategien auch sind, sie alle erhalten und för- dazu, natürliche Stoffkreisläufe aufzubrechen, dern das hohe Niveau der Biolandwirtschaft sowie sich von Standortbedingungen und der Fläche zu eine hohe Agrobiodiversität, indem sie praktische entkoppeln, saisonale Zyklen auszublenden und Auswege aus der Zwickmühle der vorherrschen- die Beschleunigung der biologischen Reifeprozesse den Produktions-, Vertriebs- und Vermarktungs- voranzutreiben. Sie stehen unter ständigem kapital- logik aufzeigen. intensivem Innovations- und Wachstumsdruck, ohne die Sicherheit zu haben, dass die Marktpreise am Ende die Produktionskosten decken. Solidar- ökonomische Strategien können Abhilfe leisten: Produzenten und Konsumenten vereinbaren teil- BETTINA SCHARRER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Inter- weise im direkten Kontakt miteinander Preise, disziplinären Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt der Universität Bern. Sie leitet das Forschungsprojekt ‹Die Bedeutung Produktionsanforderungen, Vermarktungswege der Solidarökonomie für die Entwicklung des ökologischen Landbaus und eine gerechte Abgeltung der geleisteten Arbeit. in Europa früher und heute›. Die Untersuchung trägt dazu bei, Ent- wicklungen, Potenziale und Hindernisse der solidarökonomischen Solidarökonomische Strategien unterstützen den Landwirtschaft bekannt zu machen und neue Fördermöglichkeiten zu Fortbestand und die Ausweitung biologischer erschliessen. Das Forschungsteam bezieht Schlüsselvertreter des bäuerlicher Betriebe, indem sie ökonomische Biolandbaus und der Solidarökonomie aus Praxis, Beratung, Wirtschaft und Politik ins Projekt mit ein. Insgesamt sind 30 Organisationen aus Anreize schaffen und das Verständnis der Konsu- der Schweiz, Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien beteiligt. mierenden für die Biolandwirtschaft fördern. www.solidarisch-biologisch.unibe.ch 5
SCHWERPUNKT EINE AUFGABE IM ALLTAG S. 24—29 AM ANFANG IST ALLES NEU S. 30—34 EIN KLARES ZIEL VOR AUGEN S. 35—37 ORIENTIERUNG IM SCHULALLTAG S. 38—42 GEMEINSCHAFT, KONTAKTE UND ZUSAMMENHALT S. 43—45 DER TRAUM VOM STUDIUM S. 46—51 BRÜCKENBAUER ZWISCHEN DEN KULTUREN S. 52—55 Einer von 110 Menschen weltweit sieht sich gezwungen, seine Heimat zu verlassen Genügt es, ein Land zu erreichen, um anzukommen? Alles ist neu. Die Kultur ist fremd, die Sprache eine Herausforderung. Viele junge Menschen sind in den vergangenen Jahren in die Schweiz geflohen. Sie wünschen sich eine Zukunft in Sicherheit. Sie wollen zur Schule gehen, lernen, Freunde finden. Irgendwann werden sie angekommen sein. Doch das braucht Zeit, Förderung und Begleitung.
68,5 Mio. Menschen sind weltweit auf der Flucht 0,9% der Weltbevölkerung fliehen vor Konflikten, Gewalt oder Verfolgung. Das entspricht über acht Mal der Bevölkerung der Schweiz. 52% sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Quelle: UNHCR,Global Trends 2017
Davon sind 40 Mio. 25,4 Mio. 3,1 Mio. Binnenvertriebene Flüchtlinge Asylsuchende Diese Menschen haben auf der Um sich in Sicherheit zu bringen, Diese Personen haben im Auf- Suche nach Schutz ihren Wohnort sind diese Menschen in ein ande- nahmeland ein Asylgesuch verlassen, ohne die Staatsgrenze res Land geflohen. gestellt und warten auf den zu überschreiten. Bescheid der Behörden. 19,9 Mio. der weltweiten Flücht- linge stehen unter dem Mandat des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Die über 5 Mio. palästinensischen Flüchtlinge werden vom UNO-Hilfs- werk UNRWA betreut. 57% der Flüchtlinge unter dem Mandat des UNO-Flücht- lingshilfswerks kommen aus nur drei Ländern 85% der weltweiten Flücht- linge finden Schutz in Entwicklungsländern 10 Länder nehmen fast zwei Drittel der Flüchtlinge auf Türkei 3,5 Mio. Pakistan 1,4 Mio. Uganda 1,4 Mio. Syrien Libanon 998 900 6,3 Mio. Iran 979 400 Südsudan Deutschland 970 400 2,4 Mio. Bangladesch 932 200 Afghanistan Sudan 906 600 2,6 Mio. Die Angaben beziehen sich auf die 19,9 Mio. Flüchtlinge Äthiopien 889 400 unter dem Mandat des UNHCR. Jordanien 691 000
