ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN

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ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
ISSN 0947-5435                                                      E 12344

        4/2014

                        MAGAZIN ÜBER CHRISTLICHES LEBEN IM NAHEN OSTEN

                 ALLEIN GEGEN DEN STROM –
                 QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
INHALT

  ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
Hoffnung säen, wo Verzweiflung herrscht				                                              2

Der hohe Preis für Zivilcourage						4
Von Muslimen, die sich gegen den IS aussprechen

Rückkehr aus dem Exil		 					6
Von einer wachsenden Gemeinde in Bagdad

Weil der Mensch dem Menschen ein Mensch sein soll			                                     8
Das Gedenken an die Gerechten der Völker in Yad Vashem

„…nur solange es mit dem Gewissen vereinbar ist“			                                      10
Über den palästinensischen Arzt und Politiker Haidar Abdel Shafi

„Es geht um Gerechtigkeit“						12
Meir Margalit – Politiker, Besatzungsgegner, Friedensaktivist

  NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT
„Der Nahe Osten geht ins Herz“ 						                                                    14
Dorothee Beck ist neue Internatsleiterin an der JLSS

Grenzen überwinden							18

Nüchterne Einträge, bewegende Schicksale 				                                            19
Wiederentdeckt: Die Aufnahmebücher des Syrischen Waisenhauses

Solidarität mit den Menschen zeigen! 					                                               20
Flüchtlingsfrage stand im Zentrum der EVS-Mitgliederversammlung

  CHRISTEN UND DER NAHE OSTEN
Warum der Nahe Osten Christen braucht 				                                               23
Eine muslimische Antwort

Nur die Muslime können die Christen retten 				                                          26
Internationale Konferenz zur Zukunft der Christen im Nahen Osten

Kommentare		 						28

Medien									32

Impressum								33

Titelfoto: Ein Junge an der Theodor-Schneller-Schule in Amman – EMS/Martina Waiblinger
ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,
neben meinem Schreibtisch steht eine Büste von
Johann Ludwig Schneller. Einst schmückte sie die
Zentrale des Evangelischen Vereins für das Syrische
Waisenhaus in Köln. Eine zweite, scheinbar iden-
tische Büste steht im Büro von Pfarrer George
­Haddad, dem Direktor der Johann-Ludwig-Schnel-
 ler-Schule im Libanon. Doch wenn ich genau hin-
 schaue, entdecke ich Unterschiede: „Mein“
 Schneller blickt wie ein liebenswerter älterer Herr,
 wie ein Sanftmütiger. Der „libanesische“ Schneller
 dagegen reckt sein Kinn mit dem mächtigen Bart
 entschlossen nach vorne: tatkräftig und irgendwie
 querköpfig.
   Den „Querköpfen“ im Nahen Osten soll dieses
Heft gewidmet sein. Johann Ludwig Schneller war
ganz sicher einer von ihnen: Seinem Unterstützer-
verein in Deutschland hat er es nicht leicht
gemacht. Was er als richtig erkannt hatte, machte er einfach. Manches Projekt hatte er
zugunsten seiner Waisenkinder längst angepackt, bevor der Verein in Deutschland sich
darüber Gedanken machen konnte. Der Mann mit dem sanften Blick scheute sich nicht
davor, dass er auch aneckte.
   Auch heute, mitten in den Verwerfungen des Nahen Ostens, gibt es solche „Quer-
köpfe“, die ohne falsche Rücksichtnahme das tun, was dem Guten dient. Das macht
Hoffnung. Ich selbst bin dankbar dafür, dass ich 1996 in Gaza noch persönlich Dr. Hai-
dar Abdel Shafi begegnen durfte. Unermüdlich vertrat er die palästinensische Sache
nicht allein gegenüber Israel, sondern prangerte auch die Misswirtschaft und Korrup-
tion der Palästinenserbehörde und ihrer führenden Köpfe an. Von ihm soll ebenso die
Rede sein wie von denen, die sich heute im Nahen Osten – oftmals ganz alleine und
ohne Rücksicht auf sich selbst – einer Kultur des Hasses entgegenstellen, oder die dies
zur Zeit des Massenmordes am jüdischen Volk als „Gerechte der Völker“ getan haben.
   Im Nahen Osten erleben wir heute, wie eine ganze Weltordnung zerbricht. Wir sind
dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die für Menschlichkeit eintreten: mal sanftmü-
tig, mal entschlossen – in jedem Fall „querköpfig“.
  Mit herzlichen Segenswünschen zum Christfest und zum neuen Jahr grüßt Sie im
Namen des Redaktionsteams
Ihr

Uwe Gräbe

                                                                                     1
ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
BESINNUNG

HOFFNUNG SÄEN, WO VERZWEIFLUNG HERRSCHT

I
    n einem Gedicht von G. Corunna            Vergangenheit nicht
    heißt es:                                 vergessen und uns
                                              nicht befeinden,
                                              sondern durch den
Unsere Kunst ist ein Spiegel...               Blick zurück heilen-
Sie nährt den Geist                           de Kräfte der Versöh-
heilt die Vergangenheit                       nung gewinnen.
und träumt die Zukunft                        Ohne diese Erinne-
                                              rung verlieren wir
Diese Sätze scheinen wie ein Gedicht auf      unsere Identität.
die Kunst des Palästinensers Sliman
                                                 Auch darin ist
Mansour zu sein. Seine Kunst spiegelt die
                                              Mansour Querden-
Wirklichkeit, die verzweifelte Wirklichkeit
                                              ker, dass er nicht nur
der Palästinenser. Doch wo es eigentlich
                                              die Vergangenheit
keine Hoffnung und keine Zukunftspers-
                                              beschwört, sondern
pektiven gibt, da sät er Hoffnung, da öff-
                                              auch die Hoffnung
net er den Blick für die Zukunft. Darin ist
                                              auf eine gemeinsame
er ein Querdenker und stellt sich quer zur
                                              Zukunft nicht auf-
politischen Analyse der Politiker und
                                              gibt. Das zeigt er auf
Medien und auch gegen seine eigenen
                                              dem 1985 gemalten
Erfahrungen.
                                              Bild „Symbol der
    Nicht nur das Verhältnis zu den Juden     Hoffnung“, das über
ist gespannt, sondern auch das der Musli-     den Weltgebetstag
me und Christen weltweit, auch wenn es        1994, der damals
in Palästina zurzeit weniger brisant ist.     von Frauen aus Palästina gestaltet wurde,
Dennoch können Spannungen jederzeit           weltweit bekannt wurde. Vor dem dunk-
aufflammen.                                   len, ins Grün – der Farbe der Hoffnung –
                                              changierenden Himmel fliegt die
   Mansour versucht dem zu wehren,
                                              Friedenstaube mit dem Ölblatt im Schna-
indem er auf das gemeinsame Erbe in der
                                              bel, dem grünen Zweig, an dem Noah
Vergangenheit verweist: Er gestaltet ein
                                              erkannte, dass die Zeit des großen
mich tief bewegendes Selbstportrait aus
                                              Unglücks sich dem Ende zuneigt. Ein gol-
Lehm in der Form eine Halbreliefs. Er
                                              dener Kranz leuchtet hinter ihrem Kopf
nennt es „Ich, Ismael“. Da der Lehm
                                              auf, ein verhüllter Hinweis auf Christus,
getrocknet ist und das Relief Risse bekom-
                                              der „Sonne der Gerechtigkeit“. In einem
men hat, wird die Symbolik des Kunst-
                                              Lied heißt es: „Sonne der Gerechtigkeit,
werks sichtbar. Wir Palästinenser, sagt es,
                                              gehe auf in unsrer Zeit, erbarm dich,
Christen und Muslime, sind Nachkom-
                                              Herr“. Das ist die heimliche Bitte dieses
men Ismaels, des ersten Sohnes von Abra-
                                              Bildes. Alle Frauen, mit und ohne Kopf-
ham. Wir dürfen unsere gemeinsame
                                              tuch, strecken betend ihre Hände gen

2
ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
Himmel voller Sehn-
                                                                      „Symbol der Hoffnung“, Sliman Mansour
                                              sucht und Hoffnung,     – Das 1985 gemalte Bild ist im Besitz des
                                              dass die Friedenszeit   Berliner Missionswerks. Die Schule Talitha
                                              bald anbrechen          Kumi in Beit Jala hat die Taube als Vorbild
                                                                      für ihr Schullogo genommen.
                                              möge.
                                                 Unten im Bild ste-
                                              hen die Türme der
                                              christlichen Kirche
                                              und der Moschee
                                              friedlich nebenein-
                                              ander. Doch die Erlö-
                                              serkirche strahlt in
                                              der Farbe des Frie-
                                              dens. So sollen die
                                              Christen das Licht
                Foto: Berliner Missionswerk

                                              des Evangeliums
                                              nicht verbergen, son-
                                                                      Das Bild „Flucht nach Ägypten“
                                              dern ihr „Licht
                                                                      (s. unten) von Sliman Masour war 2013
                                              leuchten lassen vor     offizielle Weihnachtskarte der EMS,
                                              den Leuten, dass sie    wo es als Postkarte bestellt werden kann.
                                              ihre guten Werke        (s. S 30/31)
                                              sehen und den Vater
                                              im Himmel preisen“
                                              (Matth. 5, 16).

