Die WTO und das Weltern hrungssystem: eine Gewerkschaftsstrategie

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Die WTO und das Welternährungssystem

         Die WTO und das Welternährungssystem:
                           eine Gewerkschaftsstrategie

       Internationale Union der Lebensmittel-, Landwirtschafts-, Hotel-, Restaurant-, Café-
                            und Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften

                                            Genf, 2002
                                    Gedruckt auf Umweltschutzpapier

eine Gewerkschaftsstrategie                                                                      1
Die WTO und das Welternährungssystem

        Inhalt

        3   1. Einleitung: Die WTO und die «Globale Landwirtschaft»

        6   2. Die Antwort der Gewerkschaften: Eine Strategie der integrierten
               Rechte

        11 3. Die WTO-Abkommen und die globale Ungleichheit

               3.1 Die «Entwicklungsbox»
               3.2 Konsolidierung des Einflusses der Unternehmen
               3.3 Harmonisierung nach unten
               3.4 Der Angriff gegen die Kennzeichnung genetisch veränderter
                   Organismen

        18 4. Die weiteren Zusammenhänge

               4.1 Die WTO als System
               4.2 Unternehmensglobalisierung: Die Aufhebung von Schranken
               4.3 Exportabhängigkeit und Auslandsschulden

        22 5. Globale Investitionssysteme

               5.1 Investitionsregeln in der WTO
               5.2 NAFTA-Kapitel 11
               5.3 Die FTAA und bilaterale Investitionssysteme

        25 6. Schlussbetrachtung

2                                                                eine Gewerkschaftsstrategie
Die WTO und das Welternährungssystem

      1. Einleitung: Die WTO und
      die ‘Globale Landwirtschaft´

      Das Welternährungssystem von heute zu analysie-         wenn doch mehr als die Hälfte der Erwerbsbevöl-
      ren, ist gleichzeitig einfach und kompliziert. Es ist   kerung der Welt in der landwirtschaftlichen Produk-
      einfach, wenn wir uns die Bedeutung der Ernäh-          tion arbeitet? Nach Angaben der IAO verlieren in
      rung für die Aufrechterhaltung des menschlichen         jedem Jahr mindestens 170 000 Landwirtschafts-
      Lebens vor Augen führen. Jeder Mensch braucht           arbeitnehmer ihr Leben infolge eines Unfalls an ih-
      Nahrungsmittel; der Zugang zu ausreichenden, si-        rer Arbeitsstätte. Arbeitnehmern in der Landwirt-
      cheren und gehaltvollen Nahrungsmitteln ist ein         schaft droht zweimal so häufig der Tod am Arbeits-
      grundlegendes Menschenrecht. Rund 1,3 Milliar-          platz wie in jedem anderen Wirtschaftszweig. In
      den Menschen sind aktiv in der landwirtschaftli-        jedem Jahr werden 40 000 dieser Todesfälle durch
      chen Produktion tätig, und die Landwirtschaft be-       die Einwirkung von Pestiziden verursacht. Jedes
      schäftigt die Hälfte der Erwerbsbevölkerung der         Jahr erleiden schätzungsweise drei bis vier Millio-
      Welt. Hierzu gehören auch 450 Millionen unselb-         nen in der Landwirtschaft beschäftigte Menschen
      ständige Landwirtschaftsarbeitnehmer. In den Ent-       durch die gefährlichen Pestizide, die sie verwen-
      wicklungsländern bilden die Landwirtschaftsarbeit-      den müssen, schwere Vergiftungen, die auch zu
      nehmer die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung, und         Krebs und zu Beeinträchtigungen der Reproduk-
      ihr Anteil erreicht in einigen Ländern bis zu 80 Pro-   tionsfähigkeit führen können. Nur 5 Prozent der
      zent. Mehr als die Hälfte der unselbständigen Er-       1,3 Millionen Landwirtschaftsarbeitnehmer der
      werbstätigen in der Landwirtschaft der Welt sind        Welt können irgendeine Form der Arbeitsaufsicht
      Frauen, und 70 Prozent aller arbeitenden Kinder         oder einen gesetzlichen Schutz ihrer Rechte auf Si-
      sind in der Landwirtschaft beschäftigt.                 cherheit und Gesundheit in Anspruch nehmen. Und
                                                              dennoch strebt die von Institutionen wie der Welt-
      Die meisten in der landwirtschaftlichen Produktion      handelsorganisation (WTO) aggressiv geförderte
      tätigen Menschen erzeugen Nahrungsmittel. Nach          Globalisierungsagenda der Unternehmen noch
      Angaben der VN-Organisation für Ernährung und           mehr Deregulierung und noch weniger sozialen
      Landwirtschaft (FAO) erzeugen Landfrauen die            Schutz an.
      Hälfte der Nahrungsmittel der Welt und 60 bis
      80 Prozent der Nahrungsmittel in den meisten Ent-       Nach dem von der WTO so bezeichneten "Rück-
      wicklungsländern. Alle Landwirtschaftsarbeitneh-        schlag in Seattle" im Jahr 1999 startete die Vierte
      mer und Kleinbauern sind gleichzeitig Erzeuger          Ministertagung der WTO in Doha (9.-15. Novem-
      und Verbraucher von Nahrungsmitteln, und ihre           ber 2001) eine neue Runde der Handelsliberalisie-
      Existenz ist an die Existenz jener gekoppelt, die       rung. Die Gewinner dieser neuen `Doha-Entwick-
      die von ihnen erzeugten Nahrungsmittel verbrau-         lungsrunde´ sind ganz eindeutig die transnationa-
      chen. Dies ist ein ganz einfacher, aber grundlegen-     len Konzerne (TNKs), die die Weltwirtschaft domi-
      der Zusammenhang innerhalb des Welternährungs-          nieren. Hierzu gehört auch die Landwirtschafts-
      systems.                                                und Nahrungsmittelverarbeitungsbranche, in der
                                                              durch Fusionen und Übernahmen einige globale
      Wenn man das Welternährungssystem mit dem ge-           Konzerne die Kontrolle übernommen haben. Kon-
      sunden Menschenverstand erfassen will, stellen          zerne, die Saatgut liefern, haben mit Unternehmen
      sich zunächst einige elementare Fragen. Warum           der Agrochemie und der Biotechnologie fusioniert
      hungern heute 820 Millionen Menschen, wenn der          und damit das Welternährungssystem neu ausge-
      Zugang zu sicheren, gehaltvollen Nahrungsmitteln        richtet. Robert Fraley, der Präsident der Saatgut-
      so wichtig ist? Warum hungern Menschen in nah-          sparte von Monsanto hat hierzu festgestellt: "Dies
      rungsmittelexportierenden Ländern und warum sind        ist keine bloße Konsolidierung von Saatgutfirmen,
      Landwirtschaftsarbeitnehmer schlecht ernährt?           sondern in Wirklichkeit eine Konsolidierung der
      Warum gehören unselbständige Landwirtschafts-           gesamten Nahrungsmittelkette"1 .
      arbeitnehmer und Kleinbauern zu den Ärmsten der
      Welt, wenn sich der Wert der jährlichen weltwei-        Aufgrund dieser Kontrolle der gesamten Nahrungs-
      ten Ausfuhren von landwirtschaftlichen Erzeugnis-       mittelkette können Konzerne wie Du Pont in ihre
      sen auf 545 Milliarden US-Dollar beläuft?               "Liste der Dinge, die für den Planeten zu tun sind"
                                                              auch die simple Aufgabe aufnehmen, die darin be-
      Warum sind die Bedingungen, unter denen Nah-            steht, "den Planeten zu ernähren". In Wirklichkeit
      rungsmittel erzeugt werden, für die Gesundheit          bedeutet dies jedoch, dass die Menschen sich
      und das Wohl dieser Menschen so schädlich,              ohne Riesenkonzerne wie Du Pont immer weniger

eine Gewerkschaftsstrategie                                                                                         3
Die WTO und das Welternährungssystem

