ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
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ISSN 0947-5435 E 12344 4/2014 MAGAZIN ÜBER CHRISTLICHES LEBEN IM NAHEN OSTEN ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
INHALT ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN Hoffnung säen, wo Verzweiflung herrscht 2 Der hohe Preis für Zivilcourage 4 Von Muslimen, die sich gegen den IS aussprechen Rückkehr aus dem Exil 6 Von einer wachsenden Gemeinde in Bagdad Weil der Mensch dem Menschen ein Mensch sein soll 8 Das Gedenken an die Gerechten der Völker in Yad Vashem „…nur solange es mit dem Gewissen vereinbar ist“ 10 Über den palästinensischen Arzt und Politiker Haidar Abdel Shafi „Es geht um Gerechtigkeit“ 12 Meir Margalit – Politiker, Besatzungsgegner, Friedensaktivist NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT „Der Nahe Osten geht ins Herz“ 14 Dorothee Beck ist neue Internatsleiterin an der JLSS Grenzen überwinden 18 Nüchterne Einträge, bewegende Schicksale 19 Wiederentdeckt: Die Aufnahmebücher des Syrischen Waisenhauses Solidarität mit den Menschen zeigen! 20 Flüchtlingsfrage stand im Zentrum der EVS-Mitgliederversammlung CHRISTEN UND DER NAHE OSTEN Warum der Nahe Osten Christen braucht 23 Eine muslimische Antwort Nur die Muslime können die Christen retten 26 Internationale Konferenz zur Zukunft der Christen im Nahen Osten Kommentare 28 Medien 32 Impressum 33 Titelfoto: Ein Junge an der Theodor-Schneller-Schule in Amman – EMS/Martina Waiblinger
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, neben meinem Schreibtisch steht eine Büste von Johann Ludwig Schneller. Einst schmückte sie die Zentrale des Evangelischen Vereins für das Syrische Waisenhaus in Köln. Eine zweite, scheinbar iden- tische Büste steht im Büro von Pfarrer George Haddad, dem Direktor der Johann-Ludwig-Schnel- ler-Schule im Libanon. Doch wenn ich genau hin- schaue, entdecke ich Unterschiede: „Mein“ Schneller blickt wie ein liebenswerter älterer Herr, wie ein Sanftmütiger. Der „libanesische“ Schneller dagegen reckt sein Kinn mit dem mächtigen Bart entschlossen nach vorne: tatkräftig und irgendwie querköpfig. Den „Querköpfen“ im Nahen Osten soll dieses Heft gewidmet sein. Johann Ludwig Schneller war ganz sicher einer von ihnen: Seinem Unterstützer- verein in Deutschland hat er es nicht leicht gemacht. Was er als richtig erkannt hatte, machte er einfach. Manches Projekt hatte er zugunsten seiner Waisenkinder längst angepackt, bevor der Verein in Deutschland sich darüber Gedanken machen konnte. Der Mann mit dem sanften Blick scheute sich nicht davor, dass er auch aneckte. Auch heute, mitten in den Verwerfungen des Nahen Ostens, gibt es solche „Quer- köpfe“, die ohne falsche Rücksichtnahme das tun, was dem Guten dient. Das macht Hoffnung. Ich selbst bin dankbar dafür, dass ich 1996 in Gaza noch persönlich Dr. Hai- dar Abdel Shafi begegnen durfte. Unermüdlich vertrat er die palästinensische Sache nicht allein gegenüber Israel, sondern prangerte auch die Misswirtschaft und Korrup- tion der Palästinenserbehörde und ihrer führenden Köpfe an. Von ihm soll ebenso die Rede sein wie von denen, die sich heute im Nahen Osten – oftmals ganz alleine und ohne Rücksicht auf sich selbst – einer Kultur des Hasses entgegenstellen, oder die dies zur Zeit des Massenmordes am jüdischen Volk als „Gerechte der Völker“ getan haben. Im Nahen Osten erleben wir heute, wie eine ganze Weltordnung zerbricht. Wir sind dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die für Menschlichkeit eintreten: mal sanftmü- tig, mal entschlossen – in jedem Fall „querköpfig“. Mit herzlichen Segenswünschen zum Christfest und zum neuen Jahr grüßt Sie im Namen des Redaktionsteams Ihr Uwe Gräbe 1
BESINNUNG HOFFNUNG SÄEN, WO VERZWEIFLUNG HERRSCHT I n einem Gedicht von G. Corunna Vergangenheit nicht heißt es: vergessen und uns nicht befeinden, sondern durch den Unsere Kunst ist ein Spiegel... Blick zurück heilen- Sie nährt den Geist de Kräfte der Versöh- heilt die Vergangenheit nung gewinnen. und träumt die Zukunft Ohne diese Erinne- rung verlieren wir Diese Sätze scheinen wie ein Gedicht auf unsere Identität. die Kunst des Palästinensers Sliman Auch darin ist Mansour zu sein. Seine Kunst spiegelt die Mansour Querden- Wirklichkeit, die verzweifelte Wirklichkeit ker, dass er nicht nur der Palästinenser. Doch wo es eigentlich die Vergangenheit keine Hoffnung und keine Zukunftspers- beschwört, sondern pektiven gibt, da sät er Hoffnung, da öff- auch die Hoffnung net er den Blick für die Zukunft. Darin ist auf eine gemeinsame er ein Querdenker und stellt sich quer zur Zukunft nicht auf- politischen Analyse der Politiker und gibt. Das zeigt er auf Medien und auch gegen seine eigenen dem 1985 gemalten Erfahrungen. Bild „Symbol der Nicht nur das Verhältnis zu den Juden Hoffnung“, das über ist gespannt, sondern auch das der Musli- den Weltgebetstag me und Christen weltweit, auch wenn es 1994, der damals in Palästina zurzeit weniger brisant ist. von Frauen aus Palästina gestaltet wurde, Dennoch können Spannungen jederzeit weltweit bekannt wurde. Vor dem dunk- aufflammen. len, ins Grün – der Farbe der Hoffnung – changierenden Himmel fliegt die Mansour versucht dem zu wehren, Friedenstaube mit dem Ölblatt im Schna- indem er auf das gemeinsame Erbe in der bel, dem grünen Zweig, an dem Noah Vergangenheit verweist: Er gestaltet ein erkannte, dass die Zeit des großen mich tief bewegendes Selbstportrait aus Unglücks sich dem Ende zuneigt. Ein gol- Lehm in der Form eine Halbreliefs. Er dener Kranz leuchtet hinter ihrem Kopf nennt es „Ich, Ismael“. Da der Lehm auf, ein verhüllter Hinweis auf Christus, getrocknet ist und das Relief Risse bekom- der „Sonne der Gerechtigkeit“. In einem men hat, wird die Symbolik des Kunst- Lied heißt es: „Sonne der Gerechtigkeit, werks sichtbar. Wir Palästinenser, sagt es, gehe auf in unsrer Zeit, erbarm dich, Christen und Muslime, sind Nachkom- Herr“. Das ist die heimliche Bitte dieses men Ismaels, des ersten Sohnes von Abra- Bildes. Alle Frauen, mit und ohne Kopf- ham. Wir dürfen unsere gemeinsame tuch, strecken betend ihre Hände gen 2
Himmel voller Sehn- „Symbol der Hoffnung“, Sliman Mansour sucht und Hoffnung, – Das 1985 gemalte Bild ist im Besitz des dass die Friedenszeit Berliner Missionswerks. Die Schule Talitha bald anbrechen Kumi in Beit Jala hat die Taube als Vorbild für ihr Schullogo genommen. möge. Unten im Bild ste- hen die Türme der christlichen Kirche und der Moschee friedlich nebenein- ander. Doch die Erlö- serkirche strahlt in der Farbe des Frie- dens. So sollen die Christen das Licht Foto: Berliner Missionswerk des Evangeliums nicht verbergen, son- Das Bild „Flucht nach Ägypten“ dern ihr „Licht (s. unten) von Sliman Masour war 2013 leuchten lassen vor offizielle Weihnachtskarte der EMS, den Leuten, dass sie wo es als Postkarte bestellt werden kann. ihre guten Werke (s. S 30/31) sehen und den Vater im Himmel preisen“ (Matth. 5, 16). Der evangelische Theologe Theo Sundermeier lebte jahrelang in Afrika und ist Professor emeritus der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Neben religions- und missionswissenschaftlichen Arbeiten hat er zahlreiche Texte zur Hermeneutik und zur christlichen Kunst in Deutschland und Übersee (Afrika und Asien) veröffentlicht. 3