SCHWERPUNKT Warum sind «Kriege, gewaltsame Konflikte, politische Verfolgungen und so viele Menschen Missstände sind die häufigsten Ursachen dafür, dass Menschen aus ihrer Heimat fliehen», auf der Flucht? erklärt Denise Efionayi-Mäder, Vizedirektorin des Schweize- rischen Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien TEXT / NADINE FIEKE der Universität Neuchâtel. Zur- zeit sind weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Täglich werden 44 400 Men- schen vertrieben. Alle zwei Sekunden muss jemand seine Heimat verlassen. Das sind die ernüchternden Zahlen, die das UNO-Flüchtlingshilfswerk Menschen auf der Flucht UNHCR am 20. Juni 2018 – dem Weltflüchtlingstag – in seinem 70 Mio. Bericht ‹Global Trends 2017› veröffentlicht hat. Die Zahlen wachsen 60 stetig. Wohin zieht es die Vertriebenen? Fast zwei Drittel der 50 Menschen bleiben als Binnenflüchtlinge im eigenen Land. Wer auf 40 der Suche nach Schutz das Heimatland verlässt, wird zumeist 30 von einem Nachbarstaat aufgenommen. Vergleichsweise wenige Flüchtlinge gelangen in den globalen Norden. In Europa leben 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 6,1 Millionen Flüchtlinge. Davon beherbergt allein die Türkei 3,5 Mil- lionen – fast ausschliesslich Opfer des Syrien-Kriegs. Es ist der blutige Bürgerkrieg in Syrien, der weltweit für die Syrien grössten Fluchtbewegungen sorgt. Praktisch alle Teile des Landes Ermutigt vom Arabischen Frühling forderten sind von Gewalt betroffen. Grossstädte wie Homs oder Aleppo Syrerinnen und Syrer im Frühjahr 2011 in friedlichen Demonstrationen mehr Freiheit. liegen in Schutt und Asche. 12,6 Millionen Syrerinnen und Syrer Die Regierung reagierte mit Gewalt, Mas- sind seit Ausbruch des Krieges im Jahr 2012 heimatlos geworden. senverhaftungen und systematischer Folter. Aus den Protesten hat sich ein Bürger- Die Hälfte von ihnen hat das Land verlassen, um in einem von krieg entwickelt, in dem sich Regierungs- 135 Staaten Schutz zu suchen. Afghanistan ist nach Syrien das truppen und Rebellengruppen unter Einmi- Land, aus dem die meisten Menschen fliehen: 2,6 Millionen schung internationaler Akteure gegen- überstehen. Der Krieg hat hunderttausende afghanische Flüchtlinge leben in 93 Ländern. Seit Jahrzehnten Menschen das Leben gekostet und Millio- bedrohen bewaffnete Auseinandersetzungen und Anschläge nen vertrieben. verschiedener radikal-islamischer Gruppierungen das Leben der Afghanistan Bevölkerung. Kaum ein Tag vergeht ohne einen Nachrichten- Seit 2001 herrscht in Afghanistan ein be- beitrag über das Leid der Menschen in Syrien und Afghanistan. waffneter Konflikt, in dem die nationalen Wesentlich unbekannter ist die Situation in Eritrea: «Die Haupt- Sicherheitskräfte (unterstützt von den inter- nationalen Streitkräften der Nato) den ursache für die Flucht ist der faktisch unbefristete National- Taliban und etwa zwanzig anderen Gruppie- dienst», erläutert Denise Efionayi-Mäder. Die Menschenrechts- rungen gegenüberstehen. Die Sicherheits- lage ist dramatisch, die Zahl ziviler Opfer organisation Amnesty International spricht von Zwangsarbeit. hoch. Die Bevölkerung ist Verfolgungen und Neben militärischen Aufgaben müssen Männer und Frauen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Arbeiten in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder im öffentlichen Dienst erledigen. «Auch wenn in Eritrea kein offener Konflikt Eritrea Eritrea gilt als äusserst repressives Regime. herrscht, sind die Menschen Verfolgung, Willkür und Misshand- Der Präsident, wenige Parteikader und Mili- lungen ausgesetzt», sagt die Migrationsforscherin. 486 200 tärangehörige bestimmen über das Land, Eritreerinnen und Eritreer haben ihr Land verlassen, 30 900 leben das keine Verfassung, Gewaltenteilung oder freie Medien hat. Folter und menschenun- in der Schweiz. Damit liegt Eritrea auf Platz neun der traurigen würdige Haftbedingungen sind laut Amnesty Rangliste der Länder mit den meisten Flüchtlingen. In der Schweiz International alltäglich. Viele Oppositio- nelle sind verschwunden. Der Nationaldienst stammen die meisten Menschen mit Fluchthintergrund aus ist faktisch unbefristet. diesem Land, gefolgt von Syrien und Afghanistan. 10 MERCATOR MAGAZIN
SCHWERPUNKT 385 Konflikte zählte das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung im Jahr 2017. Darunter waren 222 gewalt- same Konflikte und zwanzig Kriege, die Menschen in die Flucht trieben. Denise Efionayi-Mäder beobachtet Dominoeffekte: Konflikte brechen häufig dort aus, wo das Land knapp wird und Dürre herrscht – wie im Norden Nigerias oder in der Sahelzone. Umgekehrt verschärfen Gewalt und Unsicherheit die Umweltsitu- ation. So vermischen sich die Fluchtgründe. «Es gibt auch Per- sonen, die keine Zukunftsperspektive mehr sehen und einfach ein besseres Leben suchen», sagt die Forscherin. Schaffen diese Menschen es bis nach Europa, haben sie allerdings kaum eine Chance, zu bleiben. Denn als Flüchtlinge gelten sie nicht. Wie sind Flüchtlinge Genfer Flüchtlingskonvention Bis heute ist die Genfer Flüchtlingskonven- tion aus dem Jahr 1951 das wichtigste geschützt? internationale Dokument zum Schutz von Flüchtlingen. Die Konvention legt fest, wer ein Flüchtling ist sowie welche Rechte und Pflichten diese Menschen haben. Zu den Rechten gehören die Religions- und Bewegungsfreiheit, das Recht auf Arbeit, auf Bildung und auf Reisedokumente. Ursprünglich schützte die Genfer