        selbst ernähren können, da sie immer abhängiger        stertagung in Doha erklärte Präsident Bush: "Ich
        von den Erzeugnissen und Produktionsmethoden           möchte, dass Amerika die Welt ernährt. Wir lassen
        der TNKs werden. In diesem Sinne ist die Nah-          einige große Möglichkeiten ungenutzt, nicht nur in
        rungsmittelkette mit einem Schloss versehen, und       unserer Welthälfte, sondern in der ganzen Welt"2 .
        die TNKs haben den Schlüssel dazu. Dies ist das        So werden die globale Menschheitskrise und die
        Ziel ist, zu dem uns die Globalisierung der Unter-     umfassende Verletzung des Rechts der Menschen
        nehmen hinführen will und die neue WTO Runde           auf Zugang zu ausreichenden, sicheren und ge-
        wird uns dort noch rascher hinbringen.                 haltvollen Nahrungsmittel zu einer Chance für die
                                                               Unternehmen umdefiniert. Zu denen, die `von
        Dies alles sind keine philosophischen Fragen oder      Amerika ernährt´ werden sollen (d.h. von den US-
        Gedanken über die Moral unserer Zeit. Es sind          amerikanischen Agrarkonzernen), gehören die
        vielmehr einige der elementarsten politischen Fra-     Kleinbauern und Landwirtschaftsarbeitnehmer in al-
        gen, die in bezug auf das System, in dem wir le-       ler Welt, deren Lebensgrundlage durch Wettbe-
        ben, gestellt werden müssen. Sie wiederum werfen       werb, fallende Rohstoffpreise, Schulden und Ver-
        eine andere grundlegende Frage auf: Wenn dies          drängung infolge des Preisdumpings der Agrarkon-
        heute für Milliarden von Menschen die drängend-        zerne und ihrer eigenen Abhängigkeit von überteu-
        sten Probleme sind, warum ist dann die WTO so          erten Düngemitteln und überteuertem Saatgut ver-
        sehr bemüht, diese noch zu verschärfen? In der ab-     nichtet wurde. Hinzu kommt, dass 30 Millionen
        schließenden Ministererklärung der WTO wurden          Menschen in den USA, die Hunger leiden – darun-
        Hunger und Unterernährung, Ernährungssicherheit        ter mehr als 4 Millionen unterernährte Menschen in
        und nachhaltige Landwirtschaft als "Nicht-Handels-     dem nahrungsmittelexportierenden Bundesstaat Ka-
        fragen" nur am Rande erwähnt. Auf die Arbeitsbe-       lifornien – genau wissen, dass erst, wenn ihr Hun-
        dingungen in der Landwirtschaft wurde überhaupt        ger zu einer Chance für die Unternehmen wird,
        nicht eingegangen. Statt ernsthafte Versuche zu un-    "Amerika Amerika ernährt".
        ternehmen, diese Probleme anzugehen, befassten
        sich die Handelsgespräche in erster Linie damit,       Für die Regierung der USA bedeuten die Ernäh-
        wie mehr Druck auf Landwirtschaftsarbeitnehmer         rung der Hungernden in der Welt und die Förde-
        und Kleinbauern ausgeübt werden könne, damit           rung der US-amerikanischen Landwirtschaftsex-
        sie konkurrenzfähiger würden, und wie sie noch         porte ein und dasselbe. Wie Bush sagte: "Zu-
        stärker einem unbeständigen, schwankenden              nächst muss man eine Regierung haben, die ge-
        Markt ausgesetzt werden könnten. Es ist dies der-      willt ist, Handelsschranken niederzureißen, und
        selbe Markt, der Hunderttausende von Kleinbauern       genau das tun wir".
        und Landwirtschaftsarbeitnehmern durch fallende
        Preise für Kaffee, Zucker und andere landwirt-         Was aber sind diese "Schranken", wie werden sie
        schaftliche Erzeugnisse von ihrem Land verdrängt       "niedergerissen", und was sind die Folgen?
        und arm gemacht hat. Hunger und die Notwendig-
        keit, Millionen von Menschen Zugang zu Nah-            Kurz nach der WTO-Tagung in Doha machte die
        rungsmitteln zu verschaffen, sind zwar zwei der        US-amerikanische Landwirtschaftsministerin Ann
        größten Herausforderungen, denen wir uns gegen-        M. Veneman klar und deutlich, dass zu diesen
        übersehen, doch auf der Agenda der WTO hat die         "Schranken" auch Bemühungen der Regierungen
        Frage Vorrang, wie der "Marktzugang" so gestal-        zum Schutz der Gesundheit gehörten, mit denen
        tet werden kann, dass sich die Macht und die Ge-       gewährleistet werden solle, dass die Verbraucher
        winne der Konzerne in der Agro-Nahrungsmittelin-       das Recht hätten, sich gegen genetisch veränderte
        dustrie konsolidieren.                                 Nahrungsmittelerzeugnisse zu entscheiden. Vene-
                                                               mann kritisierte insbesondere die Entscheidung der
        1996 hat der Welternährungsgipfel seinen Plan          EU, genetisch veränderte Nahrungsmittel streng zu
        verkündet, den Hunger in der Welt bis 2015 um          regulieren und eine Kennzeichnungspflicht für ge-
        die Hälfte zu vermindern. Doch in den Handels-         netisch veränderte Nahrungsmittelerzeugnisse ein-
        gesprächen der WTO wurden wesentlich kürzere           zuführen. Ebenso wie andere Formen des Umwelt-
        Fristen für die Ausweitung des globalen Agrarge-       und Sozialschutzes werden auch Beschränkungen
        schäfts festgelegt. Die Frist für die Halbierung des   für genetisch veränderte Produkte als "Schranken"
        Hungers in der Welt läuft erst in 15 Jahren ab, die    betrachtet, die niedergerissen werden müssen oder
        rasche Marktliberalisierung in der Landwirtschaft      erst gar nicht errichtet werden dürfen.
        soll jedoch bereits in 15 Monaten erreicht werden
        – wobei für die Fünfte Ministertagung der WTO in       In der gleichen Rede betonte Veneman, dass "...
        Mexiko Mitte 2003 neue Verpflichtungen vorgese-        nicht hingenommen werden kann, dass Nicht-Han-
        hen sind.                                              delsfragen wesentliche WTO-Bestimmungen aus-
                                                               höhlen oder uns von unserem primären Ziel ablen-
        Hunger und Unterernährung finden nur Beachtung,        ken". Dieses Ziel besteht nicht darin, das universa-
        wenn das Problem zum Nutzen der Agrarwirt-             le Recht auf ausreichende, sichere und gehaltvolle
        schaft formuliert werden kann. Vor der WTO-Mini-       Nahrungsmittel zu gewährleisten oder eine nach-

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Die WTO und das Welternährungssystem

      haltige Landwirtschaft zu fördern, die Millionen         Die Vision der "globalen Landwirtschaft" lässt völ-
      ihren Lebensunterhalt bietet, sondern vielmehr dar-      lig die immanenten Sozial- und Umweltkrisen des
      in, eine "globale Landwirtschaft"3 zu schaffen.          derzeitigen Welternährungssystems und ihre ge-
      Nach dieser globalen Vision "muss eine künftige          waltigen Kosten in Gestalt von Menschenleben au-
      Landwirtschaftspolitik marktorientiert sein ... Sie      ßer Acht. Bezeichnenderweise werden die Rechte
      muss die Landwirtschaft in die globale Wirtschaft        und Existenzen der Millionen Arbeitnehmer in der
      integrieren und sie nicht von ihr isolieren". Vor die-   Landwirtschaft und in der nahrungsmittelverarbei-
      sem Hintergrund kommt dem WTO-Landwirtschafts-           tenden Industrie, der Subsistenzfarmer und der
      abkommen und den Abkommen über sanitäre und              Kleinbauern, auf deren Arbeit das gesamte System
      phytosanitäre Standards (SPS) und Technische Han-        aufbaut, völlig ignoriert.
      delsschranken (TBT) eine zentrale Rolle bei der Be-
      seitigung von Schranken und der Konsolidierung           Und genau deshalb muss die Gewerkschaftsbewe-
      der Beherrschung des Welternährungssystems               gung die Herausforderung annehmen, eine langfri-
      durch die globalen Konzerne zu.                          stige, umfassende Strategie zu entwickeln, um si-
                                                               cherzustellen, dass das Welternährungssystem in
      Ungeachtet einiger Meinungsunterschiede darüber,         erster Linie darauf ausgerichtet ist, das Recht auf si-
      wann und wie die Landwirtschaft liberalisiert wer-       chere Ernährung, Nahrungsmittelsicherheit und
      den sollte und die Interessen der Agrarindustrie ge-     Nahrungsmittelsouveränität sowie die Rechte und
      fördert werden müssten, unterstützte die Mehrheit        den Lebensunterhalt der in der Nahrungsmittel-
      der auf der WTO-Tagung in Doha vertretenen Re-           produktion tätigen Menschen zu gewährleisten.
      gierungen stillschweigend die von der US-Regie-
      rung entwickelte Vision einer marktorientierten und
      kommerzialisierten "globalen Landwirtschaft". Mit
      wenigen Ausnahmen stritten die Verhandlungs-
      führer in erster Linie darüber, wer welchen Anteil       1
                                                                   Zitiert in The Guardian, 15. Dezember 1997.
      der Gewinne aus der "globalen Landwirtschaft" er-
      halten solle, nicht jedoch über die Verletzung der       2
                                                                   New York Times, 19. Juni 2001.
      Rechte der arbeitenden Menschen im Zuge des
      zerstörerischen Prozesses der Globalisierung der         3
                                                                Rede der Landwirtschaftsministerin der USA Ann
      Landwirtschaft.                                          M. Veneman, Oxford, VK, 3. Januar 2002.

