Dämonen, Monster, Fabelwesen - Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe
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Dämonen, Monster, Fabelwesen Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe Werner Wunderlich (St. Gallen) Aus all den erfunden und eingebildeten Geschöpfen eine nach welchen Gesichtspunkten auch immer systematische, repräsentative und methodisch wie historisch begründete Auswahl für einen Sammelband zu treffen, scheint unmöglich zu sein. Wir haben ver- sucht, solche imaginären Kreaturen zu finden, die über Kulturgrenzen und Epochen- schwellen hinweg existieren, wenn auch ihre Bedeutung schwankt und wir der westlichen Kultur den Vorzug einräumen. Vor allem aber richtet sich unser Sortiment schlichtweg nach der besonderen Vorliebe, die der eine und der andere Autor für »seine« Kreatur hat. Will man diese »Kreaturen« planmäßig erfassen und nach typologischen Kriterien vorstellen, muß man zuvor einräumen, daß begriffliche Unterscheidungen und Differen- zierungen nach Herkunft und Überlieferung, nach Erscheinung und Funktion natürlich möglich und auch hilfreich sind, daß aber eine strikte und unangreifbare Einteilung in »Dämonen«, »Monster« und »Fabelwesen« wegen der fließenden Übergänge und Über- schneidungen nicht in jedem Fall eine zweifelsfreie Zuordnung einzelner Geschöpfe möglich und auch nicht sinnvoll macht. Unser Buchtitel will deshalb einen thematischen Bereich umreissen und nicht eine kategoriale Systematik suggerieren. So soll es auch im folgenden in erster Linie nur darum gehen, Wesensmerkmale mythischer Geschöpfe un- ter typischen Aspekten vorzustellen, nicht eine systematische Typologie für alle im Band vertretenen Dämonen, Monster und Fabelwesen vorzugeben. Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe heute Der Titelheld der Filmreihe (1987, 1990, 1993) und gleichnamigen TV-Serie Robocop (1992 ff.) räumt als Ordnungshüter in der Unterwelt von Detroit gründlich auf. Robo- cop ist ein künstliches Geschöpf. Ein Roboter mit allen elektronischen Finessen der Kommunikations- und Waffentechnik, gesteuert von einem Computerprogramm und dem Gehirn eines erschossenen Polizisten, eines Cops. Roboter plus Cop ergibt Robo- cop. Das Produkt futuristischer Biomechanik und Computertechnologie ähnelt im Aus- sehen einem mittelalterlichen Ritter mit Harnisch und Helm. Wie dieser kann er von Feinden verletzt oder sogar fast zerstört werden und benötigt menschliche Fürsorge und – selbstredend – technisches Knowhow, um wieder hergestellt zu werden. An der Her- stellung solcher Maschinenmenschen, Menschenmaschinen übten sich seit dem Barock Uhrmacher und Feinmechaniker, zugleich tauchten sie seit dieser Zeit als Figuren in der Literatur und auf der Opernbühne auf. In der Romantik hatten sie Hochkonjunktur und tummelten sie sich zu Hauf in Romanen und Novellen. Bis heute erfreuen sie sich hoher Beliebtheit in vielen Fantasy- und Science Fiction-Filmen und -Romanen. Die Perfektion der modernen special effects bringt immer neue, immer phantastischere Gestalten und
12 Werner Wunderlich Mixturen aus menschlichen Lebewesen und elektronisch-mechanischen Apparaten her- vor. Androide, Humanoide, Biomechanoide düsen durchs All und übernehmen als Hel- fer von Menschen die Rolle putziger Märchenwichtel, als Widersacher der Menschen die Rolle greulicher Sagenungeheuer. Daneben bedrohen grauenhafte Bestien des Kosmos (z.B. Alien 1979, 1986, 1992) ahnungslose Astronauten oder bevölkern auf fernen Planeten ganze Menagerien fantasti- scher Geschöpfe schumrige Kneipen (z.B. Star Wars, 1977 – 97) und machen unerfahre- nen Raumfahrern das Leben schwer. Regisseure und Autoren lassen uns auch auf der Erde gefährliche Begegnungen mit Vertretern seltsamer und ungewöhlicher Spezien erleben. Sei es mit Besuchern aus dem All wie den gefräßigen Gremlins (Gremlins, 1984, 1990) oder dem erbarmungslosen Menschenjäger, dem nur ein Arnold Schwarzenegger Paroli bieten kann (Predator, 1987) oder den heuschreckenartigen Raubrittern, die beinahe die Feiern um den Independence Day (1996) verdorben hätten. Nicht wenige Monster aber sind »menschlichen Ursprungs« und entstammen den Laboren und Gen-Küchen moderner Wissenschaftler (resp. den Köpfen ausgebuffter special effects-Spezialisten). Zu dieser Kategorie zählen sicher die durch Genexperimente wiederbelebten Dinosaurier (Jurassic Park, 1993, 1997), oder das wunderschöne und zu- gleich grauenhafte Ergebnis der Kreuzung menschlicher und außerirdischer Gene (Spe- cies, 1995). Der Schweizer Hans Rudolf Giger (Schöpfer u.a. von Alien und Species) ist heute weltweit der bekannteste »Master of the Macabre«, dessen bizarre Filmmonster als Hollywood-Stars eine ständig wachsende Fan-Gemeinde haben, die in der virtuellen Welt des Internets wie auf Ausstellungen renommierter Galerien den Geschöpfen eines phan- tastischen Realismus ihre Referenz erweisen kann. Gewiß starken Einfluß auf die neue Hochkonjunktur unheimlicher Gestalten, ma- gischer Welten und infernalischer Kulte hat das bevorstehende Jahr 2000, das Endzeit- ängste schürt, okkulte Praktiken in Schwung bringt, übersinnliche Erscheinungen auf- kommen läßt – und die Diskussion über die Existenz und den Einfluß dämonischer und fabelhafter Wesen zum allgegenwärtigen Medienereignis macht. Niemand kann diese Ausgeburten der Phantasie leibhaftig auftreten lassen, aber dafür werden sie von ihren Zeugen umso eifriger in allen Einzelheiten einfallsreich geschildert und in Wort und Bild wiedergegeben. In Originalität und Präzision sind dabei aktuelle Berichte denen des Altertums in nichts voraus. Schon antike Naturbeobachtungen konn- ten fremde und unbekannte Kreaturen oft nur beschreiben, indem sie deren einzelne Körperteile mit denen ihnen bekannter Lebewesen verglichen. Mittelalterliche Reisebe- richte ließen deshalb zur Erklärung des Unbekannten ihre Kombinationsgabe und Phan- tasie ins Kraut schießen. Zeichner und Autoren, die solche Darstellungen beim Wort nahmen, haben dann die groteskesten Kreaturen daraus geschaffen, wundersame Tiere, seltsame Menschen, Hybriden aus beiden. Es sind Geschöpfe des Menschen, der sie nach seinem Bild und seiner Vorstellung formt und verformt. »Alles ist durch das Wort gewor- den« steht im Prolog des Johannesevangeliums über die Schöpfungsgeschichte. Tatsäch- lich zeugt das Wort immerfort Welt, daran hat sich seit biblischen Zeiten nichts geändert. Deshalb auch werden immer wieder immer neue imaginäre Geschöpfe geschaffen. In der Un-Wahrscheinlichkeit ist unsere Zeit dem Mittelalter auf diesem Gebiet in nichts vor- aus. Die Nachfahren mittelalterlicher Schöpfungsphantastik sind heute gespenstische
