Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich

Die Seite wird erstellt Gesine Schmid
 
WEITER LESEN
Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich
Amt und Gemeinde
65. Jahrgang, Heft 4, 2015                                                 € 6, –

                              Martin Buber
                              zum 50. Todestag

                              Dialog und Anerkennung.
                              Zur Aktualität des Querdenkers Martin Buber
                              Thomas Krobath                                 227

                              Jüdisch-islamische Begegnung:
                              Der Mensch wird am Du zum Ich
                              Amena Shakir                                   241

                              Begegnung und Erfahrung bei Martin Buber.
                              Eine christlich-orthodoxe Perspektive
                              Nicolae Dura                                   253

                              Begegnung und Vergegnung.
                              Martin Buber im ambivalenten Diskurs
                              mit der Psychologie
                              Susanne Heine                                  265

                              Lernen und Bildung. Aspekte anthropologisch-
                              pädagogischer Grundfragen und Antwort­-
                              versuche von Paul Tillich und Martin Buber
                              Wilhelm Schwendemann                        278
                              

Evangelischer Presseverband   Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT

Editorial .................................................................................................. 225
Thomas Krobath

Dialog und Anerkennung. Zur Aktualität
des Querdenkers Martin Buber .............................................................. 227
Thomas Krobath

Jüdisch-islamische Begegnung: Der Mensch wird am Du zum Ich.
Annäherungen an das Werk des deutsch-jüdischen
Religionsphilosophen Martin Buber aus islamischer Sicht .................... 241
Amena Shakir

Begegnung und Erfahrung bei Martin Buber.
Eine christlich-orthodoxe Perspektive ................................................... 253
Nicolae Dura

Begegnung und Vergegnung. Martin Buber im
ambivalenten Diskurs mit der Psychologie ........................................... 265
Susanne Heine

Lernen und Bildung. Aspekte anthropologisch-pädagogischer
Grundfragen und Antwortversuche von Paul Tillich und Martin Buber
Wilhelm Schwendemann ............................................................................ 278

                                                     ***

Anhang

AutorInnen .............................................................................................. 290
Jahresregister 2015 ................................................................................ 291
Impressum .............................................................................................. 294
 MARTIN BUBER

Editorial

ICH
            muss es noch einmal sagen:                    auch von seinen Schriften, ansprechen
            Ich habe keine Lehre. Ich                     und bewegen zu lassen.
zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit,
ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was                  Wer aber lässt sich heute auf Martin Bu-
nicht oder zu wenig gesehen worden ist.                   ber ein? Wer kennt ihn noch?
Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der
Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße                 Dieses Heft erscheint anlässlich des Ge-
das Fenster auf und zeige hinaus.                         denkjahres zum 50 Todesjahr von Martin
                                                          Buber (8.2.1878 in Wien – 13.6.1965 in
Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein                  Jerusalem). Haben Sie, geneigte Leserin,
Gespräch.“1                                               geneigter Leser, davon etwas mitbekom-
                                                          men? Im Zuge der Vorbereitung auf eine
Diese vielzitierten Sätze zeugen von der                  Tagung zu Martin Buber sprach ich viele
Größe des Denkers Martin Buber, den                       Menschen auf Buber an. Vielen, vor al-
Kern seiner Anstrengungen in bescheiden                   lem in meiner Generation, ist Buber kein
klaren Worten auf den Punkt zu bringen.                   Unbekannter, doch mit seinen Schriften
Zugleich steckt in ihnen ein ungeheurer,                  sind nur wenige etwas näher vertraut. In
herausfordernder Anspruch getragen von                    der Generation unter und über zwanzig
einer Denken und Handeln durchdrin-                       erschien Buber als nahezu gänzlich Un-
genden Sorge um das lebendige Du: „Du                     bekannter, auch aus dem Religionsun-
sollst dich nicht vorenthalten“2. Sich auf                terricht gab es keine Erinnerung an ihn,
Buber einlassen bedeutet sich von ihm,                    sofern es denn einen Religionsunterricht
                                                          gab. Das ist sicher nicht repräsentativ,
1   Buber, Martin (1961): Aus einer philosophischen       aber erschreckend symptomatisch. Un-
    Rechenschaft, in: Buber, Martin (1962): Werke.        sere Tagung versuchte darum auch, (Re-
    Erster Band. Schriften zur Philosophie. München –
    Heidelberg: Kösel und Lambert Schneider, 1114.        ligions-)lehrerInnen anzusprechen (siehe
2   Diese oft erwähnte Formulierung Bubers findet         den nächsten Beitrag).
    sich z. B. in der Rede von Albrecht Goes anlässlich
    der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen
    Buchhandels an Martin Buber in Frankfurt 1953,        Martin Buber, Schriftsteller, Denker
    siehe Goes, Albrecht (1956): Ruf und Echo, Frank-
    furt  a. M.: Fischer, 155.                            (theologischer, philosophischer), durch
                                                          und durch religiöser Denker, in allem

Amt und Gemeinde                                                                              225
ein Querdenker, Übersetzer, Erzieher,        Buber gilt als Vorreiter des heute im-
politisch wacher Zeitgenosse und Han-        mer wichtigeren interreligiösen Dialogs.
delnder – und in allem exemplarisch ein      Amena Shakir fragt nach der Bedeutung
jüdisches Schicksal im 20. Jahrhundert       von Buber für MuslimInnen in Europa
verkörpernd. Ihn kurz darzustellen oder      heute. Nicolae Dura setzt sich mit B
                                                                                ­ uber
vorzustellen ist ein unmögliches Unter-      aus einer orthodoxen theologischen Per-
fangen, zu komplex und vielschichtig ist     spektive auseinander. Bubers Philosophie
sein Werk und Wirken. Die Beiträge die-      des Gesprächs umkreisen die anderen Bei-
ses Heftes versuchen einerseits, exempla-    träge aus unterschiedlicher disziplinärer
risch und bruchstückhaft, andererseits, in   Sicht: Susanne Heine zeigt an Bubers
unterschiedlicher Weise zentrale Aspekte     Auseinandersetzung mit der Psychologie
des Werkes zu bedenken oder des Wirkens      die Problematik einer empirisch verengten
zum Ausdruck zu bringen.                     Weltsicht auf. Wilhelm Schwendemann
                                             streicht die Bedeutung von Begegnung
                                             und Beziehung als zentrale pädagogische
                                             Kategorie in theologischer Reflexion he-
                                             raus. Ich benenne einleitend Aspekte des
                                             Dialogdenkens.

                                                                    Thomas Krobath

226                                                                Amt und Gemeinde
 MARTIN BUBER

Dialog und Anerkennung.
Zur Aktualität des Querdenkers Martin Buber

Zu seinem 50. Todestag wurde dem jüdischen Denker und Religi-

onsphilosophen Martin Buber außerhalb einer gewissen Fachwelt

relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hat der Querdenker, der in

kein Schema passt und sich von niemandem vereinnehmen lassen

wollte, heute nichts mehr zu sagen? Ist seine Dialogphilosophie

bereits überstrapaziert oder gibt es an ihr und mit ihr noch vieles

zu entdecken?