eine Gewerkschaftsstrategie                                                                                              5
Die WTO und das Welternährungssystem

        2. Die Antwort der Gewerkschaften:
        Eine Strategie der integrierten Rechte

        Was tun wir als Gewerkschaften, die die Interessen    vielmehr den Versuch, den Rahmen für eine Ge-
        der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft und der        werkschaftsstrategie zu entwickeln. Dabei wird zu-
        Nahrungsmittelindustrie organisiert vertreten und     nächst von einer Reihe von Grundsätzen und Zie-
        die Interessen der marginalisierten Farmer und        len ausgegangen – die eine Festlegung auf Rechte
        Kleinbauern unterstützen, um auf diese Herausfor-     darstellen – mit deren Hilfe die Auswirkungen der
        derungen zu reagieren?                                WTO auf das Welternährungssystem bestimmt und
                                                              die Herausforderungen ermittelt werden, denen
        Es genügt nicht, diese Probleme als `Gegenstände´     sich Landwirtschaftsarbeitnehmer und Kleinbauern
        in die Liste der Dinge aufzunehmen, mit denen sich    gegenübersehen. Was hier dargelegt wird, sind
        unsere Gewerkschaften befassen müssen. Wir be-        eine auf integrierten Rechten beruhende Strategie
        nötigen vielmehr eine Strategie, die ein kritisches   zum Verständnis der Auswirkungen des WTO-Land-
        Verständnis der WTO, der Globalisierung und der       wirtschaftsabkommens und insbesondere der Kon-
        Landwirtschaft entwickelt, die das, was geschieht,    sequenzen der neuen Verhandlungsrunde, die in
        erläutert, und den Grundstein für die Reaktionen      der Fünften WTO-Ministerkonferenz in Mexiko im
        der Gewerkschaften legt. Solche Reaktionen umfas-     Jahr 2003 gipfeln wird, sowie ein Rahmenplan für
        sen Strategien und Taktiken, die komplexen Proble-    die Schulung und Mobilisierung unserer Mitglieder.
        men Rechnung tragen müssen, ohne sich in techni-
        schen Einzelheiten und nebensächlichen Diskussio-     Eine Vorgehensweise besteht darin, eine Reihe kol-
        nen zu verlieren. Wie nachstehend (in Abschnitt 4)    lektiver Rechte festzulegen, die so viele Probleme
        gezeigt wird, ist die Behandlung der WTO-Abkom-       wie möglich abdecken, wobei diese Reihe jedoch
        men als Rechtstexte, die technisches Verständnis      übersichtlich und zu bewältigen sein muss. Diese
        und fachliches Wissen erfordern, eine Art der         Rechte sollten als Paket behandelt werden, untrenn-
        Selbstbeschränkung, die den Einfluss und die Poli-    bar nicht nur im Prinzip, sondern auch in der Pra-
        tik der WTO unberücksichtigt lässt.                   xis. Dies ist wichtig, weil eine Gruppe von Rechten
                                                              nicht ohne die anderen verwirklicht werden kann.
        Damit unsere Strategie für unsere Mitglieder kon-     Da die Probleme, denen wir uns gegenübersehen,
        krete Folgen hat, muss sie ein Bild der Globalisie-   vielfältig sind und mit einer langen Reihe anderer
        rung der Landwirtschaft und der WTO vermitteln,       Probleme zusammenhängen, benötigen wir eine
        das ihre Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und        integrierte Strategie, mit der auf eine Vielfalt von
        Kleinbauern in aller Welt verständlich macht. Dar-    Problemen reagiert werden kann.
        über hinaus muss sie ein Leitfaden für Gewerk-
        schaften sein, an dem sie ihre lokalen Reaktionen     Das Prinzip der voneinander abhängigen, untrenn-
        ausrichten können. Wir benötigen eine gemeinsa-       baren Rechte ist keinesfalls neu. Dieser Begriff wird
        me Agenda, die die internationale Solidarität         bereits in der Allgemeinen Erklärung der Men-
        stärkt und ein international koordiniertes Vorgehen   schenrechte aus dem Jahr 1948 verwendet. Die
        ermöglicht, wobei aber gleichzeitig eine Vielfalt     FAO hat in bezug auf die Untrennbarkeit dieser
        von Strategien und Taktiken auf nationaler und lo-    Rechte folgendes erklärt:
        kaler Ebene zu berücksichtigen und zu fördern
        sind.                                                 Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschen-
                                                              rechte proklamierten bürgerlichen, kulturellen, wirt-
        In der Einleitung haben wir festgestellt, dass die    schaftlichen, politischen und sozialen Rechte gelten
        WTO und die neoliberale Politik im allgemeinen        als voneinander abhängig, miteinander verbun-
        die Arbeitsbedingungen und das Leben arbeiten-        den, unteilbar und gleich wichtig. Um das Recht
        der Menschen gefährden und ihnen den Zugang           auf Ernährung in vollem Umfang nutzen zu kön-
        zu ausreichender, gesunder und gehaltvoller Er-       nen, benötigen die Menschen Zugang zu Gesund-
        nährung verwehren. Um es anders zu formuieren,        heitsfürsorge und Bildung, Achtung ihrer kulturellen
        verweigern die WTO und die neoliberale Politik        Werte, das Recht auf Eigentum und das Recht, sich
        das Recht auf ausreichende, sichere und gehalt-       wirtschaftlich und politisch zu organisieren.
        volle Ernährung.
                                                              Dieses Argument der voneinander abhängigen und
        Diese Abhandlung stellt keine umfassende Analyse      unteilbaren Rechte gilt auch für den Internationa-
        der WTO-Abkommen und ihrer Folgen für Ernäh-          len Pakt der VN über wirtschaftliche, soziale und
        rung und Landwirtschaft dar, sondern unternimmt       kulturelle Rechte (1966). Artikel 8 dieses Paktes