Dämonen, Monster, Fabelwesen 13 Technik- oder Genfiktionen, die Panik und Ekel auslösen. Das Paradoxe: Gerade wegen ihrer Existenz als Hirngespinste sind solche Geschöpfe eben durchaus Realität. Dann, wenn sie als Projektionen psychischer Zustände und seelischer Verfassungen dienen; dann, wenn sie – gleichviel ob als triviale Stereotpyen oder originelle Deutungsmodelle – zum Verständnis von Welt beitragen und menschliche Erfahrung, Angst oder Hoffnung ausdrücken und verstehbar machen wollen. Diese Funktion macht imaginäre Geschöpfe zu mythischen Kreaturen. Wovon wir keine genaue Vorstellung haben, was wir uns nicht erklären können, wovon wir nicht wis- sen, ob es existiert, nehmen wir dessen ungeachtet ernst, halten es für wahr und fürchten uns davor, glauben an seine Bedeutsamkeit und Wirksamkeit, wenn uns vorrationale An- nahmen über die Welt und unser Selbst in Geschichten und in Gestalten erzählt werden. Wo man nichts genaues wissen kann, erzählt man Geschichten. Der Mythos erteilt dazu das Wort und bringt es in Religion und Philosophie, Kunst und Literatur, Sitte und Brauchtum als »Wissen« zur Sprache. So vermittelt der Mythos heilige Wahrheiten, schafft Vorbilder für Schuld oder Unschuld, erklärt die Herkunft von Gott und der Welt, macht Mensch und Natur begreiflich, berichtet die Geschichte von Institutionen und Kulten, veranschaulicht gesellschaftliche und politische Zeitläufte. Insofern hat der My- thos nicht nur konstativen, sondern auch performativen Charakter. Immer schon, denn immer sind bestimmte Dimensionen von Wirklichkeit unserer vorstellbaren Erfahrungs- welt und unserer erlebten Geschichte einen Schritt voraus. Was theoretisches Denken, abstrakte Rationalitätsentwürfe, wissenschaftliches Sprechen noch nicht verbindlich er- klären und als Macht des Unergründlichen enttabuisieren, als Geheimnis des Unbegreif- lichen entschleiern können, wird durch den Mythos und seinen Verbindlichkeitsan- spruch vorstellbar und verständlich gemacht. Deshalb entstehen mit den Vorstößen in neue Wissensbereiche auch immerzu neue Mythen über das unerklärlich und geheimnis- voll Bleibende. Auch das Medienzeitalter erfindet neue Mythen, die keiner unbewußten Tätigkeit der Einbildungskraft entspringen, sondern planvollem Handeln, das letzte Wahrheiten oder massensuggestive Leitbilder in symbolischen, erzählten Wirklichkeiten verdichtet und diesen Realität unterstellt. Deshalb auch wird von den Kulturwissenschaf- ten auf den drohenden Verlust von Kontingenzbewußtsein, auf den Mangel an Selbstre- flexion jener mythischen Realitätskonstruktion hingewiesen, wenn diese für Seinsformen oder für Sinntransparenz Erklärungskompetenz und Moralansprüche behaupten. So ist der Mythos stets auch wegen seiner Komplementärfunktion zum Diskurs des Logos, des vernünftiges Wortes, und nicht etwa allein schon wegen der vermeintlichen oder tatsäch- lichen Überlegenheit seiner Bilder und Argumente im Gebrauch. Weil das, was Men- schen beispielsweise für das Böse halten, rational kaum als Teil unserer Wesenheit erklärt werden kann, erklärt uns der Mythos vom Satan die Entstehung des Bösen in der Welt und hilft uns religiöse Werte und moralische Normen für den ethischen und sozialen Umgang damit – etwa die Abwehr und Bestrafung des Bösen – zu entwickeln. Auf diese Weise schlägt der Mythos den Bogen vom Einst zum Jetzt und verweist auf das Künftige, gründet also im Immer. Im Mythos wird das Dazumal, von dem berich- tet und erzählt wird, im Derzeitigen erfahren. Deshalb ist der Mythos nicht nur archai- sche Vergangenheit, sondern auch beständige Gegenwart. Natürlich hängt vom Grade der Aufklärung und vom Stand des Wissens ab, in welcher Weise Gegenwart den Mythos erlebt und vergegenwärtigt. Wo rationale Geschichtsauffassung und empirische Natur- kenntnisse Mysterien und Magie ersetzt haben, verliert der Mythos seine Überzeugungs-
14 Werner Wunderlich kraft. Wo aber Fragen nach Herkunft und Ziel unserer Welt, nach Geburt und Tod zu immer neuen Rätseln führen, behalten Mythen nach wie vor ihre Funktion für die Welt- und Selbstauslegung des Menschen. Und selbst wenn im Alltag Banalitäten für außerge- wöhnlich, für mysteriös oder wenigstens für ungewöhnlich gehalten werden, bietet der Mythosbegriff wenigstens die Möglichkeit, das scheinbar in sich selbst Unergründliche faßbar und befreiflich zu machen: sei’s als Mythos des »Wunders von Bern«, das 1954 Deutschland zum Fußballweltmeister machte, sei’s als Mythos der legendären Blue Jeans als einer Ikone amerikanischer Lebenskultur mit globalem Modeerfolg, sei’s als Mythos von Madonna als einer Kultfigur und eines Sexidols mit sagenhaftem Erfolg. Der Mensch als einziges uns bekanntes Wesen, das über sich selbst nachdenken kann, nutzt diese Fähigkeit manchmal auf wunderbare Weise und denkt sich Geschichten und Gestalten aus, um mit deren Hilfe über sich selbst etwas zu erfahren: woher er kommt, wohin er geht. In einem vorhellenischen Schöpfungsmythos paart sich Eurynome, die dem Chaos entsteigt, mit dem Nordwind Boreas, der die Gestalt der Schlange angenom- men hat. Eurynome legt das Weltei, dem alles entsprungen ist, was unsere Erde trägt. Und schon bei dieser Weltschöpfung sind auch jene Wesen entstanden, die unsere Welt seither mit uns zusammen bevölkern. Geschöpfe, die keine erdgeschichtliche Evolution hervor- gebracht hat, sondern die menschliche Einbildungskraft. Dämonen, Monster, Fabelwe- sen: chtonische Wesen, die mit dem Diesseits verhaftet sind; uranische Wesen, die himm- lische Sphären bewohnen und von dort aus irdische Kreise ziehen. Geschöpfe, die nie aus- sterben und die durch immer andere und neue Spezien bereichert werden oder auch Zu- wachs und Nachwuchs erhalten. Über Generationen hinweg haben Gesellschaften und Kulturen mit ihnen gelebt, sie mit symbolhaften Bedeutungen versehen. Freilich, im Ver- gleich zur unendlichen Artenvielfalt der Natur nimmt sich die phantastische Zoologie und Ethnologie in bezug auf die Mannigfaltigkeit ihrer imaginären Geschöpfe eher be- scheiden aus. Da Phantasie und Imagination immer nur aus der empirischen Realität und der menschlicher Vorstellungskraft, einem begrenzten Reservoir, schöpfen können, wie- derholen sich im Grunde stereotyp relativ wenig Variationstypen: als Puzzle aus mensch- lichen und tierischen Körperteilen, als übersteigerte Formen und Prinzipien bekannter Fehlbildungen, als diffuse wesenhafte Verkörperungen schematisierbarer Ängste, als Re- präsentanten furchteinflößender, geheimnisvoll wirkender Orte und deren Merkmale. Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe im Mittelalter »Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schreck- lichsten Fratzen offenbart sich die Größe des Schöpfers.« Diese für das Mittelalter cha- rakteristische Auffassung vertritt in Umberto Ecos postmodernem Roman Der Name der Rose (1980) Benediktinerabt Abbo gegenüber seinem franziskanischen Besucher Wil- liam von Baskerville. Eco versetzt uns mit der Handlung ins Mittelalter. Er thematisiert dessen Vorliebe für Fabulöses und demonstriert damit gleichzeitg auch dessen immer noch fortwährende, nie nachlassende Anziehungskraft imaginierter Welten auch auf die Neugier unserer Gegenwart. Gegen das stattliche Aufgebot phantastischer Wesen auf den Rändern bebilderter Manuskriptseiten in Codices oder auf Mauern und Mobiliar von Kathedralen und Klö-