Flücht- lingskonvention ausschliesslich europäische Flüchtlinge, die aufgrund von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eintraten, zu solchen geworden sind. Das Protokoll von 1967 hebt jegliche zeitliche und geografi- sche Einschränkung auf. Asyl Anerkannte Flüchtlinge erhalten in der 148 Länder – darunter die Schweiz – haben die Genfer Flüchtlings- Regel Asyl – staatlichen Schutz vom Auf- nahmeland. Im Asylverfahren prüfen die konvention ratifiziert. Damit erklären sie sich bereit, Flüchtlingen Behörden, ob die asylsuchende Person die Schutz zu gewähren. Doch wer gilt als Flüchtling? Umgangs- Flüchtlingseigenschaft gemäss Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt. Dafür muss sprachlich werden alle Menschen, die ihre Heimat unfreiwillig ver- diese glaubhaft darlegen, dass sie in ihrem lassen mussten, als Flüchtlinge bezeichnet. Die Genfer Flücht- Heimat- oder Herkunftsstaat verfolgt wird lingskonvention ist strenger: Flüchtlinge sind demnach Personen, und keinen Schutz von diesem erwarten kann. Bei jeder asylsuchenden Person wird die ihr Land verlassen haben, weil sie dort verfolgt werden – vorab untersucht, ob gemäss dem Dublin- wegen ihrer Ethnie, Religion oder Nationalität, wegen ihrer Zuge- Abkommen ein anderer europäischer Staat für die Behandlung des Gesuchs zuständig hörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ist. Dies ist der Fall, wenn ein Asylbewer- ihrer politischen Überzeugung. Ob jemand den Flüchtlingsstatus ber bereits in einem der 32 Staaten des erhält, entscheidet das Asylverfahren im Aufnahmeland. Dublin-Raums (EU plus Norwegen, Island, Fürstentum Liechtenstein und Schweiz) Personen, die Asyl beantragen, gelten potenziell als Flücht- registriert wurde. linge und dürfen nicht weggeschickt werden, ohne dass ihre Situa- tion geprüft wird. Die Unterzeichnerstaaten der Genfer Flücht- lingskonvention haben unterschiedliche Handhabungen, was den Aufenthaltsstatus, die Rechte und Pflichten von geflüchteten Personen angeht. Entspricht ein Asylsuchender der Flüchtlings- definition gemäss Konvention, erhält er in der Regel Asyl. In der Schweiz werden manche Menschen trotzdem nur vorläufig aufge- nommen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Verfolgungs- gründe erst nach der Ausreise aus dem Herkunftsstaat entstanden sind. Schutzbedürftig sind auch Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Sie erhalten ebenfalls eine vorläufige Aufnahme. Wie für anerkannte Flüchtlinge gilt für Schutzbedürftige ohne Asyl das Non-Refoulement-Gebot: Niemand darf in ein Land zurück- geschickt werden, wo sein Leben gefährdet ist. 11
121 402 Menschen mit Fluchthinter- grund leben in der Schweiz Rechtlicher 2,2 Asylsuchende Status gibt es in der Schweiz pro Anerkannte Flüchtlinge Wer im Asylverfahren glaubhaft macht, 1000 Einwohner dass er wegen seiner Ethnie, Religion, Nationalit ät, Zugehörigkeit zu einer be- stimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Anschauung ver- folgt wird, erhält Asyl. Diese anerkannten Flüchtlinge erhalten den Ausweis B, der den Familiennachzug, eine unein- geschränkte Erwerbstätigkeit und volle 24 231 Bewegungsfreiheit ermöglicht. Nach Asylsuchende fünf bis zehn Jahren können sie eine Niederlassungsbewilligung beantragen, den Ausweis C. Vorläufig Aufgenommene Wer in der Schweiz vorläufig aufgenom- men wird, erhält den Ausweis F. Dieser Aufenthaltsstatus mit eingeschränkten Rechten wird alle zwölf Monate verlän- gert. Unterschieden wird zwischen vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen und anderen vorläufig aufgenomme- nen Personen. Ein vorläufig aufgenom- mener Flüchtling erfüllt die rechtlich definierte Flüchtlingseigenschaft, erhält jedoch kein Asyl, weil die Verfolgung erst wegen oder nach der Ausreise aus dem Herkunftsstaat eintrat. Auch Menschen, die vor Krieg und Gewalt flie- 4115 Personen hen, werden als Schutzberechtigte 51 512 müssen wieder häufig vorläufig aufgenommen. Allge- anerkannte ausreisen mein gilt: Vorläufig aufgenommen wird, Flüchtlinge wer nicht ausgewiesen werden kann, weil dies nicht möglich (Pass fehlt), nicht zulässig (Verstoss gegen internatio- nales Recht) oder nicht zumutbar (Krieg oder Krankheit) ist. Asylsuchende Wer noch im Asylverfahren steht, ist 41 544 vorläufig durch den Ausweis N dazu berechtigt, sich in der Schweiz aufzuhalten. Aufgenommene Quelle: Staatssekretariat für Migration, Asylstatistik 2017
18 088 11 Monate Menschen haben 2017 dauert durchschnittlich die in der Schweiz ein Asyl- Bearbeitung eines Asyl- gesuch gestellt gesuchs bis zum Bescheid 31,6% 0–2 Monate 35,6% 3–18 Monate 20,5% 19–24 Monate 12,1% 25–36 Monate 0,2% 37+ Monate 7327 Personen haben 2017 das Land wieder verlassen Eritrea 30 935 Syrien 13 639 Zwei Afghanistan 8151 Drittel Sri Lanka der in der Schweiz aner- 5581 kannten Flüchtlinge und vorläufig aufgenommenen Somalia Menschen kommen aus 4574 fünf Ländern