                                             Von Thomas Krobath

Amt und Gemeinde                                                227
Gedenkjahr 2015                                            dene Martin Buber Kolloquium fand am
                                                           22. und 23. Mai 2015 in Kooperation von
Angesichts der Bedeutung, die Martin                       IRPA und KPH Wien / Krems (Kirchliche
Buber zugeschrieben wird1 und deren                        Pädagogische Hochschule) statt4. Unter
Evidenz sich LeserInnen seiner Werke                       der leitenden Frage „Wer war Martin Bu-
unmittelbar erschließt, war es anlässlich                  ber? Wer wird er für uns heute“? setzten
des 50. Todestages (8.2.1878 in Wien –                     sich PädagogInnen, ReligionspädagogIn-
13.6.1965 in Jerusalem) in seiner Ge-                      nen, TheologInnen, PsychologInnen, Phi-
burtsstadt2 relativ ruhig um ihn. Der                      losophInnen und ein Physiker, Buber-For-
Koordinierungsausschuss für christlich-                    scherInnen und Buber-Interessierte mit
jüdische Zusammenarbeit widmete seine                      unterschiedlichen Facetten von Bubers
Generalversammlung am 18. Mai 2015                         Werken und Wirken auseinander5. Im Zen-
mit einem Festvortrag dem Gedenken an                      trum stand Bubers Dialogphilosophie. Ein
Martin Buber. Der Inhaber der Martin-Bu-                   wichtiges Element der Tagung war auch
ber-Professur an der Goethe-Universität                    das von Fachleuten angeleitete Lesen von
Frankurt, Christian Wiese, sprach über                     ausgewählten Texten in kleinen Lektüre-
„Polyphone Wahrheit und dialogisches                       gruppen. Besonders hervorzuheben ist die
Denken in der jüdischen Religionsphilo-                    Präsenz von MuslimInnen, ChristInnen
sophie des 20. Jahrhunderts“3.                             und JüdInnen auf dieser Tagung6.
   Die Initiative zur einzigen größeren
Tagung ging bemerkenswerterweise von
der IRPA (Hochschulstudiengang für
das Lehramt für Islamische Religion an
Pflichtschulen) aus. Damit kommt die
Wirkung von Buber als Pionier des in-                      4   Siehe www.kphvie.ac.at/neues-an-der-kph/top-news/
                                                               article/martin-buber-kolloquium.html sowie
terreligiösen Dialogs in besonderer Weise                      www.irpa.ac.at/2015/08/03/beitrag-9. Weitere
zur Geltung: muslimische PartnerInnen                          Mitveranstalter waren die Pädagogisch-Staatliche
                                                               Iwan Franko Universität Drohobytsch und der Hoch-
laden ihre christlichen KollegInnen zum                        schullehrgang für Islamische Religionspädagogische
Gespräch über Buber ein. Das so entstan-                       Weiterbildung (IHL Wien).
                                                           5   Die Vorträge des Kolloquiums erscheinen 2016 mit
                                                               dem Tagungsband: Krobath, Thomas / Shakir, Amena,
                                                               Stöger, Peter (Hg.): Buber begegnen. Interdiszipli-
1   Siehe im Überblick vor allem Wehr, Gerhard (2010):         näre Zugänge zu Martin Bubers Dialogphilosophie.
    Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung. Gütersloh:           Frankfurt a. M.: Arco Wissenschaft.
    Gütersloher Verlagshaus; Kuschel, Karl-Josef (2015):
    Martin Buber – seine Herausforderung an das Chris-     6   Im Nachhinein kommt diesem Auftreten eine sym-
    tentum. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.                bolische Bedeutung zu, da unter den Rahmenbedin-
                                                               gungen der Umsetzung des neuen Systems der Leh-
2   Dem wenig beleuchteten Aspekt der Beziehung                rerInnenbildung in Österreich (PädagogInnenbildung
    Bubers zu Wien bzw. des Einflusses der Wie-                Neu) mittlerweile eine enge Kooperation zwischen
    ner Kultur auf Buber geht Eleonore Lappin in               KPH, IRPA und JRPA geplant und verhandelt wird.
    einem online-Artikel nach: www.david.juden.at/             Siehe http://oe1.orf.at/programm/416939 und
    kulturzeitschrift/66-70/67-Lappin.htm.                     www.kphvie.ac.at/fileadmin/Dateien_KPH/News/
3   Siehe www.christenundjuden.org/berichte/607-               Fotos/PA_KPH_Ausbildung_islamischer_Religions-
    generalversammlung-2015-martin-buber.                      lehrerInnen_an_Pflichschulen_IRPA.pdf.

228                                                                                      Amt und Gemeinde
Chassidische Tradition,                                       berührt. „In der chassidischen Bot-
Dialog und Verdeutschung                                      schaft ist die Trennung von ‚Leben
der Schrift                                                   in Gott‘ und ‚Leben in der Welt‘, das
                                                              Urübel aller ‚Religion‘ in echter, kon-
Martin Buber gehört zu den weltweit an-                       kreter Einheit überwunden. […] Emp-
erkannten geistigen Größen, die das Nach-                     fangend und handelnd weltverbunden
denken über die Möglichkeiten menschli-                       steht der Mensch, vielmehr nicht ‚der‘,
chen Zusammenlebens im 20. Jahrhundert                        sondern dieser bestimmte Mensch, du,
mit ihren Impulsen geprägt haben. Die                         ich, unmittelbar vor Gott“8. Gott als
allgemeine Bekanntheit wird meist mit                         das ewige Du ist auch die Grundlage
folgenden drei Stichworten oder Themen                        von Buber Begegnungsdenken des Ich
zusammengefasst, für die Martin Buber                         und Du. Auch Bubers Religionskritik
steht. Sie durchziehen sein Schaffen als                      als Distanz zu religiösen Systemen ist
durchgehende Lebensthemen oder las-                           hier verankert. Die Unverfügbarkeit
sen sich auch als unterschiedliche Seiten                     des lebendigen Gottes ist für ihn nicht
seines Wirkens erschließen, die perspek-                      in sichere Aussagen überführbar. Bu-
tivisch aufeinander bezogen sind: Chas-                       ber beschreibt seinen eigenen Standort
sidische Tradition, dialogisches Prinzip                      jenseits religiöser Sicherheit als einen
und Verdeutschung der Schrift.                                „schmalen Grat“, als einen „engen Fels-
                                                              kamm zwischen den Abgründen“, wo
1. Buber ist der literarische Vermittler                      es nur „die Gewissheit der Begegnung
   und geistige Dolmetscher chassidi-                         mit dem verhüllt Bleibenden“ gebe9.
   scher Traditionen des osteuropäischen
   Judentums. Er hat sich von der ersten                  2. Am weitesten dürfte Bubers Bekannt-
   Begegnung als Jugendlicher am väter-                      heit als der Philosoph des Ich-Du rei-
   lichen Hof in der Nähe von Lemberg                        chen, auch jenseits der religiösen
   an ein Leben lang mit dieser jüdischen                    Verwurzelung seines Denkens. Das
   Volksfrömmigkeit auseinander gesetzt                      „dialogische Prinzip“10 ist unverwech-
   und darin auch seine eigene Glaubens-
   haltung als „einen beständigen und in-                 8   Buber, Martin (1952): Die chassidische Botschaft,
   timen Dialog zwischen Mensch und                           in: Buber, Martin (1963): Werke. Dritter Band.
                                                              Schriften zum Chassidismus. München-Heidelberg:
   Gott“ gefunden7. Die mystisch-exis-                        Kösel und Lambert Schneider, 748–754.
   tenzielle Botschaft des Chassidismus                   9   Buber, Martin (1943/1948): Das Problem des
                                                              Menschen , in: Buber, Martin (1962): Werke. Erster
   lässt Gott in jedem Ding schauen, sieht                    Band. Schriften zur Philosophie. München-Heidel-
   alles in der Welt von Gottes Funken                        berg: Kösel und Lambert Schneider, 383 f.
                                                          10 Buber, Martin (2009): Das dialogische Prinzip. Gü-
                                                             tersloh: Gütersloher Verlagshaus (11. Auflage). Der
                                                             als Taschenbuch erhältliche Sammelband umfasst
7   Vgl. Kirsch, Hans-Christian (2001): Martin Buber.        die berühmtesten Dialog-Schriften Bubers (z. B. „Ich
    Biografie eines deutschen Juden. Freiburg im Breis-      und Du“ von 1923) und ist 1954 zum ersten Mal
    gau: Herder, 63.                                         aufgelegt worden.

Amt und Gemeinde                                                                                             229
selbar mit Bubers Namen verbunden.                         Nach dem frühen Tod von Rosenzweig
   Seine Dialogphilosophie, die näher hin                     1929 vollendet Buber das Werk erst
   natürlich im Kontext mit anderen Den-                      1961. Der Gebrauch eines Wortes wie
   kern gesehen werden muss (Ferdinand                        „Verdeutschung“13 statt „Übersetzung“
   Ebner, Franz Rosenzweig, Hermann                           o. ä. ist höchst bedeutsam. Er zielt auf
   Goldschmidt), rückt die direkte, unmit-                    einen steigenden kirchlichen Antise-
   telbare Begegnung zwischen zwei und                        mitismus in den zwanziger Jahren in
   mehr Menschen in das Zentrum sei-                          Deutschland, in dem eine deutsche Bi-
   ner kommunikativen und diskursiven                         bel das „Alte Testament“ ignorieren
   Praxis sowie seiner anthropologischen                      oder degradieren kann, letztlich ohne
   Reflexionen. Dialog ist der Akt und der                    es auskommt. Eine Verdeutschung also
   Ort der Begegnung: Menschen treten                         gegen marcionitische Tendenzen. Aber
   miteinander in Beziehung im Vollsinn                       auch eine Annäherung an die hebräi-
   der wechselseitigen Anerkennung als                        schen Schriften für deutsche Juden,
   Menschen, die sich partnerschaftlich                       die der hebräischen Sprachtradition
   einander aussetzen und aufeinander                         entfremdet waren. Die sprachschöpfe-
   einlassen. Das dialogische Prinzip ist                     rische Verdeutschung sucht die Nähe
   als ein zukunftsweisender Entwurf für                      zum masoretischen Ursprungstext
   nötige Formen des menschlichen Zu-                         und entfremdet die Texte einer Lese-
   sammenlebens ungebrochen aktuell11.                        gewohnheit, sie als christliche Texte
                                                              wahrzunehmen, und macht sie zugleich
3. Buber hat den Weg des Dialogs ge-                          auch jüdischen LeserInnen zugänglich.
   sucht, die Bewegung von der Kon-                           Das Buberdeutsch kontrastiert die Ver-
   frontation zum Dialog, z. B. von der                       christlichung durch das Lutherdeutsch,
   Entfremdung zur Partnerschaft von Jü-                      aber es geht Buber „nicht um Juden-
   dInnen und ChristInnen. Im Dienste                         tum oder Christentum […], sondern
   einer Wiederbelebung der „gemein-                          um die gemeinsame Urwahrheit, von
   samen Urwahrheit“ steht das Projekt                        deren Wiederbelebung beider Zukunft
   einer „Verdeutschung“ der Hebräi-                          abhängt“14.
   schen Bibel, das Buber 1925 gemein-
   sam mit Franz Rosenzweig startet12.

