Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich
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Amt und Gemeinde 65. Jahrgang, Heft 4, 2015 € 6, – Martin Buber zum 50. Todestag Dialog und Anerkennung. Zur Aktualität des Querdenkers Martin Buber Thomas Krobath 227 Jüdisch-islamische Begegnung: Der Mensch wird am Du zum Ich Amena Shakir 241 Begegnung und Erfahrung bei Martin Buber. Eine christlich-orthodoxe Perspektive Nicolae Dura 253 Begegnung und Vergegnung. Martin Buber im ambivalenten Diskurs mit der Psychologie Susanne Heine 265 Lernen und Bildung. Aspekte anthropologisch- pädagogischer Grundfragen und Antwort- versuche von Paul Tillich und Martin Buber Wilhelm Schwendemann 278 Evangelischer Presseverband Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT Editorial .................................................................................................. 225 Thomas Krobath Dialog und Anerkennung. Zur Aktualität des Querdenkers Martin Buber .............................................................. 227 Thomas Krobath Jüdisch-islamische Begegnung: Der Mensch wird am Du zum Ich. Annäherungen an das Werk des deutsch-jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber aus islamischer Sicht .................... 241 Amena Shakir Begegnung und Erfahrung bei Martin Buber. Eine christlich-orthodoxe Perspektive ................................................... 253 Nicolae Dura Begegnung und Vergegnung. Martin Buber im ambivalenten Diskurs mit der Psychologie ........................................... 265 Susanne Heine Lernen und Bildung. Aspekte anthropologisch-pädagogischer Grundfragen und Antwortversuche von Paul Tillich und Martin Buber Wilhelm Schwendemann ............................................................................ 278 *** Anhang AutorInnen .............................................................................................. 290 Jahresregister 2015 ................................................................................ 291 Impressum .............................................................................................. 294
MARTIN BUBER Editorial ICH muss es noch einmal sagen: auch von seinen Schriften, ansprechen Ich habe keine Lehre. Ich und bewegen zu lassen. zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was Wer aber lässt sich heute auf Martin Bu- nicht oder zu wenig gesehen worden ist. ber ein? Wer kennt ihn noch? Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße Dieses Heft erscheint anlässlich des Ge- das Fenster auf und zeige hinaus. denkjahres zum 50 Todesjahr von Martin Buber (8.2.1878 in Wien – 13.6.1965 in Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Jerusalem). Haben Sie, geneigte Leserin, Gespräch.“1 geneigter Leser, davon etwas mitbekom- men? Im Zuge der Vorbereitung auf eine Diese vielzitierten Sätze zeugen von der Tagung zu Martin Buber sprach ich viele Größe des Denkers Martin Buber, den Menschen auf Buber an. Vielen, vor al- Kern seiner Anstrengungen in bescheiden lem in meiner Generation, ist Buber kein klaren Worten auf den Punkt zu bringen. Unbekannter, doch mit seinen Schriften Zugleich steckt in ihnen ein ungeheurer, sind nur wenige etwas näher vertraut. In herausfordernder Anspruch getragen von der Generation unter und über zwanzig einer Denken und Handeln durchdrin- erschien Buber als nahezu gänzlich Un- genden Sorge um das lebendige Du: „Du bekannter, auch aus dem Religionsun- sollst dich nicht vorenthalten“2. Sich auf terricht gab es keine Erinnerung an ihn, Buber einlassen bedeutet sich von ihm, sofern es denn einen Religionsunterricht gab. Das ist sicher nicht repräsentativ, 1 Buber, Martin (1961): Aus einer philosophischen aber erschreckend symptomatisch. Un- Rechenschaft, in: Buber, Martin (1962): Werke. sere Tagung versuchte darum auch, (Re- Erster Band. Schriften zur Philosophie. München – Heidelberg: Kösel und Lambert Schneider, 1114. ligions-)lehrerInnen anzusprechen (siehe 2 Diese oft erwähnte Formulierung Bubers findet den nächsten Beitrag). sich z. B. in der Rede von Albrecht Goes anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Martin Buber in Frankfurt 1953, Martin Buber, Schriftsteller, Denker siehe Goes, Albrecht (1956): Ruf und Echo, Frank- furt a. M.: Fischer, 155. (theologischer, philosophischer), durch und durch religiöser Denker, in allem Amt und Gemeinde 225
ein Querdenker, Übersetzer, Erzieher, Buber gilt als Vorreiter des heute im- politisch wacher Zeitgenosse und Han- mer wichtigeren interreligiösen Dialogs. delnder – und in allem exemplarisch ein Amena Shakir fragt nach der Bedeutung jüdisches Schicksal im 20. Jahrhundert von Buber für MuslimInnen in Europa verkörpernd. Ihn kurz darzustellen oder heute. Nicolae Dura setzt sich mit B uber vorzustellen ist ein unmögliches Unter- aus einer orthodoxen theologischen Per- fangen, zu komplex und vielschichtig ist spektive auseinander. Bubers Philosophie sein Werk und Wirken. Die Beiträge die- des Gesprächs umkreisen die anderen Bei- ses Heftes versuchen einerseits, exempla- träge aus unterschiedlicher disziplinärer risch und bruchstückhaft, andererseits, in Sicht: Susanne Heine zeigt an Bubers unterschiedlicher Weise zentrale Aspekte Auseinandersetzung mit der Psychologie des Werkes zu bedenken oder des Wirkens die Problematik einer empirisch verengten zum Ausdruck zu bringen. Weltsicht auf. Wilhelm Schwendemann streicht die Bedeutung von Begegnung und Beziehung als zentrale pädagogische Kategorie in theologischer Reflexion he- raus. Ich benenne einleitend Aspekte des Dialogdenkens. Thomas Krobath 226 Amt und Gemeinde
MARTIN BUBER Dialog und Anerkennung. Zur Aktualität des Querdenkers Martin Buber Zu seinem 50. Todestag wurde dem jüdischen Denker und Religi- onsphilosophen Martin Buber außerhalb einer gewissen Fachwelt relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hat der Querdenker, der in kein Schema passt und sich von niemandem vereinnehmen lassen wollte, heute nichts mehr zu sagen? Ist seine Dialogphilosophie bereits überstrapaziert oder gibt es an ihr und mit ihr noch vieles zu entdecken? Von Thomas Krobath Amt und Gemeinde 227
Gedenkjahr 2015 dene Martin Buber Kolloquium fand am 22. und 23. Mai 2015 in Kooperation von Angesichts der Bedeutung, die Martin IRPA und KPH Wien / Krems (Kirchliche Buber zugeschrieben wird1 und deren Pädagogische Hochschule) statt4. Unter Evidenz sich LeserInnen seiner Werke der leitenden Frage „Wer war Martin Bu- unmittelbar erschließt, war es anlässlich ber? Wer wird er für uns heute“? setzten des 50. Todestages (8.2.1878 in Wien – sich PädagogInnen, ReligionspädagogIn- 13.6.1965 in Jerusalem) in seiner Ge- nen, TheologInnen, PsychologInnen, Phi- burtsstadt2 relativ ruhig um ihn. Der losophInnen und ein Physiker, Buber-For- Koordinierungsausschuss für christlich- scherInnen und Buber-Interessierte mit jüdische Zusammenarbeit widmete seine unterschiedlichen Facetten von Bubers Generalversammlung am 18. Mai 2015 Werken und Wirken auseinander5. Im Zen- mit einem Festvortrag dem Gedenken an trum stand Bubers Dialogphilosophie. Ein Martin Buber. Der Inhaber der Martin-Bu- wichtiges Element der Tagung war auch ber-Professur an der Goethe-Universität das von Fachleuten angeleitete Lesen von Frankurt, Christian Wiese, sprach über ausgewählten Texten in kleinen Lektüre- „Polyphone Wahrheit und dialogisches gruppen. Besonders hervorzuheben ist die Denken in der jüdischen Religionsphilo- Präsenz von MuslimInnen, ChristInnen sophie des 20. Jahrhunderts“3. und JüdInnen