Menschenrechtsarbeit unter verschärften Bedingungen. Unser Tätigkeitsbericht 2018 - Flüchtlingsrat - Flüchtlingsrat Niedersachsen
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Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. Menschenrechtsarbeit unter verschärften Bedingungen. Unser Tätigkeitsbericht 2018
Spendenkonto Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. GLS Gemeinschaftsbank e.G. KtoNr. 4030 460 700 BLZ: 430 609 67 IBAN: DE28 4306 0967 4030 4607 00 BIC: GENODEM1GLS Zweck: Spende Impressum Tätigkeitsbericht des Vorstandes des Flüchtlingsrats Niedersachsen e. V. für das Jahr 2018 Redaktion Johanna Lal, Dr. Sascha Schießl, Sebastian Rose Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Röpkestraße 12 30173 Hannover Tel.: 0511 / 98 24 60 30 Fax: 0511 / 98 24 60 31 Internet www.nds-fluerat.org www.facebook.com/Fluechtlingsrat.Niedersachsen E-Mail nds(at)nds-fluerat.org Hannover, Mai 2019
Inhalt Menschenrechtsarbeit unter verschärften Bedingungen. Unser Tätigkeitsbericht 2018 1 Politischer Rückblick: Massiver Gegenwind für Humanität und Solidarität 4 2 Veranstaltungen 13 2.1 Treffen niedersächsischer Flüchtlingsinitiativen 13 2.2 Ausgewählte Veranstaltungen 14 3 Berichte aus der Praxis 16 3.1 AMBA – Aufnahmemanagement und Beratung für Asylsuchende in Niedersachsen 16 3.2 Themen der Beratungspraxis – Einzelfälle 18 3.3 Die Arbeitsmarktprojekte, in denen der Flüchtlingsrat Niedersachsen tätig ist 19 3.4 Flüchtlingsfrauen* in Niedersachsen 22 3.5 Beratung in Abschiebungshaft 23 3.6 Familienzusammenführung 25 3.7 Perspektiven für junge Flüchtlinge 27 3.8 SEEBRÜCKE – Schafft sichere Häfen. 31 3.9 Resettlement – Ausweg aus der Hölle? 33 4 Arbeit der Initiativen vor Ort 36 4.1 Roma Center e. V. 36 4.2 Flüchtlingshilfe Wolfsburg e. V. 37 4.3 Arbeitskreis Asyl Cuxhaven e. V. 38 4.4 Migrationszentrum für Stadt und Landkreis Göttingen des Diakonieverbands Göttingen 39 4.5 Ausstellungen „Angekommen“/„Shame“ im Landkreis Gifhorn 42 4.6 IHK Stade für den Elbe-Weser-Raum 43 5 Der Flüchtlingsrat in Zahlen und Fakten 44 5.1 Finanzen, Spenden und Mitgliederentwicklung 44 5.2 Digitale Medien 45 5.3 Veröffentlichungen 47 5.4 Rechtshilfe 47 5.5 Mitarbeit in Arbeitsgruppen auf Landesebene 47 5.6 Vorläufiger Finanzbericht 48 Tätigkeitsbericht 2018 — 3
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. 1 Politischer Rückblick: Massiver Gegenwind für Humanität und Solidarität Öffentliche Debatte nach sich; medienbeherrschend ist eher die Aussage, dass „Anti-Abschiebe-Industrie“ – das Unwort des Jahres Deutschland es „nicht schafft“, abgelehnte Asylbewer- 2018 beschreibt treffend die seit einigen Jahren an- ber_innen – die im medialen und politischen Diskurs oft- haltende Diskursverschiebung nach rechts. Von einer mals mit Straftäter_innen und Gefährder_innen gleich- Willkommenskultur wie im Sommer und Herbst 2015 ist gesetzt werden – abzuschieben; eine Aussage, die von zumindest in der politischen Debatte und oft auch im Parteien wie der CSU oder der AfD bei jeder Straftat, die öffentlichen Raum nicht mehr viel zu spüren. Die CDU (vermeintlich) von einer/einem Ausländer_in verübt wird, spricht seit dem Wechsel an ihrer Parteispitze hinsichtlich gebetsmühlenartig wiedergekäut wird. der Merkelschen Flüchtlingspolitik von einem „Fehler“, Die Debatte wurde 2018 auf die Spitze getrieben durch der wiedergutzumachen sei, und ist gewillt, alles dafür polemische Wortneuschöpfungen wie „Asyltourismus“ tun, dass sich eine Situation wie 2015 nicht noch einmal und das bereits erwähnte Unwort „Anti-Abschiebe-Indus- wiederholt. Notfalls werde man die Grenzen komplett ab- trie“, die nur noch als zynisch bezeichnet werden können riegeln, so die neu gewählte CDU-Vorsitzende Annegret und letztlich Ausdruck einer menschenverachtenden Poli- Kramp-Karrenbauer. Bundesinnenminister Seehofer und tik und Praxis sind. Mit immer weitreichenderen Geset- die CSU, aber auch die CDU erzeugen mit sogenannten zesverschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht wird „Masterplänen“ und zahllosen Vorschlägen für immer Deutschlands Rechtsstaatlichkeit nicht nur verbal, son- neue Gesetzesverschärfungen einen bleibend hohen, dern auch faktisch immer weiter ausgehöhlt. faktisch aber völlig fehlgeleiteten Handlungsdruck. Statt sich mit Fragen der besseren Integration, Teilhabe und An- Der sogenannte „BAMF-Skandal“ erkennung von Schutzsuchenden zu beschäftigen, setzen Die öffentliche Diskursverschiebung zeigte sich im letz- sie auf Maßnahmen, mit denen die Flucht nach Deutsch- ten Jahr nicht zuletzt an der medialen Aufbereitung des land um jeden Preis verhindert werden soll beziehungs- sogenannten „BAMF-Skandals“ - oder: des Skandals, der weise Ausweisungen rigoroser durchgesetzt werden sol- kein Skandal war. Was geschah: Im April 2018 enthüllte len. Die Folge ist, dass die Aufnahme von Geflüchteten ein Recherchenetzwerk der Süddeutschen Zeitung, des mehr und mehr als „Problem“ wahrgenommen wird, das NDR und Radio Bremen „schwerwiegende Vorgänge“ bei es abzuwehren gilt, während humanitäre und solidarische der Außenstelle des BAMF in Bremen. Von einem „weit- Perspektiven kaum durchdringen. Nicht zuletzt durch den reichenden Skandal“, „Korruption“ und „Asylbetrug“ war Einzug der rechtsradikalen AfD in den Bundestag und die die Rede. In der Presse und in den sozialen Medien kam mediale Aufmerksamkeit für ihre Themen verbreiten sich es zu einer Rufmord-Kampagne gegen die Leiterin. Auch nationalistische Perspektiven und rassistische Ideen noch die Pressestelle des Bundesinnenministeriums verkün- schneller und finden in der Gesellschaft vermehrt Gehör. dete am 23. Mai 2018, dass im Ankunftszentrum Bremen Jedoch verschärft sich nicht nur die Tonlage gegenüber bewusst gesetzliche Regelungen und interne Dienst- Flüchtlingen: Allein im ersten Halbjahr 2018 wurden über vorschriften missachtet wurden. Herr Seehofer stimmte 700 Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte in öffentlichen Verlautbarungen in den Kanon ein. Die verzeichnet. Dabei wurden 120 Menschen verletzt. Die Leiterin wurde schließlich suspendiert. Bei den im Fokus Mehrzahl dieser Taten war rechtsextrem motiviert. Im stehenden Schutzsuchenden handelte es sich jedoch gleichen Zeitraum gab es zudem 39 politisch motivierte hauptsächlich um Jesid_innen, und die von der Bremer Angriffe gegen Hilfsorganisationen oder ehrenamtliche Außenstelle vorgenommene Schutzgewährung in den Unterstützer_innen von Flüchtlingen. Doch diese Vorfäl- Einzelfällen entsprach de facto der damaligen behördli- le ziehen keinen medialen oder gar politischen Aufschrei chen und gerichtlichen Entscheidungspraxis. Der IS hat- 4 — Tätigkeitsbericht 2018