11 Marek, Jana / Schopp, Johannes (2013): Das
   dialogische Prinzip – nötiger denn je!, in: Reichert,
   Thomas / Siegfried, Meike/Waßmer, Johannes (Hg.):
   Martin Buber neu gelesen. Lich / Hessen: Edition AV,
   101–132; Reichert, Thomas (2013): Warum Buber?          13 Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemein-
   Eine Lesart zu seiner Bedeutung für heute, in: ebd.,       sam mit Franz Rosenzweig. Mit Bildern von Marc
   37–69.                                                     Chagall. Gütersloh 2007: Gütersloher Verlagshaus.
12 Siehe dazu Kuschel, Karl-Josef (2015): Martin           14 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 14: Schriften
   Buber – seine Herausforderung an das Christentum.          zur Bibelübersetzung (Hg. von Ran HaCohen).
   Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 279 ff.                Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, 227.

230                                                                                      Amt und Gemeinde
Den ChristInnen                                           das ist unschöpferisch, aus tausend Riten
ein kritischer Partner                                    und Dogmen gemischt“16.
                                                             Das harmonisierende Bild, mit dem
Buber eröffnete das Gespräch mit Chris-                   Bubers Beziehung zum Christentum
tInnen lange bevor es zum sogenannten                     oberflächlich verbunden wird, hält einer
christlich-jüdischen Dialog kam, der sich                 Überprüfung nicht stand. Das spätere Di-
einer kritischen Selbstbesinnung auf Sei-                 alogdenken steht nicht im Gegensatz zur
ten der Kirchen in Deutschland nach der                   Arbeit an der jüdischen Identität und ih-
Schoah verdankt und an sein Gesprächs-                    rer Abgrenzung. Bezeichnend für Bubers
angebot aus der Weimarer Zeit anknüpfen                   Lebenserfahrungen scheint eine Szene
konnte. Buber ist in den Zeiten rassisti-                 aus seiner Zeit am Kaiser-Franz-Joseph-
scher Hetzkampagnen und Deportationen                     Gymnasium in Lemberg (1888–1896),
seitens protestantischer Theologen mit                    die er im hohen Alter in seinen autobio-
Judenmission und theologisch zugeschrie-                  graphischen Fragmenten wiedergibt. Un-
bener „Fremdlingschaft unter den Völ-                     ter den polnischen katholischen Schülern
kern“ (so der Tübinger Neutestamentler                    gibt es eine kleine jüdische Minderheit.
Gerhard Kittel 193315) konfrontiert. Seine                Während des Morgengebets mit Dreifal-
intellektuelle Entwicklung jedoch hat ihn                 tigkeitsformel
über die geistige (kulturzionistische) Neu-
bestimmung des Judentums auch zur Aus-                        „standen wir Juden unbeweglich da,
einandersetzung mit den christlichen Ur-                      die Augen gesenkt. Ich habe schon an-
sprüngen und mit der Gestalt Jesu geführt.                    gedeutet, dass es in unserer Schule kei-
In seinen „Reden über das Judentum“                           nen spürbaren Judenhass gab; ich kann
aus dem Jahr 1910 markiert Buber be-                          mich kaum an einen Lehrer erinnern,
reits früh eine deutliche Abgrenzung zum                      der nicht tolerant war oder doch als tole-
Christentum, das er von seinen jüdischen                      rant gelten wollte. Aber auf mich wirkte
Voraussetzungen her als „Ur-Judentum“                         das pflichtmäßige tägliche Stehen im tö-
versteht: „Was am Christentum schöpfe-                        nenden Raum der Fremdandacht schlim-
risch ist, ist nicht Christentum, sondern                     mer als ein Akt der Unduldsamkeit hätte
Judentum, und damit brauchen wir nicht                        wirken können. Gezwungene Gäste; als
Fühlung zu nehmen, brauchen es nur in                         Ding teilnehmen müssen an einem sak-
uns zu erkennen und in Besitz zu nehmen,                      ralen Vorgang, an dem kein Quäntchen
denn wir tragen es unverlierbar in uns; was                   meiner Person teilnehmen konnte und
aber am Christentum nicht Judentum ist,                       wollte; und dies acht Jahre lang Morgen

15 Siehe ausführlich bei Kuschel, Karl-Josef (2015):      16 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 3: Frühe jüdische
   Martin Buber – seine Herausforderung an das Chri-         Schriften (Hg. von Barbara Schäfer). Gütersloh:
   stentum. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 171 ff.      Gütersloher Verlagshaus 2007, 248 f.

Amt und Gemeinde                                                                                          231
um Morgen: das hat sich der Lebenssub-                Am Schandpfahl der Menschheit stehend,
      stanz des Knaben eingeprägt“17.                       gegeißelt und gefoltert, demonstrieren wir
                                                            mit unserem blutigen Volksleib die Un-
So wird jenseits eines spürbaren Juden-                     erlöstheit der Welt. Für uns gibt es keine
hasses real-symbolische Ausgrenzung                         Sache Jesu, nur eine Sache Gottes gibt
als prägende Erfahrung eines Juden in                       es für uns“20. Die Schoah wird zu einem
der christlichen Gesellschaft eindrück-                     grauenhaften Zeichen der Unerlöstheit
lich auf den Punkt gebracht: anwesend                       der Welt. Buber sieht darin messianische
und ignoriert in einer Fremdandacht. In                     Ansprüche des christlichen Glaubens als
heutigen Zeiten interreligiösen Lernens                     widerlegt. Jesus wird in die Sache Gottes
ist es wichtig, diese Erfahrung, für die                    gestellt und in das Judentum heimgeholt21.
Buber das Wort „Fremdandacht“ kreiert                       Jahrhundertelang wurde mit der Messia-
hat, im Bewusstsein zu behalten. Um das                     nität Jesu den Juden ihre Legitimität ab-
Gestalten religiöser Feiern im Angesicht                    gesprochen. Buber kehrt den Spieß um.
der Anderen oder miteinander wird sehr                      Kann sich der christliche Glaube auf den
gerungen. Interkonfessionelle und interre-                  konkreten Jesus von Nazareth, den Juden
ligiöse Gastfreundschaft ist hier an einem                  Jesus, gründen? Mit Bezug auf Buber for-
sensiblen Punkt angelangt18.                                muliert Ebeling die Radikalität der Frage:
                                                            Kann man „den christlichen Glauben radi-
                                                            kaler in Frage stellen […], als wenn man
Was ist ein echtes                                          ihn im Namen Gottes um des Glaubens
Religionsgespräch?                                          willen unter Berufung auf Jesus in Frage
                                                            stellt?“22
Buber hat Jesus als seinen „großen Bru-                        In der unerlösten Welt des nationalso-
der empfunden“19, ohne dass damit seiner                    zialistischen Judenhasses geht Buber über
Kritik am Christentum der Stachel gezo-                     Abgrenzung und Kritik weit hinaus. Mit
gen würde. Es bleibt die grundsätzliche                     seinem dialogischen Begegnungsdenken
Haltung, dass „wir Jesus nie als gekom-                     stellt Buber dem Konzept der christlich-
menen Messias anerkennen werden […].                        theologischen Vergegnung mit dem Ju-
                                                            dentum die Begegnung und das Gespräch
17 Buber, Martin (1960): Begegnung. Autobiographi-          entgegen. Im Jahr 1930 schrieb Buber:
   sche Fragmente. Heidelberg: Lambert Schneider, 21.
18 Zur interreligiösen Auseinandersetzung um interreli-
   giöses Beten siehe z. B. Brocke, Edna / Zirker, Hans /
   Kaddor, Lamya (2009): Kann man zu einem „Gott            20 Buber, Martin (1985): Pfade in Utopia. Heidelberg:
   der abrahamitischen Religionen“ beten?, in: Englert,        Lambert Schneider (1. Auflage 1950), 378.
   Rudolf et al (Hg.): Gott im Religionsunterricht. Jahr-   21 Den Begriff von der „Heimholung Jesu in das jüdi-
   buch der Religionspädagogik, Band 25, Neukirchen-           sche Volk“ prägt Ben Chorin, Schalom (1962): Das
   Vluyn: Neukirchener, 91–105.                                Jesus-Bild im modernen Judentum, in: ders.:
19 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 9: Schriften               Im jüdisch-christlichen Gespräch. Berlin: Vogt, 61
   zum Christentum (Hg. von Karl-Josef Kuschel).               (der Aufsatz wurde zuerst 1953 publiziert).
   Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, 206 (in der     22 Ebeling, Gerhard (1975): Wort und Glaube. Band 3.
   Schrift „Zwei Glaubensweisen“ von 1950).                    Tübingen: J. C. B.Mohr (Paul Siebeck), 239.