SCHWERPUNKT Was bedeuten die «Fluchtbewegungen verlaufen häufig zyklisch», erklärt Denise Fluchtbewegungen Efionayi-Mäder, Migrations- forscherin an der Universität Neuchâtel. Es gebe immer für die Schweiz? wieder Jahre, in denen die Fluchtbewegungen anwachsen und zurückgehen – abhängig von den internationalen Konflikt- herden. Mit 1,4 Millionen Menschen erreichte im Jahr 2015 die Zahl derjenigen, die in Europa Schutz suchten, ein Rekordniveau. 39 523 Menschen stellten damals Asylanträge in der Schweiz. Seither sinkt die Zahl der Gesuchstellungen wieder: 2017 haben 18 088 Per- Asylanträge in der Schweiz sonen Asyl beantragt. «Der Rückgang der Asylgesuche hängt jedoch nicht damit zusammen, dass die Fluchtursachen weniger geworden sind», betont Denise Efionayi-Mäder. Vielmehr seien die 21 465 23 765 39 523 27 207 18 088 Fluchtrouten über die Türkei und den Balkan sowie über das Mit- telmeer durch diplomatische Vorstösse und informelle Abkommen weitgehend unterbunden worden. 2013 2014 2015 2016 2017 «Die Schweiz kannte immer relativ hohe Zahlen, was Flucht- migration angeht», stellt Denise Efionayi-Mäder fest. 10 000 Zuweisung der Asylsuchenden bis 25 000 Asylgesuche wurden in den vergangenen Jahrzehnten an die Kantone regelmässig pro Jahr gestellt – mit drei grossen Ausnahmen: Die fünf Kantone mit den meisten und Mit dem Ausbruch der Jugoslawienkriege schnellte die Zahl der die fünf Kantone mit den wenigsten Asyl- suchenden: Asylgesuche im Jahr 1991 auf 41 663 hoch. Mit dem Ausbruch des Kosovo-Kriegs 1999 suchten 47 513 Menschen in der Schweiz Schutz. Und dann kam die Flüchtlingskrise von 2015. Von den aktuellen Konflikten und Krisen im Nahen und Mittleren Osten, die international zu grossen Fluchtbewegungen führen, sieht die Wissenschaftlerin die Schweiz weniger betroffen als andere europäische Länder wie Deutschland, Österreich, Schweden oder Frankreich. «Die Menschen gehen vor allem dorthin, wo sie Bekannte und Verwandte haben. In der Schweiz gab es bis- AI her keine grossen Exilgemeinden aus Syrien, Irak oder Afgha- AG ZH nistan», beobachtet die Soziologin. Das war zu Zeiten der Balkan- GL NW BE kriege anders. Da in der Schweiz bereits viele Arbeitsmigranten OW UR VD aus dem ehemaligen Jugoslawien lebten, wurde das Land in GE den 1990er-Jahren zu einem wichtigen Ziel der Kriegsflüchtlinge. Zurzeit wiederholt sich dieses Fluchtverhalten im Fall der Asyl- ZH 3892 FR 950 JU 233 suchenden aus Eritrea: Aufgrund einer grossen eritreischen BE 3474 GR 635 ZG 219 Diaspora hat die Schweiz im europäischen Vergleich viele Asylsu- AG 2049 SZ 570 AR 203 VD 1995 BL 491 GL 144 chende aus diesem ostafrikanischen Land. GE 1471 NE 486 UR 141 24 231 Asylsuchende lebten laut der Asylstatistik des Staats- LU 1448 TI 454 NW 123 sekretariats für Migration Ende 2017 in der Schweiz. Sie alle SG 1426 TG 379 AI 72 VS 1191 BS 345 OW 48 warten seit ihrer Einreise auf den Bescheid, ob sie im Land bleiben SO 1093 SH 296 o. A. 403 dürfen – viele seit Jahren. Nur wer für das Resettlement-Programm des UNO-Flüchtlingshilfswerks für besonders schutzbedürftige Opfer des Syrien-Kriegs ausgewählt wird, hat schon vor der Einreise den Flüchtlingsstatus und die Aufenthaltsbewilligung auf 14 MERCATOR MAGAZIN
SCHWERPUNKT Schutzquote sicher. Wer selbstständig auf dem Landweg in die Schweiz gelangt, muss in einem der fünf Empfangs- und Verfahrenszentren des 60% Bundes in Basel, Chiasso, Kreuzlingen, Vallorbe oder Altstätten 40 sein Asylgesuch stellen. Über einen Verteilschlüssel – dieser richtet 20 sich nach dem Anteil der Kantonsbevölkerung an der Gesamt- 2013 2014 2016 2015 2017 0 bevölkerung der Schweiz – geschieht schliesslich die Zuweisung Anerkennungsquote (Asylgewährung) der Asylsuchenden an die Kantone. «Viele der Asylsuchenden Schutzquote (Asylgewährung und werden viele Jahre lang oder dauerhaft in der Schweiz bleiben», vorläufige Aufnahme) prognostiziert Denise Efionayi-Mäder. Der Grund sei die aktuell hohe Schutzquote: 25 Prozent der Asylgesuche wurden 2017 gemäss Schweizer Asylstatistik positiv entschieden. Zudem erhiel- ten 30,5 Prozent der Asylsuchenden eine vorläufige Aufnahme. Konkret heisst das: 6360 Personen wurden als Flüchtlinge aner- kannt, 8419 wurden vorläufig aufgenommen. «Ein grosser Teil der Asylsuchenden ist heute schutzbedürftig», sagt die Migrations- forscherin. «Aufgrund der kritischen Lage in ihrer Heimat können sie nicht dorthin zurückgeschickt werden, ohne dass gegen das Völkerrecht verstossen wird.» Wie kann Integration gelingen? «Jeder, der von Integration spricht, hat