Politischer Rückblick te im Nahen Osten sein Kalifat ausgerufen und im Zuge ten einzuklagen. 2018 wurden rund ein Drittel aller von weiterer Eroberungen Tausende von Jesid_innen getötet, den Verwaltungsgericht inhaltlich überprüften Bescheide misshandelt, vergewaltigt und versklavt. als falsch oder mangelhaft aufgehoben. Wohl keine ande- In seiner Analyse „Der eigentliche BAMF-Skandal – erst re deutsche Behörde könnte sich eine solche Fehlerquoten der Rufmord, dann die Recherche?“ kommt der Rechtswis- erlauben. senschaftler Professor Dr. Henning Ernst Müller zu dem Die Debatte um den vermeintlichen Skandal führt vor Schluss, dass die von den involvierten Kanzleien manda- Augen, wie es um die politische Kultur in Deutschland tierten Schutzsuchenden in Bremen zwar bevorzugt und mittlerweile bestellt ist. Dabei tritt die humanitäre Ver- wohlwollend behandelt und wohl auch Verwaltungsvor- antwortung, Schutzbedürftigen Schutz vor Verfolgung schriften missachtet worden seien. Die Frage, ob sich die und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten zu bieten, Leiterin der Bremer Außenstelle und die Anwälte straf- immer weiter in den Hintergrund. Mit der Ernennung bar gemacht hätten, sei jedoch mit einem großen Frage- von Hans-Eckhard Sommer zum neuen BAMF-Leiter sieht zeichen zu versehen. Die Ermittlungen sind noch nicht es nicht danach aus, als würde sich die Behörde auf ihre abgeschlossen. Seit über einem Jahr sind mehr als 40 eigentlichen Aufgaben konzentrieren und dafür Sorge Beamt_innen mit „intensiven Ermittlungen“ beschäftigt. tragen, die eigene Fehlerquote zu senken. Vielmehr agiert Rechtsanwalt Henning Sonnenberg stellte gegenüber der Sommer wie ein Politiker und attackiert die Landesflücht- Süddeutschen Zeitung treffend fest, normalerweise sei lingsräte wegen angeblich rechtswidriger Aktivitäten. es im Strafrecht so, „dass du eine Tat hast und den Täter suchst. Hier hat man vermeintliche Täter und sucht ver- Konsequenzen der zweifelt eine Tat.“ europäischen Abschottungspolitik Für Politik und Medien ist es hingegen kein Skandal, Während die hysterische Debatte in Deutschland un- wenn Geflüchtete vom BAMF benachteiligt werden. Etwa vermindert weitergeführt wird, ist die Zahl der Schutz- 32.000 Fehlentscheidungen des BAMF mussten 2017 von suchenden nach wie vor hoch: Insgesamt 68,5 Millionen den Gerichten zugunsten von Geflüchteten korrigiert Menschen sind mittlerweile weltweit auf der Flucht. Doch werden. 40,8 % der Schutzsuchenden hatten Erfolg, bei da es immer weniger dieser Menschen überhaupt nach Gericht einen zuvor verweigerten Schutzstatus oder ei- Deutschland schaffen, ist davon hierzulande wenig zu nen besseren Schutzstatus als den vom BAMF zuerkann- spüren. So wurde hier ein Rückgang der gestellten Asyl- Demonstration „Herz statt Hetze“ am 12. September 2018 in Hildesheim © Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Tätigkeitsbericht 2018 — 5
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. anträge um 20 Prozent verzeichnet, was den deutschen Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt, UNHCR-Repräsentanten Dominik Bartsch zu der Aussage dass allein in der Sahara-Wüste mehr als doppelt so viele verleitete, die Flüchtlingskrise fände woanders statt, zum Migrant_innen sterben wie auf dem Mittelmeer, oftmals Beispiel in Ländern wie Bangladesch oder Libanon. Ohne auch als Opfer von Menschenhändler_innen. Auch in den die äußerst schwierige Lage in diesen Ländern fernab der libyschen Folterlagern sterben immer wieder Menschen EU klein zu reden, gleicht auch die Lage an den südöstlich oder werden ermordet. Derweil fließen Gelder in Mil- von Deutschland auf dem Balkan gelegenen EU-Außen- lionenhöhe aus Deutschland und anderen EU-Staaten in grenzen einer humanitären Krise. So zählte UNHCR in der Länder wie Niger, Libyen oder Sudan – Länder, in denen zweiten Dezemberhälfte 2018 knapp 4.500 Flüchtlinge, korrupte Systeme und Diktaturen herrschen und Men- die in Serbien festsitzen und gerne in die EU einreisen wür- schenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind –, den, denen der Zutritt jedoch verwehrt bleibt. Der Groß- damit diese ihre Grenzen effektiver abriegeln und teils teil von ihnen sitzt in den offiziellen staatlichen Camps unkontrollierte Milizen einsetzen, um Menschen am Flie- ohne jede Perspektive fest, da das wirtschaftlich schwa- hen zu hindern. Während viele von ihnen, beispielsweise che Serbien ihnen keinen Ausweg bietet. Leonie Krügener aus Eritrea, gute Chancen hätten, in Europa Asyl zu be- und Moritz von Galen, die sich mit anderen Aktivist_innen kommen, werden sie an innerafrikanischen Grenzen von im Winter 2018/19 vor Ort ein Bild von der Lage gemacht Grenzposten aufgegriffen, in Transitlager gebracht oder haben, halten fest: „Zum Teil berichten die Geflüchteten direkt zurück in ihre Heimatländer verfrachtet. Diese ef- von Gewalt und Diebstählen in den serbischen Camps. Sie fektive Verlagerung der EU-Außengrenzen nach Afrika verlassen die offiziellen Unterkünfte und beziehen verlas- hat außerdem zur Folge, dass die fliehenden Menschen sene Gebäude in Grenznähe, wo sie unter unwürdigen Be- auf die weniger patrouillierten und lebensbedrohlichen dingungen leben müssen. So harren 50 bis 60 Menschen Routen durch die Wüste ausweichen – mit dem Ergebnis, derzeit in verfallenen Gebäuden auf dem Bahnhofsgelän- dass sich dort unzählige Menschen verirren und qualvoll de der serbischen Kleinstadt Subotica aus und 30 bis 40 verdursten. Augenzeugenberichten zufolge gleicht die weitere Geflüchtete leben in verlassenen Scheunen nahe Sahara bereits einem „riesigen Friedhof“ – all dies fernab dem Grenzdorf Horgoç. Bei Minusgraden und regelmäßi- der Augen der Verantwortlichen, die diese Verträge hier- gem Schneefall wärmen sich die Menschen in den Bahn- zulande als „Bekämpfung der Fluchtursachen“ verkaufen. hofsgebäuden am Feuer und klagen über schlaflose Näch- te, weil Decken und Schlafsäcke in den zugigen Räumen Abschiebungen um jeden Preis nicht genügend wärmen. Trinkwasser muss mit Kanistern Doch beherrscht werden die medialen Debatten und poli- von einem öffentlichen Brunnen beschafft werden, An- tischen Diskussionen nicht von den Toten im Mittelmeer schluss an die Stromversorgung gibt es keine.