             Der evangelische Theologe Theo
 ­Sundermeier lebte jahrelang in Afrika und
    ist Professor emeritus der Theologischen
Fakultät der Universität Heidelberg. Neben
  religions- und missionswissenschaftlichen
         Arbeiten hat er zahlreiche Texte zur
    Hermeneutik und zur christlichen Kunst
   in Deutschland und Übersee (Afrika und
                        Asien) veröffentlicht.

                                                                                                                    3
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ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN

DER HOHE PREIS FÜR ZIVILCOURAGE
Von Muslimen, die sich gegen den IS aussprechen

In den Schlagzeilen tauchen ihre                                IS zu akzeptieren und sich in die Rolle von
Namen selten auf. Dabei müsste ihnen                            Bürgern zweiter Klasse einzufügen. Wer
eigentlich ein Denkmal gesetzt wer-                             das nicht wolle, solle die Stadt binnen drei
den. Dieser Artikel ist den Muslimen                            Tagen verlassen. Andernfalls würde der IS
gewidmet, die ihr Leben aufs Spiel                              sie mit dem Tod bestrafen.
setzen, weil sie sich trotz der Drohun-
                                                                   Für Mahmoud Al-Asali waren diese
gen der Dschihadisten für Menschen
                                                                Ansagen ein Affront gegen den eigenen
anderen Glaubens einsetzen.
                                                                Glauben. Der Professor für Jura, der im

D
                                                                Fach Pädagogik an der Universität Mossul
         er sunnitische Muslim Mahmoud
                                                                unterrichtete, sprach sich öffentlich gegen
         Al-Asali gehört zu den ersten
                                                                dieses brutale Vorgehen aus. Es sei mit dem
         Opfern des Islamischen Staats (IS)
                                                                Islam nicht vereinbar. Mahmoud Al-Asali
in Mossul. Anfang Juni brachten die
                                                                wurde Mitte Juli 2014 vom IS ermordet.
Dschihadisten in nur wenigen Tagen die
zweitgrößte Stadt im Irak unter ihre Kon-                       Entführt, gefoltert, ermordet
trolle. In der Drei-Millionen-Einwohner-
                                                                   Das gleiche Schicksal traf Samira Saleh
Metropole hatten Araber, Kurden, Aramä-
                                                                Al-Noeimi. Die Menschenrechtsanwältin
er, Chaldäer, Turkmenen und Jesiden über
                                                                wurde Mitte September von maskierten
Jahrhunderte Haus an Haus gelebt. Mossul
                                                                IS-Schergen aus ihrem Haus entführt. In
ist im ganzen Nahen Osten für seine mul-
                                                                einem angeblich islamischen Gerichtsver-
tiethnische und multireligiöse Geschichte
                                                                fahren wurde ihr der Abfall vom Glauben
bekannt. Dieser Tradition haben die neu-
                                                                vorgeworfen. Al-Noeimi, die sich als
en Herrscher vor ein paar Monaten ein
                                                                Anwältin besonders für Arme und Gefan-
Ende gesetzt. Sie forderten Christen, Jesi-
                                                                gene einsetzte, hatte auf Facebook mehr-
den und Schiiten auf, sich entweder zum
                                                                fach das Vorgehen von IS als „barbarisch“
Islam zu bekehren oder die Herrschaft des
                                                                kritisiert und die Zerstörung von heiligen
                                                                Stätten als unislamisch angeprangert. Fünf
                                                                Tage lange wurde sie gefoltert, bevor sie
                                                                am 22. September 2014 auf einem zentra-
                                                                len Platz in Mossul öffentlich hingerichtet
                                                                wurde.
                                             Foto: abouna.org

                                                                   Al-Noeimi und Al-Asali müssen gewusst
                                                                haben, welches Risiko sie mit ihren Äuße-
                                                                rungen eingingen. Dass die Dschihadisten
                                                                keinen Widerspruch dulden und jeden
                                                                Andersdenkenden grausam bestrafen, war
1600 Jahre lang lebten Christen in Mossul.                      bekannt. In Raqqa, der Stadt im Norden
Im Sommer 2014 haben alle Christen die                          Syriens, die seit vergangenem Jahr in der
Stadt verlassen.
                                                                Hand des IS ist, mussten viele Menschen-

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ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
rechtsaktivisten mit ihrem Leben zahlen,       helligt weiterfahren wolle, müsse ein
                                     weil sie sich gegen die neuen Herrscher        Mann aus dem Bus sie auf der Stelle hei-
                                     gestellt hatten.                               raten. Der Busfahrer meldete sich sofort.
                                                                                    Ein islamischer Ehevertrag wurde auf die
                                     Namenlose Helden
                                                                                    Schnelle aufgesetzt. Erst als beide offiziell
                                        Von Al-Noeimi und Al-Asali sind die         als verheiratet galten, konnte die Fahrt
                                     Namen bekannt. Erinnert werden soll aber       weitergehen. In Aleppo angekommen,
                                     auch an jene, die ungenannt bleiben, wie       wartete der Busfahrer, bis alle anderen
                                     zum Beispiel jener alte Mann, von dem die      Fahrgäste ausgestiegen waren und brachte
                                     Tageszeitung aus Berlin im Oktober berich-     die Frau schließlich zu der Adresse, wo sie
                                     tet hat. Er hatte einer jungen Jesidin und     erwartet wurde. Bevor er sich von ihr ver-
                                     ihrem Baby, die bereits vom IS „verkauft“      abschiedete, zerriss er den Vertrag vor
                                     worden waren, zur Flucht aus Mossul ver-       ihren Augen.
                                     holfen und sie an mehreren Checkpoints
                                                                                    Kein Schwarz-Weiss-Denken
                                     vorbei zu ihren Verwandten im Nordirak
                                     gebracht. Er war sich genauso der Gefahr           Wenn Staaten zerfallen und neue
                                     bewusst, der er sich damit aussetzte, wie      Machthaber das Ruder an sich reißen, gibt
                                     jener syrische Busfahrer, dessen Bus auf       es immer auch Menschen, die aus der Not
                                     der Fahrt von Damaskus nach Aleppo im          der Anderen Profit schlagen. Es ist
                                     Sommer von Dschihadisten angehalten            bekannt, dass es im Irak und in Syrien
                                     und kontrolliert wurde. Unter den Fahr-        auch zahlreiche Mitläufer unter sunniti-
                                     gästen war auch die Sekretärin einer christ-   schen Muslimen gibt. Anders wäre der
                                     lichen Gemeinde in Damaskus. Ein               schnelle Erfolg des IS nicht zu erklären.
                                     Kopftuch hatte sie zwar vorsichtshalber        Einige Christen und Jesiden, die vor dem
                                     umgebunden. Dass sie aber als unverhei-        Terror fliehen konnten, berichten, dass sie
                                     ratete Frau ohne männlichen Vormund            von ihren muslimischen Nachbarn denun-
                                     unterwegs war, wollten die Milizionäre         ziert wurden. Neben den namenlosen Ver-
                                     nicht durchgehen lassen. Wenn sie unbe-        rätern gibt es aber auch jene Menschen,
                                                                                    die Zivilcourage zeigen. An sie muss
Foto: Vom Twitteraccount @DrAlgizi

                                                                                    immer wieder erinnert werden, um einem
                                                                                    Schwarz-Weiß-Denken zu wehren.

                                                                                                          Katja Dorothea Buck

                                      Der Islamische Staat markiert christliches
                                      Eigentum mit dem arabischen “nun”.
                                      Menschenrechtsaktivisten haben diesen
                                      Buchstaben in den Slogan „Wir sind alle
                                      Christen” eingebaut.