6                                                                                    eine Gewerkschaftsstrategie
Die WTO und das Welternährungssystem

      gewährleistet das Recht, Gewerkschaften zu bilden      in der Praxis die Rolle der Arbeitnehmer berück-
      und einer frei gewählten Gewerkschaft beizutreten,     sichtigen, die diese Nahrungsmittel anbauen und
      sowie das Streikrecht, während Artikel 11 das          verarbeiten. Unabhängig davon, ob es sich um ge-
      Recht auf eine angemessene Ernährung gewähr-           fährliche Pestizide oder die Beschleunigung der
      leistet.                                               Produktionsbänder handelt, muss der Schutz des
                                                             Rechtes auf sichere Nahrungsmittel nicht im Regal,
      Eine gewerkschaftliche Reaktion, die Arbeitnehmer-     sondern auf den Feldern und in den Fabriken be-
      und Gewerkschaftsrechte mit Ernährungsrechten          ginnen. So besteht beispielsweise ein unmittelbarer
      koppelt, geht jedoch über bloße Prinzipien hinaus      Zusammenhang zwischen dem weitverbreiteten
      und zielt auf die Praxis an der Basis ab. Eine inte-   Problem der Schädigungen durch repetitive Bela-
      grierte Strategie ist nicht nur notwendig, weil uns    stungen und den hohen Unfall- und Todesfallraten
      das Welternährungssystem mit einem breiten Spek-       in der nahrungsmittelverarbeitenden Industrie einer-
      trum von Herausforderungen konfrontiert, sondern       seits und dem hohen Produktionstempo und der In-
      auch wegen der Natur der Nahrungsmittelkette           tensität der Arbeit andererseits. Ebenso hat die Ver-
      selbst, in der die Interessen der Arbeitnehmer und     dopplung und Verdreifachung der Geschwindigkeit
      der Verbraucher unauflösbar miteinander verbun-        der Schlacht- und Verarbeitungsbänder in den letz-
      den sind.                                              ten Jahrzehnten ganz entscheidend zu einer drasti-
                                                             schen Zunahme der Ursachen für die steigende
      Nur allzu häufig wird das Recht auf sichere Nah-       Zahl der Fleischvergiftungen beigetragen. Ein Pro-
      rungsmittel als ein Prinzip behandelt, das in multi-   duktionssystem, das die Gesundheit und Sicherheit
      lateralen Vereinbarungen wie dem WTO-Landwirt-         der Arbeitnehmer gefährdet, trägt auch zu unsiche-
      schaftsabkommen verankert werden muss. Natür-          ren Nahrungsmitteln bei. Das Recht auf sichere
      lich ist es ein wichtiges Prinzip, doch muss jede      Nahrungsmittel lässt sich daher nicht von dem
      ernst gemeinte Maßnahme zu seiner Durchsetzung         Recht der Arbeitnehmer in der Nahrungsmittelver-

            IAO-Übereinkommen für die Landwirtschaft
            Übereinkommen Nr. 87: Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes
            Übereinkommen Nr. 98: Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen
            Übereinkommen Nr. 29: Zwangsarbeit
            Übereinkommen Nr. 105: Abschaffung der Zwangsarbeit
            Übereinkommen Nr. 100: Gleichheit des Entgelts
            Übereinkommen Nr. 111: Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf)
            Übereinkommen Nr. 138; Mindestalter
            Übereinkommen Nr. 11: Vereinigungsrecht (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 141: Verbände ländlicher Arbeitskräfte
            Übereinkommen Nr. 129: Arbeitsaufsicht (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 99: Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 101: Bezahlter Urlaub (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 25: Krankenversicherung (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 36: Altersversicherung (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 38: Invaliditätsversicherung (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 40: Hinterbliebenenversicherung (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 12: Entschädigung bei Betriebsunfällen (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 10: Mindestalter (Landwirtschaft)
            Übereinkommen Nr. 110: Plantagenarbeit

eine Gewerkschaftsstrategie                                                                                          7
Die WTO und das Welternährungssystem

        arbeitung trennen, Gewerkschaften zu bilden und         schaft auf, bei dem die Nahrungsmittelproduktion
        Kollektivverhandlungen zu führen, um ein sicheres       zum Nutzen der Konzerne Vorrang gegenüber
        Arbeitsumfeld zu gewährleisten. Und wenn eine           dem Gemeinwohl der Bevölkerung insgesamt hat.
        Reihe von Rechten in der Praxis nicht von anderen
        Rechten getrennt werden kann, kann eine solche          Das Recht auf Ernährungssicherheit allein reicht je-
        Trennung auch nicht im Rahmen einer Strategie           doch nicht aus, wenn Ernährungssicherheit zu eng
        vorgenommen werden, die darauf abzielt, das             als die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln definiert
        Recht auf Nahrungsmittelsicherheit auf internatio-      wird. Wichtige Faktoren sind nämlich auch, wer
        naler Ebene zu verankern. Genau deshalb muss            diese Nahrungsmittel produziert, wie sie produ-
        das neue IAO-Übereinkommen über Arbeitsschutz           ziert werden sowie die langfristige Nachhaltigkeit
        in der Landwirtschaft (das im Juni 2001 angenom-        und Fähigkeit der Aufrechterhaltung einer ange-
        men wurde, aber noch ratifiziert werden muss) von       messenen Nahrungsmittelversorgung. Der Begriff
        Gewerkschaften, Kleinbauernverbänden und Ver-           der Ernährungssicherheit wurde in den WTO-
        braucherorganisationen in gleicher Weise als In-        Ministerbeschluss von Marrakesch aufgenommen,
        strument zur Förderung nicht nur der Rechte der         dabei jedoch als Verfügbarkeit von Nahrungsmit-
        Landwirtschaftsarbeitnehmer, sondern des Rechts         teln auf dem Markt und nicht als ausreichende
        aller arbeitenden Menschen auf gute, sichere Er-        Nahrungsmittel für die Bevölkerung oder ausrei-
        nährung genutzt werden.                                 chender Ernährungswert definiert. In der Praxis er-
                                                                laubt es der Beschluss von Marrakesch Entwick-
        Die Bemühungen um die Verbindung der Rechte             lungsländern, die Netto-Nahrungsmittelimporteure
        der Nahrungsmittelarbeitnehmer mit dem Recht auf        sind, nur, staatliche Unterstützung und direkte Zah-
        gesunde, sichere Ernährung sind nicht neu. Die IUL      lungen für die Einfuhr von Nahrungsmitteln zu lei-
        verteidigt und fördert seit langem ein umfassendes      sten, wenn ein Mangel besteht. In anderen Wor-
        Paket von Rechten im Zusammenhang mit der Er-           ten, Entwicklungsländer können die Einfuhr kom-
        zeugung, dem Vertrieb und dem Verbrauch von             merzieller Nahrungsmittel subventionieren, wäh-
        Nahrungsmitteln. Hierzu gehört das Recht auf aus-       rend die Subvention der lokalen Nahrungsmittel-
        reichende, sichere und gehaltvolle Ernährung, wo-       produktion verboten ist. Dieser Widerspruch war
        bei die Nahrungsmittelproduktion auf die Erfüllung      der Nährboden für das Argument, dass echte
        menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist. Artikel 2,   Ernährungssicherheit nur durch Ernährungssouve-
        Absatz 6 der IUL-Satzung lautet:                        ränität gewährleistet werden kann.