Dämonen, Monster, Fabelwesen 15 Abb. 1
16 Werner Wunderlich stern hat Bernhard von Clairvaux in seiner Apologia ad Guillelmum Abbatem von 1125 heftig protestiert. Unflätige Affen und monströse Kentauren würden sich in romanischen Klöstern breitmachen, und er warnte vor der Macht dieser Bilder, die Mönche zu verwir- ren und von ihrer Frömmigkeit abzubringen. Aber weder die Einwände Bernhards noch von irgendjemand anders konnten wenig später die Vermehrung der unzähligen hypbri- den Monster (Abb. 1) auf den sogenannten Marginalien gotischer Kirchen (i.e. Fassaden- reliefs, Fensterbögen, Wasserspeier, Teile des Chorgestühls, Kragsteine, Dachabschlüsse oder anderes architektonisches Dekor) und den Seiten gotischer Handschriften von Be- stiarien, Fabeln, Sprichwort- und Rätselsammlungen oder Ritterepen verhüten. Mittelalterliches Bewußtsein wollte wundersame Phantasiegeschöpfe nicht von rea- len Naturgeschöpfen unterscheiden. Zum einen, weil die Bibel den Unterschied auch nicht macht; zum anderen, weil nach allgemeiner Anschauung vom Begriff auch auf das Wesen der Sache geschlossen wird: Worte sind der Dinge Zeichen. Deshalb bezeichnet »Drache« unbezweifelbar einen existierenden Drachen oder »Kynokephalos« eben einen wirklichen Hundsköpfigen. Natürlich hat man auch im Mittelalter nach dem Wahrheits- gehalt und dem Wahrscheinlichkeitsgrad von Naturberichten und Tierkunden gefragt, aber man hat eben auch grundsätzlich in Gottes Schöpfung und als Gottes Geschöpf nichts für unmöglich gehalten. Deshalb gehören auch Fabelwesen in Gottes Heilsplan. Von diesem Glauben legen die zahllosen bebilderten Chroniken und Bestiarien mit ihren absonderlichen Geschöpfen und den exakten Beschreibungen der phantastischen Zoolo- gie ein oft prachtvolles Zeugnis ab. Bestiaren sind gleichsam die schöpferische Fortset- zung der biblischen Genesis durch den Menschen, da es in 1. Mos 2.19, 20 heißt: »Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen.« Hinter dieser Darstellung steckt eine Grunderkenntnis naturwissenschaftlichen Den- kens. Wie sich das Werden in Entwicklungsperioden vollzogen hat, so hat sich analog das Lebendige in Arten ausgebildet. Es wird nicht von der Erschaffung beliebiger oder be- stimmter einzelner Tiere gesprochen, sondern von der Erschaffung der Tierarten. Die Grunderkenntnis der in Arten oder Gattungen gegliederten Fauna liegt also schon der bi- blischen Schöpfungsdarstellung zugrunde. Es ist dem Menschen aufgetragen, das kom- plexe Ganze der Natur durch Einteilen und Auseinanderhalten zu erfassen, indem die einzelnen Tiere einen Namen erhalten sollen. Das Schöpfungshandeln Gottes hat eine Welt von Lebewesen hervorgebracht, die der Mensch nicht zu erfinden, sondern nur zu finden und zu benennen braucht, damit es sie gibt. Und just deshalb gibt es selbstver- ständlich auch die phantastischen Lebewesen. Diese sind immer auch Objekte analogischer Deutungen. Daß beispielsweise wiederkäu- ende Tiere für rein gehalten wurden, soll die Pflicht, stets Gott zu gedenken, einschärfen, und Tiere mit gespaltenen Klauen versinnbildlichen die Dichotomie von Recht und Un- recht. So ergibt sich eine unendliche Vielfalt der Ding- und Sinnkombinationen. Um La- ster und Tugenden begrifflich und inhaltlich vorstellbar zu machen, kombiniert und kon- struiert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen (Abb. 2). Ger- hoh von Reichersberg, Propst des Innviertler Augustiner Chorherrenstifts, läßt in sei- nem Psalmenkommentar die Stelle »facies peccatorum meorum« durch ein Wesen illu-
Dämonen, Monster, Fabelwesen 17 strieren, das sich aus dämonischen Ge- schöpfen und negativen Symboltieren zu- sammensetzt: das Wesen hat ein Men- schengesicht, Kuhhörner, Pferdehals, Schweinerücken, Bärenfüße, zwei Schwän- ze. Dieses Wesen hat die didaktische und mnemotechnische Funktion, die schreckli- chen Laster zu verdeutlichen und stets er- innerlich zu halten. Derartiges Analogie- denken konstruiert bis in die Frühe Neu- zeit hinein solche Kreaturen. Berühmt ist jener Einblattdruck, der um 1500 auf- taucht: Er zeigt ein Monster mit kahlem Abb. 2 Kopf und einem nach oben gekrümmten Horn. Die Ohren sind flammengestaltig und statt der Arme hat das Wesen zwei gefiederte Flügel. Über einer männlichen und ei- ner weiblichen Brust sind zwei griechische Kreuze und darunter zwei Flammenzungen, die nach unten auf kreisförmige Punkte zeigen. Das Geschlecht besteht aus Vulva und Phallus. Das rechte Bein hat am Knie ein Auge, das linke ist geschuppt und hat einen Krallenfuß mit Sporn. Es ist eine aus Florenz stammende Allegorie des Bösen und des La- sters, das die schamlose Nacktheit, die diabolische Sündhaftigkeit, die androgyne Wol- lust darstellt. Prodigienliteratur, Chroniken, Exemplasammlungen, Predigten schildern in Wort und Bild solche phantastischen und monströsen Allegoresen des schrecklich Wunderbaren, in dem die Alpträume eines durch den Teufelsglauben und apokalypti- schen Endzeiterwartungen erschütterten Zeit Gestalt annahmen. Wie wichtig dämonisch-monströse Wesen für die Realität allegorischer Deutungen waren, zeigt besonders die satansartig geflügte figura mundi (Frau Welt) mit Hahnklaue und drachenköpfigem Schweif als fabulöse Verkörperung der Welt und Gegengestalt zur religio. Die Figur und ihre Attribute repräsentieren symbolisch die sieben Todsünden als die verführerischen Laster der Welt, vor deren verderblichen Wirkungen die monströsen Scheußlichkeiten warnen. Das Buch ist im Mittelalter das Medium, durch das die Wirklichkeit und die Natur wahr- genommen und gewertet werden. Die empirische Umwelt war kaum der Maßstab für die Darstellung der Welt in den Büchern. Eher wurde umgekehrt die Welt nach den Büchern wahrgenommen und beurteilt. Fiktion und Realität waren keine Kategorien für die Wirk- lichkeitserfahrung. Deshalb galt überliefertes Naturverständnis wie das des Physiologus und die Weltauffassungen von Autoritäten wie Thomas Cantimpratensis, Jacob van Maerlant oder Konrad von Megenburg als vielleicht noch wichtiger und zuverlässiger als die unmittelbare Wirklichkeitsbeobachtung des einzelnen. Infolgedessen wurde zwi- schen imaginären und natürlichen Geschöpfen kein deutlicher Unterschied gemacht. Wahr und real waren beide, und die Differenzierung zwischen fictum und factum oder zwischen erfundener Dichtung und Tatsachenberichten war bis in die Frühe Neuzeit kein Dilemma, wie die Beispiele der Nachrichtensammlung des Pfarrers Johann Jakob Wick aus den Jahren 1560 bis 1587 etwa lehren. Das Mittelalter war die Zeit, in der die erdachten Geschöpfe immer Saison hatten.