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN DER HOHE PREIS FÜR ZIVILCOURAGE Von Muslimen, die sich gegen den IS aussprechen In den Schlagzeilen tauchen ihre IS zu akzeptieren und sich in die Rolle von Namen selten auf. Dabei müsste ihnen Bürgern zweiter Klasse einzufügen. Wer eigentlich ein Denkmal gesetzt wer- das nicht wolle, solle die Stadt binnen drei den. Dieser Artikel ist den Muslimen Tagen verlassen. Andernfalls würde der IS gewidmet, die ihr Leben aufs Spiel sie mit dem Tod bestrafen. setzen, weil sie sich trotz der Drohun- Für Mahmoud Al-Asali waren diese gen der Dschihadisten für Menschen Ansagen ein Affront gegen den eigenen anderen Glaubens einsetzen. Glauben. Der Professor für Jura, der im D Fach Pädagogik an der Universität Mossul er sunnitische Muslim Mahmoud unterrichtete, sprach sich öffentlich gegen Al-Asali gehört zu den ersten dieses brutale Vorgehen aus. Es sei mit dem Opfern des Islamischen Staats (IS) Islam nicht vereinbar. Mahmoud Al-Asali in Mossul. Anfang Juni brachten die wurde Mitte Juli 2014 vom IS ermordet. Dschihadisten in nur wenigen Tagen die zweitgrößte Stadt im Irak unter ihre Kon- Entführt, gefoltert, ermordet trolle. In der Drei-Millionen-Einwohner- Das gleiche Schicksal traf Samira Saleh Metropole hatten Araber, Kurden, Aramä- Al-Noeimi. Die Menschenrechtsanwältin er, Chaldäer, Turkmenen und Jesiden über wurde Mitte September von maskierten Jahrhunderte Haus an Haus gelebt. Mossul IS-Schergen aus ihrem Haus entführt. In ist im ganzen Nahen Osten für seine mul- einem angeblich islamischen Gerichtsver- tiethnische und multireligiöse Geschichte fahren wurde ihr der Abfall vom Glauben bekannt. Dieser Tradition haben die neu- vorgeworfen. Al-Noeimi, die sich als en Herrscher vor ein paar Monaten ein Anwältin besonders für Arme und Gefan- Ende gesetzt. Sie forderten Christen, Jesi- gene einsetzte, hatte auf Facebook mehr- den und Schiiten auf, sich entweder zum fach das Vorgehen von IS als „barbarisch“ Islam zu bekehren oder die Herrschaft des kritisiert und die Zerstörung von heiligen Stätten als unislamisch angeprangert. Fünf Tage lange wurde sie gefoltert, bevor sie am 22. September 2014 auf einem zentra- len Platz in Mossul öffentlich hingerichtet wurde. Foto: abouna.org Al-Noeimi und Al-Asali müssen gewusst haben, welches Risiko sie mit ihren Äuße- rungen eingingen. Dass die Dschihadisten keinen Widerspruch dulden und jeden Andersdenkenden grausam bestrafen, war 1600 Jahre lang lebten Christen in Mossul. bekannt. In Raqqa, der Stadt im Norden Im Sommer 2014 haben alle Christen die Syriens, die seit vergangenem Jahr in der Stadt verlassen. Hand des IS ist, mussten viele Menschen- 4
rechtsaktivisten mit ihrem Leben zahlen, helligt weiterfahren wolle, müsse ein weil sie sich gegen die neuen Herrscher Mann aus dem Bus sie auf der Stelle hei- gestellt hatten. raten. Der Busfahrer meldete sich sofort. Ein islamischer Ehevertrag wurde auf die Namenlose Helden Schnelle aufgesetzt. Erst als beide offiziell Von Al-Noeimi und Al-Asali sind die als verheiratet galten, konnte die Fahrt Namen bekannt. Erinnert werden soll aber weitergehen. In Aleppo angekommen, auch an jene, die ungenannt bleiben, wie wartete der Busfahrer, bis alle anderen zum Beispiel jener alte Mann, von dem die Fahrgäste ausgestiegen waren und brachte Tageszeitung aus Berlin im Oktober berich- die Frau schließlich zu der Adresse, wo sie tet hat. Er hatte einer jungen Jesidin und erwartet wurde. Bevor er sich von ihr ver- ihrem Baby, die bereits vom IS „verkauft“ abschiedete, zerriss er den Vertrag vor worden waren, zur Flucht aus Mossul ver- ihren Augen. holfen und sie an mehreren Checkpoints Kein Schwarz-Weiss-Denken vorbei zu ihren Verwandten im Nordirak gebracht. Er war sich genauso der Gefahr Wenn Staaten zerfallen und neue bewusst, der er sich damit aussetzte, wie Machthaber das Ruder an sich reißen, gibt jener syrische Busfahrer, dessen Bus auf es immer auch Menschen, die aus der Not der Fahrt von Damaskus nach Aleppo im der Anderen Profit schlagen. Es ist Sommer von Dschihadisten angehalten bekannt, dass es im Irak und in Syrien und kontrolliert wurde. Unter den Fahr- auch zahlreiche Mitläufer unter sunniti- gästen war auch die Sekretärin einer christ- schen Muslimen gibt. Anders wäre der lichen Gemeinde in Damaskus. Ein schnelle Erfolg des IS nicht zu erklären. Kopftuch hatte sie zwar vorsichtshalber Einige Christen und Jesiden, die vor dem umgebunden. Dass sie aber als unverhei- Terror fliehen konnten, berichten, dass sie ratete Frau ohne männlichen Vormund von ihren muslimischen Nachbarn denun- unterwegs war, wollten die Milizionäre ziert wurden. Neben den namenlosen Ver- nicht durchgehen lassen. Wenn sie unbe- rätern gibt es aber auch jene Menschen, die Zivilcourage zeigen. An sie muss Foto: Vom Twitteraccount @DrAlgizi immer wieder erinnert werden, um einem Schwarz-Weiß-Denken zu wehren. Katja Dorothea Buck Der Islamische Staat markiert christliches Eigentum mit dem arabischen “nun”. Menschenrechtsaktivisten haben diesen Buchstaben in den Slogan „Wir sind alle Christen” eingebaut. 5
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN RÜCKKEHR AUS DEM EXIL Von einer wachsenden Gemeinde in Bagdad Zu Tausenden verlassen die Christen gelebt. Nichts hätte dagegen gesprochen, den Irak. Auch Kirchenleute sind vor dass er dort den Rest seines Lebens ver- Fluchtgedanken nicht gefeit. Pfarrer bringt. Eines Morgens habe er allerdings Farouq Hammo ist vor drei Jahren gewusst, dass es Zeit sei zurückzugehen, aber nach Bagdad zurückgekehrt – erzählt der groß gewachsene Mann. Seine und hat es noch nie bereut. Familie sei von dieser Idee nicht begeistert gewesen. Deswegen sei er allein in den Irak D as Leben für Christen ist im Irak gegangen. Und er habe es nicht bereut. nicht erst seit dem Eroberungsfeld- Den großen Exodus der irakischen zug des IS schwierig. Seit Jahren Christen hat Hammo nicht direkt miter- leiden die Menschen im ganzen Land leben müssen. Der dauert schon seit mehr unter der miserablen Wirtschaftslage und als zehn Jahren an. Seit 2003 haben rund der fehlenden Sicherheit. In Bagdad bei- drei Viertel aller Christen das Land verlas- spielsweise, das nicht unter der Kontrolle sen. Während vor dem Sturz Saddam Hus- des IS steht, werden täglich Tote durch seins noch 1,5 Millionen Christen an Autobomben beklagt. Wer würde da nicht Euphrat und Tigris lebten, sind es heute gehen wollen?! Und wer könnte es Kir- nach Schätzungen der dortigen Kirchen chenleuten übel nehmen, die das Land nur noch 300.000 bis 400.000. Hammos verlassen und lieber im sicheren Exil eine Gemeinde blieb von dem Exodus nicht Gemeinde betreuen?! verschont. Vor zehn Jahren zählte sie Der chaldäisch-katholische Patriarch noch mehr als 1000 Mitglieder. „Als ich von Bagdad, Erzbischof Louis Sako, sieht vor drei Jahren nach Bagdad kam, gehör- das allerdings anders. Mit Härte geht er ten nur noch 30 Leute dazu“, erzählt Ham- gegen Priester und Ordensleute vor, die mo. Er freue sich, dass es heute wieder ohne Erlaubnis ihrer Vorgesetzten aus- mehr als 200 seien. „Und es werden jeden wandern. Unlängst suspendierte er zwölf Sonntag mehr.