232                                                                                       Amt und Gemeinde
„Eine Zeit echter Religionsgespräche be-                  wechselseitiger Anerkennung. Der „tech-
ginnt“. Vor seinem zeitgeschichtlichen                    nische“ Dialog hingegen dient „der Not-
Hintergrund nimmt sich diese Ansage vi-                   durft der sachlichen Verständigung“. Als
sionär und zukunftsweisend aus und sei                    dritte Form führt Buber die missbräuch-
darum in der aktuellen Situation, in der                  liche Verwendung des Wortes Dialog in
viele ob der täglichen Horrormeldungen                    der Gestalt des „dialogisch verkleideten
über islamistischen Terror am interreligi-                Monologs“ an. Im Scheindialog wird vor
ösen Dialog zweifeln, besonders beachtet.                 allem ein Kriterium nicht erfüllt: „Dialo-
                                                          gisches Leben ist […] eins, in dem man
     „Eine Zeit echter Religionsgesprä-                   mit den Menschen, mit denen man zu tun
     che beginnt, – nicht jener so benann-                hat, wirklich zu tun hat“25.
     ten Scheingespräche, wo keiner seinen
     Partner in Wirklichkeit schaute und an-
     rief, sondern echter Zwiesprache, von                Verschiedene Gottes-
     Gewissheit zu Gewissheit, aber auch                  geheimnisse anerkennen
     von aufgeschlossner Person zu aufge-
     schlossner Person. Dann erst wird sich               Im Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus hat
     die echte Gemeinschaft weisen, nicht die             Buber jüdisch-christliche Gespräche ge-
     eines angeblich in allen Religionen auf-             führt. Er sah diese nicht auf einer offizi-
     gefundenen gleichen Glaubensinhalts,                 ellen Ebene von Religionsgemeinschaften
     sondern die der Situation, der Bangnis               und ihren autorisierten Vertretern. Buber
     und der Erwartung.“23                                war auch kein Rabbiner. Das letzte denk-
                                                          würdige Stuttgarter Lehrhaus-Gespräch
Was versteht Buber unter einem echten                     fand am 14.1.1933, wenige Tage vor Hit-
Religionsgespräch? Er unterscheidet an                    lers „Machtübernahme“, mit dem evan-
dieser Stelle „dreierlei Dialog“ und führt                gelischen Neutestamentler Karl Ludwig
als ersten den „echten“ ein. Der echte Dia-               Schmidt statt26. Schmidt vertritt in tradi-
log zeichnet sich dadurch aus, dass „jeder                tioneller und eindeutiger Weise den An-
der Teilnehmer den oder die anderen in                    spruch der Kirche, das neue, wahre Israel
ihrem Dasein und Sosein wirklich meint                    zu sein. Es geht darum, dass die Juden
und sich ihnen in der Intention zuwen-                    der Kirche des Messias Jesus einverleibt
det, dass lebendige Gegenseitigkeit sich
zwischen ihm und ihnen stifte“24. In der
echten Zwiesprache ereignet sich leben-                   25 A. a. O., 167.
dige Gegenseitigkeit auf der Grundlage                    26 Ausführlich dargestellt bei Kuschel, Karl-Josef
                                                             (2015): Martin Buber – seine Herausforderung an
                                                             das Christentum. Gütersloh: Gütersloher Verlags-
                                                             haus, 195 ff. Schmidt, ein Gegner des Nationalso-
23 Buber, Martin (2009): Das dialogische Prinzip. Gü-        zialismus, verliert noch 1933 seinen Lehrstuhl und
   tersloh: Gütersloher Verlagshaus (11. Auflage), 149.      emigriert in die Schweiz. Buber bleibt bis 1938 in
24 A. a. O., 166.                                            Deutschland.

Amt und Gemeinde                                                                                             233
werden sollen. Er vertritt einen exklusiven           Bubers „zukunftsweisendes Ge­sprächs­­
kirchlichen Heilsanspruch.                         angebot“29 wird zu seiner Zeit in Deutsch-
   Buber dagegen vertritt keinen An-               land nicht aufgegriffen, auch Schmidt
spruch. Bubers Idee der zwei Glaubens-             geht in seiner Replik nicht darauf ein.
weisen, der zwei Wege keimt auf, indem er          Buber hat Maßstäbe für den jüdisch-
hier das Anderssein von Kirche und Israel          christlichen Dialog von heute gesetzt:
nebeneinander stellt statt das eine durch          „die Selbstanerkennung und die Aner-
das andere zu ersetzen. Es geht ihm um             kennung des anderen“30. Ein echter Di-
ein „grundverschiedenes Wissen“, dass              alog braucht gemäß Klapperts späterer
er so ausdrückt: „Aber wir Israel wissen           Antwort auf Buber die Anerkennung des
um Israel von innen her, im Dunkel des             Geheimnisses Israels durch die Kirche
von innen her Wissens, im Lichte des von           und mit Bezug auf Bubers „Ich und Du“
innen her Wissens. Wir wissen um Israel            den Grundsatz, „dass man den anderen
anders […], wir wissen, dass wir doch              nicht auf das hin befragt, was er aufge-
nicht verworfen sind“27. Gegenüber Gott            geben hat, sondern auf das hin befragt,
gibt es für Buber ein bleibendes Neben-            was er zu geben hat“31. Bubers Verweis
einander von Kirche und Israel, für das            auf die bleibende Erwählung Israels hat
er die Kategorie der Anerkennung geltend           sich heute in christlichen Stellungnahmen
macht: „Jedes echte Heiligtum kann das             weitgehend durchgesetzt32. Sie ist aber
Geheimnis eines anderen echten Heilig-             nur ein, wenn auch wichtiger, Bestand-
tums anerkennen“. Darum können Juden               teil der Zumutung, die Buber angesichts
und Christen, die ihr je eigenes Geheimnis         der Bedrohung des Atomzeitalters 1959
nur von innen her kennen können (und               ausspricht und die uns in den heutigen
auch nicht von außen das jeweils andere),          Krisen herausfordert: „Eine Zusammen-
„nichtwissend […] einander im Geheim-
nis anerkennen“. Es geht nicht um eine
                                                   29 So der Gelehrte Daniel Krochmalnik, zitiert bei
Einheit der Verschiedenen, sondern „in-               Kuschel (2015), 212.
dem wir unter Anerkennung der Grund-               30 Stegemann, Ekkehard (1988): Auf dem Weg zu
verschiedenheit in rücksichtslosem Ver-               einer biblischen Freundschaft. Das Zwiegespräch
                                                      zwischen Martin Buber und Karl Ludwig Schmidt,
trauen einander mitteilen, was wir wissen             in: Kremers, Heinz / Schoeps, Julius H. (Hg.): Das
von der Einheit dieses Hauses […], die-               jüdisch-christliche Religionsgespräch, Stuttgart-
                                                      Bonn: Burg-Verlag, 146.
nen wir getrennt und doch miteinander,             31 Klappert, Berthold (1982): Martin Buber und der
bis wir einst vereint werden in dem einen             christlich-jüdische Dialog, in: Licharz, Werner
                                                      (Hg.): Dialog mit Martin Buber. Frankfurt a. M.:
gemeinsamen Dienst“28.                                Haag + Herchen, 67.
                                                   32 Belege dazu bei Kuschel (2015), 226 ff. Zur „dia-
                                                      logischen Wende“ in der interreligiösen Arbeit der
                                                      ökumenischen Bewegung und des Ökumenischen
27 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 9: Schriften      Rates der Kirchen siehe Bernhardt, Reinhold (2005):
   zum Christentum (Hg. von Karl-Josef Kuschel).      Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen
   Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, 156.      und ihre theologische Reflexion. Zürich: Theologi-
28 A. a. O., 159.                                     scher Verlag.

