SOLIDARITÄT, TRANSPARENZ, VERANTWORTUNG UND FREIHEIT! - HANDLUNGSBEDARF UND FOLGERUNGEN AUS DER CORONA-PANDEMIE
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschussdrucksache 19(9)638 26. Mai 2020 2 Das Mandat der Preisstabilität SOLIDARITÄT, TRANSPARENZ, VERANTWORTUNG … UND FREIHEIT! HANDLUNGSBEDARF UND FOLGERUNGEN AUS DER CORONA-PANDEMIE Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 149 | April/Mai 2020 Michael Eilfort
SOLIDARITÄT, TRANSPARENZ, VERANTWORTUNG … UND FREIHEIT! HANDLUNGSBEDARF UND FOLGERUNGEN AUS DER CORONA-PANDEMIE Michael Eilfort Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 149 Inhaltsverzeichnis Vorwort 03 I Einleitung 04 II Notfallprogramm 05 III Konjunkturprogramm 07 IV Strukturprogramm 08 V Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise 10 1 Kein Zurück zu „alter Normalität“ der Vor-Krisenzeit 10 2 Sicherheit nur durch Absicherung ist eine Illusion 10 3 Die Kirche bleibt im Dorf 11 4 Beurlaubung der Bürgerrechte? 12 5 Politik ist handlungsfähig 13 6 Föderale Bewährung!? 14 7 Ein Lob der Bürokratie 15 8 Gesellschaftliche Spaltung verstärkt: Verlierer U45 16 9 Sozial geht auch ohne Staat 17 10 Europa und „Solidarität“ 18 Zusammenfassung 20 © 2020 Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.) Charlottenstraße 60 10117 Berlin Telefon: +49 (0)30 206057-0 Telefax: +49 (0)30 206057-57 info@stiftung-marktwirtschaft.de www.stiftung-marktwirtschaft.de ISSN: 1612 – 7072 Titelbild: © Jürgen Janson Die Publikation ist auch über den QR-Code kostenlos abrufbar.
Handlungsbedarf und Folgerungen aus der Corona-Pandemie Vorwort Vorwort „In der Not wächst das Rettende auch!“ • Parlamenten und Regierungen in Deutschland, Ver- Friedrich Hölderlin antwortlichen in Landkreisen und Kommunen, die ent- schlossen agiert haben. Staat und Verwaltung haben Bei aller Trauer über menschliche Verluste und bei aller Be- sich in der Bedrohungslage als stark und handlungsfähig troffenheit von wirtschaftlichen Schäden bleibt ein Positivum, erwiesen. Die Menschen waren und sind mit ihren Sor- das gar nicht oft genug ausgedrückt werden kann und hier gen nicht allein. voranstehen soll: In der Krise hat sich Großes gezeigt und wird so viel Gutes getan. Respekt und Dank gebühren Unser Gemeinwesen hat sich im Angesicht der Krise bewährt, unsere Gesellschaft gute Seiten an sich selbst (wie- • all den Menschen, die Verantwortung übernommen und der-)entdeckt. Diese Eindrücke und positive Botschaft sollten soweit möglich ihre Pflicht getan, die Solidarität gezeigt, auch über Corona hinaus Wirkung entfalten können. Und Rücksichten genommen, Abstand gehalten, in Zeiten das „Home-Office“, ob Quarantäne-bedingt oder nicht, eine empfohlener physischer Kontaktvermeidung Kontakte neue und auch gute Erfahrung für viele bleiben – ohne dieses verantwortungsvoll gepflegt und neue Kommunikations- gleich wieder gesetzlich regulieren, als „Recht“ verankern und wege genutzt, Nachbarn und Freunden geholfen und flächendeckend ausrollen zu müssen. Kinder unterrichtet haben, • besonders denjenigen Berufsgruppen, die unter schwie- rigeren Umständen noch mehr leisten mussten und dem Ansteckungsrisiko dabei weniger ausweichen konnten als andere, • den Unternehmern, Unternehmen und Gewerkschaften, Prof. Dr. Michael Eilfort Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen die verantwortungsvoll reagiert und vielerorts neue Wege Vorstand Vorstand eingeschlagen haben, der Stiftung Marktwirtschaft der Stiftung Marktwirtschaft Karikatur: Heiko Sakurai 3
Einleitung Solidarität, Transparenz, Verantwortung … und Freiheit! I Einleitung Wie geht es weiter? Welche Schlüsse können aus dem bishe- Es sind Fragen zur Wertschätzung und Verläss- rigen Verlauf einer Bedrohung gezogen werden, die so vieles lichkeit von Freiheit, Demokratie und Sozialer Markt- weitreichender verändert hat, als dies bis vor kurzem vor- wirtschaft, zur richtigen Balance zwischen gesundheit- stellbar schien? Zu Corona und den Folgen ist schon vieles lichem, seelischem und materiellem Wohl der Menschen gesagt und geschrieben worden. Lange Zeit mit einer fast in allen Altersgruppen. Bei der Eindämmung der Pandemie einhelligen Stoßrichtung, was man als breite Übereinstim- sind Erfolge erzielt worden, die aber ihren Preis hatten mung begrüßen, in einer freiheitlichen Demokratie aber auch und haben (werden) – weit über fiskalische Fragen hinaus. als bedenkliches Signal werten kann. Über diese Fragen und Preise zu diskutieren, scheint nicht so auf der Hand zu liegen wie anderes. Noch steht Es wirft durchaus Fragen auf, für viele Unternehmen und Arbeitnehmer drängende wirt- schaftliche Not im Vordergrund, für viele Menschen die Er- • wenn noch so tatkräftige Regierungen Alternativlosigkeit wägungen, wie in Kindertagesstätten und Schulen verfahren propagieren und eher verlautbaren als begründen, wird, aber eben auch, welche Freizeit- und Reiseaktivitäten zuerst betrieben, welche kulturellen und gastronomischen • wenn Parlamente kaum kontrollieren können, Genüsse zuerst zugelassen werden und wann wieder „Nor- malität“ einkehrt. • wenn die „vierte Gewalt“ lange Zeit allzu geschlossen Noch lassen sich die nun eingegangenen finanziellen mitläuft, Lasten in die Zukunft wegschieben, ohne über Gegenfinan- zierungen und Tilgungen zu sprechen. Noch werden auch • wenn Freiheit und Bürgerrechte teils drastisch einge- Missbrauch von Hilfsleistungen oder mit ihnen verbundene schränkt werden, Fehlanreize und Mitnahmeeffekte ebenso selten thematisiert wie möglicherweise mangelnde Vorbereitung öffentlicher Ein- • wenn eine bestimmte Auffassung von Gesundheit- richtungen oder anfänglich zu langsame politische Reakti- (sschutz) und Leben(sverlängerung) absolut gesetzt wird onen sowie spätere Fehler und Überreaktionen. Man sollte und eine Debatte darüber unterbleibt, ob dabei andere allen Handelnden angesichts eines vor allem im Ausmaß neu- gesundheitliche Belange und anderes Leben gefährdet artigen externen Schocks die enorme Unsicherheit, unter der sind, Entscheidungen getroffen werden mussten, das Fehlen von Erfahrungswerten und verlässlichen Informationen zugutehal- • wenn der Staat gleichzeitig Gesundheit, Sicherheit für ten, wenn man, so oder so, bald manches besser weiß. Arbeitsplätze, Einkommen, Wohnen, Unternehmen und Manches könnte man aber jetzt schon besser machen auch für Länder und Kommunen verspricht, und damit beginnen, absehbar Notwendiges zu gestalten. Deshalb werden in dieser Publikation auch Aspekte aufgegrif- • wenn das Retten keine Obergrenzen und keine Voraus- fen, die bislang vielleicht zu wenig beleuchtet wurden. Antizy- setzungen kennen soll. klische Ansichten und Frühwarnungen sind besonders dann wichtig, wenn sie kaum jemand hören mag. 4