“ Priester und Mönche von ihren Ämtern, Dass Hammos Gemeinde wieder die nach Kanada, Australien und Schwe- wächst, hat verschiedene Gründe. Zum den geflüchtet waren. In einem Dekret einen drängen immer mehr Christen auf erinnert Sako daran, dass Priester und der Flucht vor dem IS nach Bagdad. Einige Ordensleute ihr Leben in den Dienst Got- tausend Familien aus allen Denominatio- tes und der Kirche gestellt und vor nen seien es, die bei Freunden in der ira- behaltlosen Gehorsam gegenüber kischen Hauptstadt untergekommen Weisungsbefugten geschworen hätten. seien, erzählt der Pfarrer. Keiner wisse, wie Ein solches Dekret hat es für Farouq es für diese Menschen weitergehen soll. Hammo nicht gebraucht. Der presbyteri- „Vor allem müssen wir ihnen zuhören und anische Pfarrer betreut seit drei Jahren mit ihnen trauern um all das, was sie ver- eine Gemeinde im Herzen Bagdads. Davor loren haben“, sagt er. hatte er mehr als 20 Jahre in Australien 6
Foto: EMS/Katja Buck sie ihm nachfolgen.“ Für die Christen im Irak gelte dies derzeit in ganz besonderer Weise. Andererseits erle- be er immer wieder, wie gerade in sol- chen Situationen auf einmal Versöhnung möglich werde. Das sei etwas Wunder bares. „Seit einigen Monaten kommen zum Beispiel auch Angehörige des Mili- tärs in unsere Kirche um zu beten“, erzählt er. Immer wieder treffe er sich mit islamischen Reli- Pfarrer Farouq Hammo ist vor drei Jahren aus Australien nach gionsführern. „Viele Bagdad zurückgekehrt. sprechen über das, was in Mossul pas- siert und sie bitten Zum anderen kämen jeden Sonntag um Entschuldigung, dass das alles im immer neue Leute in den Gottesdienst, Namen des Islam geschieht.“ weil es eine gute Mund-zu-Mund-Propa- Auch auf politischer Ebene ist Hammo ganda gebe. „Die Menschen erzählen aktiv. Erst kürzlich hat er sich mit dem ihren Freunden und Nachbarn, was sie in Premierminister Haider al-Abadi, einem der Kirche gehört haben und wie gut schiitischen Muslim, getroffen und über ihnen das tue.“ In der Bibel gebe es so vie- die schlimme Situation der Christen im le Beispiele, wo Menschen in Angst leben Irak gesprochen. Hammo holt sein Smart- wie zum Beispiel Daniel in der Löwengru- phone aus der Tasche und zeigt ein Foto be. „Solche Geschichten ermutigen. Sie von dem Treffen. „Am Ende haben wir zeigen, dass Gott der alleinige Herrscher gemeinsam gebetet.“ ist und uns liebt“, sagt Hammo. Glauben bedeute für ihn, nicht zu fliehen, sondern Katja Dorothea Buck trotz aller Gefahr auf Gott zu vertrauen. „Jesus hat uns kein Leben in Freude und Glück versprochen. Vielmehr hat er seine Jünger davor gewarnt, dass sie in Bedräng- nis kommen und verfolgt werden, wenn 7
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN WEIL DER MENSCH DEM MENSCHEN EIN MENSCH SEIN SOLL Das Gedenken an die Gerechten der Völker in Yad Vashem Gerechtigkeit meint in der Welt der biblischen Sprachen nicht ein Verhal- ten, das jedem das Seine zukommen lässt. Gerecht werden Menschen genannt, wenn sie lebensdienlich handeln – so wie die „Gerechten der Völker“. F ährt man mit der Straßenbahn bis zur Endstation im Südwesten von Jerusa- Foto: Wikimedia/Berthold Werner lem, gelangt man zum Herzl-Berg. Dort gab sich in den 1950er Jahren der junge jüdische Staat drei Gedenkstätten, die Einblicke in sein Selbstverständnis gewähren. Wendet man sich an der Hal- testelle nach links, erreicht man nach fünf Minuten den Ort, an dem der Vernichtung der Juden im Dritten Reich – aber auch ihres Widerstands – gedacht wird: Yad Vas- hem. Geht man nach rechts, findet man Denkmal für einen Gerechten der Völker in sich unversehens auf dem großen Solda- Yad Vashem: Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak ging mit den tenfriedhof wieder, auf dem tausende Kindern des von ihm geleiteten Waisen- Gefallene der Kriege Israels begraben lie- hauses ins Vernichtungslager Treblinka und gen. Betritt man das Gelände in der Mitte, kam dort um. gelangt man zum Grab Theodor Herzls, dessen Name wohl wie kein anderer für wohl kaum einen Israeli, der sich nicht an die Idee eines Staates für das jüdische Volk einen Menschen erinnert, der als Soldat steht. oder als Opfer des Terrorismus seit 1948 Was an diesem Ort Architektur gewor- sein Leben gelassen hat. Am Abend dieses den ist, spiegelt sich im Lebensgefühl vie- Tages wendet sich die Stimmung „von der ler Israelis und im Festkalender des Trauer in die Freude“, wie es in der jüdischen Staates wieder. Vierzehn Tage Pessach-Haggada heißt: Das Land feiert nach dem Pessach-Fest steht das Land still voller Lebensfreude seine Unabhängigkeit. und gedenkt der sechs Millionen Juden, In diesen Tagen bleibt das Volk mit seinen die unter deutscher Regie zwischen 1933 schmerzlichen Erinnerungen unter sich. und 1945 ermordet wurden. Eine Woche Die nicht-jüdischen Völker treten vor- später schweigt das Land erneut. Es gibt nehmlich als die in den Blick, die jüdi- 8