234                                                                              Amt und Gemeinde
arbeit der Religionsgemeinschaften ist in             Mit dem geistigen Aufbruch nach dem
unserer Zeit erforderlicher als je vorher.         Ende des ersten Weltkrieges wird im phi-
[…] Die Mitglieder verschiedener Glau-             losophisch-anthropologischen Nachden-
bensgemeinschaften sollen einander nicht           ken vermehrt die grundlegende Bedeu-
‚dulden‘, sondern in einem gemeinsamen             tung des Dialogs herausgearbeitet. Als
Dienst am Menschen […] die Bindung                 „dialogische Wende“ gilt die Abkehr von
an Gott als eine gemeinsame erfahren               einer monologischen cartesianischen Er-
und wahren“33.                                     kenntnistheorie oder von einem Denken
                                                   aus einer Subjekt-Objekt-Logik heraus.
                                                   Dem idealistischen Erkenntnissubjekt
Dialogische Wende?                                 werden das empirische Ich und seine Ich-
                                                   Du-Unterscheidung entgegengesetzt34.
Aus Bubers ersten Religionsgesprächen              Inspiriert von Ferdinand Ebner, Martin
wird deutlich, dass es sich bei „Dialog“           Buber, Franz Rosenzweig und Hermann
um keine einfache Gesprächsform han-               Goldschmidt sowie vermittelt über Da-
delt. Sein genannter Gesprächspartner              vid Bohm35 hat sich das Dialogdenken in
hat sich nicht darauf eingelassen. Buber           vielen Wissenszweigen und Handlungs-
konnte aber aufzeigen, welche Ernsthaf-            feldern etabliert. Wie wirksam es letzt-
tigkeit es braucht, sich aufeinander ein-          lich schon geworden ist, bedarf jeweils
zulassen, und welche weiterführenden               differenzierter Analysen, denn zwischen
Chancen es bringt, aufeinander zu hö-              ernsthaften Dialogprozessen und ober-
ren. Heute kann man davon ausgehen,                flächlichem Dialoggehabe lassen sich
dass „Dialog“ in aller Munde ist, aber             keine seriösen Einschätzungen machen.
auch als anspruchsvolles Konzept Ver-              So steht beispielsweise der erstaunlichen
breitung gefunden hat. „Dialog“ scheint            Fülle an Dialogansätzen in der Manage-
immer notwendiger zu werden. Die viel-             mentliteratur und den in ihr propagierten
fach beschriebenen tiefgreifenden Verän-           Konzepten der letzten 20 Jahre36 eine häu-
derungen unserer Lebensweisen und der              fig dialogarme Alltagserfahrung in vielen
ökonomischen und sozialen Strukturen               Organisationen und Lebensbereichen ge-
bringen wachsenden Gesprächsbedarf                 genüber. Es scheint darüber hinaus, dass
mit sich. Wie soll es denn weitergehen             wir vor allem im politischen Bereich eine
mit alledem? Wir suchen nach Verstän-
digungsformen, die über das Vertreten              34 Siehe dazu Schrey, Heinz-Horst (1970): Dialogisches
eigener Interessen hinausgehend nach gu-              Denken. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
ten Lebensmöglichkeiten für alle fragen.           35 Sein Dialogansatz wird im posthum 1996 erschie-
                                                      nenen Werk vorgestellt: Bohm, David (1998): Der
                                                      Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussio-
                                                      nen (Hg. von Lee Nichol). Stuttgart: Klett-Cotta.
33 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 9: Schriften   36 Siehe dazu Rautenberg, Michael (2010): Der Dialog
   zum Christentum (Hg. von Karl-Josef Kuschel).      in Management und Organisation – Illusion oder
   Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, 328.      Perspektive? Heidelberg: Carl-Auer Verlag.

Amt und Gemeinde                                                                                       235
dialogische Wende37 in vielen zukunfts-                     ligionen, Weltanschauungen bis hin zu Fe-
relevanten Entscheidungsfragen noch vor                     ministinnen, KünstlerInnen und Kunst40.
uns haben.
   Der ehemalige Wiener Professor für
Systematische Theologie, Kurt Lüthi38,                      Dialog und Anerkennung
vollzog schon relativ früh im Anschluss
an Martin Buber eine dialogische Wende                      Eine zentrale Aussage Bubers lautet: „Im
der Theologie mit seinem 1971 erschie-                      Anfang ist die Beziehung“41. Personale
nenen Buch „Theologie als Dialog mit                        Existenz gründet in der Beziehung, die als
der Welt von heute“. Er entwickelt darin                    Ich-Du-Beziehung näher begründet wird.
ein Verständnis von Dialogik als „Theo-                     Durch die Berührung des Du, durch die
rie der existentiellen Praxis, die auf dem                  Teilnahme am Mitsein tritt die einzelne
Vorrang des ‚Zwischen‘ beruhe“39. Indem                     Person im Raum des „Zwischen“, also
er Theologie und Kirche in ihren dialogi-                   zwischen zwei oder mehreren Personen in
schen Potentialen ausleuchtet und die Bu-                   Erscheinung. Personale Existenz gründet
bersche Ich-Du-Relation als Strukturvor-                    in der Beziehung zwischen Menschen,
gabe für den Dialog mit gesellschaftlichen                  sie ist nicht außerhalb der Wechselsei-
Gruppen und Positionen anwendet, führt                      tigkeit realer Begegnung denkbar. „Alles
er in seinem ganzen akademischen und                        wirkliche Leben ist Begegnung“42. In der
praktischen Wirken das Gespräch mit den                     relationalen Sphäre des Zwischen ent-
Anderen, von anderen Konfessionen, Re-                      faltet sich Beziehungskraft, entsteht und
                                                            wachsen Identität und Sozialität in einem
                                                            koevolutiven dialogischen Prozess. In der
                                                            Modellsprache moderner Systemtheorie43
                                                            gelesen: Es entsteht ein neues soziales
                                                            System des „Zwischen“ der beteiligten
                                                            Gesprächspartner, die in ihren Individu-
37 In vielen ethischen Ansätzen hat eine dialogische
   Wende dergestalt stattgefunden, dass Ethik zu einer
   dialogischen Angelegenheit wurde: moralische
   Fragen müssen kommunikativ verhandelt werden,
   so z. B. prominent im Werk von Jürgen Habermas.          40 Aus heutiger Sicht könnte man sagen, Lüthi habe
   Eine andere Spielart der dialogischen Wende ist z. B.       das Dialogmodell von Buber von Anfang an als ein
   das Konzept „the dialogical turn“ von Camic und             transdisziplinäres Unternehmen weiter entwickelt,
   Joas, das dem wissenschaftstheoretisch produktiven          siehe die Beiträge in der neueren Buberforschung
   Umgang mit der Vielfalt von Theorieansätzen dienen          bei Mendes-Flohr, Paul (Ed.) (2015): Dialogue as a
   soll, siehe Camic, Charles / Joas, Hans (Eds.) (2004):      Trans-disciplinary Concept. Martin Buber’s Philo-
   The dialogical turn. Lanham: Rowman & Littlefield.          sophy of Dialogue and its Contemporary Reception.
                                                               Berlin: Walter de Gruyter.
38 Kurt Lüthi (1923–2010), Schweizer reformierter
   Theologe, lehrte von 1964–1990 Systematische             41 Buber, Martin (2009): Das dialogische Prinzip. Gü-
   Theologie an der Evangelisch-theologischen Fakultät         tersloh: Gütersloher Verlagshaus (11. Auflage), 22.
   der Universität Wien. Er engagierte sich u. a. auch      42 A. a. O., 15.
   im christlich-jüdischen Dialog.                          43 In der Luhmannschen Ausprägung, vgl. Luhmann,
39 Lüthi, Kurt (1971): Theologie als Dialog mit der            Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer
   Welt von heute. Freiburg i. Br.: Herder, 19.                allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