Handlungsbedarf und Folgerungen aus der Corona-Pandemie Notfallprogramm II Notfallprogramm In der Zeit des größten Verzichts, sehr weitgehender Ein- • Ein Notfallprogramm bleibt ein Notfallprogramm, schränkungen und besonderer gesundheitlicher Sorgen vor das heißt: Alle Hilfen sind zeitlich zu begrenzen, allem in den Monaten März und April 2020 sollten drängende alle Maßnahmen mit einer Exit-Strategie zu ver- wirtschaftliche Nöte gelindert, irreparable wirtschaftliche sehen – aus Rettung darf nicht bleibende Alimentation, Schäden nach Möglichkeit verhindert und Zeichen gesetzt Subvention oder gar Beteiligung werden, aus situativ werden: Das beschlossene massive Notfallprogramm des nicht dauerhaft, aus konjunkturell nicht strukturell. Es Bundes und auch Programme der Länder und der Europä- gilt, neue Fehlanreize und dauerhafte Abhängigkeiten zu ischen Union in kaum vorab zu definierender Höhe und Dauer vermeiden. waren insgesamt und im Grundsatz richtig. • Klare Befristungen und Exit-Strategien sind von be- Manche Maßnahmen sind geeigneter als andere, teilwei- sonderer Bedeutung bei möglichen, besser stillen als se wurde auch schnell adjustiert. Teuer sind fast alle Maß- direkten, Staatsbeteiligungen an Unternehmen. Die nahmen. Die realen ökonomischen Kosten der Corona-Krise seit der Bankenkrise 2008 fortbestehende Teilverstaat- lassen sich nun einmal nicht wegdefinieren. Diejenigen, die lichung der Commerzbank ist ein mahnendes Beispiel die Rettungsinstrumente entschlossen auf den Weg gebracht – und der Staat nicht der bessere Unternehmer. haben und bemerkenswert schnell umsetzen, werden hof- • Hilfsmaßnahmen sind selbstverständlich möglichst ziel- fentlich ebenso schnell die zielführenden von den weniger genau zu differenzieren – Konzerne, Familienunterneh- sinnvollen unterscheiden und die Gesamtkosten nicht aus men, Handwerker und (Solo-)Selbständige können nicht den Augen verlieren. Auf eine Einzelbewertung der Förder- pauschal und einheitlich behandelt werden. Eine Diffe- maßnahmen für potentiell alle Wirtschaftenden soll an dieser renzierung kann z.B. sinnvoll sein nach Rechtsform, Zahl Stelle verzichtet werden – angesichts der im Übergang vom betroffener Arbeitsplätze, Geschäftsentwicklung. Eher „Shutdown“ zu einer zaghaften Öffnung immer lauteren Rufe zu hinterfragen – sofern sich die „Krisenbetroffenheit“ nach besonderen Gaben für eine jeweils besondere Klientel nicht grundsätzlich unterscheidet – ist aber eine Diffe- aber nicht auf einen Katalog von Kriterien, an dem sich alle renzierung nach Art der Produkte oder Dienstleistungen. Beschlüsse messen lassen sollten: Unterstützung sollte im Bedarfsfall grundsätzlich Karikatur: Harm Bengen 5
Notfallprogramm Solidarität, Transparenz, Verantwortung … und Freiheit! allen in der jeweiligen Kategorie offenstehen, struk- lität hinaus wäre ebenso ein Fehler, wie es der vom Ko- turelle Veränderungen oder weitere Erleichterungen wie alitionsausschuss Ende April beschlossene (wirklich nur z.B. ein befristetes Sonderinsolvenzverfahren sollten al- befristete?) ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Pro- len zugutekommen können. zent für Nahrungsaufnahme in Hotels und Gaststätten • Wertschöpfung ist ein ökonomisches Ziel, keine normati- ist. Um beispielhaft bei Letzteren zu bleiben, weil damit ve Vorgabe nach politischem Gutdünken – es gibt keine auch der Pandemie-Opportunismus begann: 2010 guten oder schlechten, grüne oder schwarze Unterneh- hat der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband den er- men, sondern erfolgreiche oder weniger erfolgreiche. mäßigten Mehrwertsteuersatz auf Hotelübernachtungen Corona-Folgen nur selektiv zu bekämpfen oder Hil- erreicht, mit den bekannten politischen Folgewirkungen fen zur Steuerung der Wirtschaft zu missbrauchen, und Frühstücksproblemen. Begründung damals: Es wäre kein „Green Deal“, sondern ein schlechter ginge um Arbeitsplätze, Investitionen und Preissen- Deal. Das Steuerrecht bietet z.B. über ausgeweitete kungen, um z.B. in Bayern mit Österreich konkurrieren Verlustverrechnungsmöglichkeiten Spielraum für über- zu können. Seitdem sind zehn Boom-Jahre vergangen: greifende Hilfen, die – anders als viele direkte Hilfen – ohne Preissenkungen. Und in der ersten, wenn auch nicht zu Verwerfungen oder Abgrenzungsfragen führen. heftigen Krise wurde schon nach wenigen Tagen wie- Kontraproduktiv wäre jede Form von Steuererhöhung zur der eine Subvention à la carte gefordert? Soll nun im Finanzierung der Krisenkosten, da dadurch schon be- Mövenpick-Hotel nach der Übernachtung auch das stehende steuerliche Nachteile deutscher Unternehmen gleichnamige Eis als eine Art systemrelevantes Grund- im internationalen Wettbewerb noch vergrößert würden. nahrungsmittel nurmehr mit 7 Prozent Mehrwertsteuer • (Nicht-)Einflußnahme des Staates auf die Ausrichtung belegt und die Marge ebenfalls eingestrichen werden? von Unternehmen, die staatliche Unterstützung erfah- Als eine Große Koalition mit Finanzminister Franz-Josef ren, ist das eine. Staatliche Unterstützung zur Krisenbe- Strauß 1968 in Deutschland die Mehrwertsteuer als Ver- wältigung in Unternehmen mit Maßnahmen gegen ein brauchsteuer einführte, wurde die Maßgabe verkündet, business as usual bei Zahlungsflüssen zu verbinden, das dass sowohl Erhöhungen als auch Senkungen des Tarifs andere: Hilfsmaßnahmen in Form von Transfers und an Verbraucher weiterzugeben seien. Erst durch die Hin- dem Kurzarbeitergeld über praktisch kostenlose nahme des Einbehalts der Mehrwertsteuermarge durch und weitgehend oder ganz staatlich besicherte die Hotels nach 2010 und jetzt durch das Ausbleiben Kredite bis hin zu Staatsbeteiligungen auf der einen jedweder Forderung auf Preissenkungen in der Seite und Aktienrückkäufe, Dividenden, Boni sowie Gastronomie zeigt sich das offene Einverständnis andere Gratifikationen an (leitende) Mitarbeiter auf mit dem Betrug am Verbraucher und Steuerzahler: der anderen Seite sollten sich ausschließen. Solche Regelverletzungen sollten nicht Schule machen. • Mittelflüssen im Rahmen kurzfristiger Rettungs- und Er- Natürlich verdienen Gastronomiebetriebe Unterstützung haltungsprogramme hat nach dem Abflauen der akuten in der Not – aber bitte mit den gleichen Instrumenten Krise eine Überprüfung der Verwendung mindes- wie andere Betriebe. Ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz tens in Form von Stichproben zu folgen. Bei offen- nützt übrigens kurzfristig den Hotels und Gaststätten in sichtlichem Missbrauch müssen im Fall nicht rückzu- Zeiten, in denen sie keine oder verminderte Einnahmen erstattender Hilfen Ansprüche gestellt werden können erzielen, wenig(er). Das weiß natürlich auch die Deho- bzw. Sanktionen erfolgen. ga – weshalb sie, schon nachvollziehbarer, parallel zur • So schnell wie möglich sind bei allen unterstüt- Mehrwertsteuersenkung zusätzlich einen Rettungsfonds zenden Mittelflüssen wieder Bedarfsprüfungen reklamierte. einzuführen bzw. zu intensivieren, ebenso die be- • Auch in anderen Fällen wird die Pandemie zur Durchset- treffenden Summen zurückzuführen und die Eigenanteile zung vorher aus gutem Grund nicht zum Zug gekom- und/oder Zinssätze bei Krediten zu erhöhen, um die An- mener Forderungen genutzt. Doch wenigstens beim reize für reine Mitnahmeeffekte zu verringern. BAföG, einer staatlichen Leistung, für die auch das Sub- • Sonderprogramme für einzelne Branchen sind ab- sidiaritätsprinzip gilt, ist die Bundesregierung stand- zulehnen – eine Wiederholung der „Abwrackprämie“ haft: Sie hilft in der Krise u.a. mit zinslosen Darlehen, über die schon laufenden Subventionen für Elektromobi- verteilt aber keine Geschenke mit der Gießkanne. 6
Handlungsbedarf und Folgerungen aus der Corona-Pandemie Konjunkturprogramm III Konjunkturprogramm Der Koalitionsausschuss Ende April 2020 beendete in ge- bleme bei der Einkommensprüfung, fiskalisch noch deplat- wisser Weise die „Notfallphase“ der Corona-Krise, in der die zierter als sie es schon vor Corona war. Ebenso muss gefragt Große Koalition die großen Linien im Blick behielt und ver- werden, ob es ökonomisch und politisch besonders klug war, antwortungsvoll im Sinne des großen Ganzen agierte. Der dass die Bundesregierung in den Tagen des maximalen Still- Sündenfall bei der Gastronomie-Mehrwertsteuer und die stands, als schon für Millionen Kurzarbeit beantragt war und Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, einer Versicherungs- Hunderttausenden die Arbeitslosigkeit drohte, unverdrossen leistung, an der nun nach politischem Gutdünken und mit beschlossen hat, zum 1. Juli im Rahmen der in normalen dünner Begründung gedreht wird, markieren die Rückkehr Zeiten üblichen Systematik die Renten stark anzuheben. der Bundesregierung zum Klein-Klein der Klientelpoli- Mindestens diejenigen, die all das bezahlen sollen, tik und des „Wer hat noch nicht, wer will noch (mal)?“. dürfen erwarten, dass nicht nur gerettet und unter- Es bleibt zu hoffen, dass sich die Befristung der Maßnahmen stützt, sondern auch auf neue Chancen gesetzt wird. auf den 30.06.2021 im einen und 31.12.2020 im anderen Ein Konjunkturprogramm sollte bei massiven Investitionen in Fall nicht nur als formal erweist. In der politischen Logik gibt analoge und digitale Infrastruktur beginnen und kann bis zur es schwerlich ein Zurück und zumindest bei der Aufnahme Stärkung der Binnennachfrage reichen. Letzteres allerdings gastronomisch aufbereiteter Nahrung steht die Forderung nicht mit Helikoptergeld oder Gutscheinen und einem Ver- nach einer Weiterführung schon im Raum. ständnis von Konsumenten, die auf staatlichen Knopfdruck Wie man in das Mehrwertsteuerdickicht hineinruft, so und mit „Geschenken“, die man ihnen an anderer Stelle aus schallt es inzwischen aus den Büschen und vielerlei ande- der Tasche gezogen hat, schön kaufen sollen. Besser wäre ren Wäldern heraus: Jeder will etwas haben von dem Geld, es, mündigen Bürgern mehr Spielräume zu lassen. das gerade so offensichtlich locker sitzt – Eigenverantwor- Konjunkturelle Stimulation darf nicht zu struktu- tung wird klein-, die Sozialisierung neuer und nebenbei rellen Programmen gerinnen, muss grundsätzlich mög- auch vieler alter Risiken großgeschrieben. Auch deshalb lichst allen offenstehen und darf allenfalls dann bleibenden müssen die Regierungen wieder kritischer begleitet und po- Charakter haben, wenn sich Maßnahmen auch strukturell litisch mehr gestritten werden. Das gilt insbesondere für den in ein stimmiges Bild fügen (z.B. Steuerentlastungen durch zweiten Schritt beim Weg aus der Krise – einem Konjunk- Dämpfung des Progressionsverlaufs). Damit ist der entschei- turprogramm als Initialzündung, das die weitere Öff- dende Bereich der Verbesserung struktureller Rahmenbedin- nung begleiten und möglichst schlüssig mit dem Not- gungen bereits berührt. fallprogramm verzahnt sein sollte. Eine über die Notfallmaßnahmen hinaus- gehende starke zusätzliche Verschuldung sollte bei der Finanzierung des Konjunk- turprogramms eher vermie- den werden. Helfen könnte dabei, Prüfungen und viel- leicht Rückforderungen aus den ersten Maßnahmen zu intensivieren und zudem kla- Karikatur: Heiko Sakurai re Schwerpunkte zu setzen: Deutschland braucht, in und nach dieser Krise allemal, ein Moratorium bei neuen Belastungen, insbesondere auf der Ebene des Sozial- staats. Die Grundrente ist, jenseits der systematischen Bedenken, der Fehlanreize sowie der verfassungsrecht- lichen und praktischen Pro- 7
Strukturprogramm Solidarität, Transparenz, Verantwortung … und Freiheit! IV Strukturprogramm Das langsame Herunterfahren der Notfallmaßnahmen und logieoffener Forschung und Entwicklung, größerer Hilfen die Aktivitäten zur Belebung der Konjunktur sind zu beglei- und Erleichterungen für universitäre Ausgründungen ten vom langfristig wichtigsten Schritt: einem Strukturpro- sowie für Startups, z.B. schnellere Abschreibungen, gramm. Ohne diesen Schritt werden alle anderen ein Stroh- Verbesserung der Verlustverrechnungsmöglichkeiten feuer bleiben! Dieses Strukturprogramm soll zum einen dazu und Entlastung von Steuer-Bürokratie in der Gründungs- beitragen, Deutschland nach den schweren Rückschlägen phase. der Corona-Krise ökonomisch wieder zurückzubringen, zum anderen vor allem die Grundlagen schaffen für eine neue lan- • Ein entschlossenes Angehen der Digitalisierung auch ge Phase nachhaltigen Wachstums und gesicherten Wohl- von staatlicher Seite. Die Erwartung, die Erfahrungen stands. Deutschland sollte sich nichts vormachen: Auch aus der Corona-Krise könnten hier einen Schub geben, ohne die aktuelle Krise und ihre Folgen stünde es um den wird sich nicht von allein erfüllen, „Bedenkenträgermen- Standort nicht zum Besten und waren auch schon die kon- talität“ nach Abflauen der Pandemie nicht von selbst junkturellen Vorzeichen eher negativ. Schließlich war das ma- größerem Willen zum Ergreifen von Chancen weichen. gere 0,6-Prozent-Wirtschaftswachstum aus dem Vorjahr der Jahrelange Versäumnisse bei der Digitalisierung der zweitschlechteste Wert aller EU-Staaten. Was brauchen wir? staatlichen