“ und in der Wüste oder den misshandelten, teilweise ver- Ebenso steht die Lage in Libyen in unmittelbarem Zu- sklavten Inhaftierten in Libyen, sondern vor allem von der sammenhang mit der umfassenden Abriegelung der Eu- vermeintlichen Notwendigkeit einer rigoroseren Abschie- ropäischen Union gegenüber Geflüchteten. So wird die so- bepraxis. Dies führt allerdings auch dazu, dass immer genannte „libysche Küstenwache“ von der EU mit Geldern mehr Menschen unter massiver Verletzung ihrer Rechte in in Millionenhöhe unterstützt. Tatsächlich handelt es sich Abschiebungshaft genommen werden oder gar unmittel- hierbei um einen Zusammenschluss von Milizen, gegen bar an der Grenze festgenommen und inhaftiert werden. den der Internationale Gerichtshof in Den Haag ermittelt, Während die Bundesregierung laut einem im Januar 2019 nicht zuletzt da die „libysche Küstenwache“ regelmäßig in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel weiter- Geflüchtete mit illegalen Pushbacks in die libyschen Fol- hin „keinen Zweifel daran“ hat, dass auch in Sachen Ab- terlager zurückbringt. Bei diesen Pushbacks wendet sie schiebungshaft „ein umfassender Schutz von Grund- und regelmäßig Gewalt an und bedroht das Leben der Ge- Menschenrechten gewährleistet ist“, kommen sowohl der flüchteten in Seenot sowie das der Seenotretter_innen. Bundesgerichtshof als auch Rechtsanwalt Peter Fahlbusch Diese immer gnadenloser betriebene Verhinderung von aus Hannover zu gänzlich anderen Ergebnissen. Flucht führte auch dazu, dass sich im letzten Jahr weniger Rechtsanwalt Fahlbusch hat seit dem Jahr 2001 bundes- Menschen auf die gefährliche Route über das Mittelmeer weit insgesamt 1.713 Mandant_innen in Abschiebungs- gewagt haben – was letztlich nur bedeutet, dass sich der haftverfahren vertreten. 842 dieser Mandant_innen, d. h. Ort des Sterbens verlagert hat: Die Zahl der Toten im Mit- knapp 50 %, wurden gemäß rechtskräftiger Entscheidun- telmeer ist nach wie vor hoch, allein 2018 sind über 2.200 gen rechtswidrig inhaftiert (manche „nur“ einen Tag, an- Menschen auf dieser Fluchtroute gestorben. Eine weitaus dere monatelang). Zusammengezählt kommen seine 842 größere Zahl von Flüchtlingen kommt jedoch inzwischen Mandant_innen auf 22.077 rechtswidrige Hafttage, was auf den innerafrikanischen Fluchtrouten ums Leben; Die gut 60 Jahren rechtswidriger Inhaftierungen entspricht. 6 — Tätigkeitsbericht 2018
Politischer Rückblick Protest „Stop Europe Funding Slavery in Libya“ © Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Im Durchschnitt befand sich damit jede_r Mandant_in fügen Bayern, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen zwar knapp 4 Wochen zu Unrecht in Haft. Bereits im Jahr 2014 über eigene Abschiebungshafteinrichtungen, allerdings konstatierte die Richterin am Bundesgerichtshof Johanna nicht über ein entsprechendes Gesetz, das die Rechte und Schmidt-Räntsch, dass sich „geschätzt 85 bis 90 Prozent“ Pflichten der Gefangenen verbindlich regelt, obgleich das aller Abschiebungshaftanordnungen „als rechtswidrig“ Bundesverfassungsgericht bereits 1972 entschieden hat, erweisen. dass es im Rahmen von Freiheitsentziehungen stets eines Doch die Bundesregierung zieht es weiterhin vor, Reali- solchen Gesetzes bedarf. Die niedersächsische Landesre- täten zu leugnen und Gesetze nochmals zu verschärfen, gierung hat zwar mitgeteilt, an einem solchen Gesetz zu anstatt das System der Abschiebungshaft – endlich – auf arbeiten, greifbare Ergebnisse bleibt sie bislang allerdings den Prüfstand zu stellen. So möchte zwar auch die Bun- schuldig. desregierung die Vorschriften zur Abschiebungshaft re- Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass Men- formiert sehen, allerdings nicht, um die Rechte der Betrof- schen in Abschiebungshaft sich immer wieder das Leben fenen zu stärken beziehungsweise zu schützen, sondern nehmen, in den Hungerstreik treten oder schwere Vor- schlicht um die „Hürden für die Anordnung der Abschie- würfe gegenüber den Bediensteten von Abschiebungs- bungshaft zu senken“. Hierdurch soll die „nationale Kraft- hafteinrichtungen erheben, ein untragbarer Zustand. anstrengung“ bei der Erhöhung der Abschiebungszahlen erleichtert und zugleich die hohe Quote rechtswidriger Nach wie vor Abschiebungen Inhaftierungen verringert werden – wobei für die Bundes- nach Afghanistan regierung jedes Mittel den Zweck zu heiligen scheint, wen Die mit allen Mitteln betriebene Intensivierung der Ab- auch immer, was auch immer es kostet. schiebepolitik zeigt sich am deutlichsten am Umgang mit Die Debatte um das – vermeintliche – Defizit an Ab- Afghanistan, einem Land, in welches wider besseren Wis- schiebungshaftplätzen ist das Resultat einer Migrations- sens nach wie vor abgelehnte Asylbewerber_innen abge- politik, deren oberste Prämisse es ist, die Zahl der Abschie- schoben werden. So bewertet die Forschungsstelle ACLED, bungen zu erhöhen, und die hierbei jedes Maß zu verlieren die weltweit bewaffnete Konflikte auswertet, Afghanis- scheint. Seit 2017 erleben wir geradezu eine Renaissance tan als den derzeit weltweit tödlichsten Staat mit fast der Abschiebungshaftgefängnisse. Mittlerweile verfügen so vielen Todesopfern im Jahr 2018 wie in Syrien und im zehn Bundesländer (wieder) über eigene Abschiebungs- Jemen zusammen. Allein in Afghanistan kamen im letz- hafteinrichtungen, während die übrigen Länder – mit ten Jahr (offiziell erfasst) 3.804 Zivilist_innen zu Tode, da- Ausnahme Thüringens und des Saarlandes – (teilweise in runter 927 Kinder (zudem wurden über 7.000 Menschen Kooperation) Eröffnungen planen. verletzt). Afghanistan hat damit das tödlichste Jahr hinter Auch in anderer Hinsicht weist der Vollzug der Abschie- sich, seitdem die Zahl der zivilen Todesopfer im Oktober bungshaft in Deutschland erhebliche Mängel auf: So ver- 2010 erstmals erfasst wurde. ACLED führt diesen Anstieg Tätigkeitsbericht 2018 — 7
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. unter anderem auf eine erstarkte Präsenz von ISIS-Trup- Ausnahmefällen, nämlich bei Vorliegen schwerer Straf- pen in Afghanistan zurück, die, zu einem großen Teil aus taten, nach Afghanistan ab. Auch wenn der Flüchtlingsrat Syrien und dem Irak zurückgedrängt, ihren Terror nun diese Zurückhaltung begrüßt, fehlt es nach wie vor an ei- zunehmend auf die afghanische Zivilbevölkerung rich- nem öffentlich erklärten Abschiebungsstopp. Ein solcher ten. UNHCR veröffentlichte zuletzt im August 2018 einen würde der verbreiteten Verunsicherung innerhalb der af- neuen Bericht zu Afghanistan, nach dem Kabul ausdrück- ghanischen Community entgegenwirken. lich nicht mehr als interne Fluchtalternative gelten kann Besorgniserregend sind Berichte aus anderen Bundes- – woraufhin einige EU-Staaten wie zum Beispiel Finnland ländern, aus denen nicht nur Menschen abgeschoben jegliche Abschiebungen nach Afghanistan eingestellt ha- werden, die hierzulande eine Ausbildung absolvieren, ben. Deutschland scheint jedoch unbeeindruckt. So hat sondern auch solche, die schwer traumatisiert sind. Me- die Bundesregierung im Juni des letzten Jahres ihre Ein- diale Aufmerksamkeit erregte insbesondere der Fall eines schränkungen für Abschiebungen nach Afghanistan auf- 23-jährigen Afghanen, der sich kurz nach seiner Abschie- gehoben. Immerhin nahmen 13 der 16 Bundesländer dies bung nach Kabul in einer Übergangsunterkunft das Le- nicht zum Anlass, etwas an ihrer bisherigen Abschiebe- ben nahm. Der junge Mann hatte zuvor bereits 8 Jahre praxis zu ändern und etwa mehr Menschen nach Afgha- in Deutschland gelebt. Er gehörte zu den 69 Personen, nistan abzuschieben. die