schen Menschen das Leben schwer schaftliche Hilfe […] zu der man sich ver- gemacht oder gar genommen haben und pflichtet fühlen kann, ohne dazu die ihnen bis in die Gegenwart hinein formal-rechtlich verpflichtet zu sein“ nach dem Leben trachten. (Bibel in gerechter Sprache, S. 2338). Umso mehr überrascht es, ausgerechnet In genau diesem Sinne haben die an der Gedenkstätte Yad Vashem unter Gerechten der Völker gehandelt, sie haben den angepflanzten Bäumen Täfelchen mit sich entgegen ihren staatsbürgerlichen Namen nicht-jüdischer Männer und Frau- Pflichten anderen Instanzen verpflichtet en zu finden. Sie werden dafür geehrt, dass gefühlt, sei es ihrem Glauben, ihrem sie unter Einsatz ihres Lebens und ohne Gewissen oder der Menschlichkeit. Sie daraus Profit zu schlagen, jüdischen Men- haben sich im Konflikt zwischen Legalität schen während der nationalsozialistischen und Moralität für letztere entschieden – Herrschaft das Leben gerettet haben. Das unter Einsatz ihres Lebens. Damit sind sie Yad-Vashem-Gesetz aus dem Jahr 1953 bleibendes Vorbild für jeden, der Yad Vas- nennt sie „Chassidei HaUmot“. Im Deut- hem besucht. schen kennen wir sie als die „Gerechten der Völker“. Gerechtigkeit meint in der PD Dr. Martin Vahrenhorst ist Pfarrer an Welt der biblischen Sprachen nicht ein der Erlöserkirche in Jerusalem, leitet das Verhalten, das jedem das Seine zukommen Programm „Studium in Israel“ und ist lässt. Gerecht werden Menschen genannt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deut- wenn sie lebensdienlich handeln. In die- schen Evangelischen Institut für Alter- sem Sinne heißt es von Gott, dass er durch tumswissenschaft im Heiligen Land. seine Gerechtigkeit rettet (Ps 31,2). Hinter dem biblischen Wort „Chessed“ steht „die einander erwiesene freundliche, gütige, herzliche Zuwendung […] die nachbar- Chassidei HaUmot Ich höre den Begriff „Gerechte der Völker“ und ich versuche, Ich versuche an die Menschen zu denken, die mir Versteck und Schutz geboten haben, Ich versuche zu denken und höre und frage: Wenn ich an ihrer Stelle wäre, was würde ich tun? Ob ich, inmitten eines Ozeans aus Hass, angesichts einer Welt, die kollabiert und brennt, Ob ich dem Angehörigen eines anderen Volkes ein Versteck bieten würde? Ob ich bereit wäre, ob meine Familie bereit wäre, In ständiger Angst zu leben – sei es auf der Straße oder unter den Nachbarn, In den Nächten von den schweren, drohenden Schritten der Henker zu träumen [...] Und all das nicht nur eine Nacht, nicht einen Monat, sondern Jahre! Und all das ohne Lohn zu verlangen von den Opfern, nur ihren Handschlag. Und all das, nur weil der Mensch dem Menschen ein Mensch sein soll... Haim Hefer (1925-2012) 9
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN „…NUR SOLANGE ES MIT DEM GEWISSEN VEREINBAR IST“ Über den palästinensischen Arzt und Politiker Haidar Abdel Shafi Haidar Abdel Shafi (1919 – 2007) sagte Arafat, dass er das nur so lange gehört zu den herausragenden Persön- mache, wie er es mit seinem Gewissen lichkeiten der palästinensischen vereinbaren könne. Als er 22 Monate spä- Geschichte. Zeitlebens hat er sich ter merkte, dass in Oslo hinter seinem seine Unabhängigkeit bewahrt und Rücken verhandelt wurde, trat er zurück. wurde von allen Gruppierungen res- Er hat die Dinge aber nie persönlich pektiert. Sein Sohn, Salah Abdel Shafi, genommen. Er wusste, dass so etwas im der palästinensischer Botschafter in politischen Spiel vorkommt. Wien ist, erinnert sich. Welchen Preis musste er für diese Alleingänge zahlen? Was hat Sie am meisten an Ihrem Er hat keinen Preis gezahlt. Im Gegenteil, Vater beeindruckt? er hat viel Respekt und Achtung bei den Mich hat seine Offenheit beeindruckt. Er normalen Menschen genossen. Der per- war ein liberaler Mensch und hat uns Kin- sönliche Nutzen war für ihn kein Kriteri- dern viel Spielraum bei Entscheidungen um für sein politisches Engagement. Als gelassen. Auch in der Politik war er ein Ende 1987 die erste Intifada begann, hat Demokrat und Freidenker. Er hat sich nie er seine Arztpraxis aus Zeitgründen aufge- an Strukturen orientiert, sondern sich geben. Von da an hatte er aber auch kein immer auf sein Gewissen verlassen. eigenes Einkommen mehr. Er hat seine Ihr Vater ist von zahlreichen Ämtern privaten Ersparnisse verbraucht, um die zurückgetreten. Woher nahm er die Familie zu ernähren. Kraft für solche Alleingänge? Konnte er andere von seiner Haltung Mein Vater sah sich nicht als Politiker son- überzeugen? dern als palästinensischer Patriot. Er war Das weiß ich nicht. Für viele war er aber sich bewusst, dass Politik nur von Interes- ein Vorbild, dass Politik auch anders funk- sen gesteuert wird, nicht von Moral und tionieren kann. Er wurde von den religiö- Prinzipien, an denen er sich orientierte. Er sen Gruppen genauso respektiert wie von hat nie einer Partei angehört, war immer den linken Kräften. Er konnte sogar Jassir unabhängig, auch finanziell. So musste er Arafat öffentlich kritisieren, ohne dass keine Rücksicht auf Personen oder Struk- ihre Beziehung an Respekt und Vertrauen turen nehmen. 1996 trat er zum Beispiel verloren hätte. Sogar zur Hamas hatte er nach nur sechs Monaten als Abgeordneter gute Beziehzungen. Unser Haus in Gaza des palästinensischen Legislativrats war oft der Ort, wo alle sich versammelt zurück, weil die Exekutive das Parlament haben. nicht respektierte. Und als Jassir Arafat ihn 1991 bat, die Friedensverhandlungen mit Was hat ihn am meisten verletzt? Israel zu führen, hat er lange gezögert. Er Es war für ihn sehr schmerzhaft, sehen zu 10
Foto: Palästinensische Vertretung Wien Salah Abdel Shafi beschreibt seinen Vater als Frei denker und Demo- kraten. müssen, wo Palästina am Ende stand. Er Ihr Vater stammt aus einem religiösen starb 2007 unmittelbar nach den Kämpfen Elternhaus. Welche Rolle spielte der zwischen Fatah und Hamas. Ich habe mei- Glaube in seinem Leben? nen Vater nie weinen gesehen. Über das Mein Großvater, der Mitglied des Höchs- gegenseitige Abschlachten musste er aber ten Islamischen Rats war, hat ihn sehr weinen. Er starb verbittert. geprägt. Für ihn war Bildung ein sehr hohes Gut. Mein Großvater hat alles Geld Hat die Tatsache, dass Ihr Vater Arzt in die Ausbildung seiner Kinder gesteckt. war, eine Rolle für sein politisches Weil es für Mädchen damals noch keine Engagement gespielt? Schulen gab, hat er seinen sechs Söhnen Ja, auf jeden Fall. Ich habe ihn einmal aufgetragen, dass sie ihrer Schwester alles gefragt, warum es so viele Politiker gebe, beibringen, was sie selbst in der Schule die auch Ärzte seien, wie etwa Che Gue- lernen. So hat meine Tante perfekt Eng- vara oder George Habash. Mein Vater sag- lisch gelernt. Mein Vater war gläubig. Er te damals, dass man als Arzt direkten kannte sich gut im Islam und im Leben Kontakt zu den einfachen Leuten habe des Propheten aus. Im Unterschied zu vie- und ihre Probleme kenne. Er war Anfang len jungen Leuten hat er die Religion aber der 1950er Jahre nach seiner Facharztaus- immer als ein System der Werte verstan- bildung in den USA nach Gaza zurückge- den, und nicht der Rituale. Für ihn zählte, kommen, wo plötzlich überall Flüchtlinge dass jemand sich ehrlich verhielt und waren. Die humanitären Probleme dort nicht, dass er nach Mekka gepilgert war. waren für ihn die größte Motivation, sich politisch zu engagieren. Die Fragen stellte Katja Dorothea Buck. 11