                                                                                                                               5
ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN

RÜCKKEHR AUS DEM EXIL
Von einer wachsenden Gemeinde in Bagdad

Zu Tausenden verlassen die Christen           gelebt. Nichts hätte dagegen gesprochen,
den Irak. Auch Kirchenleute sind vor          dass er dort den Rest seines Lebens ver-
Fluchtgedanken nicht gefeit. Pfarrer          bringt. Eines Morgens habe er allerdings
Farouq Hammo ist vor drei Jahren              gewusst, dass es Zeit sei zurückzugehen,
aber nach Bagdad zurückgekehrt –              erzählt der groß gewachsene Mann. Seine
und hat es noch nie bereut.                   Familie sei von dieser Idee nicht begeistert
                                              gewesen. Deswegen sei er allein in den Irak

D
        as Leben für Christen ist im Irak     gegangen. Und er habe es nicht bereut.
        nicht erst seit dem Eroberungsfeld-
                                                 Den großen Exodus der irakischen
        zug des IS schwierig. Seit Jahren
                                              Christen hat Hammo nicht direkt miter-
leiden die Menschen im ganzen Land
                                              leben müssen. Der dauert schon seit mehr
unter der miserablen Wirtschaftslage und
                                              als zehn Jahren an. Seit 2003 haben rund
der fehlenden Sicherheit. In Bagdad bei-
                                              drei Viertel aller Christen das Land verlas-
spielsweise, das nicht unter der Kontrolle
                                              sen. Während vor dem Sturz Saddam Hus-
des IS steht, werden täglich Tote durch
                                              seins noch 1,5 Millionen Christen an
Autobomben beklagt. Wer würde da nicht
                                              Euphrat und Tigris lebten, sind es heute
gehen wollen?! Und wer könnte es Kir-
                                              nach Schätzungen der dortigen Kirchen
chenleuten übel nehmen, die das Land
                                              nur noch 300.000 bis 400.000. Hammos
verlassen und lieber im sicheren Exil eine
                                              Gemeinde blieb von dem Exodus nicht
Gemeinde betreuen?!
                                              verschont. Vor zehn Jahren zählte sie
   Der chaldäisch-katholische Patriarch       noch mehr als 1000 Mitglieder. „Als ich
von Bagdad, Erzbischof Louis Sako, sieht      vor drei Jahren nach Bagdad kam, gehör-
das allerdings anders. Mit Härte geht er      ten nur noch 30 Leute dazu“, erzählt Ham-
gegen Priester und Ordensleute vor, die       mo. Er freue sich, dass es heute wieder
ohne Erlaubnis ihrer Vorgesetzten aus-        mehr als 200 seien. „Und es werden jeden
wandern. Unlängst suspendierte er zwölf       Sonntag mehr.“
Priester und Mönche von ihren Ämtern,
                                                 Dass Hammos Gemeinde wieder
die nach Kanada, Australien und Schwe-
                                              wächst, hat verschiedene Gründe. Zum
den geflüchtet waren. In einem Dekret
                                              einen drängen immer mehr Christen auf
erinnert Sako daran, dass Priester und
                                              der Flucht vor dem IS nach Bagdad. Einige
Ordensleute ihr Leben in den Dienst Got-
                                              tausend Familien aus allen Denominatio-
tes und der Kirche gestellt und vor­
                                              nen seien es, die bei Freunden in der ira-
behaltlosen Gehorsam gegenüber
                                              kischen Hauptstadt untergekommen
Weisungsbefugten geschworen hätten.
                                              seien, erzählt der Pfarrer. Keiner wisse, wie
   Ein solches Dekret hat es für Farouq       es für diese Menschen weitergehen soll.
Hammo nicht gebraucht. Der presbyteri-        „Vor allem müssen wir ihnen zuhören und
anische Pfarrer betreut seit drei Jahren      mit ihnen trauern um all das, was sie ver-
eine Gemeinde im Herzen Bagdads. Davor        loren haben“, sagt er.
hatte er mehr als 20 Jahre in Australien

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ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
Foto: EMS/Katja Buck

                                                                     sie ihm nachfolgen.“
                                                                     Für die Christen im
                                                                     Irak gelte dies derzeit
                                                                     in ganz besonderer
                                                                     Weise.
                                                                          Andererseits erle-
                                                                       be er immer wieder,
                                                                       wie gerade in sol-
                                                                       chen Situationen auf
                                                                       einmal Versöhnung
                                                                       möglich werde. Das
                                                                       sei etwas Wunder­
                                                                       bares. „Seit einigen
                                                                       Monaten kommen
                                                                       zum Beispiel auch
                                                                       Angehörige des Mili-
                                                                       tärs in unsere Kirche
                                                                       um zu beten“,
                                                                       erzählt er. Immer
                                                                       wieder treffe er sich
                                                                       mit islamischen Reli-
  Pfarrer Farouq Hammo ist vor drei Jahren aus Australien nach         gionsführern. „Viele
  Bagdad zurückgekehrt.                                                sprechen über das,
                                                                       was in Mossul pas-
                                                                       siert und sie bitten
    Zum anderen kämen jeden Sonntag              um Entschuldigung, dass das alles im
immer neue Leute in den Gottesdienst,            Namen des Islam geschieht.“
weil es eine gute Mund-zu-Mund-Propa-
                                                     Auch auf politischer Ebene ist Hammo
ganda gebe. „Die Menschen erzählen
                                                 aktiv. Erst kürzlich hat er sich mit dem
ihren Freunden und Nachbarn, was sie in
                                                 Premierminister Haider al-Abadi, einem
der Kirche gehört haben und wie gut
                                                 schiitischen Muslim, getroffen und über
ihnen das tue.“ In der Bibel gebe es so vie-
                                                 die schlimme Situation der Christen im
le Beispiele, wo Menschen in Angst leben
                                                 Irak gesprochen. Hammo holt sein Smart-
wie zum Beispiel Daniel in der Löwengru-
                                                 phone aus der Tasche und zeigt ein Foto
be. „Solche Geschichten ermutigen. Sie
                                                 von dem Treffen. „Am Ende haben wir
zeigen, dass Gott der alleinige Herrscher
                                                 gemeinsam gebetet.“
ist und uns liebt“, sagt Hammo. Glauben
bedeute für ihn, nicht zu fliehen, sondern
                                                                       Katja Dorothea Buck
trotz aller Gefahr auf Gott zu vertrauen.
„Jesus hat uns kein Leben in Freude und
Glück versprochen. Vielmehr hat er seine
Jünger davor gewarnt, dass sie in Bedräng-
nis kommen und verfolgt werden, wenn

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ALLEIN GEGEN DEN STROM - QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN

WEIL DER MENSCH DEM MENSCHEN
EIN MENSCH SEIN SOLL
Das Gedenken an die Gerechten der Völker in Yad Vashem

Gerechtigkeit meint in der Welt der
biblischen Sprachen nicht ein Verhal-
ten, das jedem das Seine zukommen
lässt. Gerecht werden Menschen
genannt, wenn sie lebensdienlich
handeln – so wie die „Gerechten der
Völker“.

F
     ährt man mit der Straßenbahn bis zur
     Endstation im Südwesten von Jerusa-

                                                                                        Foto: Wikimedia/Berthold Werner
     lem, gelangt man zum Herzl-Berg.
Dort gab sich in den 1950er Jahren der
junge jüdische Staat drei Gedenkstätten,
die Einblicke in sein Selbstverständnis
gewähren. Wendet man sich an der Hal-
testelle nach links, erreicht man nach fünf
Minuten den Ort, an dem der Vernichtung
der Juden im Dritten Reich – aber auch
ihres Widerstands – gedacht wird: Yad Vas-
hem. Geht man nach rechts, findet man           Denkmal für einen Gerechten der Völker in
sich unversehens auf dem großen Solda-          Yad Vashem: Der polnische Arzt und
                                                Pädagoge Janusz Korczak ging mit den
tenfriedhof wieder, auf dem tausende
                                                Kindern des von ihm geleiteten Waisen-
Gefallene der Kriege Israels begraben lie-      hauses ins Vernichtungslager Treblinka und
gen. Betritt man das Gelände in der Mitte,      kam dort um.
gelangt man zum Grab Theodor Herzls,
dessen Name wohl wie kein anderer für
                                               wohl kaum einen Israeli, der sich nicht an
die Idee eines Staates für das jüdische Volk
                                               einen Menschen erinnert, der als Soldat
steht.
                                               oder als Opfer des Terrorismus seit 1948
   Was an diesem Ort Architektur gewor-        sein Leben gelassen hat. Am Abend dieses
den ist, spiegelt sich im Lebensgefühl vie-    Tages wendet sich die Stimmung „von der
ler Israelis und im Festkalender des           Trauer in die Freude“, wie es in der
jüdischen Staates wieder. Vierzehn Tage        Pessach-Haggada heißt: Das Land feiert
nach dem Pessach-Fest steht das Land still     voller Lebensfreude seine Unabhängigkeit.
und gedenkt der sechs Millionen Juden,         In diesen Tagen bleibt das Volk mit seinen
die unter deutscher Regie zwischen 1933        schmerzlichen Erinnerungen unter sich.
und 1945 ermordet wurden. Eine Woche           Die nicht-jüdischen Völker treten vor-
später schweigt das Land erneut. Es gibt       nehmlich als die in den Blick, die jüdi-