18 Werner Wunderlich Von den skurrilen, dekorativen Figuren der keltischen Mythologie in den Illuminationen irischer Evangeliare bis zur Zeit des Teufelsglaubens und der Hexenverfolgungen mit ih- ren Nachwirkungen bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Dämonen, Monster, Fabelwesen waren nicht allein exotische Geschöpfe fremder Lebenswelten, sondern sie waren im Le- bensraum des mittelalterlichen Menschen allgegenwärtig: in Religion und Recht, Medizin und Astronomie, Kunst und Literatur. Durch die Übertragung dämonologischer Vor- stellungen auf gewisse Arten wie Schafe und Ziegen oder Stiere und Vögel kam es zur ri- tuellen Opferung dieser Tiere oder auch zu kuriosen Tierprozessen, in denen schon mal ein Esel oder eine Kröte, ein Krebs oder ein Hahn wegen vermeintlicher zauberischer Fä- higkeiten und diabolischer Vergehen angeklagt und anschließend hingerichtet wurden. Dämonen Begriff und Bedeutung Das griechische »δαιµον« (daimon) bezeichnet einen Verteiler oder Zuteiler des Schick- sals. Im 6. Jahrhundert v. Chr. verstand Thales von Milet unter dem Begriff einen der die Welt erfüllenden Geister, und Sokrates meinte damit das Gewissen. Die Neuplatoniker hatten Naturgeister im Sinn, wenn die Rede auf Dämonen kam, und Augustin gab hilf- reichen ebenso wie übelwollenden Geistern diesen Namen. In der Bibel steht der Aus- druck im Singular synonym für den unreinen oder bösen Geist sowie im Plural für die En- gel des Teufels. Das sind nach animistischer Vorstellung körperlose Wesen, die an wüsten und unreinen Orten hausen, von wo aus sie von Menschen Besitz ergreifen und ihnen Schaden zufügen. Ulfilas übersetzte das griechische Wort mit »unhultho«, und Notker Teutonicus gab in seiner Lukasübersetzung den Begriff mit »holdo« wieder, was aber dem mittelhochdeutschen »unholt« und dem neuhochdeutschen »Unhold« entspricht. Diese Bedeutung im Sinne von »jemand nicht hold sein«, »feindlich« oder »böse« wurde mit dä- monologischer Bedeutung sinngleich für mächtige, feindselige, schädigende Dämonen gebraucht; in der Christianisierungsphase vor allem für die heidnischen Gottheiten, anti- ke und germanische Götter, die auf diese Weise als furchterregende und schadenstiftende Dämonen diabolisiert wurden. Deshalb wird der Begriff heute noch weitgehend negativ verwendet. Der Begriff überschneidet sich mit anderen Ausdrücken zur Kennzeichnung imaginärer Wesen wie Monster und Fabelwesen, Gespenst und Geist, Unhold und Un- geheuer oder Bestie und Scheusal. Wesen, Erscheinungsweise und Funktion In der Antike waren Dämonen – in den Epen Homers etwa – ursprünglich Götter mit menschlichen Charakterzügen, die in nachhomerischer Zeit vor allem mit den chthoni- schen Gottheiten wie Hades, Demeter, Persephone, Moira oder Tyche identifiziert wur- den. Hesiod beschreibt dann Dämonen als Zwischenwesen zwischen Göttern und Men- schen, die in gutem wie in bösem Sinne auf menschliche Geschicke Einfluß nehmen konnten. Auch der germanische Mythos kennt mit Loki einen Gott, dessen Unstetigkeit, Boshaftigkeit, Tücke und Zauberkünste ihm zu einem gelegentlich geradezu dämoni- schen Charakter gereichen. Andererseits sind in der Sage sowohl historisch bekannte
Dämonen, Monster, Fabelwesen 19 Personen wie Dietrich von Bern als auch anonyme Gestalten wie der Rattenfänger von Hameln dämonisiert. Die Legende wiederum kennt den umgekehrten Vorgang der Ent- dämonisierung wie im Falle des Christopherus, der von einem hundsköpfigen Riesen zum christlichen Heiligen, der den Märtyrertod erleidet, umgedeutet wird. Dämonen sind unsichtbar oder aber können die körperliche Gestalt natürlicher wie auch phantastischer Wesen annehmen. Sie können aber auch als Geister in übernatürli- cher Erscheinung auftreten. Sie verführen und peinigen den Menschen; selten helfen sie ihm auch. Der Kampf gegen die Dämonen ist eine Hauptaufgabe der Heiligen. Hexen und Magier schließen häufig einen Pakt mit einzelnen Menschen oder verkehren sogar geschlechtlich mit ihnen. Der Incubus, der »Daraufliegende«, ist der männliche Dämon, der mit Hexen schläft. Da er selbst zeugungsunfähig ist, kann er nur solchen Samen wei- tergeben, den er vorher im Geschlechtsverkehr in weiblicher Gestalt als Succubus, »Dar- unterliegende«, in sich aufgenommen hat. Es gibt jeweils nach Kulturkreisen, Ethnien oder Landschaften typische Dämonen. Sie treten dort hordenweise in Kollektiven wie dem Wilden Heer, der Wilden Jagd, dem Totenheer, den Venedigern, als Weiße Frauen, Wasserfrauen und Waldleute auf. Die Oberhäupter solcher Scharen sind auch als Einzeldämonen bekannt, wie beispielsweise die Precht und Herodias als Anführerinnen dämonischer Haufen, wie Odin bzw. Wotan als Anführer des Wilden Heeres, wie Dietrich von Bern in der Rolle des Wilden Jägers als Chef der Wilden Jagd. Familienweise treten Zwerge bzw. Wichte, Heinzelmännchen, Riesen, Alben, Trolle, Feen, Nymphen, Nixen, Elfen und Hexen auf. Solitäre Gestalten aus all diesen Gruppen mit einer eigenen Erzähltradition als Kristallisationsfigur sind u.a. die Riesen Haymon oder Thürse, die Waldgeister Rübezahl, Hehmann, Meister Epp, Sal- van oder Schratt, die Berggeister Gangerl oder Ork, der Brunnengeist Frau Holle, der »Ewige Jude« Ahasver, der untote Vampir Dracula, der künstliche Riese Golem, die He- xen Diana oder Margot, die heidnischen Götzen Appollo oder Trevigant, der auch als Drache, Greif, Pudel, Mönch oder Feuerkugel herumgeisternde Teufelsdämon Mephisto- pheles, der Zauberer Krabbat, die Schreckfigur Krampas, der Schiffskobold Klabauter- mann, die Wasserfrauen Melusine, Undine oder die Raue Else, die Wassergeister Elbst und Fossegrimm, die Kobolde Butzenmann, Entenwick, Ekke Nekkepenn, Kasermandl, Puck oder Poppele, die Zwerge Laurin, Fenixmännlein, Goldemar oder Rumpelstilzchen, der Nachtgeist Mahr in Gestalt eines Haares oder Strohhalms, die Spukgestalt Feuerputz, der Kinderschreck Langtüttin. Besonders im Mittelmeerraum sind fabulöse Mischwesen wie Hundsköpfiger, Kentauros, Sirene, Pan oder Sphinx dämonisiert worden, während in nördlichen