auf dieser Tagung6. Die Initiative zur einzigen größeren Tagung ging bemerkenswerterweise von der IRPA (Hochschulstudiengang für das Lehramt für Islamische Religion an Pflichtschulen) aus. Damit kommt die Wirkung von Buber als Pionier des in- 4 Siehe www.kphvie.ac.at/neues-an-der-kph/top-news/ article/martin-buber-kolloquium.html sowie terreligiösen Dialogs in besonderer Weise www.irpa.ac.at/2015/08/03/beitrag-9. Weitere zur Geltung: muslimische PartnerInnen Mitveranstalter waren die Pädagogisch-Staatliche Iwan Franko Universität Drohobytsch und der Hoch- laden ihre christlichen KollegInnen zum schullehrgang für Islamische Religionspädagogische Gespräch über Buber ein. Das so entstan- Weiterbildung (IHL Wien). 5 Die Vorträge des Kolloquiums erscheinen 2016 mit dem Tagungsband: Krobath, Thomas / Shakir, Amena, Stöger, Peter (Hg.): Buber begegnen. Interdiszipli- 1 Siehe im Überblick vor allem Wehr, Gerhard (2010): näre Zugänge zu Martin Bubers Dialogphilosophie. Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung. Gütersloh: Frankfurt a. M.: Arco Wissenschaft. Gütersloher Verlagshaus; Kuschel, Karl-Josef (2015): Martin Buber – seine Herausforderung an das Chris- 6 Im Nachhinein kommt diesem Auftreten eine sym- tentum. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. bolische Bedeutung zu, da unter den Rahmenbedin- gungen der Umsetzung des neuen Systems der Leh- 2 Dem wenig beleuchteten Aspekt der Beziehung rerInnenbildung in Österreich (PädagogInnenbildung Bubers zu Wien bzw. des Einflusses der Wie- Neu) mittlerweile eine enge Kooperation zwischen ner Kultur auf Buber geht Eleonore Lappin in KPH, IRPA und JRPA geplant und verhandelt wird. einem online-Artikel nach: www.david.juden.at/ Siehe http://oe1.orf.at/programm/416939 und kulturzeitschrift/66-70/67-Lappin.htm. www.kphvie.ac.at/fileadmin/Dateien_KPH/News/ 3 Siehe www.christenundjuden.org/berichte/607- Fotos/PA_KPH_Ausbildung_islamischer_Religions- generalversammlung-2015-martin-buber. lehrerInnen_an_Pflichschulen_IRPA.pdf. 228 Amt und Gemeinde
Chassidische Tradition, berührt. „In der chassidischen Bot- Dialog und Verdeutschung schaft ist die Trennung von ‚Leben der Schrift in Gott‘ und ‚Leben in der Welt‘, das Urübel aller ‚Religion‘ in echter, kon- Martin Buber gehört zu den weltweit an- kreter Einheit überwunden. […] Emp- erkannten geistigen Größen, die das Nach- fangend und handelnd weltverbunden denken über die Möglichkeiten menschli- steht der Mensch, vielmehr nicht ‚der‘, chen Zusammenlebens im 20. Jahrhundert sondern dieser bestimmte Mensch, du, mit ihren Impulsen geprägt haben. Die ich, unmittelbar vor Gott“8. Gott als allgemeine Bekanntheit wird meist mit das ewige Du ist auch die Grundlage folgenden drei Stichworten oder Themen von Buber Begegnungsdenken des Ich zusammengefasst, für die Martin Buber und Du. Auch Bubers Religionskritik steht. Sie durchziehen sein Schaffen als als Distanz zu religiösen Systemen ist durchgehende Lebensthemen oder las- hier verankert. Die Unverfügbarkeit sen sich auch als unterschiedliche Seiten des lebendigen Gottes ist für ihn nicht seines Wirkens erschließen, die perspek- in sichere Aussagen überführbar. Bu- tivisch aufeinander bezogen sind: Chas- ber beschreibt seinen eigenen Standort sidische Tradition, dialogisches Prinzip jenseits religiöser Sicherheit als einen und Verdeutschung der Schrift. „schmalen Grat“, als einen „engen Fels- kamm zwischen den Abgründen“, wo 1. Buber ist der literarische Vermittler es nur „die Gewissheit der Begegnung und geistige Dolmetscher chassidi- mit dem verhüllt Bleibenden“ gebe9. scher Traditionen des osteuropäischen Judentums. Er hat sich von der ersten 2. Am weitesten dürfte Bubers Bekannt- Begegnung als Jugendlicher am väter- heit als der Philosoph des