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schen Menschen das Leben schwer                 schaftliche Hilfe […] zu der man sich ver-
gemacht oder gar genommen haben und             pflichtet fühlen kann, ohne dazu
die ihnen bis in die Gegenwart hinein           formal-rechtlich verpflichtet zu sein“
nach dem Leben trachten.                        (Bibel in gerechter Sprache, S. 2338).
   Umso mehr überrascht es, ausgerechnet           In genau diesem Sinne haben die
an der Gedenkstätte Yad Vashem unter            Gerechten der Völker gehandelt, sie haben
den angepflanzten Bäumen Täfelchen mit          sich entgegen ihren staatsbürgerlichen
Namen nicht-jüdischer Männer und Frau-          Pflichten anderen Instanzen verpflichtet
en zu finden. Sie werden dafür geehrt, dass     gefühlt, sei es ihrem Glauben, ihrem
sie unter Einsatz ihres Lebens und ohne         Gewissen oder der Menschlichkeit. Sie
daraus Profit zu schlagen, jüdischen Men-       haben sich im Konflikt zwischen Legalität
schen während der nationalsozialistischen       und Moralität für letztere entschieden –
Herrschaft das Leben gerettet haben. Das        unter Einsatz ihres Lebens. Damit sind sie
Yad-Vashem-Gesetz aus dem Jahr 1953             bleibendes Vorbild für jeden, der Yad Vas-
nennt sie „Chassidei HaUmot“. Im Deut-          hem besucht.
schen kennen wir sie als die „Gerechten
der Völker“. Gerechtigkeit meint in der           PD Dr. Martin Vahrenhorst ist Pfarrer an
Welt der biblischen Sprachen nicht ein             der Erlöserkirche in Jerusalem, leitet das
Verhalten, das jedem das Seine zukommen             Programm „Studium in Israel“ und ist
lässt. Gerecht werden Menschen genannt,            wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deut-
wenn sie lebensdienlich handeln. In die-            schen Evangelischen Institut für Alter-
sem Sinne heißt es von Gott, dass er durch             tumswissenschaft im Heiligen Land.
seine Gerechtigkeit rettet (Ps 31,2). Hinter
dem biblischen Wort „Chessed“ steht „die
einander erwiesene freundliche, gütige,
herzliche Zuwendung […] die nachbar-

 Chassidei HaUmot

    Ich höre den Begriff „Gerechte der Völker“ und ich versuche,
    Ich versuche an die Menschen zu denken, die mir Versteck und Schutz geboten haben,
    Ich versuche zu denken und höre und frage: Wenn ich an ihrer Stelle wäre, was würde ich tun?
    Ob ich, inmitten eines Ozeans aus Hass, angesichts einer Welt, die kollabiert und brennt,
    Ob ich dem Angehörigen eines anderen Volkes ein Versteck bieten würde?
    Ob ich bereit wäre, ob meine Familie bereit wäre,
    In ständiger Angst zu leben – sei es auf der Straße oder unter den Nachbarn,
    In den Nächten von den schweren, drohenden Schritten der Henker zu träumen
    [...]
    Und all das nicht nur eine Nacht, nicht einen Monat, sondern Jahre!
    Und all das ohne Lohn zu verlangen von den Opfern, nur ihren Handschlag.
    Und all das, nur weil der Mensch dem Menschen ein Mensch sein soll...
                                                           Haim Hefer (1925-2012)

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ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN

„…NUR SOLANGE ES
MIT DEM GEWISSEN VEREINBAR IST“
Über den palästinensischen Arzt und Politiker Haidar Abdel Shafi

Haidar Abdel Shafi (1919 – 2007)                sagte Arafat, dass er das nur so lange
gehört zu den herausragenden Persön-            mache, wie er es mit seinem Gewissen
lichkeiten der palästinensischen                vereinbaren könne. Als er 22 Monate spä-
Geschichte. Zeitlebens hat er sich              ter merkte, dass in Oslo hinter seinem
seine Unabhängigkeit bewahrt und                Rücken verhandelt wurde, trat er zurück.
wurde von allen Gruppierungen res-              Er hat die Dinge aber nie persönlich
pektiert. Sein Sohn, Salah Abdel Shafi,         genommen. Er wusste, dass so etwas im
der palästinensischer Botschafter in            politischen Spiel vorkommt.
Wien ist, erinnert sich.
                                                Welchen Preis musste er für diese
                                                Alleingänge zahlen?
Was hat Sie am meisten an Ihrem
                                                Er hat keinen Preis gezahlt. Im Gegenteil,
Vater beeindruckt?
                                                er hat viel Respekt und Achtung bei den
Mich hat seine Offenheit beeindruckt. Er
                                                normalen Menschen genossen. Der per-
war ein liberaler Mensch und hat uns Kin-
                                                sönliche Nutzen war für ihn kein Kriteri-
dern viel Spielraum bei Entscheidungen
                                                um für sein politisches Engagement. Als
gelassen. Auch in der Politik war er ein
                                                Ende 1987 die erste Intifada begann, hat
Demokrat und Freidenker. Er hat sich nie
                                                er seine Arztpraxis aus Zeitgründen aufge-
an Strukturen orientiert, sondern sich
                                                geben. Von da an hatte er aber auch kein
immer auf sein Gewissen verlassen.
                                                eigenes Einkommen mehr. Er hat seine
Ihr Vater ist von zahlreichen Ämtern            privaten Ersparnisse verbraucht, um die
zurückgetreten. Woher nahm er die               Familie zu ernähren.
Kraft für solche Alleingänge?
                                                Konnte er andere von seiner Haltung
Mein Vater sah sich nicht als Politiker son-
                                                überzeugen?
dern als palästinensischer Patriot. Er war
                                                Das weiß ich nicht. Für viele war er aber
sich bewusst, dass Politik nur von Interes-
                                                ein Vorbild, dass Politik auch anders funk-
sen gesteuert wird, nicht von Moral und
                                                tionieren kann. Er wurde von den religiö-
Prinzipien, an denen er sich orientierte. Er
                                                sen Gruppen genauso respektiert wie von
hat nie einer Partei angehört, war immer
                                                den linken Kräften. Er konnte sogar Jassir
unabhängig, auch finanziell. So musste er
                                                Arafat öffentlich kritisieren, ohne dass
keine Rücksicht auf Personen oder Struk-
                                                ihre Beziehung an Respekt und Vertrauen
turen nehmen. 1996 trat er zum Beispiel
                                                verloren hätte. Sogar zur Hamas hatte er
nach nur sechs Monaten als Abgeordneter
                                                gute Beziehzungen. Unser Haus in Gaza
des palästinensischen Legislativrats
                                                war oft der Ort, wo alle sich versammelt
zurück, weil die Exekutive das Parlament
                                                haben.
nicht respektierte. Und als Jassir Arafat ihn
1991 bat, die Friedensverhandlungen mit         Was hat ihn am meisten verletzt?
Israel zu führen, hat er lange gezögert. Er     Es war für ihn sehr schmerzhaft, sehen zu

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Foto: Palästinensische Vertretung Wien

                                                                                                             Salah Abdel Shafi
                                                                                                             beschreibt seinen
                                                                                                             Vater als Frei­
                                                                                                             denker und Demo-
                                                                                                             kraten.

                                         müssen, wo Palästina am Ende stand. Er       Ihr Vater stammt aus einem religiösen
                                         starb 2007 unmittelbar nach den Kämpfen      Elternhaus. Welche Rolle spielte der
                                         zwischen Fatah und Hamas. Ich habe mei-      Glaube in seinem Leben?
                                         nen Vater nie weinen gesehen. Über das       Mein Großvater, der Mitglied des Höchs-
                                         gegenseitige Abschlachten musste er aber     ten Islamischen Rats war, hat ihn sehr
                                         weinen. Er starb verbittert.                 geprägt. Für ihn war Bildung ein sehr
                                                                                      hohes Gut. Mein Großvater hat alles Geld
                                         Hat die Tatsache, dass Ihr Vater Arzt
                                                                                      in die Ausbildung seiner Kinder gesteckt.
                                         war, eine Rolle für sein politisches
                                                                                      Weil es für Mädchen damals noch keine
                                         Engagement gespielt?
                                                                                      Schulen gab, hat er seinen sechs Söhnen
                                         Ja, auf jeden Fall. Ich habe ihn einmal
                                                                                      aufgetragen, dass sie ihrer Schwester alles
                                         gefragt, warum es so viele Politiker gebe,
                                                                                      beibringen, was sie selbst in der Schule
                                         die auch Ärzte seien, wie etwa Che Gue-
                                                                                      lernen. So hat meine Tante perfekt Eng-
                                         vara oder George Habash. Mein Vater sag-
                                                                                      lisch gelernt. Mein Vater war gläubig. Er
                                         te damals, dass man als Arzt direkten
                                                                                      kannte sich gut im Islam und im Leben
                                         Kontakt zu den einfachen Leuten habe
                                                                                      des Propheten aus. Im Unterschied zu vie-
                                         und ihre Probleme kenne. Er war Anfang
                                                                                      len jungen Leuten hat er die Religion aber
                                         der 1950er Jahre nach seiner Facharztaus-
                                                                                      immer als ein System der Werte verstan-
                                         bildung in den USA nach Gaza zurückge-
                                                                                      den, und nicht der Rituale. Für ihn zählte,
                                         kommen, wo plötzlich überall Flüchtlinge
                                                                                      dass jemand sich ehrlich verhielt und
                                         waren. Die humanitären Probleme dort
                                                                                      nicht, dass er nach Mekka gepilgert war.
                                         waren für ihn die größte Motivation, sich
                                         politisch zu engagieren.
                                                                                        Die Fragen stellte Katja Dorothea Buck.