Kulturkreisen Dämonen in Gestalt phantastischer Tiere wie Drache oder Ba- silisk und vor allem in anthropomorphisierter Gestalt vorkommen. Da Dämonen immer auch menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, Eigenschaften und Verhaltensweisen verkörpern, sind sie auch nach dem Bild und den Vorstellungen des Menschen geschaffen, gerade dort, wo sie sich von ihm durch einzelne tierische Körperteile wie Fischschwanz, Entenfüße oder Pferdeleib unterscheiden. Als Hauchwesen können Geister in menschli- cher, tierischer oder phantastischer Statur sichtbar werden. In Geistergestalt können Dä- monen gelegentlich auch als Beschützer und Begleiter des Menschen auftreten, aber vor allem als Polter- und Plagegeister ihr Unwesen treiben, wenn sie in einen Menschen fah- ren und nur durch Abwehrriten wie dem Exorzismus wieder vertrieben werden können. Die Macht der Geister ist oft auf einen bestimmten Ort begrenzt. In Gebäuden, auf Kreuzwegen, an Hinrichtungsstätten spuken zur Geisterstunde die Schreckgespenster,
20 Werner Wunderlich die als Totengeister, Gerippe, Ungeheuer, Kobolde, wilde Tiere oder in furchterregender, monströster Menschengestalt auftreten. Anthropomorphisches Aussehen haben oft auch die Elementargeister in Wäldern und Bergen, an Gewässern, auf Wiesen, wo sie Na- turkräfte und Naturerscheinungen repräsentieren. Im allgemeinen genießen Dämonen keine kultische Verehrung, aber ihnen werden als Ausdruck eines Abhängigkeitsverhält- nisses gelegentlich Opfer zur Begütigung oder auch als Entgelt für erbrachte bzw. erwar- tete Hilfeleistungen dargebracht. Auch zu Verträgen zwischen Dämon und Mensch kommt es mitunter. Das wohl bekannteste literarische Beispiel dafür ist der Teufelspakt zwischen Faust und Mephistopheles, mit dem der Schwarzkünstler und Negromant aus Knittlingen seine Seele aufs Spiel setzt. Als mythologische Gestalten sind Dämonen ein Instrument zur Erklärung von Welt. Denn was der Mensch von seiner Umwelt wahrnimmt und nicht rational versteht, kann für ihn durch das Wirken von Dämonen verständlich werden. Aitiolische Sagen erzählen von Erscheinungen wie der Wilden Jagd und erklären damit metereologische Vorgänge wie Unwetter, Nebel, Regenbogen; sie schreiben Naturkatastrophen dem gewalttätigen Unmut oder dem Leichtsinn von Riesen zu, bringen bizarre Felsen und Steine mit ver- zauberten Menschen in Zusammenhang. Als Projektionen von Träumen oder Halluzina- tionen, als Konfigurationen von Ängsten, Furcht oder schlechtem Gewissen, als Verkör- perung von Wunschdenken und des Unbewußten, als gestaltgewordene sexuelle Obses- sionen sind Dämonen eine individuelle, höchst subjektive Erfahrung und eine objektive psychische Realität, ein Teil der Persönlichkeit des Menschen. Schon die Stoiker hatten Träume und Krankheiten, aber auch Witterungserscheinungen durch die Existenz von Dämonen erklärt. Heute werden vor allem Märchen gerne als Zeugen psychologischer Erklärungs- und auch Bewältigungsansätze für Konfliktlösungen, Behauptungsversuche und Entwicklungsphasen gedeutet. Als Glaubensgestalten konkretisieren Dämonen reli- giöse Vorstellungen, oft abhängig von den ethischen Werten und den sozialen Normen einer Gesellschaft oder einer Gruppe. Die Ambivalenz gerade ältester Vorstellungen des Volksglaubens und seiner Brauchtumstraditionen zeigt dabei besonders der Umgang mit Totengeistern als verehrungswürdige Ahnen oder als schreckliche Wiedergänger. Christliche Dämonologie Als personifizierte Ursachen von Vorgängen, die erst auf der Stufe empirisch-wissen- schaftlicher Naturbeobachtung erklärt werden können, finden wir Dämonen, die durch Zeremonien oder Abbildungen beschworen und magisch gebannt werden können, in der Frühstufe aller Kulturen, wo der Animismus an eine von Dämonen beseelte Natur glaubt. Weltreligionen wie das Christentum greifen diese Dämonenvorstellungen auf, konkretisieren sie immer wieder in neuen Gestalten und Kreaturen und verändern auch deren faktische, symbolische oder allegorische Bedeutung. Der Glaube an Dämonen war im Mittelalter ganz selbstverständlich. Die christliche Dämonologie sah und sieht in den Dämonen nicht die Verkörperung eines bösen Urprinzips, sondern gefallene Engel, die in ihrem sündigen Hochmut Gott zu gleichen nicht wesensmäßig böse sind, sondern durch freien Willen schuldig wurden. Ihr oberster Repräsentant Luzifer wurde nach au- ßerbiblischer Überlieferung durch den Erzengel Michael in die Hölle gestürzt. Origines sah im Sturz der Engel eine übergeschichtliche himmlische Vorsehung, die die Schöp- fungs- und Heilsgeschichte bestimmt. Im Engelsturz verbreite sich das Dämonische im
Dämonen, Monster, Fabelwesen 21 Abb. 3 Luftraum über der Welt und über der Unterwelt. Als Beherrscher der Lüfte sehen Augu- stin in De divinatione daemonum (um 410/40) oder Hrabanus Maurus in De magicis ar- tibus (um 850) die Dämonen, denen sie eine ätherische, alles Körperliche durchdringende Wesenhaftigkeit sowie teuflischen Zauber und Magie zuschreiben. Analog zur himmlischen Hierarchie nahm man auch eine Teufelshierarchie an. An der Spitze steht der Höllenfürst mit mancherlei Namen wie Beelzebub, Belial, Gottseibei- uns, Mephistopheles, Luzifer, Satan oder Teufel. Er tritt auf in verschiedenen Erschei- nungsweisen wie der des Mischwesens als Gehörnter oder Bocksfüßiger, in Tiergestalt als Hahn oder Schlange und vor allem als Ungeziefer, in Gestalt von Fabelwesen als Drache. Sein Vetter Antichrist gehört zu den dämonischen Gestalten der mittelalterlichen Escha- tologie. Geboren vor dem Weltuntergang von einer jüdischen Hure zu Babylon ähnelt sein Lebensweg dem Christi. Nachdem er vergeblich versucht hatte, sich den Zugang zum Himmel zu erzwingen, wurde er in die Abgründe des Erdinneren verbannt. Die christliche Theologie handhabte von Anfang an die Dämonologie in der Ausein- andersetzung mit den heidnischen Göttern, die von Tertullian, Ambrosius oder Augustin zu Dämonen erklärt wurden, an deren Existenz es keinen Zweifel geben konnte und die den Menschen Angst und Schrecken einjagten (Abb. 3).