        Innerhalb ihres besonderen Tätigkeitsbereichs wird      Der Begriff der Ernährungssouveränität ist verhält-
        die IUL aktiv die Organisation der Nahrungshilfs-       nismäßig neu und wurde 1996 gezielt als Reakti-
        quellen der Welt zum gemeinsamen Wohl der ge-           on auf die Bedrohung geprägt, die die WTO für
        samten Bevölkerung fördern, und sie wird eine an-       die Fähigkeit armer Länder bedeutete, eine ange-
        gemessene Beteiliung der Arbeitnehmer- und Ver-         messene Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu
        braucherinteressen in allen Stadien der nationalen      bieten und aufrechtzuerhalter. Vor diesem Hinter-
        oder internationalen Politik im Zusammenhang mit        grund ist die bloße Verfügbarkeit von Nahrungsmit-
        der Produktion, Verarbeitung und Verteilung der         teln (im Sinne der Ernährungssicherheit) nicht mehr
        Güter der Nahrungs- und Genussmittelwirtschaft          ausreichend, da hierbei die Quelle dieser Nah-
        anstreben.                                              rungsmittel und die von ihrer Erzeugung und Nut-
                                                                zung abhängigen Existenzen völlig außer Acht ge-
        Das Bemühen um "angemessene Beteiligung der             lassen werden. Eine brauchbare Definition des Be-
        Arbeitnehmer- und Verbraucherinteressen in allen        griffs Ernährungssouveränität enthält die Schluss-
        Stadien der nationalen oder internationalen Politik"    erklärung des Weltforums über Ernährungssouve-
        ist die Formulierung eines besonderen Rechtes –         ränität, die am 17. September 2001 in Havanna,
        nämlich des Rechtes der Arbeitnehmerorganisatio-        Kuba, verabschiedet wurde:
        nen, gemeinsam mit Verbrauchervertretungen na-
        tionale, supranationale und internationale ernäh-       Ernährungssouveränität ist das Mittel, um Hunger
        rungspolitische Maßnahmen zu gestalten. In der          und Unterernährung zu beseitigen und dauerhafte
        folgenden Darstellung der WTO und des Welt-             und nachhaltige Ernährungssicherheit für alle Men-
        ernährungssystems wird jedoch gezeigt, dass die         schen zu gewährleisten. Wir definieren Ernäh-
        WTO dieses Recht systematisch ausschließt, indem        rungssouveränität als das Recht der Menschen,
        sie die Möglichkeiten für Arbeitnehmer- und Ver-        ihre Maßnahmen und Strategien für die nachhal-
        brauchervertretungen vermindert, die Ernährungs-        tige Produktion, die Verteilung und den Verbrauch
        politik mitzugestalten, um so die Macht und die In-     von Nahrungsmitteln selbst zu bestimmen, die das
        teressen der Konzerne in den Bereichen Agro-Nah-        Recht auf Ernährung für die gesamte Bevölkerung
        rungsmittel, Chemie und Biotechnologie zu för-          gewährleisten, und zwar auf der Grundlage klei-
        dern. Darüber hinaus zwingt die WTO in allen Sta-       ner und mittlerer Produktionseinheiten, die ihre
        dien der nationalen und internationalen Politik ein     eigenen Kulturen und die Vielfalt der bäuerlichen,
        Modell der marktorientierten industriellen Landwirt-    fischereitechnischen und eingeborenen Formen der

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Die WTO und das Welternährungssystem

      landwirtschaftlichen Produktion, des Vertriebs und      fahren, die auf Rechten beruhen und die, wenn sie
      der Verwaltung ländlicher Gebiete, bei denen            denn aufgenommen würden, das Landwirtschafts-
      Frauen eine grundlegende Rolle spielen, respek-         abkommen für die Unternehmensinteressen, die sei-
      tieren.                                                 ne Ausarbeitung bewirkt haben, nutzlos machen
                                                              würden.
      Wenn wir diesen Begriff der Ernährungssouveräni-
      tät mit der Ernährungssicherheit kombinieren und        Dies wirft die Frage auf, wie unsere Strategie die
      eine wichtige Gruppe von Rechten einbeziehen,           bestehenden internationalen Verträge nutzen kann,
      die die Rechte arbeitender Menschen in ihrer Ei-        die diese Rechte sichern sollen. Es gibt eine kon-
      genschaft als unselbständige Arbeitnehmer, Klein-       krete Grundlage für das Argument, dass diese Ver-
      und Subsistenzfarmer und Verbraucher vereinen,          träge – wie etwa die IAO-Übereinkommen, die
      kann die folgende Gruppe integrierter Rechte die        grundlegende Gewerkschafts- und Arbeitnehmer-
      Grundlage für eine Gewerkschaftsstrategie bilden:       rechte sowie die Rechte der Landwirtschaftsarbeit-
                                                              nehmer gewährleisten (siehe Seite 7) – Vorrang ge-
      √   Das Recht auf ausreichende, gehaltvolle und si-     genüber den WTO-Abkommen haben sollten.
      chere Nahrungsmittel                                    Wichtiger ist in diesem Zusammenhang die zentra-
                                                              le Rolle der nationalen Regierungen bei der Ge-
      √  Das Recht auf Ernährungssicherheit und Ernäh-        währleistung dieser kollektiven Rechte, weil diese
      rungssouveränität                                       Rechte weitgehend nur auf nationaler und sub-na-
                                                              tionaler Ebene institutionell gewährleistet und
      √    Das Vereinigungsrecht und das Recht zu Kol-        durchgesetzt werden können.
      lektivverhandlungen
                                                              Wir können die Strategie – und ihre Vorteile – wie
      √  Das Recht auf ein sicheres Arbeits- und Lebens-      folgt zusammenfassen:
      umfeld
                                                              • Mit Hilfe einer Strategie, die auf integrierten
      √   Das Recht auf Schutz des Lebensunterhalts           Rechten beruht, können die Auswirkungen der glo-
                                                              balen Handels- und Investitionssysteme sowie die
      Wenn wir von diesen grundlegenden integrierten          erforderlichen Kollektivmaßnahmen bestimmt wer-
      Rechten ausgehen, können wir als nächstes ent-          den.
      scheiden, ob Vereinbarungen wie das Landwirt-
      schaftsabkommen und die WTO im allgemeinen              • Die Unterdrückung dieser Rechte deckt die poli-
      mit diesen Rechten vereinbar sind. Wir müssen die       tischen und wirtschaftlichen Überlegungen auf, die
      Frage stellen, ob diese globalen Regeln für eine        dem WTO-Landwirtschaftsabkommen und ähnli-
      "globale Landwirtschaft" irgendeines dieser Rechte      chen Systemen zugrunde liegen.
      verweigern oder einschränken und ob sie neben
      diesen Rechten bestehen können. Eine Strategie,         • Diese Rechte werden nicht nur als Gruppe von
      die sich auf integrierte Rechte stützt, würde dazu      Prinzipien, sondern auch als Ziele einer gewerk-
      dienen, das Bewußtsein für wesentliche Aspekte          schaftlichen Reaktion behandelt.
      des heutigen Welternährungssystems und die Aus-
      wirkungen der Unternehmensglobalisierung zu             • Diese Rechte sind keine passiven Grundsätze,
      schärfen. Sie zwingt uns dazu, die Widersprüche         sondern Instrumente für die arbeitenden Menschen,
      zwischen den Forderungen und den Realitäten des         mit deren Hilfe sie sich wehren und die heutige Ar-
      Welternährungssystems zu durchdenken und die            mut, Verletzlichkeit und Unsicherheit überwinden
      Strategie und Taktik für die Erreichung unserer Zie-    können.
      le genau auszuarbeiten.
                                                              • Diese Rechte sind notwendig, um die demokra-
      Es ist nicht das vorrangige Ziel dieser Strategie zu    tische Kontrolle zu verstärken und kollektive Fähig-
      entscheiden, ob die Aufnahme dieser Rechte in           keiten zu entwickeln.
      das Landwirtschaftsabkommen angestrebt werden
      sollte oder nicht, oder sich in eine unergiebige Dis-   • Eine auf Rechten beruhende Strategie ist not-
      kussion über `Reform oder Abschaffung´ einzulas-        wendig, um Ungleichheiten und Unausgewogen-
      sen. Vielmehr soll mit ihr aufgezeigt werden, wie       heiten zwischen und innerhalb von Ländern zu kor-
      unvereinbar diese Rechte mit dem Landwirtschafts-       rigieren.
      abkommen und dem umfassenderen globalen Han-
      dels- und Investitionssystem sind. Das Schwerge-        • Gleichzeitig hilft uns eine auf Rechten beruhen-
      wicht unserer Strategie ist nicht die Durchleuchtung    de Strategie, die systembedingten und globalen
      der technischen Einzelheiten des Abkommens oder         Verletzungen der Arbeitnehmerrechte in den Vor-
      die Einführung anderer Formulierungen, sondern          dergrund zu stellen und damit eine Beschränkung
      vielmehr das aggressive Bemühen um die Aufnah-          auf einzelne Landesanalysen und den simplen
      me einer Gruppe von Prioritäten, Zielen und Ver-        "Nord-Süd"-Gegensatz zu vermeiden.

eine Gewerkschaftsstrategie                                                                                          9
Die WTO und das Welternährungssystem

         Schließlich zeigt uns eine auf Rechten beruhende    sche Verletzung der Arbeitnehmerrechte und das
         Strategie, mit welcher Dringlichkeit wir handeln    wachsende Gefühl der Verwundbarkeit, das arbei-
         müssen. Hunger und Unterernährung, die zerstöre-    tende Menschen in ihren Fabriken, auf ihren Plan-
         rischen Folgen des derzeitigen Welternährungs-      tagen und Farmen und in ihren Gemeinden verspü-
         systems für die Gesundheit der Menschen und die     ren, gestatten uns nicht den Luxus einer abwarten-
         Umwelt, die schweren gesundheitlichen Schädigun-    den Haltung. Und die anderen werden nicht inne-
         gen und die Todesfälle unter den Arbeitnehmern in   halten, während wir uns um Unterstützung bemü-
         der Agro-Nahrungsmittelindustrie, die systemati-    hen und an unserer Strategie feilen.