eine eigene Vorstellung davon, was das bedeutet», stellt Denise Efionayi-Mäder fest. In der Soziologie verstehe man unter Integration einen gegenseitigen Prozess, in dem die Behörden und die Bevölkerung des Aufnahme- landes ebenso gefordert sind wie die Migrantinnen und Migran- ten. Dieser Aspekt gehe in der öffentlichen und politischen Diskussion oft unter, wie die Migrationsforscherin der Universität Neuchâtel erklärt. Dort stehe vor allem die Bringschuld der Geflüchteten im Zentrum: Sie sind es, die sich anpassen müssen. Sie müssen die hiesige Sprache und die gesellschaftlichen Regeln lernen. Sie müssen eine Arbeit finden. «Doch dafür braucht es entsprechende Rahmenbedingungen.» «Das Ziel muss sein, dass Geflüchtete an der Gesellschaft teil- haben», sagt Tobias Heiniger, Jurist bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Doch die langen Wartezeiten – oft sind es mehre- re Jahre – vom Asylantrag bis zum Asylentscheid erschweren dies. «Während sie auf ihren Bescheid warten, leben die Asylsu- chenden in einer Art Zwischenraum», sagt Denise Efionayi-Mäder. Ihre Unterkunft ist häufig abgelegen, sie haben kaum Kontakt zur Bevölkerung. Ihr Zugang zum Arbeitsmarkt ist begrenzt. 15
SCHWERPUNKT Bildungs- und Integrationsprogramme sind vielerorts erst nach Leben im Provisorium 41 544 vorläufig Aufgenommene leben in dem Asylentscheid vorgesehen. «Die Menschen haben kaum eine der Schweiz. Diesen Status hat die Hälfte Möglichkeit, in der Gesellschaft anzukommen», erklärt die Sozio- von ihnen seit vier Jahren und länger inne. login. Wenn der lang ersehnte Asylbescheid den Status ‹vorläufig 1 0–1 Jahr 1186 5 4–5 Jahre 3738 aufgenommen› verleiht, geht die Unsicherheit weiter. Die vor- 2 1–2 Jahre 2479 6 5–6 Jahre 3946 läufig aufgenommenen Personen – in der Schweiz sind es 41 544 – 3 2–3 Jahre 9112 7 6–7 Jahre 2653 führen oft jahrelang ein Leben im Provisorium. Das hat Folgen 4 3–4 Jahre 6825 8 7+ Jahre 11 605 für die Integration: «Die Bezeichnung suggeriert eine baldige Rück- 1 2 kehr. Doch tatsächlich bleiben diese Menschen viele Jahre oder sogar dauerhaft in der Schweiz», sagt Denise Efionayi-Mäder. 8 «Mit diesem Status ist es schwierig, eine Wohnung zu mieten und 3 eine Arbeit oder Lehrstelle zu finden.» Um die Integration zu Total 41 544 fördern, sollte aus Sicht der Wissenschaftlerin der Aufenthaltssta- tus durch einen Status für Schutzbedürftige ersetzt werden, 7 der dem Flüchtlingsstatus gleichgestellt ist. Entsprechende Vor- 6 4 stösse in der Politik sind bisher gescheitert. 5 Während man lange Zeit Integrationsmassnahmen an den positiven Asylentscheid knüpfte, beobachtet Denise Efionayi- Mäder in manchen Kantonen und Gemeinden ein Umdenken. Integrationsagenda Dass dies nötig ist, betont Tobias Heiniger: «Geflüchtete müssen Bund und Kantone wollen Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen künftig von Anfang an die Chance erhalten, sich einzubringen, zu arbeiten schneller in die Arbeitswelt integrieren. und ihr Leben neu zu definieren.» Vor allem bei Jugendlichen Dafür haben sie sich auf die gemeinsame Integrationsagenda geeinigt. Diese sieht dürfe man keine Zeit verlieren. Sie brauchten möglichst schnell deutlich erhöhte Investitionen pro Person, Zugang zu Bildung und eine gezielte Berufsvorbereitung. Die konkrete Wirkungsziele und einen ver- Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht deshalb in der Integrations- bindlichen Integrationsprozess vor, der be- reits kurz nach der Einreise beginnt. Eine agenda, die im Mai 2018 vom Bund verabschiedet wurde, einen Sprachförderung, eine Potenzialabklärung wichtigen Schritt: Ein verkürztes Asylverfahren sowie frühzei- und im Fall von Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine gezielte Vorbereitung auf tig einsetzende Bildungs- und Integrationsmassnahmen sollen vor die Berufsbildung sind zentral in diesem allem jungen Menschen dabei helfen, in der Schweiz beruflich Integrationsprozess. Eine Fachperson soll Fuss zu fassen. «Vorsichtig abwartend» werde er die Umsetzung die Geflüchteten individuell begleiten. der Integrationsagenda beobachten, sagt Tobias Heiniger. Ent- scheidend sei es nun, zügig ausreichend Bildungs- und Integrati- onsprogramme aufzubauen. Dabei können nach Meinung des Juristen die vielen privaten Initiativen, die in den vergangenen Jah- ren zur Förderung von jungen Flüchtlingen und Asylsuchenden entstanden sind, als Beispiele dienen. Zudem seien die Arbeitgeber aufgefordert, genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Ge- flüchtete zur Verfügung zu stellen. «Für eine nachhaltige Integration in die Gesellschaft ist es wichtig, das Potenzial der Geflüchteten auszuschöpfen», meint Tobias Heiniger. Entsprechend brauche