Aufgabenerfüllung – nicht zuletzt im Gesundheitsbereich – sind aufzuholen. Regulato- rische Freiräume sind zudem dort zu schaffen, wo • Vorfahrt für Bildung, Chancengerechtigkeit und Wettbewerb, Innovation und neue Geschäftsmo- Aufstieg. Gerade aufgrund des demographischen delle behindert werden – sei es bei der Arbeitszeit, der Wandels und angesichts der absehbaren technologie- Personenbeförderung oder dem Versand rezeptpflichti- getriebenen Veränderungen am Arbeitsmarkt gilt es, ger Medikamente. niemanden zurückzulassen. Deutschland benötigt, ne- ben dem in der Krise offenkundig gewordenen Mangel an digitalen Möglichkeiten im gesamten Bildungswesen, • Ermutigung zur Eigenverantwortung, Stärkung von eine stärkere Fokussierung von Bildungsausgaben auf Leistungsanreizen und -gerechtigkeit, die sich auf den vorschulischen Bereich („was Hänschen nicht lernt, allen Ebenen rechnen: Von A (wie Altersvorsorge und lernt Hans nimmermehr“), in dem leider zu oft sozialer Äquivalenz in der Rentenversicherung) über F (revitali- Status frühzeitig zementiert wird. Verschärft wird diese sierter Föderalismus mit mehr Subsidiarität, Transparenz Situation derzeit noch durch den krisenbedingten Ausfall und Wettbewerb – sowohl in Deutschland als auch in von Förderung in Kita und Schule. der EU) und N (Nachhaltigkeit im Hinblick auf unsere na- türlichen Lebensgrundlagen wie auf öffentliches Haus- halten und Generationengerechtigkeit) bis Z (zu versteu- • Innovationen für ein alterndes Land, dessen Rohstoffe erndes Einkommen insgesamt eher weniger belasten nach wie vor nicht in den Böden, sondern in den Köpfen und vor allem die leistungsfeindliche Progressionskurve liegen. Wir brauchen einen Mentalitätswandel, um unse- abmildern). re Innovationsfähigkeit zu verbessern: weg von der Betonung von Risiken, hin zu mehr Aufgeschlos- senheit für Neues. In den Bildungssystemen sollten • Eine Reform der Unternehmensbesteuerung mehr Freiräume und Anreize für dezentrales Experimen- in Höhe (maximal 25 Prozent Belastung) und tieren und Innovationen ermöglicht werden. Es müssen Struktur (Rechtsformneutralität, Vereinheitlichung bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden, um der Bemessungsgrundlagen von Körperschafts- und die hervorragenden Ergebnisse der Grundlagenfor- Gewerbesteuer, Vermeidung ertragsunabhängiger Be- schung in marktreife und erfolgreiche Produkte umzu- steuerungselemente, neue und stabilere Form der Kom- setzen. Dazu bedarf es eines Bekenntnisses zu techno- munalfinanzierung auch als Beitrag zur Entflechtung der 8
Handlungsbedarf und Folgerungen aus der Corona-Pandemie Strukturprogramm Finanzierung der föderalen Ebenen). Eine liquiditätsscho- spätestens 2030 auch den ab 2021 geltenden nationalen nende Ausweitung der Möglichkeit zur Umstellung in Emissionshandel in den Bereichen Verkehr und Gebäu- der Umsatzsteuer von Soll- auf Ist-Besteuerung könnte de einzubeziehen. Baldmöglichst sollte die Abschaffung schnell von großem Nutzen sein. Einfach ins Werk zu nationaler CO2-bezogener Steuern und Subventionen setzen wäre eine stark erweiterte Möglichkeit zur erfolgen, da spezifische Sektorziele die CO2-Reduktion Verrechnung aktueller Verluste mit früheren Gewin- weiter unnötig teuer machen. Gerade in der Krise zeigt nen, die kurzfristig am meisten helfen und gleichzeitig sich wieder, dass das EEG mit seinen verbindlichen Sub- langfristig-strukturell die richtigen Anreize setzen würde. ventionszusagen ökologisch sogar schädlich ist, weil der Wichtig wäre auch, die bestehenden steuerlichen Be- eingesparte Strom durch eine massive Erhöhung der nachteiligungen von Eigenkapital im Vergleich zu EEG-Umlage „bestraft“ wird. Fremdkapital abzubauen und damit höhere Eigenka- pitalquoten attraktiver zu machen. Letztere würden die Widerstandsfähigkeit von Unternehmen in zukünftigen • Entschlossener Rückbau der kaum vermeidbaren Krisen erhöhen und sie weniger abhängig von staatlicher ordnungspolitischen Sünden aus den nationalen Rettung machen. Notfallprogrammen: Den schlechten Beispielen der Sektsteuer von 1907, des „Solidaritätszuschlags“ von 1991, des Staatsanteils an der Commerzbank von 2008 • Die überfällige Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer sollten nicht situative Hilfen von 2020 folgen. Nicht zuletzt auf einen Satz von knapp haushaltsneutralen 16 Prozent sollten die Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer eher ab- auf alle Produkte und Dienstleistungen würde auch dazu gebaut als ausgeweitet werden, um unsinnige Abgren- führen, die Mehrwertsteuer weniger zum Spielball von zungen und versteckte Subventionen zu vermeiden. Vor Partikularinteressen zu machen. Mit einer angekündig- allem für den Rückbau möglicher Staatsbeteiligungen ten Erhöhung auf 17 Prozent zum 1.7.2021 wäre zum gilt es, von Beginn an konkrete Ausstiegsszenarien z.B. einen ein Beitrag zur Gegenfinanzierung der Hilfen er- in Form weitestmöglich verbindlicher Stufenpläne zu er- folgt, zum anderen – dies funktionierte bereits vor der stellen. Erhöhung 2007 – ein Anreiz, Konsum vorzuziehen. Sozial wäre der Wegfall des ermäßigten Satzes (auch für Jakobsmuscheln, Taxifahrten) weit weniger bedenklich • Auch der europäische Krisenmodus von EU-Kom- als gemeinhin behauptet: Grundsicherungsempfänger mission, ESM, EIB und EZB sollte, anders als seit der sind ohnehin nicht berührt. Eine im ungünstigen Fall Finanzmarkt- und Schuldenkrise, schnellstmöglich zu- entstehende Mehrbelastung von unter 1,5 Prozent des rückgefahren werden, um wieder Spielräume für mög- Haushaltsnettoeinkommens ließe sich gegebenenfalls liche andere Herausforderungen zu schaffen. Noch wich- mit gezielten Maßnahmen abfedern und begründet keine tiger: Gemeinsam beschlossene Regeln und Verträge Branchensubventionen und Sondertatbestände. müssen endlich beachtet werden und elementare Grund- prinzipien wie das Subsidiaritäts-, das Wettbewerbs- und das Haftungsprinzip nicht nur de jure wieder greifen. • Korrekturen bei der Energiewende z.B. in Form einer technologieoffenen und ideologiefreien Ausgestal- tung der Transformation zu einer CO2-armen Wirt- • Dem durch konkrete Krisenreaktionen verstärkten Trend schaft. Eine staatliche Vorzugsbehandlung einzelner zu einer dirigistischeren und protektionistischeren Branchen und Vorverurteilung „alternativer“ Energiege- Wirtschaftspolitik ist entschieden entgegenzutre- winnung z.B. durch Wasserstoff und synthetische Kraft- ten, da dadurch die lnnovationsfähigkeit des europä- stoffe sollte vermieden werden. Den EU-Emissionshan- ischen Wirtschaftsraums insgesamt und damit die Basis del gilt es auf alle Sektoren in Europa auszuweiten und unseres Wohlstands leidet. 9
Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise Solidarität, Transparenz, Verantwortung … und Freiheit! V Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise Kredite aufgenommen, bilanziert aber offiziell nur ein Drittel 1 Kein Zurück zu „alter Normalität“ seiner Schulden. Zwei Drittel der tatsächlichen Verbind- der Vor-Krisenzeit lichkeiten sind vor allem in den Sozialversicherungen versteckt und genau hier fand in den letzten Jahren durch Art und Ausmaß des exogenen Schocks durch das Corona- neue Zusagen der Bundesregierung, u.a. bei Rente und Pfle- Virus und die damit einhergehenden tiefgreifenden Erschüt- ge, eine Verschlechterung der Haushaltslage und damit der terungen lassen die Rückkehr zur „alten Normalität“ als lo- Zukunftsaussichten statt. Ein Zurück zu dieser „alten Nor- gisches Ziel erscheinen und rücken damit die Vor-Krisen-Zeit malität“ eines reform- und veränderungsabgeneigten, automatisch in ein mildes Licht. Wenn denn das Zurückdrehen aber sozialausgabenfreudigen Biedermeiers kann das von Uhren möglich wäre, sollte man am besten auf 2013 zie- Land weder wollen noch sich leisten. len. Die danach erfolgten Fehler spendierfreudiger großer Koalitionen und die durch sonstigen Stillstand (Digitali- sierung!) verpassten Chancen deckt nun die Pandemie 2 Sicherheit nur durch Absicherung erst einmal zu. Die Folgen dieser Fehler zeigten sich bereits: ist eine Illusion Seit Jahren schon verschlechterten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kontinuierlich, u.a. bei der Unterneh- Kein anderes Land nimmt im Verhältnis zu Größe und Ein- mensbesteuerung und den Energiekosten – mit inzwischen wohnerzahl mehr Geld zur Bewältigung der Krise in die Hand unrühmlichen „Führungspositionen“ in EU und G7. Bereits als Deutschland. Unvorstellbare 1,2 Billionen Euro (das sind seit Mitte 2018 war die wirtschaftliche Eintrübung 1,2 Millionen Millionen) wurden bislang mobilisiert, was einem mess- und spürbar, begann die Kurzarbeit zu steigen und Drittel der gesamten Jahreswirtschaftsleistung gleichkommt, befand sich insbesondere die Automobilindustrie in der Krise. davon allein 156 Milliarden Euro für 2020 an schon sicheren Verschlechtert hatte sich die Bundesrepublik seit 2014 auch neuen Schulden beim Bund. Das ist ein Versprechen für die im von der Stiftung Marktwirtschaft durchgeführten Vergleich Zukunft, weil bestehende Produktionspotentiale und der Nachhaltigkeit EU-europäischer öffentlicher Haushalte. betriebliches Know-How zumindest temporär erhalten Dass Deutschland durch seine solide Haushaltspolitik bleiben. Zugleich stellt es eine Drohung dar: Erstens der letzten Jahre nun die Spielräume für das Auspacken sind die Schulden von heute die Steuern von morgen. der „Bazooka“ (Bundesfinanzminister Scholz) habe, ist Zweitens wurden auch womöglich überzogene Ansprüche an eine Legende: Der Staat hat seit 2014 zwar keine neuen Staat und Gemeinwesen unterstrichen sowie Erwartungen Auch jenseits von Corona: Kein Zurück zum „Weiter so“ Karikatur: Heiko Sakurai 10
Handlungsbedarf und Folgerungen aus der Corona-Pandemie Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise mit frischem Geld“ – ist, sondern verstanden wird, dass wir neue Chancen schaffen und/oder nutzen, Potentiale besser ausschöpfen, Kreativität, Leistung und Engage- ment wieder besser anerkennen müssen, wäre dies ein Fortschritt. Und was sind eigentlich individuelle, was allge- Karikatur: Schwarwel meine Risiken? Wo die Verantwortung des Einzelnen endet und die Fürsorge des Staates beginnt, muss immer wieder neu diskutiert werden. Ganz besonders nach Corona und ei- ner Krise, in der noch mehr als sonst die Gefahr groß ist, dass die Vorsorgenden und Eigenverantwortlichen fak- tisch bestraft und die Hasardeure und Trittbrettfahrer belohnt werden. All das mindert nicht die Richtigkeit vieler Rettungsmaßnahmen, ordnet sie aber als das ein, was sie sein sollten: vorübergehende Nothilfen, die als solche kei- nen Bestand haben und nur dann zum Erfolg führen können, geweckt, die nicht erfüllbar sind und am Ende Enttäu- wenn sie auf der Ebene einzelner Bürger und Unternehmen schung und Verdruss hervorrufen (Bundeswirtschaftsminister mit dem Ziel eingesetzt werden, sie so schnell als möglich Altmaier: „Kein Arbeitsplatz muss wegen Corona verloren- überflüssig zu machen. gehen“). Wer alles sichern will, von Arbeitsplätzen über Einkommen, Existenzen, Gesundheit bis zu Wohnungs- mietenhöhen, verhindert auch, dass Neues entsteht 3 Die Kirche bleibt im Dorf und sichert am Ende womöglich nichts, sondern setzt Wohlstand und Sozialsysteme als Ganzes aufs Spiel. Sicher Politiker der Exekutive wissen, dass ihnen größere Aufmerk- sind jedenfalls nur die hohen Kosten der vermeintlichen Si- samkeit und mehr unkritische Gefolgschaft zuteilwerden, cherheit. wenn sie den Ausnahmezustand erklären und die ganz Die starke Alterung unserer Gesellschaft verstärkt de- großen Überschriften setzen. Weniger Menschen meckern, ren Fixierung auf Bewahrung, Sicherung, Status quo, Fest- mehr folgen, und Regieren wird in mancher Hinsicht auch schreiben und die Absolutheit des Moments. Es fanden in bequemer. Je einzigartiger bedrohlich die Lage er- langen und fast durchweg guten Jahren kluge gesellschaft- scheint, desto mehr Handlungsfreiheiten und „neue liche Debatten über die moderne „Risikogesellschaft“ statt, Wege“, die im politischen Alltag kaum vorstellbar wä- aber die Risiken des Lebens wurden auf Seite des Indi- ren, werden der Politik zugestanden. Natürlich ist das viduums immer mehr ausgeblendet und auf den Staat Corona-Virus eine sehr ernste Bedrohung. Es kostet Leben als größten allgemeinen Versicherer am Platz über- und Wohlfahrt. Es breitet sich in anderer Schnelligkeit und mit wälzt: Er soll – zu Recht – vor äußerer Bedrohung, innerer verheerenderen Folgen aus als andere Viren. Aber „Krieg“ Unsicherheit und größeren Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, (Frankreichs Staatspräsident Macron), „Wiederaufbau“ Krankheit und Pflegebedürftigkeit) schützen, vor Letzterem (Italiens Ministerpräsident Conte) und „Marshall-Plan“ aber immer ausdifferenzierter und umfassender weit jenseits (EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen – übrigens über Grundversorgung und Notfälle hinaus. Zu viele wollen in Verkennung der Tatsache, dass es dabei 1948 bis 1952 auch vor Verantwortung, Anstrengung, Wettbewerb bewahrt weniger um große Summen und z.B. Sozialleistungen ging, werden. Oft gelten so schon das Ausfüllen und die Prüfung