236                                                                                        Amt und Gemeinde
alitäten dessen erste relevante System-                  menschliche Beziehungsabhängigkeit46
umwelt bilden.                                           vermag Buber in großartiger poetischer
                                                         Verdichtung auszudrücken, darum sei er
     „Die Sphäre des Zwischenmenschlichen                ausführlich zitiert:
     ist die des Einander-gegenüber; ihre
     Entfaltung nennen wir das Dialogische.                   „Aus dem Gattungsreich der Natur ins
     […] Der Sinn des Gesprächs findet sich                   Wagnis der einsamen Kategorie ge-
     weder in einem der beiden Partner noch                   schickt, von einem mitgeborenen Chaos
     in beiden zusammen, sondern nur in die-                  umwittert, schaut er heimlich und scheu
     sem ihrem leibhaften Zusammenspiel,                      nach einem Ja des Seindürfens aus, das
     diesem ihrem Zwischen“44.                                ihm nur von menschlicher Person zu
                                                              menschlicher Person werden kann;
Die Sphäre des Zwischen beruht auf                            einander reichen die Menschen das
wechselseitiger Anerkennung. Buber                            Himmels­brot des Selbstseins“47.
geht anthropologisch von einem doppel-
ten Prinzip aus: Menschsein setzt sich der               Gegenseitigkeit begründet Dia-logik in
Welt gegenüber und tritt in Beziehung zu                 einem relationalen Denken. Die Kategorie
ihr. Menschsein gibt es nur in konkreten                 des Anderen ist konstitutiv für die Perso-
menschlichen Individuationen, die zuei-                  nalität des Individuums. Darum liegt die
nander in Beziehung treten müssen, um                    Verwirklichung von Menschsein nicht in
sich ihres Selbstseins zu vergewissern, zu               Individuation, sondern in Vergegenwär-
vergegenwärtigen. „Vergegenwärtigung“                    tigung der jeweils Anderen, in ihrer Be-
nennt Buber den zentralen Vorgang in der                 gegnung als der elementarer Dimension
Sphäre des Zwischen: Menschwerdung                       ihres Seins. Der dialogische Charakter
vollzieht sich nicht im inneren Selbstver-               der Sprache, des gesprochenen Wortes
hältnis des distanzierten „Ich“, sondern                 ermöglicht Begegnung. „Das Wort, das
„aus dem zwischen dem Einen und dem                      gesprochen wird, begibt sich […] in der
Anderen, unter Menschen also vornehm-                    schwingenden Sphäre zwischen den Per-
lich aus der Gegenseitigkeit der Vergegen-               sonen, der Sphäre, die ich das Zwischen
wärtigung […] in einem mit der Gegen-
seitigkeit der Akzeptation, der Bejahung
                                                         46 Diese philosophisch-anthropologische Denkent-
und Bestätigung“45. Die vor allem seit                      wicklung seit Rousseau wird vor allem von Todorov,
Rousseau immer stärker herausgearbei-                       Tzvetan (1998): Abenteuer des Zusammenlebens.
                                                            Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt
tete Einsicht in die konstitutive zwischen-                 a. M.: Fischer, instruktiv herausgearbeitet. Er ist auch
                                                            einer der ganz wenigen AutorInnen im Anerken-
                                                            nungsdiskurs, die Martin Buber aufgreifen, obwohl
44 Buber, Martin (2009), a. a. O., 276.                     sich hier dichte Bezüge erschließen.
45 Buber, Martin (1950): Urdistanz und Beziehung , in:   47 Buber, Martin (1950), ebd. Siehe auch den Satz von
   Buber, Martin (1962): Werke. Erster Band. Schriften      Todorov: „Ein jeder hat das Recht zu existieren, und
   zur Philosophie. München-Heidelberg: Kösel und           er erheischt dazu den Blick des anderen“ (Todorov
   Lambert Schneider, 423.                                  a. a. O., 171).

Amt und Gemeinde                                                                                               237
nenne und die wir niemals in den beiden                       wäre das eine Anerkennungsfunktion im
Teilnehmern aufgehen lassen können“48.                        Bereich der Ich-Es-Beziehung. Dialogi-
Sprache im performativen Sinn ist ele-                        sche Anerkennung zielt existentiell auf
mentar für die Dialogik der Anerkennung                       die Konstitution der Person in der Ich-
der Anderheit des Anderen in ihrem je-                        Du-Beziehung. Sie erschöpft sich nicht
weiligen „So-beschaffen-sein“, das der                        in der Bestätigung des So-Seins, sondern
Annehme und Bestätigung bedarf. „Das                          geht darüber hinaus:
echte Gespräch, und so jede aktuale Erfül-
lung der Beziehung zwischen Menschen,                              „Das Fundament des Mensch-mit-
bedeutet Akzeptation der Anderheit“49.                             Mensch-seins ist dies Zwiefache und
                                                                   Eine: der Wunsch jedes Menschen, als
                                                                   das was er ist, ja was er werden kann,
Dialogische Anerkennung                                            von Menschen bestätigt zu werden, und
des Möglichkeitsraumes                                             die dem Menschen eingeborene Fähig-
der Anderen                                                        keit, seine Mitmenschen eben so zu
                                                                   bestätigen“52
Bubers Verständnis von Anerkennung be-
ruht auf der Dynamik der dialogischen                         Nach Buber erstreckt sich die zwischen-
Beziehung, die Anerkennung konkret er-                        menschliche Anerkennung, wenn sie die
fahren lässt. Im Unterschied zu einem                         Ganzheit einer Person betrifft, auch auf
heute bestimmenden Begriff der sozia-                         dessen noch unausgeschöpfte Möglich-
len Anerkennung50 kann man hier von                           keiten53. Es geht um das Erschließen des
„dialogischer Anerkennung“51 sprechen.                        Anderen in „seiner Potentialität“ durch
Im Konzept der sozialen Anerkennung                           die Begegnung, das intensive Hören auf
besteht die Gefahr einer Reduktion der                        den Anderen „durch existentielle Kom-
Anerkennungsbeziehung auf die Funk-                           munikation zwischen einem Seienden und
tion der Bestätigung aufgrund sozial aner-                    einem Werden-könnenden“54. Begegnung
kannter Eigenschaften. Im Denken Bubers                       ist auf die Anerkennung auch des Anderen
                                                              in seinen Möglichkeiten ausgerichtet. Sie

48 Buber, Martin (1960): Das Wort, das gesprochen
   wird , in: Buber, Martin (1962): Werke. Erster Band.       52 Buber, Martin (1950), a. a. O., 428.
   Schriften zur Philosophie. München-Heidelberg:
   Kösel und Lambert Schneider, 443 f.                        53 Das wird vor allem von Ziegler herausgearbeitet,
                                                                 der sich m. E. als erster ausführlicher mit Bubers
49 Buber, Martin (1950), a. a. O., 421.                          Dialogphilosophie unter anerkennungstheoretischen
50 Im deutschsprachigen Diskurs vor allem von Hon-               Aspekten auseinander gesetzt hat: Ziegler, Walther
   neth beeinflusst, vgl. Honneth, Axel (1992): Kampf            Urs (1992):Anerkennung und Nicht-Anerkennung.
   um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik                     Studien zur Struktur zwischenmenschlicher Bezie-
   sozialer Konflikte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.                hung aus symbolisch-interaktionistischer, existenz-
51 So besonders Bonnemann, Jens (2013): Ist die Anerken-         philosophischer und dialogischer Sicht. Bonn-Berlin:
   nung ein dialogisches Geschehen?, in: Reichert, Thomas /      Bouvier, 113 ff.
   Siegfried, Meike / Waßmer, Johannes (Hg.): Martin Buber    54 Buber, Martin (2009), a. a. O., 287. Das gilt für Buber
   neu gelesen. Lich / Hessen: Edition AV, 298-325.              besonders in der Erziehung.