am gleichen Tag wie Bundesinnenminister Seehofers Nichtsdestotrotz werden im Rahmen der Dublin-Ver- 69. Geburtstag abgeschoben wurden, wie dieser damals ordnung Menschen in EU-Länder wie zum Beispiel Schwe- amüsiert kommentierte. den überstellt, die abgelehnte Asylbewerber_innen durch- Ungeachtet der Frage der Abschiebungen nach Afgha- aus nach Afghanistan abschieben. Deutschland nimmt nistan erhalten immer weniger schutzsuchende Afghan_ also billigend in Kauf, dass mit einer Dublin-Überstellung innen in Deutschland einen Schutzstatus: Lag die Schutz- oftmals eine Kettenabschiebung in Gang gesetzt wird, die quote 2015 noch bei bereinigt 80 %, ist sie mittlerweile auf Menschen über den Umweg eines Drittstaates de facto unter 50 % gesunken. Diese Entwicklung resultiert bedau- eben doch nach Afghanistan abschiebt. Dies erscheint erlicherweise nicht aus einer tatsächlichen Verbesserung moralisch zumindest fragwürdig. der Sicherheitslage in Afghanistan, sondern ist vielmehr Die Haltung der niedersächsischen Landesregierung Folge einer vergifteten (asyl)politischen Stimmungslage. ist unverändert. Ebenso wie einige andere Bundes Teile der Bundesregierung, allen voran Innenminister länder schiebt auch Niedersachsen nach wie vor nur in Horst Seehofer und der von ihm aus dem bayerischen Demonstration gegen Abschiebungen nach Afghanistan am 3. November 2018 in Hannover © Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. 8 — Tätigkeitsbericht 2018
Politischer Rückblick Innenministerium zum Präsidenten des BAMF beförderte Eine solche Entwicklung wird sich mit einer nieder- neue Behördenleiter Hans-Eckhard Sommer leugnen die sächsischen Abschiebungszentrale weiter verschärfen. Realitäten und bemühen sich, das grundgesetzlich ver- Denn eine Ausländerbehörde vor Ort wird über aktuelle ankerte Asylrecht durch eine möglichst restriktive Aus- Entwicklungen stets besser informiert und näher an den legung des materiellen Schutzbereichs mehr und mehr Betroffenen dran sein als eine weit entfernte Landes- einzuschränken. abschiebungsbehörde: Auch künftig werden geduldete Flüchtlinge bei ihren Kommunen Ausbildungsduldungen Vorbereitungen für eine niedersächsische beantragen, Heiraten anmelden oder Operationen im Abschiebungszentrale Krankenhaus terminieren, während eine zentrale Auslän- Auch in Niedersachsen finden inzwischen wieder skan- derbehörde in Unkenntnis solcher Entwicklungen die Ab- dalöse Abschiebungen statt, die zeigen, wie sehr manche schiebungsmaschinerie in Gang setzt. Ausländerbehörden in dem Bemühen, härter vorzuge- Während der Entwurf annimmt, dass die Rückkehr von hen und mehr Abschiebungen umzusetzen, humanitäre Personen ohne Aufenthaltsrecht sowohl auf nationaler Fragen ausblenden. Im Januar 2019 wurde eine Familie als auch auf europäischer Ebene zur „politischen Priorität“ trotz anderslautender Erlasslage bei der Abschiebung geworden sei, hält der Flüchtlingsrat gleichwohl fest, dass getrennt: Der schwerkranke Familienvater musste ins eine solche Priorisierung nicht angezeigt ist. Immerhin Krankenhaus eingeliefert werden, während die Ehefrau ist trotz der deutlich gestiegenen Aufnahme von Schutz- und die minderjährige Tochter allein nach Montenegro suchenden die Zahl der geduldeten und ausreisepflichti- abgeschoben wurden. Im März 2018 schob der Landkreis gen Flüchtlinge seit 2014 um nicht einmal 50 % gestiegen. Wesermarsch den Ehemann einer schwer traumatisier- Dagegen hat sich die Zahl der Menschen, die in Nieder- ten, suizidgefährdeten Patientin nach Aserbaidschan ab, sachsen als Schutzberechtigte anerkannt wurden, seit während die Ehefrau in die Psychiatrie eingeliefert wer- 2014 nahezu verfünffacht. Insofern sollte der politische den musste. Abschiebungen zur Nachtzeit sind in Nieder- Schwerpunkt auf der Integrations- und Teilhabepolitik lie- sachsen mittlerweile schon fast zur Regel geworden. Im gen, die auf eine Perspektive in Niedersachsen abzielt, und Dezember 2018 drangen Polizei und Behörden in Göttin- nicht auf einer „Förderung der freiwilligen Rückkehr“. gen in die Wohnung der Schwester ein, um einen Mann nach Bosnien-Herzegovina abzuschieben, der auf Medika- Lichtblicke mente und Hilfe im Alltag angewiesen ist. Sprachlich hielt das Land Niedersachsen 2018 weiterhin In Niedersachsen finden die Bemühungen der Landesre- am Ziel einer Integration von Geflüchteten fest und führ- gierung um eine Intensivierung von Abschiebungen ihren te den 2016 von Landesregierung, Tarifpartnern und Kom- vorläufigen Höhepunkt in der geplanten Schaffung einer munalen Spitzenverbänden angeführten Prozess einer „Zentralen Ausländerbehörde“: Laut einem „Entwurfspa- systematischen Durchdeklinierung von Maßnahmen für pier“ des Innenministeriums vom 11. Januar 2019 will die eine kohärente Integrationsplanung unter dem Stichwort Landesregierung den örtlichen Ausländerbehörden die „Niedersachsen packt an“ fort. Auch wenn nicht alle Maß- Zuständigkeit für den ausländerrechtlichen Umgang mit nahmen und Veranstaltungen von Erfolg gekrönt waren abgelehnten Flüchtlingen entziehen und zukünftig selbst und Aktivitäten von Basisgruppen oftmals zu kurz kamen, entscheiden, welche Personen geduldet und welche ab- setzt das Land mit seiner von der Staatskanzlei koordinier- geschoben werden. Dazu soll eine „Zentrale Ausländer- ten Agenda doch ein Zeichen dafür, dass die Partizipation behörde“ mit bis zu 200 Angestellten geschaffen werden. und Unterstützung der Geflüchteten in Niedersachsen Mit der Umsetzung soll Mitte 2019 begonnen werden. auch weiterhin einen hohen Stellenwert hat. Dazu gehört Der Flüchtlingsrat Niedersachsen lehnt die geplante unter anderem auch, dass Maßnahmen zur Förderung von Schaffung einer niedersächsischen Abschiebungsbehörde, Partizipation und Teilhabe sowie Beratungsdienste und die zunächst an die Landesaufnahmebehörde angebun- Sprachkurse verlängert und teilweise sogar ausgebaut den werden soll, mit Nachdruck ab. Bereits jetzt werden wurden. Doch auch bei konfliktbehafteten Themen ist die teilweise Menschen abgeschoben, bei denen schwere Bereitschaft zum kritischen Dialog und zur Auseinander- Krankheiten attestiert wurden oder Gerichtsverfahren an- setzung bei weiten Teilen der Landesregierung nach wie hängig sind. Mehrfach ist es auch in Niedersachsen in den vor vorhanden. letzten Jahren zu rechtswidrigen Abschiebungen und Ab- Eine erfreuliche Entwicklung ist bei den Flüchtlings- schiebungsversuchen gekommen, weil die örtlichen Be- bürgschaften festzustellen. Nach langen Debatten haben hörden über den aktuellen Stand nicht informiert waren sich Bund und Länder auf Betreiben des niedersächsi- oder noch schnell vor Fristablauf eine Abschiebung durch- schen Innenministers Boris Pistorius Anfang 2019 endlich setzen wollten. auf eine Lösung geeinigt, die jedenfalls für alle Bürg_in- Tätigkeitsbericht 2018 — 9