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN „ES GEHT UM GERECHTIGKEIT“ Meir Margalit – Politiker, Besatzungsgegner, Friedensaktivist Meir Margalit saß viele Jahre im Stadt- rat von Jerusalem. Noch immer enga- giert sich der studierte Historiker für die Aussöhnung mit den Palästinen- sern und informiert Besucher aus dem Ausland über die israelische Politik der Hauszerstörung. D ie Stadtverwaltung hat ein jährli- ches Budget von 1 Million US-Dol- lar für Hauszerstörungen. Damit kann man etwa hundert Häuser zerstö- ren.” Das hört die Pilgergruppe aus Bayern an ihrem letzten Tag im Heiligen Land. Nach dem friedlichen See Genezareth, einer meditativen Wanderung in der judä- ischen Wüste und den Gottesdiensten an den heiligen Stätten erleben die 40 Pilger nun alles andere als Heiliges Land. Kurz vor der Fahrt zum Flughafen Tel Aviv nimmt sie Meir Margalit auf eine politi- sche Stadtführung mit, zu einem abgeris- waren”, stellt er klar. „Der Grund ist: Sie senen palästinensischen Haus am Stadt- haben es ohne Baugenehmigung gebaut.” rand von Jerusalem, unweit der jüdischen Dann erläutert er, was Palästinenser, die Siedlung Har Homa. eine Baugenehmigung beantragen, von der Stadtverwaltung Jerusalems zu hören Als die Gruppe erscheint, taucht auch bekommen. Die Bandbreite der Antwor- Siam mit einem ihrer drei Kinder auf. Die ten, für Margalit „viele Vorwände”, ist 26-jährige Palästinenserin hat bis Dezem- groß: es gebe keinen Bebauungsplan oder ber 2011 in dem Haus gewohnt, das nun keinen Wasser- und Stromanschluss, das wie zerbröselt daliegt. Mitten im Winter, betreffende Grundstück liege in einem der hier im fast 800 Meter hohen judäi- Grünstreifen, der Nationalpark werden schen Bergland ungemütlich werden solle, oder an einer historischen Stätte, die kann, war der Abrissbagger gekommen. noch ausgegraben werden müsse. Nun lebt die fünfköpfige Familie wenige Meter weiter in einem Steinbau, der Seine jahrzehntelange Erfahrung mit ursprünglich als Hühnerstall vorgesehen Palästinensern, die bauen wollen, fasst der war. Der Besatzungsgegner und Friedens- studierte Historiker so zusammen: „Die aktivist Margalit kommt schnell zum Stadtverwaltung weigert sich beständig, Grund des Abrisses: „Nicht, weil sie Terro- ihnen legales Bauen auf ihrem eigenen risten sind oder in Angriffe verwickelt Grundstück zu erlauben.” Also würden sie 12
nenser Bürgermeister sein wird, macht „Heute sind wir leider die Unterdrücker”, Menschen wahnsinnig, panisch.” Diese sagt Meir Margalit. Angst sei letztlich „die Motivation, die hinter der Hauszerstörung steckt.” Foto: Johannes Zang Immer wieder atmet der in Argentinien geborene Jude schwer, er senkt den Blick, wirkt niedergeschlagen. Man spürt, dass ihm die Politik seines Landes zu schaffen macht. Seit 1972 lebt er in Israel, im Yom- Kippur-Krieg ein Jahr später wurde er ver- wundet. Die darauffolgende Zeit der Rekonvaleszenz löste bei ihm einen radi- kalen Gesinnungswandel aus – und mach- te ihn zum Pazifisten. Mehr als 20 Jahre lang saß er für die auf Aussöhnung mit den Palästinensern bedachte Partei Meretz im Jerusalemer Stadtrat und engagiert sich seit langem beim Israelischen Komitee gegen Hauszerstörung ICAHD. 2008 ver- öffentlichte er einen Offenen Brief an Angela Merkel. Darin wirft er der Kanzle- rin vor, „eine der wichtigsten moralischen Lektionen des Zweiten Weltkrieges igno- riert” zu haben: Dass man gegen jedes schwarz bauen, einen Neu- oder Anbau Regime, das ein fremdes Volk unterdrückt, oder ein drittes Stockwerk, da die Familie kämpfen müsse: „Heute sind wir leider die dringend Wohnraum benötigt. „Jedes Jahr Unterdrücker”, bekennt er. bauen etwa tausend palästinensische Den bayerischen Pilgern sagt er: „Euer Familien ohne Genehmigung ein Haus”, Hiersein ist ein politischer Akt. Ihr zeigt erklärt der 62-jährige Israeli. Manche leb- Solidarität mit den Palästinensern und ten darin Monate, andere Jahre, bis eines sendet eine Botschaft an die israelische Tages die Abrissbagger auftauchten. Mar- Regierung: Dass dies hier nicht hinnehm- galit kennt Familien, die nur eine halbe bar ist.” Dann fordert er sie auf, mit Poli- Stunde Zeit bekamen, ihre Habseligkeiten tikern zu reden, Druck auf die eigene aus dem Haus zu bringen. Regierung zu machen und sich durch Was treibt die Stadtverwaltung zu sol- „Holocaust- und Antisemitismus-Gerede” chen Maßnahmen? Margalit nennt die nicht einschüchtern zu lassen. „Gebt dem hohe Geburtenrate der Palästinenser. „Um israelischen Druck nicht nach! Erzählt, das Jahr 2020 werden sie die Mehrheit in was ihr gesehen habt! Ihr müsst die Wahr- Jerusalem sein.“ Seine Stimme gewinnt an heit sagen! Es geht hier nicht um Antise- Volumen, als er erklärt: „Der Gedanke, mitismus, es geht um Gerechtigkeit.” dass in Jerusalem, der wichtigsten Stadt für Juden in der ganzen Welt, ein Palästi- Johannes Zang 13
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT „DER NAHE OSTEN GEHT INS HERZ“ Dorothee Beck ist neue Internatsleiterin an der JLSS Seit Anfang November leitet Dorothee Beck das Internat der Johann-Ludwig- Schneller-Schule (JLSS). Sie freut sich auf die Begegnungen mit den Men- schen. „In der arabischen Gesellschaft gibt es viel Menschlichkeit und Wärme“, sagt die Pädagogin, die bereits 2011/2012 im Kindergarten der Theodor-Schneller-Schule in Amman gearbeitet hat. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in den Libanon? Foto: EMS/Katja Buck Für mich ist es die erste richtige Leitungs- funktion. Mich hat aber immer interes- siert, was Leitungen machen, wenn es unter den Kollegen nicht gut läuft. Natür- lich frage ich mich, ob ich an der JLSS die nötigen Impulse setzen kann, damit das Team funktioniert. Ich möchte den Erzie- „Es geht nur im Miteinander“, herinnen und Erziehern verständlich sagt Dorothee Beck. machen, dass es nur im Miteinander geht. Welche Gedanken gehen Ihnen jetzt Wie gehen Sie damit um, dass nur kurz vor Ihrem Umzug durch den wenige Kilometer von der Schneller- Kopf? Schule Bürgerkrieg herrscht? Ich frage mich, ob ich nicht zwangsläufig In den letzten Monaten habe ich immer eine Einzelkämpferin sein werde. Ich wer- gehofft, dass sich die Situation in Syrien de leiten und bin zudem Ausländerin. Ich und in den angrenzenden Ländern end- spreche die Sprache nicht gut genug, um lich entspannt. Ich will nicht glauben, immer verstehen zu können, was wirklich dass es keine Lösung gibt. Eine Woche vor läuft. Dann rede ich gerne direkt mit den dem Abflug registriert man dann, dass Leuten und halte viel von demokratischer man sich tatsächlich in eine sehr heikle Zusammenarbeit. Ob das in dem Kontext Situation begibt und dass es auch für funktioniert, muss sich zeigen. Ich frage Arbeitgeber nicht einfach ist, ein klares Ja mich aber auch, wie ich den Kontakt zu oder Nein zu meiner Ausreise zu sagen. den Kindern gestalten werde. Als Leitung Das Hinfahren ist belastend. Aber nicht bin ich verantwortlich für Richtlinien und helfen zu können, ist auch sehr schwer zu Regeln. Im Zweifelsfall werde ich die Kon- ertragen. sequenzen bei Regelbruch festlegen. 14