238                                                                                           Amt und Gemeinde
legt nicht auf einmal anerkannte Eigen-                     radikale Akzeptanz des anderen als Part-
schaften oder Wesenszüge fest und macht                     ner die Basis für ein sachliches Gespräch.
damit sensibel gegenüber der Falle einer                       Die Beteiligten bringen sich rückhaltlos
verkennenden Anerkennung55. Der Andere                      und ohne taktisches Kalkül in das Gespräch
wird nicht auf sein konkretes Anderssein                    ein. Die Gemeinschaft des dialogischen
festgelegt, sondern in diesem als seinem                    Wortes, das Zwischen lebt vom Vertrauens-
Möglichkeitsraum ernst genommen. An-                        vorschuss, mit dem ich mich dem Gespräch
erkennung umfasst mit der Anerkennung                       öffne. Ich lasse die anderen über meine
der Potentialität des Anderen auch dessen                   Sichtweise nicht im Dunkeln. Die Überwin-
Freiheit56. Damit wahrt Begegnung die                       dung taktischer Vorsicht ist das Wagnis, das
Freiheit des Anderen und macht Begeg-                       es zum echten Gespräch braucht.
nung als Entwicklungsrahmen sichtbar: In                       Dazu gehört der Verzicht darauf, auf
der Begegnung kann sich neues ereignen,                     die eigene Wirkung bedacht zu sein, zur
Begegnung kann die an ihr Beteiligten,                      Geltung kommen zu müssen. Das Ge-
die sich aufeinander einlassen, verändern.                  spräch ist für Buber eine Sphäre des zwi-
                                                            schenmenschlichen Seins, die durch den
                                                            Drang zum eigenen Scheinenwollen be-
Das echte Gespräch                                          einträchtigt werden kann.
                                                               Das echte Gespräch ist nicht nach ei-
Das dialogische Prinzip beinhaltet Vor-                     nem Regieplan steuerbar, es folgt dem
aussetzungen für das „echte Gespräch“57.                    Gang des Geistes. Erst sein Prozesscha-
Dieses versteht Buber als wahrhafte Hin-                    rakter gibt Raum für überraschend neue
wendung zum Gesprächspartner, die sich                      Einsichten. Darum sollen alle Teilneh-
als Anerkennung der Person des anderen                      menden bereit sein, sich darauf einzu-
manifestiert. Das Ja zur Person ist nicht                   lassen. Zudem sind alle Anwesenden als
schon die Zustimmung zum Standpunkt,                        Beteiligte anzusehen. Das echte Gespräch
zur Position des anderen. Die Entflechtung                  findet nicht vor Zuschauern statt.
von Person und Meinung bildet über die
                                                                 „Wo aber das Gespräch sich in seinem
                                                                 Wesen erfüllt, zwischen Partnern, die
                                                                 sich einander in Wahrheit zugewandt
55 Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung.
   Über Identität und Politik. Berlin: Suhrkamp. Bedorf          haben, sich rückhaltlos äußern und vom
   betont die Vorläufigkeit von Anerkennungsprozessen,
                                                                 Scheinenwollen frei sind, vollzieht sich
   um „die Stilllegung eines Prozesses der Identifizie-
   rung“ (a. a. O., 126) zu vermeiden. Buber word von Be-        eine denkwürdige, nirgendwo sonst sich
   dorf nicht einbezogen. Hier würden sich noch Bezüge
   zu Bubers Rede von der „Vergegnung“ (Buber, Martin
                                                                 einstellende gemeinschaftliche Frucht-
   (1960): Begegnung. Autobiographische Fragmente.               barkeit. […] Das Zwischenmenschliche
   Heidelberg: Lambert Schneider, 10) nahe legen.
                                                                 erschließt das sonst Unerschlossene“58.
56 Vgl. Ziegler, Walther Urs (1992), 211 f.
57 Siehe zum Folgenden: Buber, Martin (2009), a. a. O.,
   293 ff.                                                  58 A. a. O., 295.

Amt und Gemeinde                                                                                     239
Dialog meint nach Buber kein unverbind-       Kommunikationstechniken, die den Ein-
liches Plaudern. Er ist eine anspruchsvolle   druck erwecken, dass die bloße Tatsa-
und riskante Form der Begegnung aus           che des miteinander Redenkönnens zum
einer dialogischen Haltung heraus. Der        Dia­log befähigt. Smalltalk und interes-
Bezug auf Buber macht deutlich, wor-          sengesteuerte Diskussion karikieren ein
auf es vor jeder Verkürzung auf das Ge-       dialogisches Verständnis vom Menschen.
spräch als Methode ankommt: Es geht           Im Blick auf organisierte Arbeitskontexte
zuerst um eine reflektierte dialogische       oder politische Hierarchien käme dem
Haltung in einem höchst voraussetzungs-       Dialogischen radikal gedacht die Rolle
reichen und anspruchsvollen Geschehen.        des Anarchischen zu: Dialogische Egali-
Das Ideal einer geglückten Begegnung          tät würde bestehende Machtverhältnisse
bleibt für Buber jedoch eine gnadenhafte      außer Kraft setzen.                   ■
Erfahrung. Anderes suggerieren moderne

   Zusammenfassung

   Bubers vielschichtiges Denken wartet trotz breiter Rezeption noch immer darauf,
   unter der Oberfläche vielfach traktierter Formeln und Zitate tiefer erschlossen und
   in eine breitere Auseinandersetzung eingeführt zu werden. Sein Werk stellt unter
   anderem den Herausforderungen des Zusammenlebens von Menschen unterschied-
   licher religiöser Zugehörigkeiten, in die wir in unserem Kontext heute in einer noch
   nie da gewesenen Dichte und unaufschiebbaren Dringlichkeit und Wichtigkeit hin-
   ein gestellt sind, wichtige Grundlagen bereit: den Weg von der Konfrontation zum
   Dialog, vom Monolog zum echten Gespräch in einer lebendigen Begegnung; wech-
   selseitiges Anerkennen der grundverschiedenen Möglichkeiten und Gottesgeheim-
   nisse der jeweils Anderen; Gott nicht für eigene Interessen oder religiöse Systeme
   verzwecken; die Berufung zum gemeinsamen Dienst am Menschen annehmen.

240                                                                   Amt und Gemeinde
 MARTIN BUBER

Jüdisch-islamische Begegnung:
Der Mensch wird am Du zum Ich.
Annäherungen an das Werk des deutsch-
jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber
aus islamischer Sicht

Wie sehr können sich MuslimInnen in Europa von den Gelehrten

und Philosophen des europäischen Judentums auch in ihrem

Verständnis von Religion im Allgemeinen und vom Islam im Be-

sonderen inspirieren lassen? In diesem Beitrag wird ersichtlich,

welch bemerkenswerte Beziehungen diese miteinander verwandten

Religionen verbinden können.

                                              Von Amena Shakir

Amt und Gemeinde                                             241
D     ie Spannungen zwischen Judentum
      und Islam scheinen – zumindest seit
der aufgeheizten politischen Lage im Na-
                                                Der jüdisch-islamische Dialog steckt
                                             – zumindest in Österreich – noch in den
                                             Kinderschuhen. Dialogkreise, in welchen
hen Osten – unüberwindbar zu sein. Be-       theologische, aber auch spirituelle Frage-
sonnene Stimmen betonen zwar immer           stellungen beider Religionen systematisch
wieder, dass es sich hier um einen politi-   betrachtet und erörtert werden, bestehen
schen und nicht um einen Konflikt zwi-       nicht, selbst wenn erste Schritte in diese
schen Religionen handele, der nur auf        Richtung zu beobachten sind.1
einer politischen Ebene gelöst werden           Dabei bietet sich der pluralistische ös-
könne. Andere betonen jedoch lautstark       terreichische Kontext, in welchem, anders
die vorgeblich unbezwingbaren Differen-      als in anderen europäischen Ländern, der
zen und Barrieren zwischen den beiden        Islam gleichermaßen als Religionsgesell-
Religionen, die unweigerlich dazu führen     schaft staatlich anerkannt ist, besonders
müssten, jegliche Hoffnung in Dialog und     gut dazu an, abseits politischer Fragestel-
Aussöhnung zu verlieren. Diese Schwarz-      lungen eine interreligiöse Annäherung
weiß-Malerei, in welcher JüdInnen und        durchzuführen, denn – wie es der deut-
MuslimInnen per se als Feinde deklariert     sche Journalist Armin Langer ausdrückt:
werden, findet zunehmend Gehör auch im       Juden und Muslime sind keine Feinde.2
europäischen Kontext und hat Folgen für
das selbstverständliche und konstruktive
Zusammenleben von Menschen, die un-          Der jüdisch-islamische
terschiedlichen Religionen und Weltan-       Dialog steckt voller Über­-
schauungen angehören.                        raschungen und unerwarteter
   Wo stehen europäische MuslimInnen?        Gemeinsamkeiten
Welches Wissen haben sie über das Ju-
dentum, welche Beziehungen haben sie         Im Gegenteil. Im Zuge meiner Verant-
zu JüdInnen, begegnen sie einander und       wortung für die Ausbildung von Religi-
tauschen sie sich aus?                       onslehrerinnen und Religionslehrern be-
   In diesem Beitrag soll erörtert werden,   suchte ich mit jungen Studierenden der
ob europäische MuslimInnen im Leben          islamischen Religionspädagogik regel-
und Wirken des bedeutenden europäisch-       mäßig die Synagoge im Wiener Stadtzen-
jüdischen Religionsphilosophen, der als
assimilierter Jude des frühen 20. Jahrhun-
                                             1   Vgl. „Kopftuch, Kippa, Kreuz“ in: www.momagazin.at.
derts über den Zionismus zum Judentum            12.03.2015. Ein gemeinsames Interview des Wiener
fand, Anstöße für ihre eigene Auseinan-          Rabbiners Schlomo Hofmeister und des Islamischen
                                                 Religionslehrers Ramazan Demir über ihr Leben als
dersetzung mit und ihr Verständnis von           Jude und Muslim in Österreich.
Religion sowie ihre Präsenz bzw. ihre        2   Langer, Armin (9.3.2015): Muslime und Juden
                                                 sind keine Feinde. www.zeit.de/gesellschaft/zeitge-
Verantwortung in der Gesellschaft fin-           schehen/2015-03/juden-muslime-zusammenleben-
den können.                                      deutschland.