22 Werner Wunderlich Der Theologe Maximus Confessor nannte im 7. Jahrhundert als den wichtigsten Grund, warum Gott den Dämonen erlaube uns anzugreifen, daß wir so über die Versu- chung das Laster verabscheuen lernen und die innere Freiheit erlangen, niemals unsere Schwächen zu vergessen und an Gott und seine Erlösungskraft fest zu glauben. In solcher Tradition rationalisiert die kirchliche Teufelslehre, die offizielle Satanologie, bis heute den Mythos und differenziert zwischen dem prinzipiell Bösen und dem personifizierten Bö- sen. Sie überträgt die Idee der Theodizee, das im freien Willen gründende Erz- und Erb- übel, mutatis mutandis auf die bis zum jüngsten Tag allgegenwärtigen Dämonen, die sich in stetem apokalyptischen Kampf mit den Engeln um die Seele des Menschen befinden. Dämonen im Mittelalter Gelehrte Schriften, Kunst und Literatur vermittelten im Mittelalter dämonologische Vorstellungen. Das 4. Laterankonzil von 1215 formulierte lakonisch: »Diabolus enim et alii daemones a Deo quidem natura creati sunt boni, sed ipsi per se facti sunt mali.« (Denn der Teufel und die anderen Dämonen wurden von Gott der Natur nach als gut erschaffen, doch wurden sie durch sich selbst böse.) Unter Berufung auf Augustins De civitate Dei (413 – 26) nannte Thomas von Aquin in der Summa Theologica (um 1267/73) die Dämo- nen einen »genus simulans deos et animas defunctorum«, eine Art, die die Gestalt von Göttern und die Geister Verstorbener annimmt. Im Dialogus Miraculorum (1219 – 23) des Caesarius von Heisterbach, in den Erzählwerken von Vincent de Beauvais, Stefan de Bellevilla oder in den Legenda aurea (um 1260/67?) des Jacobus a Voragine tummeln sich Dämonen in teuflischer und tierischer Gestalt, als Soldaten, Bauern und immer wieder als lüsterne Verführerinnen. Oft ist ihr Auftreten von Lärm und Schwefelgestank begleitet. Es sind Exempla, in denen es um die Auseinandersetzung des Menschen mit Dämonen und die Überwindung dämonischer Mächte geht. Seit dem 15. Jahrhundert entstand eine reiche Literatur, die sich wie die Chronologia mystica (1515) des Johannes Trithemius oder wie die Occulta philosophia (1531) des Agrippa von Nettesheim mit der Beschwö- rung und Bannung der magia daemonica sowie mit Aussehen und Wirken von Dämonen befaßte und – auch unter dem Einfluß kabbalistischen Gedankenguts – in Schriften wie dem berüchtigten Malleus maleficarum, dem Hexenhammer (1487), ein diagnostisches System zur Identifizierung von Hexen und Schwarzen Magiern entwarf. Die Einteilung von Geistern nach den vier Elementen versprach dabei eine Pseudo-Systematik, denn ihre Logik verdankte sich der spekulativen Naturphilosophie beispielsweise eines Theophra- stus Paracelsus. Dessen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandribus (1556) be- schrieb Wesen, die als Najaden, Undinen oder in der Figur der Lorelei durch die natur- romantische Dichtung des 19. Jahrhunderts dann wieder neu belebt wurden. Da diese weiblichen Dämonen keine Seele haben, sehnen sie sich nach der Verbindung mit Men- schen, um an deren Transzendenz teilzuhaben. Schon im Liber quaestionum (1508) hatte Trithemius doziert, daß Dämonen zumeist in weiblicher Gestalt erschienen, weshalb die sexuelle Begierde bei ihnen besonders ausgeprägt sei. Freilich, eindringen in die weibli- chen Körper können die sexistischen Dämonen am leichtesten mit männlicher Unter- stützung bei der Kopulation. Die mittelalterliche Ikonographie kennt Dämonen vor allem in der Kirchenplastik: zum einen in der Gestalt phantastischer zoomorpher Mischwesen; zum anderen als häu- fig geflügelte, schwarze Teufel. Erstere finden sich zu Hauf an den Kapitellen der West-
Dämonen, Monster, Fabelwesen 23 portale, an den sogenannten Bestienpfeilern, sowie an Taufsteinen von Kirchen. Als Fein- de der Heiligen besiedelten die Dämonen den Westen, von wo aus sie die Kirchen gewis- sermassen belagerten und bestürmten, wo sie mit magischen Zeichen gebannt und durch den Gegenangriff der Engel unter Führung Michaels geschlagen wurden. Mit der Gotik verschwanden die Dämonen weitgehend aus den Kirchen und fristeten als Wasserspeier mit teuflischen Fratzen ihr Dasein unter den Dächern, um so den ausfahrenden Dämon darzustellen. Geflügelte Teufel gehören als fester Personalbestand zu den malerischen Darstellungen zahlreicher Fresken, Altäre, Buchillustrationen, Gemälde, Holzschnitte von den Austreibungen Besessener, von den Versuchungen der Heiligen, von Szenarien der Weltgerichte und Höllendarstellungen. Hieronymus Bosch und seine Nachfolger entwickelten als Gegenbild zur ikonographischen Heiligenwelt ein regelrechtes Genre des Dämonischen. Monster Begriff und Bedeutung Aus dem lateinischen »monstrum« für Wahrzeichen – bedeutungsähnliche Be- griffe sind »miraculum« (Wunderding), »portentum« (Vorzeichen), »osten- tum« (Omen) oder »prodigium« (Vor- bedeutung) – ist das im Singular und Plural verwendete Wort »Monster« ab- geleitet. Wir haben uns für diese einge- bürgerte neudeutsche Form, die auch im Englischen gebräuchlich ist, ent- schieden. Schon in der Antike verstand die Medizin unter dem Begriff »mon- stra« Menschen und Tiere mit angebo- renen Fehlbildungen, die sogenannten Mißgeburten, die oft gleich nach der Geburt getötet wurden. Reisebeschrei- bungen und Naturschilderungen ver- setzen ganze Völkerschaften von Mon- stern zumeist in exotische Länder, wes- halb ihre wirkliche Existenz kaum nachgeprüft werden konnte. Weil ange- borene Fehlbildungen oft den Nimbus von Wunderbildungen, »terata«, besa- ßen, wurde daraus der Begriff Teratolo- Abb. 4 gie für die medizinische Lehre von den angeborenen Mißbildungen. Der drei- köpfige Höllenhund, der den Hades
24 Werner Wunderlich Abb. 5 bewacht, Kerberos, wird auch als ein Teras bezeichnet, und Platon nennt ein wunderli- ches, abnormes Wesen Teratolos. Widernatürliche, normabweichende Variationen, An- omalien und Deformationen sind also die Merkmale von tierischen und menschlichen Monstern von Mißgeburten, Zwittern, Riesen, Zwergen, Doppelbildungen, Vielbrüsti- gen, Wesen mit über- und unterzähligen oder zusammengewachsenen Extremitäten, Mischwesen aus verschiedenen Tieren oder aus Mensch und Tier (Abb. 4). Daß derartige Wesen als reale oder fiktive Erscheinungen unnatürlich, unmenschlich und aufgrund ihres monströsen Aussehens nicht nur fremdartig, sondern auch unheim- lich, wild und fürchterlich wirkten, liegt auf der Hand. Deshalb steht das deutsche Wort »Ungeheuer« für das, was Schutz, Sicherheit, Vertrautheit vermissen läßt, als Synonym