                                                                                                                                 11
ALLEIN GEGEN DEN STROM – QUERKÖPFE IM NAHEN OSTEN

„ES GEHT UM GERECHTIGKEIT“
Meir Margalit – Politiker, Besatzungsgegner, Friedensaktivist

Meir Margalit saß viele Jahre im Stadt-
rat von Jerusalem. Noch immer enga-
giert sich der studierte Historiker für
die Aussöhnung mit den Palästinen-
sern und informiert Besucher aus dem
Ausland über die israelische Politik
der Hauszerstörung.

D
        ie Stadtverwaltung hat ein jährli-
        ches Budget von 1 Million US-Dol-
        lar für Hauszerstörungen. Damit
kann man etwa hundert Häuser zerstö-
ren.” Das hört die Pilgergruppe aus Bayern
an ihrem letzten Tag im Heiligen Land.
Nach dem friedlichen See Genezareth,
einer meditativen Wanderung in der judä-
ischen Wüste und den Gottesdiensten an
den heiligen Stätten erleben die 40 Pilger
nun alles andere als Heiliges Land. Kurz
vor der Fahrt zum Flughafen Tel Aviv
nimmt sie Meir Margalit auf eine politi-
sche Stadtführung mit, zu einem abgeris-      waren”, stellt er klar. „Der Grund ist: Sie
senen palästinensischen Haus am Stadt-        haben es ohne Baugenehmigung gebaut.”
rand von Jerusalem, unweit der jüdischen      Dann erläutert er, was Palästinenser, die
Siedlung Har Homa.                            eine Baugenehmigung beantragen, von
                                              der Stadtverwaltung Jerusalems zu hören
   Als die Gruppe erscheint, taucht auch
                                              bekommen. Die Bandbreite der Antwor-
Siam mit einem ihrer drei Kinder auf. Die
                                              ten, für Margalit „viele Vorwände”, ist
26-jährige Palästinenserin hat bis Dezem-
                                              groß: es gebe keinen Bebauungsplan oder
ber 2011 in dem Haus gewohnt, das nun
                                              keinen Wasser- und Stromanschluss, das
wie zerbröselt daliegt. Mitten im Winter,
                                              betreffende Grundstück liege in einem
der hier im fast 800 Meter hohen judäi-
                                              Grünstreifen, der Nationalpark werden
schen Bergland ungemütlich werden
                                              solle, oder an einer historischen Stätte, die
kann, war der Abrissbagger gekommen.
                                              noch ausgegraben werden müsse.
Nun lebt die fünfköpfige Familie wenige
Meter weiter in einem Steinbau, der               Seine jahrzehntelange Erfahrung mit
ursprünglich als Hühnerstall vorgesehen       Palästinensern, die bauen wollen, fasst der
war. Der Besatzungsgegner und Friedens-       studierte Historiker so zusammen: „Die
aktivist Margalit kommt schnell zum           Stadtverwaltung weigert sich beständig,
Grund des Abrisses: „Nicht, weil sie Terro-   ihnen legales Bauen auf ihrem eigenen
risten sind oder in Angriffe verwickelt       Grundstück zu erlauben.” Also würden sie

12
nenser Bürgermeister sein wird, macht
 „Heute sind wir leider die Unterdrücker”,                         Menschen wahnsinnig, panisch.” Diese
 sagt Meir Margalit.
                                                                   Angst sei letztlich „die Motivation, die
                                                                   hinter der Hauszerstörung steckt.”

                                             Foto: Johannes Zang
                                                                      Immer wieder atmet der in Argentinien
                                                                   geborene Jude schwer, er senkt den Blick,
                                                                   wirkt niedergeschlagen. Man spürt, dass
                                                                   ihm die Politik seines Landes zu schaffen
                                                                   macht. Seit 1972 lebt er in Israel, im Yom-
                                                                   Kippur-Krieg ein Jahr später wurde er ver-
                                                                   wundet. Die darauffolgende Zeit der
                                                                   Rekonvaleszenz löste bei ihm einen radi-
                                                                   kalen Gesinnungswandel aus – und mach-
                                                                   te ihn zum Pazifisten. Mehr als 20 Jahre
                                                                   lang saß er für die auf Aussöhnung mit
                                                                   den Palästinensern bedachte Partei Meretz
                                                                   im Jerusalemer Stadtrat und engagiert sich
                                                                   seit langem beim Israelischen Komitee
                                                                   gegen Hauszerstörung ICAHD. 2008 ver-
                                                                   öffentlichte er einen Offenen Brief an
                                                                   Angela Merkel. Darin wirft er der Kanzle-
                                                                   rin vor, „eine der wichtigsten moralischen
                                                                   Lektionen des Zweiten Weltkrieges igno-
                                                                   riert” zu haben: Dass man gegen jedes
schwarz bauen, einen Neu- oder Anbau                               Regime, das ein fremdes Volk unterdrückt,
oder ein drittes Stockwerk, da die Familie                         kämpfen müsse: „Heute sind wir leider die
dringend Wohnraum benötigt. „Jedes Jahr                            Unterdrücker”, bekennt er.
bauen etwa tausend palästinensische
                                                                      Den bayerischen Pilgern sagt er: „Euer
Familien ohne Genehmigung ein Haus”,
                                                                   Hiersein ist ein politischer Akt. Ihr zeigt
erklärt der 62-jährige Israeli. Manche leb-
                                                                   Solidarität mit den Palästinensern und
ten darin Monate, andere Jahre, bis eines
                                                                   sendet eine Botschaft an die israelische
Tages die Abrissbagger auftauchten. Mar-
                                                                   Regierung: Dass dies hier nicht hinnehm-
galit kennt Familien, die nur eine halbe
                                                                   bar ist.” Dann fordert er sie auf, mit Poli-
Stunde Zeit bekamen, ihre Habseligkeiten
                                                                   tikern zu reden, Druck auf die eigene
aus dem Haus zu bringen.
                                                                   Regierung zu machen und sich durch
   Was treibt die Stadtverwaltung zu sol-                          „Holocaust- und Antisemitismus-Gerede”
chen Maßnahmen? Margalit nennt die                                 nicht einschüchtern zu lassen. „Gebt dem
hohe Geburtenrate der Palästinenser. „Um                           israelischen Druck nicht nach! Erzählt,
das Jahr 2020 werden sie die Mehrheit in                           was ihr gesehen habt! Ihr müsst die Wahr-
Jerusalem sein.“ Seine Stimme gewinnt an                           heit sagen! Es geht hier nicht um Antise-
Volumen, als er erklärt: „Der Gedanke,                             mitismus, es geht um Gerechtigkeit.”
dass in Jerusalem, der wichtigsten Stadt
für Juden in der ganzen Welt, ein Palästi-                                                     Johannes Zang

                                                                                                            13
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT

„DER NAHE OSTEN GEHT INS HERZ“
Dorothee Beck ist neue Internatsleiterin an der JLSS

Seit Anfang November leitet Dorothee
Beck das Internat der Johann-Ludwig-
Schneller-Schule (JLSS). Sie freut sich
auf die Begegnungen mit den Men-
schen. „In der arabischen Gesellschaft
gibt es viel Menschlichkeit und
Wärme“, sagt die Pädagogin, die
bereits 2011/2012 im Kindergarten der
Theodor-Schneller-Schule in Amman
gearbeitet hat.

Mit welchen Erwartungen gehen Sie
in den Libanon?

                                                                                        Foto: EMS/Katja Buck
Für mich ist es die erste richtige Leitungs-
funktion. Mich hat aber immer interes-
siert, was Leitungen machen, wenn es
unter den Kollegen nicht gut läuft. Natür-
lich frage ich mich, ob ich an der JLSS die
nötigen Impulse setzen kann, damit das
Team funktioniert. Ich möchte den Erzie-
                                                „Es geht nur im Miteinander“,
herinnen und Erziehern verständlich             sagt Dorothee Beck.
machen, dass es nur im Miteinander geht.
Welche Gedanken gehen Ihnen jetzt
                                               Wie gehen Sie damit um, dass nur
kurz vor Ihrem Umzug durch den
                                               wenige Kilometer von der Schneller-
Kopf?
                                               Schule Bürgerkrieg herrscht?
Ich frage mich, ob ich nicht zwangsläufig
                                               In den letzten Monaten habe ich immer
eine Einzelkämpferin sein werde. Ich wer-
                                               gehofft, dass sich die Situation in Syrien
de leiten und bin zudem Ausländerin. Ich
                                               und in den angrenzenden Ländern end-
spreche die Sprache nicht gut genug, um
                                               lich entspannt. Ich will nicht glauben,
immer verstehen zu können, was wirklich
                                               dass es keine Lösung gibt. Eine Woche vor
läuft. Dann rede ich gerne direkt mit den
                                               dem Abflug registriert man dann, dass
Leuten und halte viel von demokratischer
                                               man sich tatsächlich in eine sehr heikle
Zusammenarbeit. Ob das in dem Kontext
                                               Situation begibt und dass es auch für
funktioniert, muss sich zeigen. Ich frage
                                               Arbeitgeber nicht einfach ist, ein klares Ja
mich aber auch, wie ich den Kontakt zu
                                               oder Nein zu meiner Ausreise zu sagen.
den Kindern gestalten werde. Als Leitung
                                               Das Hinfahren ist belastend. Aber nicht
bin ich verantwortlich für Richtlinien und
                                               helfen zu können, ist auch sehr schwer zu
Regeln. Im Zweifelsfall werde ich die Kon-
                                               ertragen.
sequenzen bei Regelbruch festlegen.