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Die WTO und das Welternährungssystem

      3. Die WTO-Abkommen und
      die globale Ungleichheit

      In der Einführung haben wir gezeigt, wie die drin-      gierungen ein, die zur Bewältigung der Probleme
      gendsten Probleme, denen wir uns gegenüberse-           des Nahrungsmittelmangels, des Hungers und der
      hen – Massenhunger und Unterernährung, Armut            Armut in ländlichen Gebieten erforderlichen Rege-
      und schlechte Arbeitsbedingungen – von der WTO          lungen einzuführen, indem sie nur eine sehr be-
      völlig ignoriert werden. Dabei geht es nicht ein-       grenzte Gruppe marktfreundlicher Grundsatzmaß-
      fach um Prioritäten oder die Tatsache, dass in der      nahmen zulassen, mit denen Regierungen auf die-
      WTO-Agenda wichtige Arbeitnehmerfragen völlig           se Probleme reagieren können. Die Folge ist, dass
      ausgeklammert bleiben. Es geht vielmehr darum,          die bestehenden Probleme Armut, Mangel und Ver-
      dass die sozialen, politischen und wirtschaftlichen     drängung weiter verschärft, das Recht auf Ernäh-
      Maßnahmen, die notwendig sind, um Hunger und            rungssicherheit und Ernährungssouveränität dage-
      Unterernährung zu vermindern, die Arbeitsbedin-         gen gefährdet wird.
      gungen in der Landwirtschaft zu verbessern und
      die Interessen und den Lebensunterhalt der Land-        Die WTO erlaubt auch künftig bestimmte Arten von
      wirtschaftsarbeitnehmer und der Kleinbauern zu          Subventionen, vor allem Exportsubventionen durch
      schützen, in Wirklichkeit eine Gruppe von Rechten       Exportkredite und Direktzahlungen an Bauern. Sol-
      darstellen, die ihrerseits Sozialvorschriften und So-   che Subventionen sind in den großen Industrielän-
      zialschutz erfordern – und zwar genau die Sozial-       dern üblich, Entwicklungsländer dagegen wenden
      vorschriften und den Sozialschutz, die die WTO          meistens weniger kostspielige Maßnahmen an, wie
      als `Schranken´ betrachtet. Das Landwirtschaftsab-      zum Beispiel Zölle. Die WTO-Regeln fordern die
      kommen beispielsweise behandelt nationale und           Abschaffung der Zölle, erlauben jedoch Exportsub-
      subnationale Maßnahmen zum Schutz der Lebens-           ventionen wie das Exportkreditsystem der US-ame-
      haltung von Kleinbauern sowie Subventionen der          rikanischen Regierung sowie direkte Einkommens-
      lokalen Nahrungsmittelproduktion als Schranken,         transfers. Die anhaltende Zahlung von Exportsub-
      die beseitigt werden müssen. "Ernährungssicher-         ventionen sowie andere Formen der inländischen
      heit" darf nur durch Käufe auf dem globalen             Unterstützung großer Agrarunternehmen in den
      Markt, nicht jedoch durch die Förderung der inlän-      USA und der EU ermöglichen jedoch die Über-
      dischen Nahrungsmittelproduktionskapazitäten an-        schwemmung der Entwicklungsländer mit billigen
      gestrebt werden. Das Abkommen über Sanitäre             Agrarprodukten.
      und Phytosanitäre Standards (SPS) behandelt Maß-
      nahmen zur Nahrungsmittelhygiene und -sicher-           Die Regierungen der USA und der EU-Länder ha-
      heit, mit denen die Einfuhr mit Krankheitsträgern       ben aggressiv verhindert, dass die Frage des Ex-
      verunreinigter Nahrungsmittel verhindert oder die       port-Dumping in die WTO-Agenda für Doha aufge-
      Gesundheit der Menschen durch strenge Verfahren         nommen wurde, und auch auf der Agenda für Me-
      der Nahrungsmittelinspektion geschützt werden           xiko im kommenden Jahr ist diese Frage nicht zu
      soll, als "Schranken", die im Namen des Freihan-        finden, ungeachtet der Tatsache, dass Exportdum-
      dels beseitigt werden müssen.                           ping eines der wesentlichen Probleme ist, die die
                                                              Existenz von Kleinbauern und Landwirtschaftsar-
      Die Regeln und Auflagen der WTO gelten aber             beitnehmern in ärmeren Ländern bedrohen.
      nicht nur der Beseitigung von Schranken. Sie be-
      stimmen darüber hinaus die Funktion ernährungs-         Als Reaktion auf die durch das Exportdumping ver-
      politischer Maßnahmen und den Zweck der Land-           ursachten Probleme hat die Zweite Weltkonferenz
      wirtschaft. Das WTO-Landwirtschaftsabkommen             der IUL-Branchegruppe der Landwirtschaftsarbeit-
      fördert ein Handels- und Investitionssystem für die     nehmer (Kapstadt, Südafrika, 5.-6. Oktober 1998)
      Bereiche Nahrungsmittel und Landwirtschaft, das         eine Entschließung angenommen, in der eine Been-
      sich auf die exportorientierte industrielle Massen-     digung der Exportsubventionen in den USA und
      produktion stützt. Bei dieser Art der Landwirtschaft    der EU gefordert wird.
      haben die Unternehmensgewinne Vorrang gegen-
      über den Bedürfnissen der Menschen, und der
      Zwang, den Weltmarkt zu beliefern, ist wichtiger
      als die interne Nahrungsmittelproduktion.               3.1 Die "Entwicklungsbox"
      Das WTO-Landwirtschaftsabkommen und ähnliche            Ein grundlegender Vorwurf gegen das Landwirt-
      WTO-Abkommen schränken die Fähigkeit der Re-            schaftsabkommen lautet, dass es die globale Un-

eine Gewerkschaftsstrategie                                                                                       11
Die WTO und das Welternährungssystem

              IUL-Entschließung über die Auswirkung subventionierter
              Landwirtschaftsexporte auf die Entwicklungsländer
              Die USA und die Europäische Union (EU) verfolgen eine Politik der subventionierten
              Landwirtschaftsexporte in bestimmte Zielländer, deren Ziel es ist, die Preise künstlich nied-
              rig zu halten. Diese Politik hat in Süd-, Ost- und Westafrika und in anderen Regionen der
              Welt die Zerstörung ganzer Farmen, Plantagen und der ländlichen Entwicklung zur Folge.
              Somit leisten die subventionierten Exporte der EU und der USA in vielen Regionen der Welt
              einen Beitrag zum wachsenden Hunger und zur Zerstörung des Potentials für eine Stär-
              kung der lokalen und regionalen Landwirtschaftsproduktion.
              Aus diesem Grund ruft die 2. Weltkonferenz der IUL-Branchegruppe der Landwirtschafts-
              arbeiter dazu auf, dass:
              Die Regierungen und Vertreter der USA und der EU
              • dem Export subventionierter Landwirtschaftsgüter in die weniger entwickelten Regionen
              der Welt ein Ende setzen;
              • gemeinsam mit den ländlichen Produzenten und den Gewerkschaften der Landwirtschafts-
              arbeiter die Auswirkungen subventionierter Exporte auf die lokale Landwirtschaftsproduktion
              überwachen und die Ergebnisse dieser Überwachung öffentlich machen;
              Die Gewerkschaftsbewegung, die demokratische Zivilgesellschaft und alle fortschrittlichen
              Personen aktiv werden, damit dieser zerstörerischen Politik ein Ende gesetzt werden kann.