es nicht nur Fördermass- nahmen auf dem Weg in die Berufsbildung. Auch gelte es, die Mittelschule und das Studium als Integrationswege zu fördern. «Geflüchtete mit akademischem Hintergrund sollte man schnell und unkompliziert in den universitären Alltag integrieren, statt sie in unqualifizierte Jobs zu vermitteln», betont Tobias Heiniger. Auch wenn die Integrationsagenda «nicht revolutionär» sei, setze sie ein wichtiges Zeichen für Kantone, die bisher eine sehr zurückhaltende Integrationspolitik verfolgt hätten, meint Denise Efionayi-Mäder. Damit Geflüchtete in der Schweiz ankämen, sei auch die Bevölkerung gefragt: «Integration kann nicht behördlich verordnet werden. Die Gesellschaft muss die Menschen kennenlernen und sich darum bemühen, dass sie ihren Platz finden.» 16 MERCATOR MAGAZIN
SCHWERPUNKT Welche Rolle spielen Freiwillige begleiten Geflüch- tete als Mentoren. Sie unterrich- Freiwillige? ten junge Asylsuchende, geben Kindern Nachhilfe und Eltern Sprachunterricht. Sie organisie- ren Sportnachmittage und Kochabende für Geflüchtete und Einheimische. Auf diese Weise leisten sie nicht nur eine wichtige Hilfe im Alltag der Geflüchteten, sie bilden auch eine Brücke in die Gesellschaft. «Das Engagement von Frei- willigen ist von unschätzbarem Wert», sagt Tobias Heiniger Online-Vermittlung von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Ohne sie gäbe es viele Die Online-Vermittlung bietet für die Frei- Bildungs- und Integrationsprojekte nicht.» Als im Sommer 2015 willigenarbeit grosse Chancen: Organi- sationen, die Freiwillige für ihre Projekte die Bilder der Flüchtlingskrise die Nachrichten beherrschten, ent- suchen, können auf entsprechenden Platt- stand eine grosse Welle der Solidarität. «Viele Menschen wollten formen ihre Inserate erfassen. Wer sich engagieren möchte, kann dort nach einer sich für Geflüchtete engagieren», erinnert sich Jeannine Stauffer, passenden Möglichkeit suchen. So finden Fachstellenleiterin von Benevol Winterthur. Viele starteten eigene Freiwillige und Organisationen unkom- Projekte, noch mehr meldeten sich bei gemeinnützigen Organi- pliziert für langfristige und punktuelle Pro- jekte zusammen. Benevol Schweiz führt sationen, um dort mitzuarbeiten. «Uns fiel auf, dass grosse Orga- mit benevol-jobs.ch eine der grössten Ver- nisationen Wartelisten führten, während kleine Organisationen mittlungsplattformen für Freiwilligenarbeit. Es gibt verschiedene weitere Angebote, Freiwillige suchten», erzählt Andreas Koenig. So gründete er zum Teil für spezifische Zielgruppen und zusammen mit einigen Mitstreitern den Verein plattform f, um die Themen. So konzentriert sich die Plattform Online-Vermittlungsbörse engagiert.jetzt aufzubauen. Im HEKS engagiert.jetzt auf das Engagement für Geflüchtete. Das Angebot ist Teil der Kam- fanden sie einen Partner, der diese Plattform für Freiwilligenen- pagne ‹Farbe bekennen›, mit der HEKS gagement im Flüchtlingsbereich im Rahmen der Kampagne ‹Farbe zu Solidarität mit Geflüchteten aufruft. Die bekennen› schweizweit bekannt machte. Inzwischen müssen Bevölkerung soll ermutigt werden, geflüch- teten Menschen mit Offenheit zu begeg- auch grosse Organisationen wieder vermehrt um Freiwillige wer- nen und sie dabei zu unterstützen, einen ben. Die Online-Vermittlung spielt dabei eine wichtige Rolle: Neuanfang zu schaffen. Auf Plattformen wie engagiert.jetzt oder benevol-jobs.ch inserie- ren regelmässig grosse wie kleine Organisationen. «Das Interesse der Bevölkerung, sich für Geflüchtete zu enga- gieren, ist wieder zurückgegangen», stellt Andrea Oertli, Koor- dinatorin der Kampagne ‹Farbe bekennen›, fest. Dabei sei gerade jetzt Engagement gefragt, wie Jeannine Stauffer von Benevol zu bedenken gibt: «Die Menschen, die in der Schweiz bleiben, brauchen Unterstützung bei ihrer sozialen und beruflichen Integra- tion.» Beim Werben um Freiwillige sollte auch der persönliche Nutzen des Engagements betont werden, meint Vithyaah Sub- ramaniam, die bei Caritas Schweiz für die Freiwilligenarbeit verant- wortlich ist. Einer sinnvollen Aufgabe nachzugehen, sei eine wichtige Motivation für freiwilliges Engagement. Vithyaah Subra- maniam sieht die Freiwilligenarbeit als eine wertvolle Ergänzung zu den staatlichen Aufgaben: «Für die vielfältigen Integrationsauf- gaben braucht es Profis.» Freiwillige leisten auf der persönlichen Ebene einen bedeutenden Beitrag zur Integration: Sie geben den Geflüchteten Orientierung in einer fremden Kultur, schenken ihnen ein offenes Ohr, sind Vertrauenspersonen. «Durch das Freiwilligenengagement finden menschliche Begegnungen statt», sagt Andrea Oertli. «Das hilft den Geflüchteten dabei, in der Schweiz anzukommen.» 17