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Was hilft Ihnen, den Schritt in eine           Portion Neugier und Abenteuerlust in den
unsichere Situation zu tun?                    Libanon. Aus meiner Zeit in J­ordanien
Ich vertraue auf die Menschen an der           weiß ich, dass ich mich als Ausländerin
Schule und auf ihre Erfahrung. Sie werden      über Hierarchiegrenzen hinwegsetzen
wissen, wann es eventuell Zeit für mich ist    darf. Ich konnte mir beispielsweise von
zu gehen. Ich habe viele arabische und         der Putzfrau zeigen lassen, wie man arabi-
israelische Filme gesehen. Sie sind von        schen Kaffee kocht, und hinterher mit
Menschen gedreht worden, die seit lan-         dem Direktor ein Gespräch auf Augenhö-
gem in einer Krisenregion leben. Mich          he führen. Ich freue mich auf die Begeg-
fasziniert, mit wie viel Gefühl, Herz und      nungen mit den Menschen, die oft viel
Witz sie die Themen angehen. Dann neh-         unmittelbarer sind als bei uns. In der ara-
me ich aber auch Dinge mit, die mir den        bischen Gesellschaft gibt es viel Mensch-
Alltag erleichtern wie etwa meine Malsa-       lichkeit und Wärme. Der Nahe Osten geht
chen. In der Malerei habe ich eine Aus-        ins Herz.
drucksform für das, was mir begegnen
                                               Was muss erreicht werden, damit Sie
wird.
                                               in drei Jahren sagen: „Es hat sich
Was werden Sie am meisten                      gelohnt“?
­vermissen?                                    Das Erzieherteam muss eine Perspektive
 Meine Gitarre. Die werde ich aus Platz-       für die pädagogische Arbeit haben. Sie
 gründen nicht mitnehmen können. Viel-         müssen das Gefühl bekommen, dass es
 leicht kaufe ich mir eine neue. Natürlich     wichtig ist, was sie tun und dass nichts
 werde ich meine Familie und Freunde           ohne sie oder an ihnen vorbei getan wer-
 vermissen, besonders die Kinder in mei-       den kann. Ich hoffe, dass sie einen Blick
 nem engeren Umfeld, die noch nicht sky-       fürs Wesentliche bekommen, auch in
 pen oder schreiben können und die mich        Momenten, in denen sie überfordert sind.
 definitiv nicht besuchen werden. Da sind      Natürlich ist mir aber auch wichtig, die
 drei Jahre eine sehr lange Zeit. Und          Situation für die Kinder zu verbessern. Vie-
 schließlich werde ich die Freiheit, die ich   les läuft schon gut, aber wo es besser lau-
 im letzten Jahr während meines Kunststu-      fen kann, sollte auch etwas passieren.
 diums in Berlin kennengelernt habe, ver-
 missen. Dort konnte ich machen, was ich          Die Fragen stellte Katja Dorothea Buck.
 wollte, ohne dass es jemand gestört hätte.       Das Interview fand wenige Tage vor der
 Jetzt werde ich an einer Schule wohnen,          Ausreise von Dorothee Beck in Stuttgart
 wo alle mich genau beobachten.                                                     statt.
Worauf freuen Sie sich besonders?
Na klar, auf all die arabischen Klischees,
die wir Europäer so lieben: die Suqs, die
Gewürze, das Essen, die Lichtverhältnisse,
die Menschen. Ich gehe mit einer großen

                                                                                        15
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT

NÄHKURS ABGESAGT                                   Ein großes Problem für die Schule ist,
                                                dass der Untergrund des Geländes stark
Khirbet Kanafar (JLSS). Aus Sicherheits-
                                                arbeitet. So hat sich beispielsweise hinter
gründen ist der Herbstkurs für alleinerzie-
                                                dem Küchengebäude der Boden um sechs
hende Flüchtlingsfrauen an der
                                                bis sieben Zentimeter gesetzt. So schwierig
Johann-Ludwig-Schneller-Schule (JLSS)
                                                diese Erdbewegungen für die Schule sind,
abgesagt worden. Angesichts der Span-
                                                sie geben doch Anlass zu der Hoffnung,
nungen in der Region schätzt die Schul-
                                                dass dadurch das befürchtete große Erdbe-
leitung das Risiko für die Frauen aus dem
                                                ben in der Region ausbleiben wird.
Flüchtlingslager als zu hoch ein, wenn sie
täglich zusammen mit ihren Kindern in
einem Bus an die Schule und wieder
zurück gebracht werden. Ein Bus könne
                                                HINWEIS ZUR BILDNUTZUNG
schnell zur Zielscheibe für Racheakte anti-     Khirbet Kanafar/Stuttgart (JLSS/EVS).
syrischer Kräfte im Libanon werden.             Ein neues libanesisches Gesetz stellt die
                                                Öffentlichkeitsarbeit der Johann-Ludwig-
   Der Kurs, bei dem alleinerziehende
                                                Schneller-Schule vor ein großes Problem.
Flüchtlingsfrauen drei Monate lang die
                                                Fotos von Schülerinnen und Schülern an
Grundlagen des Schneiderhandwerks ler-
                                                öffentlichen und privaten Schulen im
nen, soll im Frühjahr wieder aufgenom-
                                                Libanon dürfen ab sofort nicht mehr ver-
men werden. Die für den Herbstkurs
                                                öffentlicht werden, wenn die Eltern oder
zugesagten Mittel werden für Renovie-
                                                Sorgeberechtigten der Kinder nicht vorher
rungsarbeiten im Kindergarten benutzt.
                                                ihr schriftliches Einverständnis gegeben
Dort werden dann auch die Kinder der
                                                haben. Bisher hatte die JLSS bei der Anmel-
Flüchtlingsfrauen betreut, solange ihre
                                                dung der Kinder um eine allgemeine Ein-
Mütter den Kurs besuchen.
                                                verständniserklärung gebeten, dass Fotos,
                                                welche die Kinder in der Schule zeigen, zu
                                                Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit veröf-
NEUES KIRCHENDACH,                              fentlicht werden dürfen.
NEUE FENSTER                                       Das neue Gesetz sieht allerdings vor,
Khirbet Kanafar (JLSS). Die Renovierun-         dass bei jedem einzelnen Foto nun die
gen an der Johann-Ludwig-Schneller-             schriftliche Erlaubnis der Eltern einzuho-
Schule (JLSS) machen Fortschritte. Das          len ist. Das können wir in der Redaktion
Kirchendach wurde neu eingedeckt und            des Schneller-Magazins nichts leisten.
isoliert. An einigen Gebäuden wurden die        Deswegen werden wir bis auf weiteres kei-
Regenrinnen ersetzt und die Dächer repa-        ne Bilder von den Kindern an der JLSS zei-
riert. Die Schneller-Stiftung – Erziehung zum   gen. Die Verantwortlichen im Libanon
Frieden unterstützt die Schule bei diesen       sind derzeit dabei, mit Anwälten zu klä-
Maßnahmen. Des Weiteren musste die              ren, ob es einen praktikablen Weg gibt,
Wohnung für die neue Erziehungsleiterin,        wie wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser,
Dorothee Beck, renoviert werden. Aus            auch weiterhin über unser Fotomaterial
energetischen Gründen wurden alle Fens-         Einblicke in das Leben an der Schule
ter durch moderne Doppelglasscheiben            geben können.
ersetzt.