         gleichheit verschärft – die Ungleichheit zwischen     Entwicklungsbox umfasst auch einen früheren Vor-
         entwickelten Ländern und Entwicklungsländern und      schlag zu einer gesonderten "Ernährungsbox", die
         in den einzelnen Ländern die Ungleichheit zwi-        "Maßnahmen, die Länder treffen dürfen, um die in-
         schen großen Agrarunternehmen und Kleinbauern.        ländische Ernährungssicherheit zu gewährleisten",
         Während die Entwicklungsländer gezwungen wer-         von den Regeln des Landwirtschaftsabkommens
         den, Einfuhrzölle zu senken und nicht-tarifäre Ein-   ausnehmen würde. Eine solche Ausnahmeregelung
         fuhrbeschränkungen, die während der GATT-Ver-         würde das Gegenteil einer auf Nahrungsmittelim-
         handlungen nicht in gleichwertige Zölle umgewan-      porten beruhenden Ernährungssicherheit sein.
         delt wurden, aufzuheben, behalten die großen In-
         dustrieländer wie die USA, die EU-Länder und Ja-      Auf der WTO-Ministertagung in Doha bildeten Re-
         pan selbst nach den Tarifsenkungen immer noch         gierungsvertreter aus der Dominikanischen Repu-
         wesentlich höhere Zölle bei.                          blik, El Salvadoar, Haiti, Honduras, Kenia, Kuba,
                                                               Nicaragua, Nigeria, Pakistan, Peru, Senegal, Sim-
         Aus diesem Grund haben die Regierungen mehre-         babwe, Sri Lanka und Uganda die "Gruppe der
         rer Entwicklungsländer die Aufnahme einer "Ent-       Freunde der Entwicklungsbox" als eine Verhand-
         wicklungsbox" in das Landwirtschaftsabkommen          lungsgruppe im Rahmen der Gespräche über das
         gefordert. Der Vorschlag einer solchen Entwick-       Landwirtschaftsabkommen. In der von den Freun-
         lungsbox stellt einen beschränkten Versuch auf in-    den der Entwicklungsbox am 10. November 2001
         ternationaler politischer Ebene dar, die Unausge-     in Doha veröffentlichten Presseerklärung wurden
         wogenheiten der WTO-Regeln dadurch zu korri-          die Ungleichheiten des gegenwärtigen Systems
         gieren, dass Regierungen in Entwicklungsländern       aufgezeigt:
         flexibler vorgehen können, um "Bauern mit niedri-
         gem Einkommen und unzulänglichen Ressourcen"          Die WTO soll Gerechtigkeit im Handel gewährlei-
         gegen billigere Einfuhren zu schützen und die in-     sten, doch das gegenwärtige System des Handels
         ländische Erzeugung von "ernährungssichernden         mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen legitimiert in
         Kulturen" zu unterstützen. Zu diesen ernährungs-      der Praxis die Ungerechtigkeiten, indem es bei-
         sichernden Kulturen gehören Grundnahrungsmittel       spielsweise das Preisdumping bei landwirtschaftli-
         oder Kulturen, die die Haupteinkommensquelle für      chen Erzeugnissen aus dem Norden erlaubt. Seit
         Familien mit niedrigem Einkommen und arme Fami-       der Uruguay-Runde sind die inländischen Subven-
         lien bilden. Die Entwicklungsbox würde bedeuten,      tionen in den OECD-Ländern um 50 Prozent auf
         dass bestimmte ernährungssichernde Kulturen von       heute über 370 Milliarden US-Dollar gestiegen,
         den Zollsenkungsbestimmungen des Landwirt-            was einem Betrag von 1 Milliarde US-Dollar am
         schaftsabkommens ausgenommen werden. Die              Tag entspricht, etwa gleich viel wie das tägliche

12                                                                                    eine Gewerkschaftsstrategie
Die WTO und das Welternährungssystem

      Einkommen der ärmsten 1 Milliarde Menschen in          merziellen Massenlandwirtschaft braucht die Un-
      der Welt. Subventionen machen 45 Prozent des           gleichheiten, die die Entwicklungsbox zu beheben
      Wertes der gesamten Produktion aus. Kleinbauern        versucht. Marktchancen für exportorientierte Agrar-
      in Entwicklungsländern können in diesem unge-          unternehmen gibt es nur aufgrund dieser Ungleich-
      rechten Umfeld einfach nicht konkurrieren.             heiten und der Vernichtung lokaler Kapazitäten zur
                                                             Sicherung einer Nahrungsmittelautarkie. Der Vor-
      In vielen Entwicklungsländern sind bis zu 60-90        schlag der Freunde der Gruppe der Entwicklungs-
      Prozent unserer Bevölkerung Kleinbauern. Die           box weist eine natürliche Schwäche auf, weil näm-
      landwirtschaftliche Produktion ist als Hauptquelle     lich die Ausgangsbasis des Landwirtschaftsabkom-
      der Beschäftigung und der Ernährungssicherheit         mens nicht darin besteht, einen fairen und gerech-
      von entscheidender Bedeutung. Weil es keine ga-        ten Handel zu fördern, sondern vielmehr darin,
      rantierten alternativen Beschäftigungsquellen für      diese Ungleichheiten und die Einfuhrabhängigkeit
      eine so große Zahl von Menschen gibt, sind um-         der Entwicklungsländer, die den am schnellsten
      fangreiche Nahrungsmitteleinfuhren für viele unse-     wachsenden Markt für die Agrarunternehmen der
      rer Länder gleichbedeutend mit dem Import von Ar-      EU und der USA bilden, zu verstärken.
      beitslosigkeit und Ernährungsunsicherheit.
                                                             Ein weiteres Problem aller Vorschläge zu Ausnah-
      Ungeachtet dieser Besorgnisse widersetzten sich        men, wie sie auch die Entwicklungsbox vorsieht, ist
      die USA, die EU-Ländern und die Cairns-Gruppe          die durch die Friedensklausel im Landwirtschaftsab-
      hartnäckig dem Vorschlag einer Entwicklungsbox         kommen festgesetzte Frist. Die Ausnahmeregelung
      und anderen Forderungen nach einer "speziellen         für bestimmte, in einer `Box´ vorgesehene Subven-
      und differenzierten Behandlung" für Entwicklungs-      tionen wird auslaufen, wenn die Uruguay-Runde
      länder. In der abschließenden Ministererklärung        endet und von der Doha-Entwicklungsrunde abge-
      von Doha wurde abgelehnt, die Forderungen nach         löst wird, die auf der nächsten WTO-Ministerta-
      einer Entwicklungsbox anzuerkennen.                    gung in Mexiko 2003 eingeleitet werden soll.
                                                             Aber auch wenn es den Entwicklungsländern gelin-
      Auf einer Sondertagung über das Landwirtschafts-       gen sollte, in das Landwirtschaftsabkommen Aus-
      abkommen vom 4.-6. Februar 2002 wurde der              nahmeregelungen in Form einer `Entwicklungsbox´
      Vorschlag einer Entwicklungsbox erneut abgelehnt.      oder einer `Ernährungsbox´ aufzunehmen, kann
      Die US-Regierung erklärte, die Entwicklungsbox         davon ausgegangen werden, dass die EU, die
      weise genau in die entgegengesetzte Richtung wie       USA und die Cairns-Gruppe diese an die in der
      die Ministererklärung von Doha und jede Art spe-       Friedensklausel festgesetzte Frist 2003 koppeln
      zieller und differenzierter Behandlung müsse der       werden.
      Marktstrategie des Landwirtschaftsabkommens un-
      tergeordnet werden, die marktorientierte Investitio-   Wir sollten zwar die im dem Vorschlag einer Ent-
      nen in die Landwirtschaftsproduktion und den           wicklungsbox unterbreiteten Anliegen auf der
      marktorientierten Handel mit landwirtschaftlichen      Grundlage des Rechts auf Ernährungssicherheit
      Erzeugnissen fördere. Die Regierung der Vereinig-      und Ernährungssouveränität unterstützen, müssen
      ten Staaten hat tatsächlich recht, wenn sie behaup-    aber gleichzeitig die Tatsache festhalten, dass der
      tet, flexiblere, nicht am Markt orientierte Maßnah-    Vorschlag zu einer Entwicklungsbox nichts über
      men stünden im Widerspruch zur Strategie des           den Schutz der Beschäftigung, der Arbeitsbedin-
      Landwirtschaftsabkommens. Nach diesem Abkom-           gungen und der Existenz in der Nahrungsmittel-
      men haben die Unterzeichner kein Recht, Maßnah-        produktion tätiger unselbständiger Landwirtschafts-
      men zu entwickeln, die die einheimische Ernäh-         arbeitnehmer sagt. Tatsächlich haben die Regierun-
      rungssicherheit und die Existenz der Bauern mit        gen, die sich zu dieser Verhandlungsgruppe zu-
      niedrigen Einkommen und der armen Bauern schüt-        sammenschlossen, nichts unternommen, um die Ar-
      zen, d.h. Maßnahmen, die auf sozialen Anliegen         beitnehmer- und Gewerkschaftsrechte der landwirt-
      und nicht auf der Marktlogik beruhen. Dieses Recht     schaftlichen Arbeitnehmer zu gewährleisten, und
      haben sie mit der Unterzeichnung des Landwirt-         vielmehr den Landwirtschaftsarbeitnehmern und
      schaftsabkommens aufgegeben.                           Kleinbauern das Recht auf Schutz ihrer Existenz
                                                             verweigert. Die Strategie der "Entwicklungsländer"
      Die in der Entwicklungsbox vorgesehenen Ausnah-        weist schwerwiegende Mängel auf. Sie stellt in kei-
      men können nicht in das Landwirtschaftsabkom-          ner Weise die übliche Definition der innerstaatli-
      men einbezogen werden, weil sie im Widerspruch         chen Entwicklung und die Teilung in entwickelte
      zu seinem eigentlichen Zweck stehen, der darin         Länder, Entwicklungsländer und am wenigsten ent-
      besteht, Marktabhängigkeit zu erzeugen. Diese          wickelte Länder in Frage. Dadurch werden Armut,
      Abhängigkeit schränkt die Fähigkeit der Regierun-      Ungleichheit und Unterentwicklung in einzelnen
      gen ein, nicht am Markt orientierte Alternativen zu    Ländern, auch in sogenannten `entwickelten´ Län-
      verfolgen, um einem Nahrungsmittelmangel zu be-        dern verschleiert. Auch in entwickelten Ländern lei-
      gegnen und die Existenz der Bauern zu schützen.        den Kleinbauern und Bauerngenossenschaften un-
      Die Expansion der auf Exporte ausgerichteten kom-      ter zerstörerischem Wettbewerb, Verdrängung und