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Luara Rosenstein, Sebastian Rose und Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen im Gespräch mit Sozialministerin Dr. Carola Reimann im Rahmen der Veranstaltung zum 3. Jahrestag des Bündnisses „Niedersachsen packt an“ am 6. November 2018 in Hannover nen aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen Erfreulich ist auch die Arbeit der niedersächsischen einen Verzicht auf Kostenerstattungsforderungen im Re- Härtefallkommission, die weiterhin sachbezogen und gelfall vorsieht und zur Hälfte vom Bund, zur Hälfte von nach humanitären Kriterien über Einzelfälle berät und diesen drei Bundesländern finanziert wird. In allen drei Empfehlungen an den Innenminister formuliert. Aller- Bundesländern hatte die jeweilige Landesregierung die – dings mehren sich in letzter Zeit die Fälle, bei denen der später vom Bundesverwaltungsgericht korrigierte – Auf- niedersächsische Innenminister den Empfehlungen der fassung vertreten, dass Verpflichtungserklärungen mit Härtefallkommission nicht folgt. Diese Entwicklung wird der Flüchtlingsanerkennung erlöschen würden. weiter im Auge zu behalten sein. Die Bürg_innen hatten die Verpflichtungserklärungen im Rahmen des niedersächsischen Landesaufnahmepro- Asylpolitische Verschärfungen gramms abgegeben, um Verwandte in Deutschland be- statt Integration findlicher Syrer_innen das Entkommen aus den Kriegswir- Die asylpolitischen Verschärfungen des Jahres 2018 be- ren und die Einreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen, schränken sich bei weitem nicht auf das Thema Abschie- ohne sie den immensen Gefahren einer Flucht auszuset- bung und Ausreise. Bedenklich sind auch die vom BMI und zen. Für ihre Courage wurden die Flüchtlingsbürg_innen BAMF einseitig verfügten Verschärfungen für Kirchenasy- mit bis zu sechsstelligen Rückzahlungsforderungen der le, die von evangelischer wie katholischer Seite heftig kri- Jobcenter konfrontiert. Der niedersächsische Innenminis- tisiert wurden. Zur Verschärfung gehört, die Frist für die ter Pistorius und Ministerpräsident Weil machten sich die mögliche Überstellung von Asylsuchenden in ein anderes Auffassung des Nds. Flüchtlingsrats zu eigen, dass Men- europäisches Land von sechs auf künftig 18 Monate zu er- schen, die sich auf die Zusagen von Behörden und Politik höhen, wenn bei der Meldung eines Kirchenasyls kein_e verlassen haben, nach der die Verpflichtung mit der Flücht- kirchliche_r Ansprechpartner_in klar benannt ist, inner- lingsanerkennung erlöschen werde, die Solidarität von halb eines Monats kein Dossier zu dem Fall eingeht oder Politik und Gesellschaft verdient haben, und setzten die der/die Antragsteller_in trotz nochmaliger Ablehnung Lösung gegen erhebliche politische Widerstände durch. durch das Bundesamt im Kirchenasyl bleibt. Kirchenge- 10 — Tätigkeitsbericht 2018
Politischer Rückblick Mahnwache des Flüchtlingsrats Niedersachsen und der Flüchtlingshilfe Wolfsburg im Dezember 2018 vor dem Niedersächsischen Landtag; Günter Schütte von der Flüchtlingshilfe Wolfsburg im Gespräch mit Innenminister Pistorius und der Landesbeauftragten für Migration und Teilhabe Schröder-Köpf © Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. meinden wird es so deutlich erschwert, die Begleitung abgelehnt, so dass die Beratungsstellen ihre Arbeit nicht und Versorgung der Schutzsuchenden zu organisieren, die fortsetzen konnten. Für den Flüchtlingsrat Niedersachsen über einen viel längeren Zeitraum hinweg gewährleistet ist klar, dass das verbriefte Recht auf körperliche Unver- werden müssen. sehrtheit sowie der Zugang zu medizinischer Versorgung Im Feld der Familienzusammenführung ist wie schon unabhängig vom Aufenthaltsstatus einer Person gewähr- bisher frustrierend, dass die Bundesregierung grundge- leistet sein muss. Um die Gesundheitsversorgung von setzlich verbriefte Rechte von Flüchtlingen missachtet. Papierlosen zu garantieren, muss aus dem Modellprojekt Die im Sommer 2018 eingeführte Neuregelung, die 1.000 „Anonymer Krankenschein“ eine dauerhafte und vor al- Menschen pro Monat den Nachzug zu Menschen mit so- lem landesweite Maßnahme auf gesicherter Grundlage genanntem „subsidiären Schutzstatus“ ermöglichen soll, werden. hat sich als ein Instrument entlarvt, um Familiennachzug zu verhindern oder auf die lange Bank zu schieben. Eine solidarische Gegenbewegung Aus dem Rechtsanspruch auf Familienzusammen- Ungeachtet – oder vielmehr als Folge – der steten Dis- führung für Flüchtlinge wurde ein willkürlicher Gnaden- kursverschiebung nach Rechts erlebten menschenrechts- akt im Ermessen der Behörden. Eine der Folgen ist, dass basierte und solidarische Positionen im Laufe des Jahres tausende Flüchtlingsfamilien mittlerweile drei Jahre und 2018 ein fulminantes Comeback im öffentlichen Raum. länger voneinander getrennt sind, weil Deutschland die Bei Großdemonstrationen wie „Ausgehetzt“ in München Visumsverfahren verschleppt und behindert. (50.000 Menschen, 22. Juli 2018), „Wir sind mehr“ in Chem- Eine bedauerliche Entwicklung in Niedersachsen ist, nitz (65.000 Menschen, 3. September 2018), „We’ll Come dass das Modellprojekt der Anlauf- und Vergabestelle United“ in Hamburg (30.000 Menschen, 29. September für einen „Anonymen Krankenschein“ in Hannover und 2018) und „Unteilbar“ in Berlin (250.000 Menschen, 13. Göttingen Ende November 2018 ausgelaufen ist. Eine Ver- Oktober 2018) setzten Hunderttausende ein kraftvolles längerung oder Fortentwicklung hat die Landesregierung Zeichen für eine offene und solidarische Gesellschaft. Zu- Tätigkeitsbericht 2018 — 11
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. In breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen wird der Flüchtlingsrat Niedersachsen auch weiterhin daran arbei- ten, solidarische und menschenrechtsbasierte Stimmen hörbar zu machen, und sich dafür einsetzen, dass die asyl- und aufenthaltsrechtlichen Regelungen zumindest einge- halten und bestenfalls liberalisiert statt immer weiter ver- schärft werden. Nicht zuletzt lebt Demokratie von einer lebendigen, funktionierenden Zivilgesellschaft, die sich erstarkenden rechtspopulistischen Tendenzen in den Weg stellt und für die Rechte aller Menschen eintritt. Vorstand Claire Deery (Vorstandsvorsitzende) Rechtsanwältin Tel.: 05 51 / 4 26 10 cd(at)nds-fluerat.org Sigrid Ebritsch Diplom Pädagogin Tel.: 05 11 / 83 64 15 sigrid(at)ebritsch.com Anke Egblomassé Diplom Soziologin ae(at)nds-fluerat.org Rund 25.000 Menschen demonstrierten auf der antirassistischen Parade des Bündnisses we’ll come united am 29. September 2018 in Hamburg Dündar Kelloglu Rechtsanwalt dem gingen seit dem Sommer 2018 in hunderten SEEBRÜ- Tel.: 05 11 / 1 39 34 CKE-Demonstrationen und Kundgebungen insgesamt kelloglu-rauls(at)t-online.de mehr als 300.000 Menschen auf die Straße. Zugleich ge- wann – in Ergänzung zu Kirchenasylen – die Kampagne Bürger*innenasyl an Zulauf, mit der aus der Zivilgesell- Thomas Heek schaft heraus versucht wird, Schutz für von Abschiebung Caritasstelle Friedland Bedrohte zu organisieren. Tel.: 0 55 04 / 85 61 Bei all diesen Demonstrationen und Aktivitäten wird th(at)nds-fluerat.org immer wieder deutlich, dass universelle Menschenrechte, Solidarität und das Recht auf Flucht gesellschaftlich mehr- heitsfähig sind, selbst wenn – befeuert von Politiker_in- nen von AfD, CSU und CDU sowie von rechtskonservativen Kommentator_innen – weiterhin Themen wie Abschot- tung, Ausgrenzung, Abschiebung und der Einschränkung von Rechten Geflüchteter die mediale und politische De- batte dominieren. 12 — Tätigkeitsbericht 2018