Was hilft Ihnen, den Schritt in eine Portion Neugier und Abenteuerlust in den unsichere Situation zu tun? Libanon. Aus meiner Zeit in Jordanien Ich vertraue auf die Menschen an der weiß ich, dass ich mich als Ausländerin Schule und auf ihre Erfahrung. Sie werden über Hierarchiegrenzen hinwegsetzen wissen, wann es eventuell Zeit für mich ist darf. Ich konnte mir beispielsweise von zu gehen. Ich habe viele arabische und der Putzfrau zeigen lassen, wie man arabi- israelische Filme gesehen. Sie sind von schen Kaffee kocht, und hinterher mit Menschen gedreht worden, die seit lan- dem Direktor ein Gespräch auf Augenhö- gem in einer Krisenregion leben. Mich he führen. Ich freue mich auf die Begeg- fasziniert, mit wie viel Gefühl, Herz und nungen mit den Menschen, die oft viel Witz sie die Themen angehen. Dann neh- unmittelbarer sind als bei uns. In der ara- me ich aber auch Dinge mit, die mir den bischen Gesellschaft gibt es viel Mensch- Alltag erleichtern wie etwa meine Malsa- lichkeit und Wärme. Der Nahe Osten geht chen. In der Malerei habe ich eine Aus- ins Herz. drucksform für das, was mir begegnen Was muss erreicht werden, damit Sie wird. in drei Jahren sagen: „Es hat sich Was werden Sie am meisten gelohnt“? vermissen? Das Erzieherteam muss eine Perspektive Meine Gitarre. Die werde ich aus Platz- für die pädagogische Arbeit haben. Sie gründen nicht mitnehmen können. Viel- müssen das Gefühl bekommen, dass es leicht kaufe ich mir eine neue. Natürlich wichtig ist, was sie tun und dass nichts werde ich meine Familie und Freunde ohne sie oder an ihnen vorbei getan wer- vermissen, besonders die Kinder in mei- den kann. Ich hoffe, dass sie einen Blick nem engeren Umfeld, die noch nicht sky- fürs Wesentliche bekommen, auch in pen oder schreiben können und die mich Momenten, in denen sie überfordert sind. definitiv nicht besuchen werden. Da sind Natürlich ist mir aber auch wichtig, die drei Jahre eine sehr lange Zeit. Und Situation für die Kinder zu verbessern. Vie- schließlich werde ich die Freiheit, die ich les läuft schon gut, aber wo es besser lau- im letzten Jahr während meines Kunststu- fen kann, sollte auch etwas passieren. diums in Berlin kennengelernt habe, ver- missen. Dort konnte ich machen, was ich Die Fragen stellte Katja Dorothea Buck. wollte, ohne dass es jemand gestört hätte. Das Interview fand wenige Tage vor der Jetzt werde ich an einer Schule wohnen, Ausreise von Dorothee Beck in Stuttgart wo alle mich genau beobachten. statt. Worauf freuen Sie sich besonders? Na klar, auf all die arabischen Klischees, die wir Europäer so lieben: die Suqs, die Gewürze, das Essen, die Lichtverhältnisse, die Menschen. Ich gehe mit einer großen 15
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT NÄHKURS ABGESAGT Ein großes Problem für die Schule ist, dass der Untergrund des Geländes stark Khirbet Kanafar (JLSS). Aus Sicherheits- arbeitet. So hat sich beispielsweise hinter gründen ist der Herbstkurs für alleinerzie- dem Küchengebäude der Boden um sechs hende Flüchtlingsfrauen an der bis sieben Zentimeter gesetzt. So schwierig Johann-Ludwig-Schneller-Schule (JLSS) diese Erdbewegungen für die Schule sind, abgesagt worden. Angesichts der Span- sie geben doch Anlass zu der Hoffnung, nungen in der Region schätzt die Schul- dass dadurch das befürchtete große Erdbe- leitung das Risiko für die Frauen aus dem ben in der Region ausbleiben wird. Flüchtlingslager als zu hoch ein, wenn sie täglich zusammen mit ihren Kindern in einem Bus an die Schule und wieder zurück gebracht werden. Ein Bus könne HINWEIS ZUR BILDNUTZUNG schnell zur Zielscheibe für Racheakte anti- Khirbet Kanafar/Stuttgart (JLSS/EVS). syrischer Kräfte im Libanon werden. Ein neues libanesisches Gesetz stellt die Öffentlichkeitsarbeit der Johann-Ludwig- Der Kurs, bei dem alleinerziehende Schneller-Schule vor ein großes Problem. Flüchtlingsfrauen drei Monate lang die Fotos von Schülerinnen und Schülern an Grundlagen des Schneiderhandwerks ler- öffentlichen und privaten Schulen im nen, soll im Frühjahr wieder aufgenom- Libanon dürfen ab sofort nicht mehr ver- men werden. Die für den Herbstkurs öffentlicht werden, wenn die Eltern oder zugesagten Mittel werden für Renovie- Sorgeberechtigten der Kinder nicht vorher rungsarbeiten im Kindergarten benutzt. ihr schriftliches Einverständnis gegeben Dort werden dann auch die Kinder der haben. Bisher hatte die JLSS bei der Anmel- Flüchtlingsfrauen betreut, solange ihre dung der Kinder um eine allgemeine Ein- Mütter den Kurs besuchen. verständniserklärung gebeten, dass Fotos, welche die Kinder in der Schule zeigen, zu Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit veröf- NEUES KIRCHENDACH, fentlicht werden dürfen. NEUE FENSTER Das neue Gesetz sieht allerdings vor, Khirbet Kanafar (JLSS). Die Renovierun- dass bei jedem einzelnen Foto nun die gen an der Johann-Ludwig-Schneller- schriftliche Erlaubnis der Eltern einzuho- Schule (JLSS) machen Fortschritte. Das len ist. Das können wir in der Redaktion Kirchendach wurde neu eingedeckt und des Schneller-Magazins nichts leisten. isoliert. An einigen Gebäuden wurden die Deswegen werden wir bis auf weiteres kei- Regenrinnen ersetzt und die Dächer repa- ne Bilder von den Kindern an der JLSS zei- riert. Die Schneller-Stiftung – Erziehung zum gen. Die Verantwortlichen im Libanon Frieden unterstützt die Schule bei diesen sind derzeit dabei, mit Anwälten zu klä- Maßnahmen. Des Weiteren musste die ren, ob es einen praktikablen Weg gibt, Wohnung für die neue Erziehungsleiterin, wie wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, Dorothee Beck, renoviert werden. Aus auch weiterhin über unser Fotomaterial energetischen Gründen wurden alle Fens- Einblicke in das Leben an der Schule ter durch moderne Doppelglasscheiben geben können. ersetzt. 16