eine Gewerkschaftsstrategie                                                                                         13
Die WTO und das Welternährungssystem

         Verschuldung infolge der Expansion von Fabrik-         nährungs- und landwirtschaftspolitischen Entschei-
         farmen und Agarkonzernen. In den USA haben             dungen in aller Welt.
         beispielsweise die meisten Bauern nicht von den
         Exportsubventionen profitiert. Vielmehr hat die zu-    Gegenwärtig beherrschen die zehn größten Agro-
         nehmende Konzentration und Zentralisierung der         Chemiekonzerne rund 80 Prozent eines 32 Milliar-
         landwirtschaftlichen Produktion zu einer Auswei-       den US-Dollar großen globalen Marktes, und
         tung der Fabrikfarmen und zu einem Rückgang der        80 Prozent des Weltgetreides werden von gerade
         Familienfarmen geführt. Mehr als 50 Prozent der        zwei Unternehmen, Cargill und Archer Daniel
         Landwirtschaftsproduktion der USA werden von           Midland, vermarktet. Rund 75 Prozent des Bana-
         nur 2 Prozent der Farmen erzeugt, während              nenhandels werden von gerade fünf Konzernen
         73 Prozent der Farmen nur 9 Prozent der Produkti-      beherrscht, drei Konzerne beherrschen 83 Prozent
         on liefern. Die skandalöse Situation der Landwirt-     des Kakaohandels und drei andere Konzerne be-
         schaftarbeiter in den USA ist ausreichend bekannt      herrschen 85 Prozent des Teehandels. Dies sind
         und braucht hier nicht mehr dargestellt zu werden.     nur einige Beispiele, die deutlich machen, in wel-
                                                                chem Umfang Konzerne das Welternährungs-
         Die "Entwicklungsländer"-Strategie unterstützt letz-   system monopolisieren und beherrschen.
         ten Endes nur die Handelstechnokraten aus dem
         `Süden´ (und die von ihnen vertreten inländischen      Nach Angaben der FAO ist das Handelsdefizit der
         kapitalistischen Interessen) als Befürworter einer     Entwicklungsländer bei Getreide in den letzten
         "alternativen Sicht". Uns als Gewerkschaftern sollte   30 Jahren von 17 Millionen auf 104 Millionen Ton-
         es nicht darum gehen, dem Wohl lokaler Kapitali-       nen gestiegen. Für die FAO ist dies eine `prekäre
         sten zu dienen. Vielmehr müssen wir uns darum be-      Entwicklung´, da sowohl die entwickelten Länder
         mühen, Kapazitäten für eine demokratische Kon-         als auch die Entwicklungsländer ihre Ernährungs-
         trolle zu entwickeln und Hindernisse für eine solche   sicherheit traditionell durch eine Steigerung der in-
         Kontrolle zu beseitigen.                               ländischen Nahrungsmittelproduktion erreicht ha-
                                                                ben. Diese veränderte Situation ist jedoch nicht nur
                                                                das Ergebnis ungerechter Regeln, die durch befri-
                                                                stete Maßnahmen, wie sie etwa in der Entwick-
                                                                lungsbox vorgesehen sind, korrigiert werden müs-
         3.2 Konsolidierung des Einflusses                      sen. Sie ist in Wirklichkeit das Ergebnis einer be-
         der Unternehmen                                        wussten Strategie der TNKs im Agro-Nahrungsmit-
                                                                telsektor, die darauf abzielt, die Märkte für ihre Er-
         Das wahre Problem, das der globalen Ungleichheit       zeugnisse in den Entwicklungsländern zu erweitern
         zugrunde liegt, ist nicht ein `Nord-Süd´-Gegensatz,    und dabei die Abhängigkeit der Entwicklungslän-
         sondern vielmehr die Macht der TNKs im Norden          der von Nahrungsmitteleinfuhren zu steigern. Das
         und die politische Unterstützung, die sie von den      aber bedingt, dass der lokale Wettbewerb ausge-
         politischen Eliten zuhause und im Ausland erhal-       schaltet und die Kontrolle über diese wachsenden
         ten. Die WTO institutionalisiert diese Unterstützung   Märkte gewonnen wird. Die Bodennutzung zu än-
         und gibt den TNKS noch mehr Einfluss auf die er-       dern, um nicht-traditionelle Ausfuhrprodukte anzu-

              Cargill
              Cargill ist einer der beiden führenden Exporteure von Sojabohnen aus den USA, Argentinien
              und Brasilien, die gemeinsam das gesamte weltweite Angebot beherrschen. Cargill exportiert
              nach Schätzungen 40 Prozent der gesamten Maismenge, die die USA verlässt, wobei die USA
              wiederum etwa 30 Prozent des Weltmarktes beliefern. Cargill exportiert und importiert Mais in
              der ganzen Welt und kauft, versendet und mahlt Getreide in mehr Ländern, als die WTO
              Mitgliedern hat (rund 160). Diese Art von Marktbeherrschung ist ein Aspekt des globalen
              Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, den die geltenden Regeln völlig außer Acht
              lassen, der aber unbedingt stärkere Beachtung erfordert, um zu gewährleisten, dass Markt-
              verzerrungen korrigiert werden können. Aber es gibt nicht einmal einfache Maßnahmen, um
              diesen Markt transparent zu machen. Deshalb müssen die für den Handel geltenden Regeln
              den tatsächlichen Bedingungen entsprechen, zu denen die Märkte arbeiten, statt nur theoreti-
              sche Modelle leistungsfähiger Märkte zu entwickeln, die wenig Bezug zur Realität haben.
                                             Auszug aus "Food Security and the WTO". von Sophia Murphy,
                                                                  CIDSE-Positionspapier (September 2001)

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