Veranstaltungen 2 Veranstaltungen 2.1 Treffen niedersächsischer tik nach der Regierungsübernahme der neuen rot-schwar- Flüchtlingsinitiativen zen Landesregierung sowie der Neuauflage der Großen Die vielen ehrenamtlichen Initiativen, Gruppen und Ver- Koalition auf Bundesebene. Im weiteren Teil des Nachmit- eine in Niedersachsen, die sich vor Ort für die Rechte der tags konnte die Arbeit in kleinen Arbeitsgruppen vertieft Geflüchteten einsetzen, treffen sich mehrmals jährlich werden. Die erste Gruppe widmete sich der konkreten zum Austausch, zur gemeinsamen Fortbildung und zur Vernetzung der Lüneburger Initiativen und Gruppen. Eine Diskussion aktueller flüchtlingspolitischer Themen. Der zweite Arbeitsgruppe bot vertiefenden Austausch zum Kreis ist offen für alle Interessierten: Eingeladen sind stets Umgang mit Situationen akuter Abschiebungsgefahr und Unterstützer_innen und Geflüchtete – ganz unabhängig Hinweise zum allgemeinen Fallmanagement. davon, ob sie in einer Flüchtlingsinitiative, einer Selbstor- Einen Monat später, im Juni 2018 lud der Flüchtlings- ganisation oder einem Verein aktiv sind oder nicht. Eine rat Niedersachsen dann gemeinsam mit der Flüchtlings- Mitgliedschaft im Flüchtlingsrat Niedersachsen ist nicht hilfe Wolfsburg e. V. und dem Verein niedersächsischer erforderlich. Bildungsinitiativen e. V. zum regionalen Initiativentreffen Auch 2018 ging es weiter. Dieses Mal wurde ein neues nach Wolfsburg ein. Bei guter Atmosphäre wurde intensiv Konzept verfolgt. Die Treffen im Jahr 2018 organisierte der zu den Themen Familienzusammenführung, Arbeit und Flüchtlingsrat Niedersachsen dezentral in vier verschie- Ausbildung sowie Wohnen und Unterbringung intensiv denen niedersächsischen Regionen: jeweils ein Treffen in gearbeitet. Anschließend wurde die antirassistische Para- Lüneburg, in Wolfsburg, in Dannenberg (Elbe) (Landkreis de we’ll come united näher vorgestellt, die Ende Septem- Lüchow-Dannenberg) sowie Buchholz in der Nordheide ber 2018 in Hamburg organisiert wurde. (Landkreis Harburg). Auf den regionalen Initiativentreffen sollte lokalen und regionalen Gruppen, Vereinen und Ini- tiativen die Teilnahme erleichtert und eine gegenseitige Vernetzung gefördert werden. Auftakt des neuen regionaleren Formats war das Tref- fen Anfang Mai 2018 in Lüneburg, das gemeinsam mit der amikeco-Willkommensinitiative e. V. Lüneburg und dem Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e. V. organi- siert wurde. Ein Thema des Treffens waren Perspektiven für die niedersächsische Flüchtlings- und Migrationspoli- Regionales Initiativentreffen in Wolfsburg © Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Ende 2018 trafen dann Aktive in Dannenberg (Elbe) so- wie in Buchholz in der Nordheide zusammen, um aktu- elle flüchtlingspolitische Themen zu diskutieren. Dabei kamen frauenspezifische asylrechtliche Fragestellungen, Fragen des Arbeitsmarktzugangs für Geflüchtete sowie Regionales Initiativentreffen in Lüneburg Fragen der Unterbringung und des Wohnens zur Spra- © Eva Kern che. Daneben stellte die Landesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen und Koordinierungsstellen für das Tätigkeitsbericht 2018 — 13
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Ehrenamt in Niedersachsen e. V. (LAGFA) beim Treffen in stellte das Verwaltungsgericht später fest. Die Deutsche Buchholz in der Nordheide die Unterstützungsangebote Botschaft Addis Abeba erklärte den äthiopischen Behör- für Ehrenamtliche in der Geflüchtetenarbeit vor. den, dass ein direkter Rückflug mit einer Maschine nach Die regionalen Initiativentreffen sowie die Arbeits- Frankfurt/Main nicht möglich sei und der Mann sich für ergebnisse werden regelmäßig auf der Homepage des die Wiedereinreise an die Deutsche Botschaft Harare, Sim- Flüchtlingsrats Niedersachsen dokumentiert und können babwe wenden solle, wie aus dem Flüchtlingsrat Nieder- dort eingesehen werden. sachsen vorliegenden Dokumenten hervorgeht. Die Ab- schiebung in den potenziellen Verfolgerstaat Simbabwe stellte damit einen groben Verstoß gegen das Non-Re- 2.2 Ausgewählte Veranstaltungen foulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Nach monatelanger Begleitung und Unterstützung aus Verleihung des 2. Fluchthilfepreises 2018 der Ferne gelang es Sabine Tatge, dass der Mann im Ja- an Sabine Tatge nuar 2018 wieder nach Niedersachsen einreisen konnte. Am 9. November 2018 hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen „Ausgezeichnet wird Sabine Tatge heute vor allem für ihre e. V. im Rahmen einer Feierstunde in Hannover zum zwei- Zivilcourage, mit der sie darum gekämpft hat, dass ein zu ten Mal den Dr. Matthias Lange-Fluchthilfepreis verliehen. Unrecht abgeschobener Flüchtling wieder nach Deutsch- Preisträgerin ist Sabine Tatge aus Rodenberg (Landkreis land zurückkehren konnte. Frau Tatge hat sich in aussichts- Schaumburg). Sie hat weitgehend auf sich allein gestellt er- los erscheinender Lage nach der bereits eingeleiteten Ab- reicht, dass ein rechtswidrig nach Simbabwe abgeschobe- schiebung mit den Behörden angelegt und dafür gesorgt, ner Mann nach Deutschland zurückkehren konnte. Durch dass der Abschiebungsvollzug zunächst auf halber Strecke ihren selbstlosen und unermüdlichen Einsatz ist es ihr ge- gestoppt wurde“, erklärte Dündar Kelloglu, Vorstandsmit- lungen, gegen alle Widerstände der Behörden einem Asyl- glied des Flüchtlingsrats Niedersachsen in seiner Laudatio. suchenden zu seinem Recht zu verhelfen. „Tatge hat nach der rechtswidrig durchgezogenen Abschie- Der junge Mann aus Simbabwe, der mit zwei weiteren bung nicht aufgegeben, sondern weiter gekämpft und sich Geflüchteten im Haus von Tatge wohnte, war im Oktober nicht beirren lassen. Am Ende hat sie dafür gesorgt, dass 2017 ohne Vorankündigung in sein Heimatland abgescho- das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einlenken ben worden. Obwohl das Verwaltungsgericht Hannover und die Abschiebung rückgängig machen musste. Damit die Unrechtmäßigkeit der Abschiebung feststellte und hat sie dem Recht zu seinem Recht verholfen, hat frei nach einen Abbruch des Abschiebungsvollzugs anordnete, als Hannah Arendt dafür gesorgt, dass Flüchtlinge nicht nur der Mann sich noch im Flughafentransit in Addis Abeba Rechte haben, sondern sie auch einlösen können.