242                                                                         Amt und Gemeinde
trum. Ziel war der Besuch eines zentralen     Martin Bubers religiöse
Ortes jüdischen Lebens und eine Einfüh-       Wegmarken
rung in das Judentum aus erster Hand.
Diese Begegnungen wurden von den Stu-         Auch die Auseinandersetzung mit dem
dierenden zu Beginn oft kritisch betrach-     Leben und Wirken Martin Bubers birgt für
tet, viele hatten nur sehr wenige Informa-    MuslimInnen unerwartete Erkenntnisse,
tionen vom Judentum als Religion. Die         es sind durchaus markante Bezugspunkte
Besuche hatten automatisch zur Folge,         zum gegenwärtigen muslimischen Leben
dass politische Dimensionen ausgeblen-        in Europa zu entdecken.
det und ein Gespräch über Spiritualität,         Martin Buber wuchs nach der Tren-
über religiöse Traditionen, Sichtweisen       nung seiner Eltern bei seinen Großeltern
und Bräuche, möglich wurde. So erfuh-         in Galizien auf. Sein Großvater war jüdi-
ren viele der muslimischen Studierenden       scher Religionsgelehrter, der sich sowohl
erstmals, dass auch bei JüdInnen rituelle     der Tradition wie auch den mystischen Zu-
Reinheit eine große Bedeutung hat. Vie-       gängen des Judentums verpflichtet fühlte.
len war unbekannt, wie heilig den Juden       Eines seiner Forschungsfelder waren die
der Eigenname Gottes ist, so dass sie ihn     Erzählungen der Chassidim, die Bubers
aus Ehrfurcht nicht aussprechen. Dies war     Verständnis des Judentums bedeutend prä-
nicht für alle Studierende nachvollziehbar,   gen sollten.
haben manche von ihnen doch seit ihrer           Als Buber älter wurde, zog er in das
Kindheit die 99 Namen Gottes verinner-        assimilierte Haus seines Vaters ein und be-
licht, die für sie Ausdruck des bildlosen     schäftigte sich intensiv mit der deutschen
Gottesverständnis im Islam sind. So lern-     Literatur und ihren Dichter und Denkern,
ten sie ganz selbstverständlich Ähnlich-      besonders Nitzsche beeindruckte ihn
keiten der Religionen kennen, tauschten       nachdrücklich. Er entfernte sich immer
sich aber auch über Unterschiede aus. Das     mehr vom traditionellen Judentum, was
Urteil der Studierenden über die Besu-        sich unter anderem darin ausdrückte, dass
che und den Austausch war immer ähn-          er mit 14 Jahren damit aufhörte, die Tefil-
lich: Überraschung über die unerwarteten      lin zu legen; auch andere religiösen Riten
Gemeinsamkeiten und der Wunsch nach           praktizierte er bis an sein Lebensende
mehr Information und Begegnung.               nicht mehr.3 In seiner Studienzeit, die ihn
                                              von Wien auch nach Berlin, Zürich und
                                              Leipzig führte, lernte er den Zionismus
                                              und dessen Begründer, Theodor Herzl,
                                              persönlich kennen und begeisterte sich
                                              für dessen Idee. Allerdings lehnte er schon

                                              3   Vgl. Wehr, Gerhard (2010): Martin Buber. Leben  –
                                                  Werk – Wirkung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Amt und Gemeinde                                                                                 243
sehr früh die rein national-politische Deu-              Schule in Deutschland, die Erziehung „im
tung des Zionismus ab und setzte sich für                Sinne eines wahrhaften und lebendigen
einen ‚Kulturzionismus‘ ein, was zum                     Judentums inaugurieren sollte.“5 Er initi-
Bruch mit Herzl führte und zum Rückzug                   ierte Tagungen zur Reform des Bildungs-
aus dem zionistisch geprägten Denken. Er                 wesens und beteiligte sich schließlich in
vertrat die Ansicht, dass die grundlegen-                den 1930-er Jahren an der Gründung des
den Informationen über das Judentum bei                  Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt
Juden selbst immer mehr schwanden bzw.                   am Main, einer jüdischen Einrichtung der
nicht verfügbar waren und gründete des-                  Erwachsenenbildung. Er lehrte auch in der
halb schon im Jahre 1902 im Alter von 24                 Schweiz, in Holland und in Deutschland,
Jahren mit einem Freund den ‚Jüdischen                   bevor ihm 1935 jegliche öffentliche Lehr-
Verlag‘, der zum Ziel hatte, das Judentum                tätigkeit untersagt wurde und er 1938 nach
kulturell und geistig zu erneuern. Bevor                 Palästina einwanderte (auf diesen Begriff
er im Jahre 1925, inzwischen der einzige                 legte er großen Wert).
Professor für Religionswissenschaft und                      Der Lebenslauf Martin Bubers weist
jüdische Ethik in Deutschland, gemein-                   m.E. interessante Parallelen zu Lebens-
sam mit Franz Rosenzweig mit seinem                      läufen junger europäischer MuslimInnen
Lebenswerk, einer Übersetzung der Bi-                    auf, wie ich im Folgenden kurz skizzieren
bel aus dem Hebräischen ins Deutsche                     möchte: auch junge MuslimInnen erleben
begann, widmeten sich seine Veröffent-                   im europäischen Kontext eine Vielfalt an
lichungen der Mystik (in diesem Kontext                  islamisch geprägten Gedankenwelten und
erschien auch seine einzige Publikation,                 Gruppierungen, die parallel nebeneinan-
die sich spezifisch auf islamische Quellen               der Bestand haben und sich nur hin und
stützt4) sowie den chassidischen Überlie-                wieder berühren. Unterschiedlichste Aus-
ferungen. Darüber hinaus reflektierte er                 prägungen der Interpretation des Islam
über das Judentum und seine Rolle in der                 konkurrieren miteinander um das rechte
(Welt-) Gesellschaft, u. a. in der von ihm               Verständnis der Religion, weitgehend ‚as-
geleiteten Monatszeitschrift ‚Der Jude‘,                 similierte‘ Musliminnen und Muslime
die als Sprachrohr jüdischer Neubesin-                   disputieren mit ‚konservativen‘ und die
nung und Sammlung galt. 1923 veröffent-                  religiöse Praxis achtenden MuslimInnen
lichte er seine Grundschrift ‚Ich und Du‘.               teilweise in sehr polemischer Form um
    Bubers Bemühungen um Bildung und                     Inhalte, aber auch um den Rahmen so-
Ausbildung von Juden begleiteten kon-                    wie die Zukunft des Islam. Nicht wenige
sequent sein Leben. Er plante noch wäh-                  MuslimInnen finden ihren Zugang zur
rend des ersten Weltkrieges eine jüdische                Religion über den Umweg des Politischen,
                                                         oder des Mystischen, und es scheint mehr
4   Buber, Martin (1984, 5.Auflage): Ekstatische
    Konfessionen. Heidelberg: Lambert Schneider. Diese
    sind zum ersten Mal 1909 im Inselverlag in Leipzig   5   Wehr, Gerhard (1997): Der deutsche Jude Martin
    veröffentlicht worden.                                   Buber. München: Kindler. S. 95.

244                                                                                    Amt und Gemeinde
Sie können auch lesen