Foto: EMS/Katja Buck Bishara Tannous und Khaleda Messarweh (vordere Reihe) von der TSS zusammen mit Anne Romund und Uli Jäger von der Berghof Foundation tergruppen, Sportprojekten oder in regel- NACHHALTIGE mäßig stattfindenden Diskussionsrunden FRIEDENSPÄDAGOGIK bearbeitet. Auch gebe es seit einiger Zeit ein Schülerparlament. „Der Austausch mit Tübingen (EVS). Als Teil eines Experten- den anderen Mitgliedern der Experten- teams für Friedenspädagogik haben gruppe ist sehr hilfreich. Man bekommt Anfang Oktober fünf Mitarbeitende der immer wieder neue Ideen“, sagt Messar- Theodor-Schneller-Schule (TSS) in Amman weh. an einem Seminar der Berghof Foundation in Tübingen teilgenommen. Die Gruppe, Uli Jäger, Direktor für Friedenspädago- zu der auch Pädagogen aus anderen schu- gik bei der Berghof Foundation, zeigte sich lischen und universitären Einrichtungen sehr angetan von der guten Zusammenar- in Jordanien gehören, trifft sich seit beit der gesamten Gruppe und ihrer gro- einiger Zeit immer wieder, um über Mög- ßen Bereitschaft zur Eigeninitiative. „Der lichkeiten zu sprechen, wie friedenspäda- Austausch untereinander läuft auf einem gogische Ansätze konkret umgesetzt sehr hohen Niveau ab“, sagt Jäger. Es trage werden können. In Deutschland infor- zur Nachhaltigkeit der gesamten Arbeit mierte sich die Gruppe über hiesige Initi- bei, dass das Team immer wieder zusam- ativen zur Gewaltprävention und stellten menkomme. sich gegenseitig eigene Projekte in ihren Zum Team der Berghof Foundation Institutionen vor. gehören neben ihm noch Anne Romund, Von der TSS gehören unter anderem Musa Almunaizel sowie die Theaterpäda- Khaleda Messarweh, die Leiterin der Tages- gogin Hannah Reich. Zum Abschluss des schule, und der Internatsleiter Bishara Seminars in Deutschland bekamen die Tannous zu dem Expertenteam. „Über die- Teilnehmenden vom jordanischen Bot- se Zusammenarbeit ist bei uns viel ent- schafter Mazen Tal in Berlin Zertifikate als standen“, sagt Khaleda Messarweh. Das „Trainer for Civic and Nonviolent Educa- Thema Gewalt werde an der TSS in Thea- tion“ überreicht. 17
Foto: Nefia EVS-Mitarbeiterin Ursula Feist stellt in Berlin das Projekt „Schule schafft Hoffnung“ vor versuchen, konstruktive Lösungen für eine GRENZEN ÜBERWINDEN bessere Flüchtlingspolitik zum Wohle aller Stuttgart/Berlin (EVS). Das Projekt des zu finden. Evangelischen Vereins für die Schneller- Ebenfalls sehr erfreulich ist das Interes- Schulen (EVS) „Schule schafft Hoffnung. se, das auch unsere katholischen Brüder Syrische Flüchtlingskinder an der Johann-Lud- und Schwestern an unserem Projekt für wig-Schneller-Schule im Libanon“ zieht immer syrische Flüchtlingskinder zeigen. weitere Kreise, auch über Vereins- und Unlängst hatte der Geschäftsführer des Kirchengrenzen hinweg. EVS, Uwe Gräbe, die Gelegenheit, beim Eines der jüngsten Beispiele ist der Auf- Erntedankfest in der katholischen Kir- ruf des Alumnivereins „nefia – Netzwerk chengemeinde St. Clemens in Stuttgart- für internationale Aufgaben“ für Absol- Botnang über das Projekt und die venten des „Stiftungskollegs für internati- Schneller-Schulen zu berichten. Wir hal- onale Aufgaben“ bzw. des „Mercator ten es für richtig und wichtig, die gewohn- Kollegs“ (seit 2009) zu einer gemeinschaft- ten Pfade zu verlassen. Die Kinder an den lichen Spendenaktion. Bis Ende 2014 kön- Schneller Schulen werden zu gegenseiti- nen die Ehemaligen spenden und so gem Respekt zwischen Christen und Mus- mindestens einen Schulplatz für ein limen erzogen, und es sollte eigentlich syrisches Flüchtlingskind an der JLSS keine Frage sein, dass auch die Christen finanzieren. Als Alumna stellte die EVS- Respekt untereinander walten lassen soll- Mitarbeiterin Ursula Feist das Projekt im ten. Es passt jedenfalls nicht zu dem, was Rahmen des September-Kolloquiums des ökumenisch heute notwendig ist, wenn Mercator-Kollegs in Berlin, welches in die- der katholische Festredner auf der EVS- sem Jahr unter dem Schwerpunktthema Mitgliederversammlung in einem Brief an „Flucht und Grenzen“ stand, vor. Ob bei das Schneller-Magazin abwertend als einer Podiumsdiskussion mit Bundestags- „Repräsentant der Papstkirche“ bezeichnet abgeordneten, einer künstlerischen Lec- wird. Das Schicksal der Christen im Nahen ture-Performance oder dem Besuch im Osten führt uns momentan mehr als deut- Deutschen Historischen Museum – überall lich vor Augen, dass auch wir Christen des wurde klar, dass die Flüchtlingsfrage eine Westens nur in respektvollem Umgang der brennendsten Fragen unserer Zeit ist. und in Zusammenarbeit miteinander die Es ist ein großer Lichtblick, all die jungen religiösen Herausforderungen des 21. Jahr- Leute zu sehen, die dieses Thema ebenfalls hunderts werden meistern können. umtreibt, die es in den Fokus stellen und 18
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT NÜCHTERNE EINTRÄGE, BEWEGENDE SCHICKSALE Wiederentdeckt: Die Aufnahmebücher des Syrischen Waisenhauses Im Syrischen Waisenhaus haben einst Foto: EMS/Uwe Gräbe christliche, muslimische und jüdische Zöglinge gelebt. Das belegen zwei Aufnahmebücher der Einrichtung, die unlängst im Libanon wiedergefunden wurden. Lange war man davon ausge- gangen, dass sie in den Wirren nach 1948 verloren gegangen waren. F aszinierend ist der Blick in die multi- konfessionelle und multireligiöse Zusammensetzung der Schülerschaft des Syrischen Waisenhauses. Unter den christlichen Konfessionen sind alle vertre- ten: Protestanten, Griechisch-Orthodoxe, Melkiten, Syrier, Armenier, Kopten, Latei- Eintrag im Aufnahmebuch des Syrischen ner und manche andere. Der erste Muslim Waisenhauses seit Beginn dieser Aufzeichnungen wurde am 27.12.1890 eingetragen: „Jusef Haddad 491 registriert wurden. Wie kam ein deut- (eigentl. Mustafa Ahmed Sedan)“. Man sches Polizeipräsidium dazu, so einfach hatte dem fünfjährigen muslimischen zwei Minderjährige nach Palästina zu ver- Jungen aus Beit Makuba kurzerhand einen schicken? Bei den beiden handelt es sich christlichen Namen verpasst! um Halbwaisen. Der Vater, Elias Brakha, Eine offenkundig erschütternde politi- wurde 1864 in Aleppo geboren; seine bei- sche Entwicklung verbirgt sich hinter den den Kinder kamen 1891 und 1893 in Man- Registrierungsnummern 209 bis 268: An chester zur Welt. Über den Grund der nur drei Tagen innerhalb von wenig mehr Aufnahme heißt es im Aufnahme-Haupt- als zwei Monaten wurden vom 20.01.1897 buch: „Der Vater Artist, als lästiger Auslän- bis zum 27.03.1897 genau 60 armenische der aus Berlin ausgewiesen, ist 1900 mit Kinder aufgenommen. Wie muss man sich Zurücklassung seiner Kinder nach Paris eine solche Massenaufnahme vorstellen? verzogen.“ Ob die Kinder irgendwo jemals Wurden Matratzenlager eingerichtet? Gab wieder Fuß gefasst haben? es Notquartiere? Uwe Gräbe Tragisch ist das Familienschicksal der jüdischen Brüder Frank (11) und Jakob Der hier abgedruckte Text ist nur ein Joseph (9) Brakha, die am 21. Februar 1902 Auszug, eines sehr viel ausführlicheren vom Polizeipräsidium Berlin an das Syri- Artikels. Der vollständige Text wird 2015 sche Waisenhaus in Jerusalem überstellt an anderer Stelle erscheinen. Wir werden und dort unter den Nummern 490 und Sie darüber informieren. 19