16
Foto: EMS/Katja Buck
 Bishara Tannous und Khaleda Messarweh (vordere Reihe) von der TSS zusammen mit Anne
 Romund und Uli Jäger von der Berghof Foundation

                                              tergruppen, Sportprojekten oder in regel-
NACHHALTIGE                                   mäßig stattfindenden Diskussionsrunden
FRIEDENSPÄDAGOGIK                             bearbeitet. Auch gebe es seit einiger Zeit
                                              ein Schülerparlament. „Der Austausch mit
Tübingen (EVS). Als Teil eines Experten-
                                              den anderen Mitgliedern der Experten-
teams für Friedenspädagogik haben
                                              gruppe ist sehr hilfreich. Man bekommt
Anfang Oktober fünf Mitarbeitende der
                                              immer wieder neue Ideen“, sagt Messar-
Theodor-Schneller-Schule (TSS) in Amman
                                              weh.
an einem Seminar der Berghof Foundation
in Tübingen teilgenommen. Die Gruppe,            Uli Jäger, Direktor für Friedenspädago-
zu der auch Pädagogen aus anderen schu-       gik bei der Berghof Foundation, zeigte sich
lischen und universitären Einrichtungen       sehr angetan von der guten Zusammenar-
in Jordanien gehören, trifft sich seit        beit der gesamten Gruppe und ihrer gro-
­einiger Zeit immer wieder, um über Mög-      ßen Bereitschaft zur Eigeninitiative. „Der
 lichkeiten zu sprechen, wie friedenspäda-    Austausch untereinander läuft auf einem
 gogische Ansätze konkret umgesetzt           sehr hohen Niveau ab“, sagt Jäger. Es trage
 werden können. In Deutschland infor-         zur Nachhaltigkeit der gesamten Arbeit
 mierte sich die Gruppe über hiesige Initi-   bei, dass das Team immer wieder zusam-
 ativen zur Gewaltprävention und stellten     menkomme.
 sich gegenseitig eigene Projekte in ihren
                                                 Zum Team der Berghof Foundation
 Institutionen vor.
                                              gehören neben ihm noch Anne Romund,
   Von der TSS gehören unter anderem          Musa Almunaizel sowie die Theaterpäda-
Khaleda Messarweh, die Leiterin der Tages-    gogin Hannah Reich. Zum Abschluss des
schule, und der Internatsleiter Bishara       Seminars in Deutschland bekamen die
Tannous zu dem Expertenteam. „Über die-       Teilnehmenden vom jordanischen Bot-
se Zusammenarbeit ist bei uns viel ent-       schafter Mazen Tal in Berlin Zertifikate als
standen“, sagt Khaleda Messarweh. Das         „Trainer for Civic and Nonviolent Educa-
Thema Gewalt werde an der TSS in Thea-        tion“ überreicht.

                                                                                                17
Foto: Nefia

     EVS-Mitarbeiterin Ursula Feist stellt in Berlin das Projekt „Schule schafft Hoffnung“ vor

                                                       versuchen, konstruktive Lösungen für eine
GRENZEN ÜBERWINDEN                                     bessere Flüchtlingspolitik zum Wohle aller
Stuttgart/Berlin (EVS). Das Projekt des                zu finden.
Evangelischen Vereins für die Schneller-
                                                          Ebenfalls sehr erfreulich ist das Interes-
Schulen (EVS) „Schule schafft Hoffnung.
                                                       se, das auch unsere katholischen Brüder
­Syrische Flüchtlingskinder an der Johann-Lud-
                                                       und Schwestern an unserem Projekt für
 wig-Schneller-Schule im Libanon“ zieht immer
                                                       syrische Flüchtlingskinder zeigen.
 weitere Kreise, auch über Vereins- und
                                                       Unlängst hatte der Geschäftsführer des
 Kirchengrenzen hinweg.
                                                       EVS, Uwe Gräbe, die Gelegenheit, beim
   Eines der jüngsten Beispiele ist der Auf-           Erntedankfest in der katholischen Kir-
ruf des Alumnivereins „nefia – Netzwerk                chengemeinde St. Clemens in Stuttgart-
für internationale Aufgaben“ für Absol-                Botnang über das Projekt und die
venten des „Stiftungskollegs für internati-            Schneller-Schulen zu berichten. Wir hal-
onale Aufgaben“ bzw. des „Mercator                     ten es für richtig und wichtig, die gewohn-
Kollegs“ (seit 2009) zu einer gemeinschaft-            ten Pfade zu verlassen. Die Kinder an den
lichen Spendenaktion. Bis Ende 2014 kön-               Schneller Schulen werden zu gegenseiti-
nen die Ehemaligen spenden und so                      gem Respekt zwischen Christen und Mus-
mindestens einen Schulplatz für ein                    limen erzogen, und es sollte eigentlich
syrisches Flüchtlingskind an der JLSS
­                                                      keine Frage sein, dass auch die Christen
finanzieren. Als Alumna stellte die EVS-               Respekt untereinander walten lassen soll-
Mitarbeiterin Ursula Feist das Projekt im              ten. Es passt jedenfalls nicht zu dem, was
Rahmen des September-Kolloquiums des                   ökumenisch heute notwendig ist, wenn
Mercator-Kollegs in Berlin, welches in die-            der katholische Festredner auf der EVS-
sem Jahr unter dem Schwerpunktthema                    Mitgliederversammlung in einem Brief an
„Flucht und Grenzen“ stand, vor. Ob bei                das Schneller-Magazin abwertend als
einer Podiumsdiskussion mit Bundestags-                „Repräsentant der Papstkirche“ bezeichnet
abgeordneten, einer künstlerischen Lec-                wird. Das Schicksal der Christen im Nahen
ture-Performance oder dem Besuch im                    Osten führt uns momentan mehr als deut-
Deutschen Historischen Museum – überall                lich vor Augen, dass auch wir Christen des
wurde klar, dass die Flüchtlingsfrage eine             Westens nur in respektvollem Umgang
der brennendsten Fragen unserer Zeit ist.              und in Zusammenarbeit miteinander die
Es ist ein großer Lichtblick, all die jungen           religiösen Herausforderungen des 21. Jahr-
Leute zu sehen, die dieses Thema ebenfalls             hunderts werden meistern können.
umtreibt, die es in den Fokus stellen und

18
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT

NÜCHTERNE EINTRÄGE, BEWEGENDE SCHICKSALE
Wiederentdeckt: Die Aufnahmebücher des Syrischen Waisenhauses

Im Syrischen Waisenhaus haben einst

                                                                                                Foto: EMS/Uwe Gräbe
christliche, muslimische und jüdische
Zöglinge gelebt. Das belegen zwei
Aufnahmebücher der Einrichtung, die
unlängst im Libanon wiedergefunden
wurden. Lange war man davon ausge-
gangen, dass sie in den Wirren nach
1948 verloren gegangen waren.

F
      aszinierend ist der Blick in die multi-
      konfessionelle und multireligiöse
      Zusammensetzung der Schülerschaft
des Syrischen Waisenhauses. Unter den
christlichen Konfessionen sind alle vertre-
ten: Protestanten, Griechisch-Orthodoxe,
Melkiten, Syrier, Armenier, Kopten, Latei-       Eintrag im Aufnahmebuch des Syrischen
ner und manche andere. Der erste Muslim          Waisenhauses
seit Beginn dieser Aufzeichnungen wurde
am 27.12.1890 eingetragen: „Jusef Haddad
                                                491 registriert wurden. Wie kam ein deut-
(eigentl. Mustafa Ahmed Sedan)“. Man
                                                sches Polizeipräsidium dazu, so einfach
hatte dem fünfjährigen muslimischen
                                                zwei Minderjährige nach Palästina zu ver-
Jungen aus Beit Makuba kurzerhand einen
                                                schicken? Bei den beiden handelt es sich
christlichen Namen verpasst!
                                                um Halbwaisen. Der Vater, Elias Brakha,
   Eine offenkundig erschütternde politi-       wurde 1864 in Aleppo geboren; seine bei-
sche Entwicklung verbirgt sich hinter den       den Kinder kamen 1891 und 1893 in Man-
Registrierungsnummern 209 bis 268: An           chester zur Welt. Über den Grund der
nur drei Tagen innerhalb von wenig mehr         Aufnahme heißt es im Aufnahme-Haupt-
als zwei Monaten wurden vom 20.01.1897          buch: „Der Vater Artist, als lästiger Auslän-
bis zum 27.03.1897 genau 60 armenische          der aus Berlin ausgewiesen, ist 1900 mit
Kinder aufgenommen. Wie muss man sich           Zurücklassung seiner Kinder nach Paris
eine solche Massenaufnahme vorstellen?          verzogen.“ Ob die Kinder irgendwo jemals
Wurden Matratzenlager eingerichtet? Gab         wieder Fuß gefasst haben?
es Notquartiere?
                                                                                 Uwe Gräbe
   Tragisch ist das Familienschicksal der
jüdischen Brüder Frank (11) und Jakob                 Der hier abgedruckte Text ist nur ein
Joseph (9) Brakha, die am 21. Februar 1902         Auszug, eines sehr viel ausführlicheren
vom Polizeipräsidium Berlin an das Syri-         Artikels. Der vollständige Text wird 2015
sche Waisenhaus in Jerusalem überstellt          an anderer Stelle erscheinen. Wir werden
und dort unter den Nummern 490 und                                 Sie darüber informieren.

                                                                                          19
NACHRICHTEN AUS DER SCHNELLER-ARBEIT

SOLIDARITÄT MIT DEN MENSCHEN ZEIGEN!
Flüchtlingsfrage stand im Zentrum der EVS-Mitgliederversammlung

Wenn der Evangelische Verein für die
Schneller-Schulen (EVS) zur Hauptver-
sammlung einlädt, geht es nicht nur
um Vereinsangelegenheiten. Immer
wieder ist auch die aktuelle Politik im
Nahen Osten Thema. Dieses Mal hatte
der EVS Matthias Kopp, den Presse-
sprecher der Deutschen Bischofskonfe-
renz, als Referenten eingeladen.