sondern vor allem um ein Strukturprogramm zur Wiederbele- eines Antrags, wenn man vom Gemeinwesen Unterstützung bung von Handel und wirtschaftlicher Kooperation, in dessen erhalten will, als „Zumutung“. Politiker, die gerne „Kümmerer“ Rahmen auch die das Wirtschaftswunder befördernde Lohn- sind, haben viele dieser Wünsche aufgegriffen – und selbst zu zurückhaltung durchgesetzt wurde)? Geht das alles verbal einer Erwartungsinflation beigetragen, die ihnen entglitten ist. auch eine Nummer kleiner? Im Krieg, der vor 75 Jahren Corona zeigt: Wir sind solidarisch, es wird nach Kräften mit der Befreiung Europas vom Faschismus endete, bangten geholfen – aber wir können nicht alles beherrschen, re- viele Menschen in Bunkern um ihr Leben und starben Millio- geln, kontrollieren. Vielleicht lassen der Voluntarismus und nen. Viele Industrieanlagen und vor allem Städte waren zer- Machbarkeitsglaube mancher Gesellschaftsingenieure etwas stört, 1946/1947 hungerten Menschen in Europa. Heute sind mehr neue Demut zu. Wenn das Ziel nicht die möglichst voll- einige in existenzieller Weise von Corona getroffen, andere ständige Rückkehr zum Alten und Gewohnten – „weiter so haben größte wirtschaftliche Sorgen. Aber die Kirchen ste- 11
Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise Solidarität, Transparenz, Verantwortung … und Freiheit! Karikatur: Klaus Stuttmann hen noch in den Kommunen, und für einen nicht unwe- sentlichen Teil der Bevölkerung hierzulande war lange 4 Beurlaubung der Bürgerrechte? vor allem Toilettenpapier ein „Mangelthema“. Viele Men- schen werkeln zuhause und erleben „Krieg“ im Sessel mit Die Leichtigkeit, mit der eine breite Öffentlichkeit dramatische Netflix – oder bei einem deutschen Fernsehsender, der allen Einschränkungen der Freiheit und Bürgerrechte durch Ernstes in einer Endlosschleife unkommentierte Sequenzen die Regierung(en) als alternativlos hingenommen hat, von Kamerabildern aus leeren deutschen Innenstädten ab- war angesichts des weltweiten Ausmaßes der Krise und der spulte, mit zwei umgefallenen Heizpilzen in einem geschlos- Eindrücke aus anderen Ländern am Anfang nachvollziehbar senen Biergarten als Höhepunkt der Apokalypse, dramatisch – und ist doch zugleich beunruhigend. untermalt von Horrormusik aus dem Film „The Dark Knight“. Lebendige Demokratie ist Kommunikation, Diskussion, Vielleicht sind die Maßstäbe auch deshalb verrutscht, Meinungsstreit und das Ringen um die besten Lösungen im weil Freiheit, Demokratie und Frieden als so selbstver- Wettbewerb der Ideen. Freiheit muss immer neu erkämpft ständlich genommen werden und nach langen Jahren des werden, gebraucht man sie nicht, schläft sie ein. Corona Aufschwungs oder zumindest der Konsolidierung das trüge- brachte gewiss einen Ausnahmezustand mit sich, in dem in rische Gefühl vorherrschte, die moderne Gesellschaft vielem entschlossenes Handeln und Lernfähigkeit, „Schlie- bzw. der Staat hätte alles unter Kontrolle und für alle Le- ßung“ und „Öffnung“, Regeln und Sonderfälle lange gut ab- bensrisiken eine Ab- und Versicherung. Das Erwachen aus gewogen wurden. Aber muss es nicht trotzdem befremden, dieser Illusion ist gewiss schmerzhaft. Aber wir sind nicht im in welchem Maß aus Meinungsvielfalt plötzlich ein Meinungs- Krieg. Und Berlin 1945, Mailand 1944 (die Hälfte aller Gebäu- strom wurde und auf wieviel demoskopische Zustimmung de war zerstört oder beschädigt), Madrid 1939 sahen anders „klare Ansagen“ stießen? Musste, bei aller Einzigartigkeit aus als heute. Sie brauchen Wiederbelebung, nicht -aufbau. dieser Krisenerfahrung und auf unsicherem Gelände, jede Die Europäische Union braucht tendenziell mehr eigene wissenschaftliche Aussage zum Mantra erklärt werden? Vi- Haushaltsmittel, mehr Flexibilität bei deren Einsatz und eine rologen sind auch nur Menschen und zudem, wie andere Umstrukturierung des jetzigen Budgets auf öffentliche Güter Experten ebenso, selten einer Meinung. Apodiktisch verkün- mit EU-Mehrwert, gewiss aber keinen sogenannten Marshall- dete Maßstäbe und Kennzahlen, die nur noch wenig galten, Plan, bei dem es eher um vordergründigen Budgetumfang sobald sie erreicht wurden, ließen begründete und wichtige als um kluge Mittelverwendung geht und der Verschuldungs- Fragen, aber leider auch viele unsinnige Verschwörungsthe- recht, Solidarhaftung und ausufernde Zuschüsse einschließt. orien aufkommen. 12
Handlungsbedarf und Folgerungen aus der Corona-Pandemie Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise Schock, Sorge, Angst – da zählt erst einmal nur der wägungen. Der Schutz der Gesundheit der einen kann auch Moment und stehen Sicherheit bzw. Gesundheit an erster eine gesundheitliche Gefährdung anderer bedeuten. Stelle. Deren Betonung sollte man auch niemandem als inte- Eine oberste Bundesbehörde wie das Gesundheits- ressengeleitet vorwerfen, vielleicht eher als Summe aller Be- ministerium kann nicht ermächtigt werden, per Anordnung fürchtungen politisch Verantwortlicher sehen – insbesondere Grundrechte einzuschränken. Es ist ein gutes Signal, dass dann, wenn es vielleicht wegen anfänglich längeren Zögerns die Bundesjustizministerin im März mindestens diesen ent- zu kompensatorischem Übereifer kommt: Ist die Not offen- sprechenden Gesetzentwurf stoppte. Denn die Krise zeigte kundig, will jeder natürlich das Richtige tun – und zugleich auch, dass der Rechtsstaat funktioniert. Opposition in verhindern, dass man ihm später vorwerfen kann, nicht al- den deutschen Parlamenten und in der öffentlichen und ver- les Menschenmögliche unternommen zu haben. Im Ergeb- öffentlichten Meinung ist wieder wahrnehmbarer, gleich meh- nis wird so für das Vordergründigste, akute Sicherheit und rere Gerichtsentscheidungen haben die Kontrollaufgabe und Gesundheit, das Maximum geleistet, koste es, was es wolle. das Funktionieren der Justiz unterstrichen. Die Bundesregie- Allein eine vorsichtige Infragestellung der Prioritätensetzung rung hat sich in der Diskussion um das Tracking am Ende galt in dieser Schockphase, das ist das eigentlich Erschre- für eine freiwillige und dezentrale, freiheitlichere Variante ent- ckende, schon als unerhört. schieden. All dies sind gute Zeichen. Die jetzige Krise wird kaum ein Einzelfall bleiben. Grippe- Die Zufriedenheit mit dem staatlichen Handeln, viren wandeln sich, Corona wahrscheinlich auch: Werden wenn nicht Staatsgläubigkeit, wird ohnehin spätestens dann bei Corona II und III erneut Grundrechte ausgesetzt dann abnehmen, wenn die Rechnungen zugestellt sowie Wirtschaft und gesellschaftliches Leben solange he- werden und Fehler, Ineffizienzen, Missbrauch und