36 593 geflüchtete Kinder und Jugend- liche wachsen in der Schweiz auf Anerkannte Flüchtlinge Asylsuchende Vorläufig Aufgenommene 62% 22 694 Kinder davon sind schulpflichtige Kinder zwischen 4 und 15 Jahren 27% sind Kinder zwischen 0 und 3 Jahren 9746 Kleinkinder Quelle: Staatssekretariat für Migration, Asylstatistik 2017; Interpret, Einsatzstatistiken zum interkulturellen Dolmetschen und Vermitteln 2017
739 Mal pro Tag Häufigste Einsätze: halfen interkulturelle Dolmetscher Tigrinya 56 302 Arabisch 37 868 und Vermittler im Jahr 2017 Persisch 27 977 bei der Verständigung – das sind insgesamt 269 744 Einsätze 11% sind Jugendliche 31 589 Mal zwischen 16 und leisteten sie Unterstützung 17 Jahren in Bildungsfragen 4153 Jugendliche 2116 unbegleitete Minderjährige 16–17 Jahre 58% leben in der Schweiz 733 13–15 Jahre 36% Kinder und Jugendliche reisten 8–12 Jahre 2017 ohne ihre Eltern ein und 0–7 Jahre 5,2% stellten ein Asylgesuch 0,8%
SCHWERPUNKT Wie kann man 7033 Kinder und Jugendliche sind 2017 in die Schweiz ge- geflüchteten Kindern flüchtet. Die meisten kamen mit ihrer Familie, 733 machten sich ganz allein auf den beschwer- und Jugendlichen lichen Weg. Sie alle haben ihr vertrautes Umfeld verloren. gute Zukunfts- Die Flucht und die Erlebnisse in der Zeit davor waren eine grosse Belastung und für viele chancen eröffnen? traumatisierend. «Die Kinder und Jugendlichen brauchen Sicherheit und Struktur», be- tont Andrea Lanfranchi, Leiter des Instituts für Professiona- lisierung und Systementwick- lung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Die Schule könne ihnen beides geben: «Der gere- gelte Alltag und die Beziehung zur Lehrperson können Wun- der bewirken. Die Schule ist für Brückenangebote, Attest- die Kinder ein sicherer Ort, eine Insel der Erholung und Weiter- und Vorlehren entwicklung», sagt der Psychologe. Brückenangebote sind für Jugendliche be- Kantone, Gemeinden und Schulen haben sehr unterschied- stimmt, die nach der Schule keinen Aus- bildungsplatz finden. Sie dauern zwischen liche Lösungen für die schulische Integration geflüchteter Kinder sechs Monaten und einem Jahr. Während entwickelt. «Kleine Gemeinden nehmen die Kinder schnell oder dieser Zeit können die Jugendlichen schulische Lücken aufarbeiten und beruf- sofort in die Regelklassen auf», erklärt Beat Zemp, Zentralprä- liche Pläne entwickeln. Die Attestlehre sident des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). richtet sich hauptsächlich an Personen mit Grössere Orte führen in den ersten Monaten Integrationsklassen. schulischen Schwierigkeiten. Die Praxis wird in einem Lehrbetrieb und die Theorie Viele Gemeinden ermöglichen einen fliessenden Übergang von an einem Tag pro Woche an der Berufs- der Integrationsklasse in den Regelunterricht. So nehmen geflüch- fachschule vermittelt. Die zweijährige Lehre führt zu einem eidgenössischen Berufsab- tete Kinder zunächst zusammen mit den einheimischen Kindern schluss. In der Vorlehre können junge an Sport oder Gestalten teil und später auch an sprachlich an- Menschen die praktische Seite eines Berufs spruchsvolleren Fächern. Beat Zemp schätzt dieses Vorgehen: kennenlernen und sich durch ihr Engage- ment profilieren. An drei Tagen pro Woche «Die Integration in eine neue Sprache, in eine neue Schrift, in eine arbeiten sie in einem Betrieb, an zwei andere Kultur mit anderen Regeln und Verhaltensweisen braucht Tagen haben sie Unterricht. Das einjährige Teilhabe. Kinder und Jugendliche müssen möglichst rasch am Angebot richtet sich an Personen, die schon wissen, was sie beruflich machen möchten, regulären Unterricht, aber auch an Freizeitangeboten von Ver- aber aus verschiedenen Gründen – zum einen und Jugendverbänden teilnehmen können.» Beispiel wegen sprachlicher Defizite – noch nicht bereit sind für eine Lehre. Doch die Chance, zur Schule zu gehen, bekommen nicht alle jungen Geflüchteten nach ihrer Ankunft in der Schweiz. Wer bei der Einreise über 16 Jahre alt ist, darf die obligatorische Schule nicht mehr besuchen. Dabei ist für die Zukunft dieser Menschen eine Schulbildung wichtig: Vielen fehlen neben den Sprach- kenntnissen auch die schulischen Grundlagen, um eine Ausbildung machen und auf dem Schweizer Arbeitsmarkt bestehen zu kön- nen. Auch der Aufenthaltsstatus ist eine Herausforderung für junge Geflüchtete. In vielen Kantonen stehen Bildungs- und Inte- grationsprogramme nur denjenigen offen, die bereits ein Blei- berecht haben. «Während des Asylverfahrens ist die Ausbildung blockiert», kritisiert Beat Zemp. Brückenangebote, Attest- und Vorlehren – Instrumente, die sich für die Berufsintegration schul- 20 MERCATOR MAGAZIN