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT SOLIDARITÄT MIT DEN MENSCHEN ZEIGEN! Flüchtlingsfrage stand im Zentrum der EVS-Mitgliederversammlung Wenn der Evangelische Verein für die Schneller-Schulen (EVS) zur Hauptver- sammlung einlädt, geht es nicht nur um Vereinsangelegenheiten. Immer wieder ist auch die aktuelle Politik im Nahen Osten Thema. Dieses Mal hatte der EVS Matthias Kopp, den Presse- sprecher der Deutschen Bischofskonfe- renz, als Referenten eingeladen. V orträge über den Nahen Osten, bei denen gelacht wird, sind selten. Matthias Kopp gelang es aber, seine rund 60 Zuhörerinnen und Zuhörer bei Foto: EMS/Katja Buck der EVS-Mitgliederversammlung am 18. Oktober in Ostfildern-Parksiedlung immer wieder zum Schmunzeln zu bringen. Er war für den ursprünglich geplanten Fest- redner Abdallah Frangi eingesprungen, der aufgrund der Situation in Gaza sein Kom- men absagen musste. Das ewige Schweigen der Weltgemein- schaft zu den dramatischen Entwicklungen Der Pressesprecher der Deutschen im Nahen Osten könne keine Option sein, Bischofskonferenz hat im Gegensatz zu findet Matthias Kopp. vielen anderen Nahost-Experten einen großen Vorteil: Er kann auf Selbsterlebtes Kopp berichten, der damals neben Fran- an der Seite von Papst Franziskus zurück- ziskus im Auto saß. greifen. Und der Argentinier ist für seine Spontaneität und Eigenwilligkeit bekannt. Das eigentliche Thema des Referats Welche Auswirkungen diese Charakterei- stand allerdings im deutlichen Kontrast zu genschaften auf einem diplomatischen der eher launigen Vortragsweise. „Explo- Minenfeld wie dem Nahen Osten haben, diert der Nahe Osten?“ war die zentrale konnte Kopp anhand zahlreicher Anekdo- Frage, der Kopp kompetent und präzise ten deutlich machen, die ebenso erhei- nachging. Einzeln ging er die Länder der ternd wie aussagekräftig waren. Dass der Region durch und zeigte auf, mit welchen Heilige Vater bei seinem Besuch im Heili- Herausforderungen die Menschen seither gen Land im vergangenen Mai ohne Vor- konfrontiert sind. Seit Beginn der Arabel- ansage an der Trennmauer anhielten ließ, lion vor bald vier Jahren sei die gesamte um dort zu beten, hatte weltweit für Auf- Region immer instabiler geworden. Der merksamkeit gesorgt. Wie spontan diese syrische Bürgerkrieg und das grausame Geste aber tatsächlich war, davon konnte Vorgehen dschihadistischer Gruppen in 20
Syrien und im Irak hätten in beiden Län- der zu Flüchtlingsdramen ungeahnten Ausmaßes geführt. In Jordanien lebten heute mehr als 600.000 Syrer. 60 Prozent davon seien unter 24 Jahren. „Das ist eine verlorene Generation, die keine Perspek- tive hat“, sagte Kopp. Die Flüchtlingsfrage in Jordanien, einem der wasserärmsten Foto: EMS/Katja Buck Länder der Welt, könne bald schon zu sozialen Konflikten mit der jordanischen Bevölkerung führen. Auch der Libanon, in dem bei einer Gesamtbevölkerung von 4,6 Millionen Einwohnern mehr als 1,1 Millionen Klaus Schmid (links) dankte bei der Mitglie- Flüchtlingen aus Syrien Zuflucht suchen, derversammlung Helmut Hekmann für seine stehe kurz vor dem Kollaps. Die Gefahr, jahrelange Unterstützung der Schneller-Arbeit dass der Bürgerkrieg auf das kleine Land als Berater für die Berufsausbildung an den überschwappe, sei durchaus realistisch. beiden Schulen im Libanon und in Jordanien. Auch sei zu befürchten, dass sich die reli- giöse Struktur im Libanon, die Grundlage für das politische Proporzsystem ist, durch das Flüchtlingsproblem radikal verschiebe. INFO Finanzielles Hinzu käme, dass die Verhandlungen zwischen Israel und Palästina seit Jahren Erfreuliche Informationen zu den Spendenein- in einer Sackgasse steckten. Dass die gängen 2013 konnte der Schatzmeister des Gesellschaften in Palästina und in Israel EVS, Reinhold Schaal, den Mitgliedern geben. total gespalten seien, sei‘s in Anhänger Sowohl bei den Einzelspenden als auch bei den von Fatah und Sympathisanten von Zuwendungen aus den Gemeinden seien deut- Hamas, sei’s in Strenggläubige und Libe- liche Zuwächse zu verzeichnen, sagte Schaal. rale, mache die Situation zusätzlich kom- Die Spendeneinnahmen von mehr als 614.000 pliziert. „Wir dürfen aber nicht nur auf Euro lägen deutlich über dem Ergebnis des Israel und Palästina schauen und dabei Vorjahres (506.000 Euro). Hintergrund seien den Irak und Syrien vergessen oder umge- die dramatischen Entwicklungen in Syrien. kehrt. Wir müssen die ganze Region im Mit einem Plus von rund 73.000 Euro konnte Blick haben“, sagte Kopp. Die internatio- der EVS das Jahr 2013 abschließen. Der Über- nale Gemeinschaft dürfe zu all dem nicht schuss gehe in die Syrienhilfe der Evangeli- länger schweigen. „Die Kirchen müssen schen Mission in Solidarität, sagte Schaal. bereit sein, auch die unangenehmen Fra- gen zu stellen. Wir müssen uns mit den Menschen solidarisch zeigen und Zeichen Zur nächsten Mitgliederversammlung trifft setzen“, sagte Kopp. sich der EVS am 8. November 2015 in Ulm. Für die Festpredigt im Münster ist Prälatin Katja Dorothea Buck Gabriele Wulz angefragt. 21
Foto: Aziz Shalaby EIN ORT DES FRIEDENS INMITTEN DER GEWALT „..die Situation im Mittleren Osten verschlim- Werte Gerechtigkeit, Friede und respektvolles mert sich von Tag zu Tag“, schreibt Pfarrer Annehmen des jeweils Anderen beigetragen Dr. Habib Badr, leitender Pfarrer der Nati- haben und dies weiterhin tun.“ onalen Evangelischen Kirche in Beirut und Die Schneller-Schulen sind solche Ins- Vorstandsvorsitzender der Johann-Ludwig- titutionen. Damit sie diesen Aufgaben vor Schneller-Schule. Die gesamte Führung der dem Hintergrund der dramatisch wach- Evangelischen Christen im Libanon und senden Herausforderungen auch in in Syrien richtete Zukunft gerecht wer- einen dringenden Helfen Sie mit Ihrer Spende, damit die den können, brau- Appell an alle Schneller-Schulen weiterhin ein Ort chen sie unsere Hilfe. Evangelischen und des Respekts und der Friedfertigkeit für Die Lebensbedin- Protestantischen Kir- Kinder, Jugendliche und alle Mitarbei- gungen der syrischen chen und Organisati- tenden der Schulen bleiben können! Flüchtlinge im Liba- onen weltweit. In non sind erbärmlich. Für unsere Geschwister im Nahen diesem erklärten sie Zum Glück konnte Osten sind unser Gebet und unsere den Notstand ange- ein großer Teil der Gaben Zeichen der Solidarität. In ihrer sichts der Bedrohung syrischen Flücht- äußerst schwierigen Lage hoffen Sie der Christen und lingskinder, die die auf uns. Seien Sie versichert: anderer Minderhei- Johann-Ludwig-Schnel- ten in der Region. Jeder Beitrag hilft! ler-Schule besuchen, „Um die christliche auch ins Internat Weitere Informationen schickt Präsenz im Mittleren aufgenommen wer- Ihnen gerne Angelika Jung zu: Osten und ebenso die den, wo sie weitaus jung@ems-online.org Präsenz anderer mode- besser aufgehoben rater Kräfte in der Regi- sind. Dort erleben on zu unterstützen, muss eine gut durchdachte sie, wie Christen und Muslime miteinan- Strategie umgesetzt werden. […] In der Vergan- der lernen und leben können. Echte genheit wurde dies [..] durch die Stärkung päd- Freundschaften entstehen, die sie auch agogischer und sozialer Institutionen erreicht, durch das weitere Leben begleiten werden. die mit großem Nachdruck […] zur Stärkung der 22
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