Dämonen, Monster, Fabelwesen 25 für Monster, das aus der Sicht des Schutzlosen und Schwachen widerwärtig, gräßlich, ent- setzlich, grauenvoll und furchterregend ist (Abb. 5). Ein Geschöpf, das auf solche Weise Abscheu erregt, ist deshalb auch ein schreckeneinjagendes Scheusal; ein Begriff, der von »Scheuche« im Sinne von Schreckbild abgeleitet ist. Wesen, Erscheinungsweise und Funktion Solche Sichtweise identifiziert dann natürlich auch Eigenschaften und Verhaltensweisen von Monstern in diesem negativen Sinn als feindselig, bösartig, widerwärtig, ungestüm, gierig, schändlich und abscheulich. Monster verschlingen gerne fremde Kinder, schieben ihre eigenen unförmigen, häßlichen als Wechselbälger den Wöchnerinnen unter, sodaß eine Familienplage daraus wird. Eine rühmliche Ausnahme unter den Monstern ist Bar- dewitt, der fünfköpfige wendische Gott des Friedens, des Handels und der fünf Sinne. Die Dämonisierung der Monster warf auch praktische Fragen des Glaubensvollzugs auf. Die Unterscheidung von beseelten und unbeseelten Monstern war für die Taufpraxis bei- spielsweise entscheidend. Nach Konrad von Megenberg (Buch der Natur, vor 1350) wa- ren jene Monster seelenlos, die durch kosmische Einflüsse gezeugt und mit einem Vieh- haupt geboren worden waren. Diese sollten nicht getauft werden. Auch für Petrus de Abano (Conciliator differentiarum philosophorum medicorum, um 1310) war die Kopf- form eines Lebewesens ausschlaggebend für die Einstufung als Mensch und damit für die Taufe. Entstehung und Verbreitung von natürlichen Monstern Vergleichsweise nüchterne Theorien für die Entstehungen von Monstern waren in der Antike verbreitet und gründeten auf medizinischen Beobachtungen und einleuchtenden Folgerungen. Schläge oder Stöße auf den Leib der Schwangeren, die Enge des Uterus oder Erkrankungen des Unterleibs wurden als Ursachen für Fehlbildungen gehalten. Da- neben aber gab es auch magische Auffassungen wie jene, die Träume und Trugbilder einer Schwangern für die ursächlichen Faktoren von Mißgeburten hält: der Anblick oder die Vorstellung von etwas Abscheulichem, Widerwärtigem während der Schwangerschaft könne teratogene Wirkung haben. Ein Aberglaube, der über viele Jahrhunderte lebendig blieb und sich im mittelalterlichen Teufels- und Hexenwahn austobte. Allerdings kennt auch unser Jahrhundert mit der imagologischen Erklärung von Leberflecken und Feuer- malen noch derartige volkstümliche Ansichten. Aber Monster entstehen auch durch die Einnahme verbotener und gefährlicher Mittel. Die Wiener Genesis (um 1060/80?) bei- spielsweise schreibt Pflanzen letztere Wirkung zu: Adam habe seine Töchter vergeblich vor dem Verzehr embryotoxischer Kräuter gewarnt, weswegen die Monster in die Welt gekommen seien. Vielfältig sind die Ansichten über die Entstehung von Monstern durch oder nach dem Zeugungsakt. Hildegard von Bingen war überzeugt, daß Monster die Frucht wider- natürlicher Verbindungen seien. Sodomie, Geschlechtsverkehr mit Tieren und Sexual- kontakte zu Teufeln und Dämonen galten im Mittelalter und gelten in manchen Aber- glauben auch heute noch ganz allgemein als eine der möglichen Ursachen für die Entste- hung monströser Geschöpfe. Abartiger Verkehr während der Menstruation sollte Miß- bildungen beim Neugeborenen hervorrufen, und die Seitenlage beim Koitus sei für
26 Werner Wunderlich Klumpfuß und Schiefwuchs verantwortlich. Durch die Vereinigung mit Dämonen, Fa- belwesen oder Tieren während einer bestimmten Planetenkonstellation sollten ebenfalls diverse Monster wie Hermaphroditen, Albinos oder Kyklopen gezeugt werden. Zwer- gen- oder Riesenwuchs sei von einer zu geringen oder zu großen Spermamenge abhängig, und Zwitter- wie Doppelbildung vermutete man als Folge einer Sameneinnistung in der Scheitelkammer des siebenzelligen Uterus. Für Albertus Magnus waren solche Mißge- burten Störungen in der natürlichen Entwicklung der Individuen, womit er einer der we- nigen Gelehrten war, der sich eher auf naturkundliche Beobachtungen denn dämonolo- gische Spekulationen stützte. Indes, nach mittelalterlicher Vorstellung gehörten sie – ebenso wie die Dämonen – zum erklärten Weltplan des Schöpfers. Angesichts der medizinisch-rationalen Unzulänglichkeit solcher Erklärungen und angesichts des erschreckenden Aussehen der Monster lag es nahe, daß reale Monster dä- monisiert und daß phantastische Monster vor allem als Fabelwesen eigens zu diesem Zwecke erfunden wurden. Das Vergnügen an Kuriosem und der Glaube an das Wunder- bare verband sich mit dem Bedürfnis, in diesen Geschöpfen existentielle Ängste zu ver- anschaulichen. In bildlicher wie literarischer Darstellung dienten sie deshalb als Grusel- wesen und Unholde. In mittelalterlichen Epen sind sie Widersacher von Helden, so wie Kundrie von Parzival oder Ydrogant von Apollonius. Auch die Heraldik kannte abnorme Wappentiere wie den doppelköpfigen Adler (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nati- on) oder den zweischwänzigen Löwen (Böhmen). Vor allem Bildzeugnisse und weniger Textzeugen überliefern uns eine Vielzahl von Monstervorstellungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei bieten illustrierte Flugblätter wie die schon erwähnte Samm- lung Wickiana (1560 – 87), Weltchroniken wie Hermann Vincents Liber chronicarum (1495), polyhistorische Weltbeschreibungen wie Sebastian Münsters Cosmographey (1544) und zahlreiche Reisebeschreibungen des Späten Mittelalters und der Frühen Neu- zeit eine Fülle von Anschauungsmaterial für die Sensationslust an Mirakulösem, Exoti- schem, Mysteriösem. Oft ist der Realitätsgrad nur sehr schwer zu bestimmen, wenn Phantasmagorien wichtigste Anregerinnen für die Illustratoren sind. Da bestimmte Fehl- bildungen etwa des Vorderkopfes nicht lebensfähig sind, dürften zyklopische oder rüs- selköpfige Mißbildungen bei Erwachsenen ins Reich der Phantasie gehören oder nach Hörensagen entstanden sein. Im 16. Jahrhundert entstand – auch unter dem Einfluß anatomischer Studien wie Andreas Vesalius’ berühmtem Werk De humani corporis fabrica (um 1550) – eine regel- rechte Monsterliteratur. Jacob Rueffs Hebammenbuch De conceptu et generatione homi- nis (1554), Conrad Wolfhardts Wunderbuch Prodigiorum ac ostentorum chronicon (1557) oder Ambroise Parés chirurgisches Werk Des monstres tant terrestres que marins avec leurs portraits (1573), das im übrigen die Vererbung als ursächlichen Faktor an- nimmt, sind Beispiele illustrierter teratologischer Darstellungen. Diese enthalten neben medizinischen Erklärungen auch dämonologisches und abergläubisches Gedankengut und beeinflußten damit die Schulmeinung der Gelehrten bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Bekanntes Bespiel dafür ist das Werk De monstris (1616) des Philosophen Lice- tus von Padua, der nach Obduktionsbefunden als Ursachen für die Terata göttliche (su- pranaturale), satanische (infranaturale) und physische Gründe nannte. Darstellungen wie die des italienischen Arztes Ulisse Aldrovandus, Monstrum historia (1642), und des Jesuiten Caspar Schott, Physica curiosa sive mirabilia naturae et artis (1662), setzten die- se Tradition fort.