SCHWERPUNKT Schulvisiten schwacher Jugendlicher bewährt haben – können dabei helfen, Viele Schulen entwickeln eigene Lösungen, junge Menschen mit Fluchthintergrund in die Arbeitswelt zu mit denen sie den täglichen Herausforde- rungen in der Schul- und Unterrichtspraxis integrieren. «Doch wichtig sind zunächst Deutschunterricht und begegnen. Gegenseitige Schulbesuche eine schulische Grundbildung», betont Beat Zemp. ermöglichen es, dieses Wissen mit anderen Schulen zu teilen. Solche ‹Schulvisiten› sind Für den LCH-Zentralpräsidenten ist es nicht nachvollziehbar, ein zentrales Angebot der Initiative profilQ, dass die Bildungsmöglichkeiten für über 16-Jährige eingeschränkt die vom Dachverband Lehrerinnen und sind: «Wenn Jugendliche aus mehrjährigen Bürgerkriegen zu Lehrer Schweiz (LCH) und vom Verband der Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz uns kommen und eine unzureichende Grundbildung mitbringen, (VSLCH) initiiert wurde. Der Austausch über haben sie ein Anrecht auf diese Bildung.» Artikel 19 der Bundes- Kantonsgrenzen hinweg und das Verbreiten von Wissen und Erfahrungen stehen im verfassung garantiere das Grundrecht auf eine ausreichende Zentrum von profilQ. Dabei helfen eine Web- und unentgeltliche Grundschulbildung – unabhängig vom Alter. site und regelmässige Veranstaltungen. Aus pädagogischer Sicht seien die Jugendlichen nicht zu alt für einen Schulbesuch. Mit Sorgen beobachtet Beat Zemp, dass Interkulturelles Dolmetschen Die Zusammenarbeit mit interkulturellen junge Menschen ohne ausreichende Grundbildung und Sprach- Dolmetschendern und Vermittlern ermög- kenntnisse im Schulsystem oft «rasch weitergeschoben» und nach licht es Fachpersonen aus dem öffentlichen kürzester Zeit in den Arbeitsmarkt vermittelt würden. «Sollen Dienst, ihre Aufgaben auch dann wahrzu- nehmen, wenn die Verständigung mit zuge- diese jungen Menschen eine Chance haben, künftig in der Schweiz wanderten Personen aufgrund fehlender ein selbstständiges Leben zu führen, benötigen sie eine Bildung Sprachkenntnisse nicht oder kaum möglich ist. Zugleich erleichtern es diese Vermitt- auf dem Niveau der obligatorischen Schule», appelliert Beat Zemp. lungspersonen den Zugewanderten, sich «Es braucht offene Türen im Bildungssystem.» in den schweizerischen Institutionen und in «Bildung vor Arbeit» müsse die Devise für die Integration der Gesellschaft zu orientieren und zu integrieren. Am häufigsten sind interkultu- junger Menschen mit Fluchterfahrung sein, unterstreicht Andrea relle Dolmetscher und Vermittler im Lanfranchi. «Nur das ist nachhaltig.» Bei der Förderung – idea- Gesundheitsbereich im Einsatz. Das Enga- gement in der Bildung machte 2017 elf lerweise systematisch, vollzeitlich, sofort nach der Einreise und wo Prozent aller Einsätze aus: immer möglich in den Regelstrukturen – solle das individuelle Potenzial im Zentrum stehen. Das bedeute auch, talentierten jun- 1 Primarstufe: 12 202 2 Psychosoziale Angebote: 5212 gen Menschen mit Fluchthintergrund, die trotz erschwerter 3 Sonderschulisches: 4485 Startbedingungen die Voraussetzungen für die Mittel- und Hoch- 4 Oberstufe: 2929 5 Vorschule: 2068 schule mitbrächten, den Weg dorthin zu eröffnen. «Wir sind 6 Berufsbildung: 1351 weit entfernt von einer Chancengerechtigkeit in der Bildung», gibt 7 Weitere Bildung: 3342 Andrea Lanfranchi zu bedenken. Individuelle Förderung und Begleitung sind nötig. Auch in der Schule. Denn die geflüchteten 1 Kinder und Jugendlichen bringen unterschiedlichste Schuler- fahrungen und Lernvoraussetzungen mit. «Viele Schulen in Quartieren und Dörfern mit günstigem 2 Total Wohnraum haben eine langjährige Erfahrung mit neu zugewander- 31 589 ten, häufig bildungsfernen Familien», sagt Beat Zemp. Auf diese 7 Erfahrungen könnten sie bei der Integration von Flüchtlingskindern 3 zurückgreifen. Ihre Praxis müsse man über das eigene Haus hin- 6 5 aus bekannt machen – zum Beispiel durch Schulvisiten. Der LCH- 4 Zentralpräsident empfiehlt einen möglichst intensiven DAZ- Unterricht (Deutsch als Zweitsprache) sowie eine enge Zusammen- arbeit zwischen Schule, Schulpsychologie, Heilpädagogik und Fachpersonen für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln, um die Kinder ihren Bedürfnissen entsprechend zu fördern. Andrea Lanfranchi ist überzeugt: Damit Kinder gut lernen, komme es auf die Lehrpersonen an. Im Umgang mit Flüchtlingskindern seien wie in der Arbeit mit allen Schülerinnen und Schülern Empathie, eine positive Erwartungshaltung und Wertschätzung gefragt. «Die Lehrpersonen müssen die Balance zwischen Normalität und Rücksichtnahme finden», betont der Psychologe. Die Schule ist ein wichtiger Ort der Bildung und Integration. Sie ermöglicht soziale Kontakte, die gerade für geflüchtete Kinder und Jugendliche wertvoll sind, um im neuen Land anzukommen. 21
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