Mitnah- runtergefahren oder zumindest eingeschränkt, bis jeweils meeffekte sich herumsprechen. Bei der Bewältigung der Impfstoffe vorliegen? Haben die Bürger mit ihrer Sympathie wirtschaftlichen Auswirkungen wird dem einen oder ande- für das Regierungshandeln nicht gezeigt, dass sie Einschrän- ren auch wieder klarer werden, dass Geld nicht auf Bäumen kungen von Grundrechten sogar mit Popularität belohnen, wächst und Wohlstand nur als Ergebnis von Anstrengungen wenn der Anlass nur besorgniserregend genug scheint oder vieler, nicht aus der Mehrbesteuerung einiger gewonnen wer- ausgemalt wird? Für manchen Politiker oder manche Partei den kann. könnte darin eine gefährliche Versuchung liegen. Die Verhältnismäßigkeit mancher Reaktionen und 5 Politik ist handlungsfähig die lange nicht diskutierte Prioritätensetzung in einer durchaus schwierigen Güterabwägung dürfen jedenfalls nicht nur, sie müssen hinterfragt werden. Es gibt nicht nur Kein Euro zu viel, keine Frist zu kurz, kein Hindernis zu hoch Konflikte zwischen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Er- – dem zuhause sitzenden Publikum wurde fast schwindlig. Über mehrere Wochen hat die Große Koalition im März und April bewiesen, dass sie ein handlungs- fähiges Bündnis sein, Karikatur: Marcus Gottfried/toonpool.com eine kraftvolle Regierung stellen und entschlos- sen agieren kann. All dies, obwohl es nicht nur keiner- lei vorherige Erfahrungen mit einer Pandemie diesen Ausmaßes gab, sondern Corona in dem 177 DIN- A4-Seiten umfassenden, eng bedruckten und je- den Regierungsatemzug vorherplanenden Koa- litionsvertrag gar nicht auftaucht. Wenn es nach 13
Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise Solidarität, Transparenz, Verantwortung … und Freiheit! der mühsamen Grundrentendiskussion, welche am Ende die Vereinbarung auch noch ignorierte, eines weiteren Hinweises 6 Föderale Bewährung!? bedurfte, dass immer weiter ausufernde Regierungsverträge eher obsolet sind, lieferte ihn das Virus. Zu würdigen sind neben der Arbeit der Bundesregierung ins- Übrigens hat 1983 bis 1987 in Deutschland eine Regie- gesamt auch die Regierungen der Länder und Spitzen der rung Zukunft gestaltet auf der Basis einer Koalitionsvereinba- Kommunen. Viel Kritik am deutschen Föderalismus und dem rung von 10 DIN-A5-Seiten, die zudem keine Wohltaten ver- „Flickenteppich“ ist in diesen Tagen zu hören – als ob Ein- sprachen (aber später lieferten). Und es wurden auch nicht heitlichkeit ein Wert an sich sei. Muss es den Berliner so sehr Verantwortlichkeiten verwässert, weil Dutzende Landes- und (be-)kümmern, wenn im Saarland Geschäfte, in denen er so- Kommunalpolitiker in unzähligen Untergruppen Textbausteine wieso nicht einkauft, zwei Tage früher öffnen und Schulen, die und Forderungen wie 2017/18 zulieferten. Politiker sollten sich seine Kinder sowieso nicht besuchen, vielleicht eine Woche nicht länger selbst zu Notaren und Sachbearbeitern machen. später? Es gibt jedenfalls keine Belege dafür, dass stär- Widerlegt ist des Weiteren auch die Behauptung, ker zentralistisch organisierte demokratische Staaten Grenzen seien nicht mehr kontrollierbar. Im Bedarfsfall besser durch die Krise kommen. Könnte nicht der wohlgemerkt – am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen glimpfliche Verlauf der Corona-Verbreitung in Deutsch- Ziel möglichst offener Grenzen in Europa ändert dies nichts. land als Sternstunde des Föderalismus und dezen- Politik ist jedenfalls handlungsfähig. Manche Bemühungen, traler, regionaler und kommunaler Entscheidungsstrukturen eigenes Zaudern oder Unwillen hinter gedrechselten Koali- gewertet werden? Zentral getroffene Fehlentscheidungen tionsvertragssätzen, mit Verweis auf Koalitionspartner oder gelten für das ganze Land, gleichzeitig sind Lern- und Kor- „zunehmende Komplexität“ zu verstecken, dürften nach Co- rekturprozesse schwerer. Im föderalen System der Bundes- rona weniger leicht fallen. Und da in der Corona-Krise so- länder wurde demgegenüber um die richtigen Maßnahmen wohl Politik als auch die Bürger sich weit überwiegend auf gerungen und Entscheidungen (auch im „Wettbewerb“ der der Höhe der Herausforderung bewegt haben, könnten sie Bundesländer) immer wieder nachjustiert. Gerade in unüber- sich danach vielleicht gegenseitig auch mehr zutrauen? Mehr sichtlichen und unsicheren Krisensituationen müssen tempo- Ehrlichkeit, Transparenz und die derzeit doch so gelobte „kla- rär unterschiedliche Vorgehensweisen, kreative Experimente re Ansprache“ könnten ja auch möglich sein, wenn es z.B. und voneinander Lernen nicht das schlechteste Vorgehen darum geht, nicht wegen jedem Unwillen gegen eine Strom- sein. Deutschlands Stärke, nämlich Einheit in Vielfalt, sollte trasse sofort die Verlegung und Verzehnfachung der Kosten also eher unterstrichen werden. Auch durch mehr Mut zu als schicksalhaft hinzunehmen? Transparenz und Wettbewerb. Die Menschen brauchen ihre Plötzlich wieder vorn: Die Große Koalition Karikatur: Heiko Sakurai 14
Handlungsbedarf und Folgerungen aus der Corona-Pandemie Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise Karikatur: Ralf Böhme Föderalismus: Muss Uneinheitlichkeit schlecht sein? regionalen und kommunalen Bezüge als Anker in der glo- fälle“ schnell 18.000 Euro überwiesen bekam. Oder wie in balisierten Welt – und die überwältigende Mehrheit hat sich, Nordrhein-Westfalen, wo Petenten entgegen der Vorgaben von Heinsberg bis Jena, ebenso auf der Höhe der Heraus- des Bundes erst nicht die Möglichkeit hatten, geringere Hilfen forderungen bewegt wie die jeweils vor Ort Verantwortlichen. als den Maximalzuschuss zu beantragen. Immerhin sorgte Warum also sollten Landes- und Kommunalpolitiker die sich herumsprechende Tatsache, dass Anträge nachträg- weiter beim Bund als dauernörgelnde Bettler auftre- lich besser ge- bzw. überprüft werden, schon in vielen Fällen ten, sich am goldenen Zügel führen lassen und hinter für die freiwillige Rückzahlung von Hilfsgeldern. Wo dies nicht undurchschaubaren Finanzierungssystemen und kaum der Fall ist, wird (weiter) ermittelt werden müssen. nachvollziehbaren Verantwortlichkeiten verstecken? Bürokratie ist Gerechtigkeit, vor allem die in Deutsch- Warum nicht die Bürger ernst und auch mehr in die Pflicht land hochgeschätzte Einzelfallgerechtigkeit. Deswegen: Hut nehmen? Es ist Zeit für eine klarere Trennung der Finanzie- ab vor so vielen Verwaltungsangehörigen in Bund, Ländern, rung von Bund, Ländern und Kommunen sowie für mehr Kommunen, Arbeitsagenturen und Sozialversicherungen, die Steuer- und damit Handlungsautonomie in Regionen, Städ- dafür Sorge