27 Abb. 6 Kurz nach 1560 schuf vermutlich der Florentiner Bartolomeo Ammanati im Auftrag von Vicino Orsini der Park von Bomarzo bei Viterbo als ein »Schauerarkadien«, in dem Ar- chitektur und Plastik als verzerrte Wahnvorstellungen und irreale Kuriositäten als künst- liche Natur Gestalt und Form angenommen haben (Abb. 6). Die monströse Entstellung der Natur durch überdimensionale Abnormalitäten und hypermanieristische Monumen- talität erinnern an die zeichnerischen Monster von Leonardo da Vinci oder Michelangelo und haben surrealistisch-visionären Künstler wie Max Ernst oder Dali immer wieder als Inspiration gedient. Seit den Bauernkriegen und der Reformation hatte sich aus den monströsen Darstel- lungen auch die Stilrichtung der Karikatur entwickelt, mit der die politischen und kon- fessionellen Protagonisten und Antagonisten durch groteske Körperverzerrungen oder tierische Attribute monströse Gestalt annahmen, um derart als Scheusal verhöhnt wer- den zu können. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Papstesel auf weit verbreiteten Flug- blättern zur Zeit Luthers und Melanchthons. Diese Zeichen- und Maltechnik, die wir seit den Flugschriften des Vormärz vor allem auch von politische Karikaturen kennen und in den surrealistischen Bildern beispielsweise von Max Ernst, Magritte oder Dali sowie in den skurrilen, an Rabelais’ Gestalten erinnernden Figurenkombinationen aus Körpertei- len, geometrischen Figuren oder Zeichenwerkzeugen des polnischen Graphikers Zyg- munt Januszewski (Abb. 7 auf der folgenden Seite) entdecken können.
28 Werner Wunderlich Abb. 7
29 Fabulöse Monster Eine ganze Reihe von Fabelwesen haben als fiktive Geschöpfe monströse Merkmale, die nach dem Vorbild von Mißbildungen ersonnen waren. Namentlich die Naturalis historia (vor 79 n. Chr., deutsch 1543) von Plinius d. Ä. kennt eine Vielzahl solcher phantasti- scher Menschen und Tiere, die oft in Äthiopien oder Indien beheimatet sind: Acephalen sind kopflose Menschen, Ambaren Vierfüßler ohne Ohren und Amphisbaena zweiköp- fige Schlangen, Antipoden Menschen mit nach rückwärts gekehrten Füßen. Choroman- daren sind behaarte Menschen, die nur brüllen können. Auf allen vieren laufen Artabati- ten, und die mundlosen Astomen ernähren sich vom Duft. Außerdem erzählt Plinius von Menschen ohne Nase, ohne Zunge, mit vier Augen, verwachsenen Mündern, riesiger Un- terlippe und sechsfingrigen Händen, von Frauen mit doppelten Pupillen, vom Volk der schleppbeinigen Himantopoden, vom Volk der Panotier mit überlangen Ohren, vom Volk der Skiapoden mit riesenhafter, schattenspendender Fußsohle, von den skythischen Hippopoden mit Pferdehufen (Abb. 8). Als Menschen mit vorstehenden Eckzähnen be- schreibt Isiodor von Sevilla die Kynodoten, und die Epistola Premonis (10./11. Jahrhun- dert) berichtet von kahlköpfigen Frauen mit brustlangen Bärten. In den volkssprachli- chen Literaturen kämpfen die Helden mit solchen Monstern in Gestalt von Riesen wie dem Heiden Fierrabras, von Waldmenschen oder von Ungeheuern wie dem gierigen und schrecklich grausamen Grendel, dem Herr- scher des Moores. Die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit kennt sie vor allem im Zu- sammenhang mit wundersamen Begeben- heiten oder auch als Mißgeburten wie Berta mit den großen Füßen, die Tochter von Flore und Blancheflur. Fabelwesen Begriff und Bedeutung Der Begriff »fabula« bezeichnet in Antike und Mittelalter eine erfundene Geschichte, erzählt im epischen Präteritum, und meint damit auch abwertend die unwahre Erzäh- lung. Für das Mittelalter sind die entwick- lungsgeschichtliche Wirklichkeit sowie die naturwissenschaftliche Richtigkeit der fa- bula bedeutungslos, weil sich Wahrheit al- lein durch eine Entsprechung zum Heilsge- schehen erweist. Es ist unwichtig, ob das Einhorn real existiert, wenn es dank metho- discher Bibelhermeneutik vom Physiologus als typologische Verkörperung Christi ver- Abb. 8
30 Werner Wunderlich Abb. 9 standen wird. Zum biblischen Typus »Herabkunft des Erlösers und Menschwerdung im Schoß der Jungfrau« wird gleichsam als Antitypus in einer quasi-naturkundlichen Ge- schichte das Einhorn als typologische Inkarnation von Passion und Auferstehung Jesu ersonnen. Die fabula stellt das Einhorn so dar, als ob es eine in der Natur vorgegebene Eigenschaft durch sein Dasein nur auslege. So werden res naturales durch die bibelexege- tische Methode der Typologie fiktiv erschaffen und mit Artmerkmalen ausgestattet, die den tatsächlichen res naturales gleichen und von diesen faktisch nicht mehr unterschie- den werden. Deshalb auch kennt das Mittelalter auch nicht den Terminus »creatura fabu- lae«. Das Kompositum »Fabelwesen« fügt ja Begriffe aus den uns heute nur konträr vor- kommenden Bedeutungsbereichen des Erfundenen und der Natur zusammen, um Ge- schöpfe als imaginäre, als nicht-existente Kreaturen zu kennzeichnen. Dieses Verständ- nis aber wurde erst in der Aufklärung auf den Begriff Fabelwesen gebracht, und zwar weil fiktive Naturerscheinungen empirisch-rational von realen zu unterscheiden begonnen worden waren. Aus dem von Carl von Linné entwickelten Ordnungssystem von Fauna und Flora unseres Planeten waren die Fabelwesen verbannt. Im aufgeklärten Verständnis sind deshalb Fabelwesen real nicht existierende, aber in Antike und Mittelalter für real ge- haltene mythische Geschöpfe (Abb. 9), die von den erdichteten und unwahren fabula ausgedacht worden waren und die in Literatur und Kunst sowie in der Volksüberlieferung ein Eigenleben zu führen begonnen hatten.
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