“ befand, wurde er von dort aus weiter nach Simbabwe In ihrer Begrüßungsrede erinnerte die Vorsitzende Claire abgeschoben. „Das BAMF hat den Handlungsbefehl, die Deery an die Arbeit des 2006 verstorbenen Dr. Matthias Vollziehung der Abschiebung einzustellen, missachtet“, Lange, an den der Fluchthilfepreis erinnert, und spann den Bogen zu den heutigen Herausforderungen, die sich dem Flüchtlingsrat Niedersachsen weiterhin stellen. Matthias Lange engagierte sich bereits in den 1980er-Jahren als Lei- ter der Flüchtlingsunterkunft „Hotel Astoria“ in Göttingen in der Flüchtlingsarbeit und war 1984 Mitbegründer des Flüchtlingsrats Niedersachsen. 1. Unfreiwilliger Spendenlauf Hannover Am 9. Juni 2018 planten verschiedene rechte Initiativen aus Deutschland und Österreich als „Bürgerbündnis Zeit für Deutschland“ eine Demonstration in Hannover. Für den 17. Juni 2018 wollte der hannoversche Pegida-Ableger den bundesweiten „Tag der Patrioten“ begehen. Für beide Dündar Kelloglu, Anna-Maria Muhi, Sabine Tage organisierte ein breites Bündnis Protestkundgebun- Tatge, Claire Deery, Anke Egblomassé (Vorstand gen, um gegen Faschismus und rechte Tendenzen und für Flüchtlingsrat Niedersachsen, BILDUNGSLABOR) bei mehr soziale Gerechtigkeit und Solidarität auf die Straße der Verleihung des 2. Fluchthilfepreises zu gehen. © Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Anlässlich dieser Aktivitäten riefen Arbeiterwohlfahrt Region Hannover e. V., der DGB Kreisverband Hannover 14 — Tätigkeitsbericht 2018
Veranstaltungen sowie der Flüchtlingsrat Niedersachsen zudem für den 9. Innenstadt, sondern hielten nur eine kleine Kundgebung Juni 2018 zum 1. Unfreiwilligen Spendenlauf in Hannover mit wenigen Teilnehmer_innen ab. Der solidarische Spen- auf. Der ging so: Für jeden Teilnehmenden der rechten denaufruf zugunsten des Flüchtlingsrats Niedersachsen Demo und pro gelaufenen Kilometer sollte – etwa von verlief dennoch erfolgreich. Insgesamt kamen 4.415 € für Unternehmer_innen oder Einzelpersonen der Stadtgesell- die Menschenrechtsarbeit zusammen. schaft – Geld an den Flüchtlingsrat Niedersachsen gespen- det werden. Die rechten Kundgebungsteilnehmer_innen Vielen Dank allen Spenderinnen und Spendern! verzichteten schließlich auf eine Demonstration durch die (z. B. 1 x 3 km = 3 € für Unterstü die tzung vo Migrant* n Am 9. Juni 2018 wollen innen). verschiedene rechte Initiativen Der Spe nd aus Deutschland und Österreich darf natü enbetrag rlich ge auch hö rne als „Bürgerbündnis Zeit für Deutschland“ in Hannover her ausf allen. demonstrieren. An diesem Tag läuft alles anders und wir ändern die Spielregeln. Aus Nazi-Demo wird eine fulminante Spendengala! JedeR Teilnehmer*in der Demo erläuft eine Spende für die Arbeit des Niedersächsischen Flüchtlingsrats e. V. Also lassen wir doch die Nazis arbeiten, und zwar gegen sich selbst. Wenn auch Sie helfen wollen, dass aus rechtspopulistischen Plattheiten etwas Sinnvolles erwächst, tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass sich jeder Kilometer lohnt. So werden aus rechten Demonstrant*innen engagierte Mitarbeiter*innen für einen guten Zweck. Mit Ihrer Unterstützung wird ein Aufmarsch von Rassist*innen zu einer Integrationshilfe für Flüchtende. Wir bitten Sie um Unterstützung für dieses Vorhaben! Ihre Spende überweisen Sie bitte an den Flüchtlingsrat Niedersachsen: IBAN: DE28 4306 0967 4030 4607 00 / BIC: GENODEM1GLS Konto 4030 460 700 – GLS Gemeinschaftsbank eG BLZ 430 609 67 Stichwort: Spendenlauf Hannover Kontakt für Nachfragen: DGB Kreisverband Region Hannover Otto-Brenner-Straße 1 30175 Hannover Tel.: 0176 233 12 551 Illustration: Freepik Spendenlauf Illustration: Freepik Tätigkeitsbericht 2018 — 15
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. 3 Berichte aus der Praxis 3.1 AMBA – Aufnahmemanagement Leben in Gemeinschaftsunterkünften: struk- und Beratung für Asylsuchende turell konflikt- und gewaltfördernd in Niedersachsen Gemeinschaftsunterkünfte bedeuten für die Bewoh- AMBA ist ein Netzwerkprojekt bestehend aus neun Or- ner_innen mangelnde Privatsphäre, räumliche Enge ganisationen mit langjähriger und vielfältiger Expertise und fehlende Rückzugsmöglichkeiten, aber auch soziale in der Flüchtlingsarbeit. AMBA startete im Juni 2015 zu- Hierarchien und eingeschränkte Handlungsspielräume; nächst befristet auf drei Jahre als Pilotprojekt. In diesem mit diesen und weiteren strukturellen Bedingungen be- Zeitraum wurden knapp 10.000 Asylsuchende beraten günstigen die Unterkünfte physische, psychische und se- und eine Vielzahl von Fortbildungs- und Informationsver- xualisierte Gewalt, Diskriminierungen und Rassismus. Ins- anstaltungen für Asylsuchende sowie Haupt- und Ehren- besondere geflüchtete Frauen und Kinder sind nicht nur amtliche durchgeführt. Überdies brachte AMBA mehrere während der Flucht, sondern auch im Aufnahmeprozess Broschüren sowie weitere Informationsmaterialien her- in höherem Maße Gewalt ausgesetzt. Übergriffe können aus und bezog öffentlich im Interesse der Asylsuchenden dabei von Bewohner_innen, Sicherheitsbediensteten, in Niedersachsen Stellung. Im Juli 2018 ging AMBA in eine Mitarbeiter_innen der Betreiber oder ehrenamtlichen zweijährige Verlängerung. Helfer_innen ausgehen. Hieraus ergibt sich für die Landesaufnahmebehörde – Verbesserung der Aufnahmebedingungen für als zuständige Stelle für die Erstaufnahmeeinrichtungen Asylsuchende in Niedersachsen – wie auch die Kommunen die besondere Verantwortung, AMBA verfolgt das Ziel, die Aufnahmebedingungen für in Gemeinschaftsunterkünften für die Prävention phy- Asylsuchende in Niedersachsen durch eine Reihe aufei- sischer, psychischer und sexualisierter Gewalt Sorge zu nander abgestimmter Maßnahmen zu verbessern. Dabei tragen und menschenwürdige, schützende und fördernde arbeitet AMBA engagiert und parteilich im Interesse der Rahmenbedingungen für alle Bewohner_innen zu schaf- Asylsuchenden. AMBA kooperiert mit Beratungsstellen fen. Wenn es zu Gewalt kommt oder ein entsprechender sowie weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen Verdacht besteht, braucht es einheitliche und verbindli- und steht im regelmäßigen Austausch mit Entschei- che Standards zur Prävention von und zum Umgang mit dungsträger_innen in Behörden und Ministerien, um ei- Gewalt , da sie Handlungssicherheit für alle Beteiligten nen größtmöglichen Beitrag zur bestmöglichen Aufnah- schaffen und eine ganzheitliche Betreuung in jedem Ein- me und Integration von Asylsuchenden in Niedersachsen zelfall so gewährleistet wird. zu leisten. Für ein solches einheitliches Vorgehen fehlt indes bislang die gesetzliche Grundlage. Zwar verpflichtet Fachberatung, Informationsbereitstellung, die EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) die Mitglieds- Begleitung der Aufnahmeprozesse staaten, den Schutzbedarf vulnerabler Gruppen bei der Im Rahmen des Netzwerks übernehmen wir neben der Unterbringung zu berücksichtigen. Die vom Bundesfa- Netzwerkkoordination die Fachberatung niedersächsi- milienministerium und UNICEF 2016 unter Beteiligung scher Beratungsstellen und die Bereitstellung von (Fach) zahlreicher Expert_innen erarbeiteten „Mindeststan- Informationen zu flüchtlingspolitischen Themen. Über- dards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen dies gewährleisten wir durch regelmäßige Gespräche mit in Flüchtlingsunterkünften“ haben allerdings ebenso wie Behörden und Ministerien die Qualitätssicherung im Auf- die überarbeitete, um weitere schutzbedürftige Gruppen nahmeprozess und im Asylverfahren, die wir engmaschig ergänzte Neufassung aus dem Oktober 2018 lediglich und kritisch begleiten. Im Jahr 2018 hat sich der Flücht- Empfehlungscharakter. lingsrat dabei im Schwerpunkt mit Fragen des Gewalt- Angesichts fehlender bundesgesetzlicher Regelun- schutzes in Gemeinschaftsunterkünften und der (Nicht-) gen obliegt die Frage der Gewaltprävention den einzel- Beschulung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen nen Bundesländern. In Niedersachsen hat die Landes- in Erstaufnahmeeinrichtungen befasst. regierung in allen Landesaufnahmeeinrichtungen ein Gewaltschutzkonzept umgesetzt. Dagegen hat die Lan- 16 — Tätigkeitsbericht 2018
Berichte aus der Praxis desregierung die Kommunen nicht verpflichtet, Gewalt- diese Prozesse zur Entwicklung von Maßnahmen zur Ge- schutzkonzepte in allen kommunalen Unterkünften zu waltprävention müssen Geflüchtete und Geflüchtetenor- implementieren. In der Folge sind in den niedersächsi- ganisationen einbezogen und Rahmenbedingungen ge- schen Kommunen bisher keine verbindlichen Standards schaffen werden, die ein Empowerment der Geflüchteten festgeschrieben worden. Einzig die Stadt Oldenburg hat ermöglichen. ein umfassendes Gewaltschutzkonzept verabschiedet, Wir fordern daher: das unter Federführung des Gleichstellungsbüros und in óó Standards zur Gewaltprävention gesetzlich verankern Abstimmung mit weiteren Fachdiensten entstanden ist. óó Netzwerke zur Gewaltprävention knüpfen Das Konzept formuliert einheitliche Vorgaben für sämt- óó Gewaltschutz in allen Gemeinschaftsunterkünften liche Gemeinschaftsunterkünfte der Stadt und legt einen etablieren Schwerpunkt auf die Gewaltprävention. óó Niedrigschwellige Beschwerdestellen einrichten Um fachlich qualifizierte und einheitliche Standards in óó Betreiber regelmäßig kontrollieren allen Unterkünften zu gewährleisten, sind daher gesetzli- óó Beratungsstellen ausstatten und bekanntmachen che Regelungen auf Bundes-, zumindest aber auf Landes- ebene zwingend erforderlich, verbunden mit finanzieller Horrende Gebühren für die Unterbringung in Unterstützung. Diese Standards müssen in allen Vergabe- kommunalen Gemeinschaftsunterkünften verfahren zur Unterbringung und Betreuung aufgenom- Sofern Asylsuchende (noch) in Gemeinschaftsunterkünf- men und ihre Einhaltung in sämtlichen Betreiberverträ- ten wohnen (müssen) – etwa weil sie auf dem angespann- gen verbindlich festgehalten werden; sie müssen auch in ten Wohnungsmarkt nicht fündig werden – und ihren Le- bereits bestehenden Einrichtungen umgesetzt werden. bensunterhalt selbst bestreiten, sind sie verpflichtet, die Das Ziel lautet also, dass für jede Unterkunft ein Gewalt- Gebühren der Unterbringung selbst zu tragen. Dabei wer- schutzkonzept vorliegt, das auf einheitlichen Standards den sie teilweise mit horrenden Gebührenforderungen basiert und hinsichtlich der baulichen und organisatori- der Kommunen konfrontiert. So sollen Geflüchtete etwa schen Fragen jeweils auf die spezifischen Gegebenheiten bis zu 700 € monatlich für einen Schlafplatz in einem vor Ort abgestimmt ist. Diese Konzepte müssen trans- 20 qm2 Zimmer zahlen, das sie sich mit mehreren Perso- parent und verbindlich sein, konsequent umgesetzt und nen teilen. Zahlungsforderungen, die in privatrechtlichen fortlaufend weiterentwickelt werden. Mietverhältnissen als „Wucher“ zu werten sind, sollen in Zu den entscheidenden Bausteinen von Gewaltschutz- Form von öffentlich-rechtlichen Gebührenforderungen konzepten gehören ein Bekenntnis aller Akteur_innen rechtmäßig sein. Der Flüchtlingsrat arbeitet zu diesem zum Gewaltverzicht, eine Sensibilisierung aller in der Ein- Thema mit anderen Beratungsstellen zusammen und ent- richtung tätigen Personen, ein standardisiertes Verfahren wickelt derzeit Handlungsleitlinien. bei Auftreten von Gewalt und Verdachtsfällen, die Schaf- fung menschenwürdiger, schützender und fördernder Weiterhin kein Schulbesuch für Kinder und Rahmenbedingungen etwa durch entsprechende bauli- Jugendliche in Erstaufnahmeeinrichtungen che Maßnahmen, eine feste Ansprechperson vor Ort sowie Das Recht auf Schulbesuch wird in Niedersachsen nach eine Vernetzung aller involvierten Akteur_innen. Zugleich wie vor missachtet: In den niedersächsischen Erstauf- gibt eine unabhängige Beschwerdestelle die Möglichkeit, nahmeeinrichtungen für Asylsuchende der Landesauf- Missstände und Fehlentwicklungen zu melden. Die Um- nahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) in Braunschweig, setzung der Maßnahmen zum Gewaltschutz wird durch Bad Fallingbostel, Bramsche, Celle, Friedland, Oldenburg ein Monitoring-System, also eine kommunale Aufsicht der und Osnabrück erhalten geflüchtete Kinder und Jugend- Betreiber, gewährleistet. liche über Zeiträume von derzeit bis zu 22 Monaten keinen Grundsätzlich beginnen Gewaltschutz und eine nach- Schulunterricht. haltige Präventionsarbeit aber bereits beim Wissen über Die Schulpflicht und damit auch das Recht auf einen die eigenen Rechte und bestehende Beratungsmöglich- Schulbesuch gilt laut gegenwärtiger niedersächsischer keiten. Damit Flüchtlinge ihre Rechte nicht nur kennen, Erlasslage nur für Kinder und Jugendliche außerhalb der sondern auch jederzeit durchsetzen können, sind eine Erstaufnahmeeinrichtungen, d. h. erst nach ihrer Umver- niedrigschwellige Informationsvermittlung sowie Anlauf- teilung auf die Kommune. Dies führt zu der unsäglichen und Beratungsstellen, zu denen alle Betroffenen Kontakt Situation, dass in den niedersächsischen Erstaufnahme- aufnehmen können, von zentraler Bedeutung. Die Einbe- einrichtungen derzeit 175 Kinder und Jugendliche aus den ziehung von Dolmetscher_innen muss dabei Teil der Kon- sogenannten sicheren Herkunftsländern vom Schulbe- zeption sein, damit die Meldung von Gewaltfällen oder such ausgeschlossen sind (Stand: 04.01.2019) – obgleich Bedrohungslagen nicht an Sprachbarrieren scheitert. In geflüchtete Kinder und Jugendliche spätestens nach drei Tätigkeitsbericht 2018 — 17
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