tragen, dass möglichst viele Hilfen und Maßnah- ten und Gemeinden. Das Kommunalfinanzierungskonzept men Bedürftige eher als Gewitzte und Findige erreichen. Wer der Stiftung Marktwirtschaft beispielsweise würde in dieser Hilfe braucht und Geld von der Allgemeinheit will, soll dies er- Krise den Kommunen sehr helfen, zu einem starken Einbruch halten – muss aber auch eine Prüfung akzeptieren. Es ist von der Einnahmen wie bei der Gewerbesteuer würde es damit zentraler Bedeutung für den Sozialstaat und dessen nachhal- nicht kommen. tige Finanzierbarkeit, dass die krisenbedingt ausgesetz- ten Bedürftigkeitsprüfungen bei der Grundsicherung ab dem 1. Oktober dieses Jahres wieder durchgeführt 7 Ein Lob der Bürokratie werden. Solidarität ist eine Verpflichtung für uns alle und eine zentrale Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft. Sie gilt al- Genehmigungsverfahren dauern in Deutschland immer noch lerdings in alle Richtungen und darf nicht zur Einbahnstraße zu lang, auch im Steuersystem ließe sich vieles vereinfachen. verkommen. So wenig wie geröstete Schneebälle gibt es Im Hinblick vor allem auf den Sozialstaat aber belegt den unbürokratischen Sozialstaat – und die Sehnsucht die Corona-Pandemie einmal mehr, wie wertvoll ge- danach führt zu vielerlei Fehlanreizen und am Ende ordnete Verwaltungsabläufe, Prüfungen und Kontrolle zum bedingungslosen Grundeinkommen. Selbst dieses sind. Wo – vermeintlich wohlklingend – „unbürokratisch“ ge- aber würde, hätte man den Albtraum dann verwirklicht, sei- handelt wird, blüht auch der Missbrauch, wie in Berlin, wo ein nerseits umgehend wieder als ungerecht empfunden – denn regelmäßig gegen Freiheit und Demokratie wetternder Herr, Unwuchten gibt es in jedem System. der schon Sozialleistungen bezog, unter Vortäuschung eines Verwaltung ist also unentbehrlich und muss ihrerseits angeblichen Gewerbes und entsprechender „Einnahmeaus- krisenfester ausgestattet sein. Dass in Bundesministerien bis 15
Ausblick: Zehn Folgerungen aus der Corona-Krise Solidarität, Transparenz, Verantwortung … und Freiheit! zu kommunalen Bauverwaltungen, wo Bauanträge unnötig negativ war, von einer Rentenkürzung ausgenommen – ge- liegenblieben, Beamte bei vollen Bezügen betätigungslos zu gen die frühere, begründete und leider von der GroKo 2008 Hause saßen, weil es an technischer Ausstattung für „Home- schon teilweise außer Kraft gesetzte Systematik, dass Ren- Office-Plätze“ fehlte, darf sich nicht wiederholen. ten den Löhnen folgen. Die GroKo-Nachfolger (wie damals Merkel/Scholz) haben im Rahmen des Rentenpakets 2018 nun auch noch auf die Schiene gesetzt, dass bis zum Jahr 2025 darüber hinausgehend auch unterbliebene Rentenkür- zungen in Folgejahren nicht mehr durch eine Verrechnung mit möglichen Erhöhungen kompensiert werden. Überzeugend klingt das alles nicht. Solidarisch auch nicht. Zeichnung: Robert Kneschke So sind, wie paradox es sich angesichts der statistischen Verteilung der gesundheitlichen Gefahren auch lesen mag, die großen Verlierer der Corona-Krise in Deutschland die un- ter 45-Jährigen. Die Pandemie wird die größte und doch zu wenig beachtete Spaltung in unserer Gesellschaft verstärken. Nicht arm-reich, auch nicht trotz einer aktuell sich öffnenden Corona-Schere Selbständige-Angestellte, sondern: Jung-Alt. Zwar wird, um mögliche Beschwernisse vornehmlich der beruflich aktiven Bevölkerung in der ge- genwärtigen Not zu lindern, ohne Obergrenze und „unbüro- kratisch“ gerettet. Dies kommt nicht den Rentnern, aber in besonderem Maße den Babyboomern zwischen 50 und 65 zugute, die sich jetzt auf dem Zenit ihres beruflichen Lebens 8 Gesellschaftliche Spaltung verstärkt: und ihrer Einnahmen befinden. „Zufällig“ stellen sie zusam- Verlierer U45 men mit den Rentnern die Mehrheit der Wähler. Dazu passt auch das Durchschnittsalter beispielsweise der 24 Verfasser Die Dramatik der aktuellen Krisenlage verschärft die schon der Handlungsempfehlungen der Leopoldina: 63 Jahre. Un- in den letzten Jahren insbesondere bei Rentenpaketen zu ter die Räder kommt die Minderheit der unter 45-Jäh- beobachtende Neigung zur Zeitinkonsistenz politischen Han- rigen, die nicht nur mit unmittelbaren wirtschaftlichen delns: Allen Nutzen sofort und für die Gegenwart, (Fol- Folgen des „Shutdown“ zu kämpfen, sondern, oft parallel ge-)Kosten dagegen werden in die Zukunft verschoben, zum „Home Office“, auch den Bildungs- und Betreuungsauf- statt heute wenigstens ansatzweise neue Prioritäten zu trag der geschlossenen Schulen und Kitas wahrzunehmen setzen: Noch niemand hat vorgeschlagen, die Mütterrente hat. Ihnen wird als Mühlstein der Großteil der Tilgung der wieder zu streichen, um einen „Wiederaufbaufonds“ zu be- heutigen Rettungsschulden um den Hals gehängt, die gründen. Das Tragen des „Shutdown“ und der Einschrän- zwischen 2023 und 2040 erfolgen soll. kungen für alle sowie der damit verbundenen massiven Folgen Das mag man jetzt, in der Not, richtig finden. Verhee- war auch ein von fast allen geteilter Ausdruck der Solidarität rend wird es aber im Zusammenspiel mit den ungedeckten mit durch Corona besonders gefährdeten Gruppen, insbe- Wechseln auf die Zukunft, die schon ohne Not in den letz- sondere Älteren. Sollte da nicht auch etwas zurückkommen ten Jahren in Form der Rentenpakete 2014 und 2018 aus- können? Die einen kämpfen um wirtschaftliche Existenz – mit gestellt wurden. Und all das in dem Wissen, dass sich wohl eingeschränkten (Kurzarbeit) oder gar keinen Löhnen (Ar- in keinem Land der Welt das Verhältnis zwischen beruflich beitslosigkeit) – und die bestversorgte Rentnergeneration Aktiven und in die Sozialsysteme Einzahlenden auf der einen aller deutschen Zeiten soll im Sommer 2020 plangemäß und über 65-Jährigen auf der anderen Seite zwischen 2025 mit einer kraftvollen Rentenerhöhung bedacht werden? und 2030 ungünstiger entwickelt als in Deutschland. Übri- Die einen tragen fast alle wirtschaftlichen Risiken und Kosten, gens könnten manche Vorhersager einer V-Krisenkurve (tief die anderen, zu deren Schutz nicht zuletzt der „Shutdown“ hinein in den Schlamassel, aber auch schnell wieder heraus verordnet wurde, sollen hohe Einkommenszuwächse erhal- wie 2009/2010) eines unterschätzen: 2010 wurde die zügige ten und – materiell wohlgemerkt – business as usual pflegen? Wiederbelebung maßgeblich getragen durch noch „hung- Dazu werden die Rentner nach geltender Gesetzeslage nicht rige“ Baby-Boomer in ihren besten Jahren – von denen heute nur 2021, wenn die Lohnentwicklung des Vorjahres absehbar schon mehr in Kategorien ihrer Rente denken als gut ist. Die 16
Sie können auch lesen