V
       orträge über den Nahen Osten, bei
       denen gelacht wird, sind selten.
       Matthias Kopp gelang es aber, seine
rund 60 Zuhörerinnen und Zuhörer bei

                                                                                     Foto: EMS/Katja Buck
der EVS-Mitgliederversammlung am 18.
Oktober in Ostfildern-Parksiedlung immer
wieder zum Schmunzeln zu bringen. Er
war für den ursprünglich geplanten Fest-
redner Abdallah Frangi eingesprungen, der
aufgrund der Situation in Gaza sein Kom-
men absagen musste.                           Das ewige Schweigen der Weltgemein-
                                              schaft zu den dramatischen Entwicklungen
   Der Pressesprecher der Deutschen           im Nahen Osten könne keine Option sein,
Bischofskonferenz hat im Gegensatz zu         findet Matthias Kopp.
vielen anderen Nahost-Experten einen
großen Vorteil: Er kann auf Selbsterlebtes
                                             Kopp berichten, der damals neben Fran-
an der Seite von Papst Franziskus zurück-
                                             ziskus im Auto saß.
greifen. Und der Argentinier ist für seine
Spontaneität und Eigenwilligkeit bekannt.       Das eigentliche Thema des Referats
Welche Auswirkungen diese Charakterei-       stand allerdings im deutlichen Kontrast zu
genschaften auf einem diplomatischen         der eher launigen Vortragsweise. „Explo-
Minenfeld wie dem Nahen Osten haben,         diert der Nahe Osten?“ war die zentrale
konnte Kopp anhand zahlreicher Anekdo-       Frage, der Kopp kompetent und präzise
ten deutlich machen, die ebenso erhei-       nachging. Einzeln ging er die Länder der
ternd wie aussagekräftig waren. Dass der     Region durch und zeigte auf, mit welchen
Heilige Vater bei seinem Besuch im Heili-    Herausforderungen die Menschen seither
gen Land im vergangenen Mai ohne Vor-        konfrontiert sind. Seit Beginn der Arabel-
ansage an der Trennmauer anhielten ließ,     lion vor bald vier Jahren sei die gesamte
um dort zu beten, hatte weltweit für Auf-    Region immer instabiler geworden. Der
merksamkeit gesorgt. Wie spontan diese       syrische Bürgerkrieg und das grausame
Geste aber tatsächlich war, davon konnte     Vorgehen dschihadistischer Gruppen in

20
Syrien und im Irak hätten in beiden Län-
der zu Flüchtlingsdramen ungeahnten
Ausmaßes geführt. In Jordanien lebten
heute mehr als 600.000 Syrer. 60 Prozent
davon seien unter 24 Jahren. „Das ist eine
verlorene Generation, die keine Perspek-
tive hat“, sagte Kopp. Die Flüchtlingsfrage
in Jordanien, einem der wasserärmsten

                                              Foto: EMS/Katja Buck
Länder der Welt, könne bald schon zu
sozialen Konflikten mit der jordanischen
Bevölkerung führen.
   Auch der Libanon, in dem bei einer
Gesamtbevölkerung von 4,6 Millionen
Einwohnern mehr als 1,1 Millionen
                                                       Klaus Schmid (links) dankte bei der Mitglie-
Flüchtlingen aus Syrien Zuflucht suchen,
                                                       derversammlung Helmut Hekmann für seine
stehe kurz vor dem Kollaps. Die Gefahr,                jahrelange Unterstützung der Schneller-Arbeit
dass der Bürgerkrieg auf das kleine Land               als Berater für die Berufsausbildung an den
überschwappe, sei durchaus realistisch.                beiden Schulen im Libanon und in Jordanien.
Auch sei zu befürchten, dass sich die reli-
giöse Struktur im Libanon, die Grundlage
für das politische Proporzsystem ist, durch
das Flüchtlingsproblem radikal verschiebe.
                                              INFO
                                                       Finanzielles
   Hinzu käme, dass die Verhandlungen
zwischen Israel und Palästina seit Jahren
                                                       Erfreuliche Informationen zu den Spendenein-
in einer Sackgasse steckten. Dass die
                                                       gängen 2013 konnte der Schatzmeister des
Gesellschaften in Palästina und in Israel
                                                       EVS, Reinhold Schaal, den Mitgliedern geben.
total gespalten seien, sei‘s in Anhänger
                                                       Sowohl bei den Einzelspenden als auch bei den
von Fatah und Sympathisanten von
                                                       Zuwendungen aus den Gemeinden seien deut-
Hamas, sei’s in Strenggläubige und Libe-
                                                       liche Zuwächse zu verzeichnen, sagte Schaal.
rale, mache die Situation zusätzlich kom-
                                                       Die Spendeneinnahmen von mehr als 614.000
pliziert. „Wir dürfen aber nicht nur auf
                                                       Euro lägen deutlich über dem Ergebnis des
Israel und Palästina schauen und dabei
                                                       Vorjahres (506.000 Euro). Hintergrund seien
den Irak und Syrien vergessen oder umge-
                                                       die dramatischen Entwicklungen in Syrien.
kehrt. Wir müssen die ganze Region im
                                                       Mit einem Plus von rund 73.000 Euro konnte
Blick haben“, sagte Kopp. Die internatio-
                                                       der EVS das Jahr 2013 abschließen. Der Über-
nale Gemeinschaft dürfe zu all dem nicht
                                                       schuss gehe in die Syrienhilfe der Evangeli-
länger schweigen. „Die Kirchen müssen
                                                       schen Mission in Solidarität, sagte Schaal.
bereit sein, auch die unangenehmen Fra-
gen zu stellen. Wir müssen uns mit den
Menschen solidarisch zeigen und Zeichen                Zur nächsten Mitgliederversammlung trifft
setzen“, sagte Kopp.                                   sich der EVS am 8. November 2015 in Ulm.
                                                       Für die Festpredigt im Münster ist Prälatin
                     Katja Dorothea Buck               Gabriele Wulz angefragt.

                                                                                                 21
Foto: Aziz Shalaby
  EIN ORT DES FRIEDENS
  		 INMITTEN DER GEWALT
 „..die Situation im Mittleren Osten verschlim-    Werte Gerechtigkeit, Friede und respektvolles
 mert sich von Tag zu Tag“, schreibt Pfarrer       Annehmen des jeweils Anderen beigetragen
 Dr. Habib Badr, leitender Pfarrer der Nati-       haben und dies weiterhin tun.“
 onalen Evangelischen Kirche in Beirut und            Die Schneller-Schulen sind solche Ins-
 Vorstandsvorsitzender der Johann-Ludwig-          titutionen. Damit sie diesen Aufgaben vor
 Schneller-Schule. Die gesamte Führung der         dem Hintergrund der dramatisch wach-
 Evangelischen Christen im Libanon und             senden Herausforderungen auch in
 in Syrien richtete                                                      Zukunft gerecht wer-
 einen dringenden            Helfen Sie mit Ihrer Spende, damit die      den können, brau-
 Appell an alle              Schneller-Schulen weiterhin ein Ort         chen sie unsere Hilfe.
­Evangelischen und           des Respekts und der Friedfertigkeit für        Die Lebensbedin-
 Protestantischen Kir-       Kinder, Jugendliche und alle Mitarbei-      gungen der syrischen
 chen und Organisati-        tenden der Schulen bleiben können!          Flüchtlinge im Liba-
 onen weltweit. In                                                       non sind erbärmlich.
                             Für unsere Geschwister im Nahen
 diesem erklärten sie                                                    Zum Glück konnte
                             Osten sind unser Gebet und unsere
 den Notstand ange-                                                      ein großer Teil der
                             Gaben Zeichen der Solidarität. In ihrer
 sichts der Bedrohung                                                    syrischen Flücht-
                             äußerst schwierigen Lage hoffen Sie
 der Christen und                                                        lingskinder, die die
                             auf uns. Seien Sie versichert:
 anderer Minderhei-                                                      Johann-Ludwig-Schnel-
 ten in der Region.          Jeder Beitrag hilft!                        ler-Schule besuchen,
     „Um die christliche                                                 auch ins Internat
                             Weitere Informationen schickt
 Präsenz im Mittleren                                                    aufgenommen wer-
                             Ihnen gerne Angelika Jung zu:
 Osten und ebenso die                                                    den, wo sie weitaus
                             jung@ems-online.org
 Präsenz anderer mode-                                                   besser aufgehoben
 rater Kräfte in der Regi-                                               sind. Dort erleben
 on zu unterstützen, muss eine gut durchdachte     sie, wie Christen und Muslime miteinan-
 Strategie umgesetzt werden. […] In der Vergan-    der lernen und leben können. Echte
 genheit wurde dies [..] durch die Stärkung päd-   Freundschaften entstehen, die sie auch
 agogischer und sozialer Institutionen erreicht,   durch das weitere Leben begleiten werden.
 die mit großem Nachdruck […] zur Stärkung der

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