Ich-Du rei- lichen Hof in der Nähe von Lemberg chen, auch jenseits der religiösen an ein Leben lang mit dieser jüdischen Verwurzelung seines Denkens. Das Volksfrömmigkeit auseinander gesetzt „dialogische Prinzip“10 ist unverwech- und darin auch seine eigene Glaubens- haltung als „einen beständigen und in- 8 Buber, Martin (1952): Die chassidische Botschaft, timen Dialog zwischen Mensch und in: Buber, Martin (1963): Werke. Dritter Band. Schriften zum Chassidismus. München-Heidelberg: Gott“ gefunden7. Die mystisch-exis- Kösel und Lambert Schneider, 748–754. tenzielle Botschaft des Chassidismus 9 Buber, Martin (1943/1948): Das Problem des Menschen , in: Buber, Martin (1962): Werke. Erster lässt Gott in jedem Ding schauen, sieht Band. Schriften zur Philosophie. München-Heidel- alles in der Welt von Gottes Funken berg: Kösel und Lambert Schneider, 383 f. 10 Buber, Martin (2009): Das dialogische Prinzip. Gü- tersloh: Gütersloher Verlagshaus (11. Auflage). Der als Taschenbuch erhältliche Sammelband umfasst 7 Vgl. Kirsch, Hans-Christian (2001): Martin Buber. die berühmtesten Dialog-Schriften Bubers (z. B. „Ich Biografie eines deutschen Juden. Freiburg im Breis- und Du“ von 1923) und ist 1954 zum ersten Mal gau: Herder, 63. aufgelegt worden. Amt und Gemeinde 229
selbar mit Bubers Namen verbunden. Nach dem frühen Tod von Rosenzweig Seine Dialogphilosophie, die näher hin 1929 vollendet Buber das Werk erst natürlich im Kontext mit anderen Den- 1961. Der Gebrauch eines Wortes wie kern gesehen werden muss (Ferdinand „Verdeutschung“13 statt „Übersetzung“ Ebner, Franz Rosenzweig, Hermann o. ä. ist höchst bedeutsam. Er zielt auf Goldschmidt), rückt die direkte, unmit- einen steigenden kirchlichen Antise- telbare Begegnung zwischen zwei und mitismus in den zwanziger Jahren in mehr Menschen in das Zentrum sei- Deutschland, in dem eine deutsche Bi- ner kommunikativen und diskursiven bel das „Alte Testament“ ignorieren Praxis sowie seiner anthropologischen oder degradieren kann, letztlich ohne Reflexionen. Dialog ist der Akt und der es auskommt. Eine Verdeutschung also Ort der Begegnung: Menschen treten gegen marcionitische Tendenzen. Aber miteinander in Beziehung im Vollsinn auch eine Annäherung an die hebräi- der wechselseitigen Anerkennung als schen Schriften für deutsche Juden, Menschen, die sich partnerschaftlich die der hebräischen Sprachtradition einander aussetzen und aufeinander entfremdet waren. Die sprachschöpfe- einlassen. Das dialogische Prinzip ist rische Verdeutschung sucht die Nähe als ein zukunftsweisender Entwurf für zum masoretischen Ursprungstext nötige Formen des menschlichen Zu- und entfremdet die Texte einer Lese- sammenlebens ungebrochen aktuell11. gewohnheit, sie als christliche Texte wahrzunehmen, und macht sie zugleich 3. Buber hat den Weg des Dialogs ge- auch jüdischen LeserInnen zugänglich. sucht, die Bewegung von der Kon- Das Buberdeutsch kontrastiert die Ver- frontation zum Dialog, z. B. von der christlichung durch das Lutherdeutsch, Entfremdung zur Partnerschaft von Jü- aber es geht Buber „nicht um Juden- dInnen und ChristInnen. Im Dienste tum oder Christentum […], sondern einer Wiederbelebung der „gemein- um die gemeinsame Urwahrheit, von samen Urwahrheit“ steht das Projekt deren Wiederbelebung beider Zukunft einer „Verdeutschung“ der Hebräi- abhängt“14. schen Bibel, das Buber 1925 gemein- sam mit Franz Rosenzweig startet12. 11 Marek, Jana / Schopp, Johannes (2013): Das dialogische Prinzip – nötiger denn je!, in: Reichert, Thomas / Siegfried, Meike/Waßmer, Johannes (Hg.): Martin Buber neu gelesen. Lich / Hessen: Edition AV, 101–132; Reichert, Thomas (2013): Warum Buber? 13 Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemein- Eine Lesart zu seiner Bedeutung für heute, in: ebd., sam mit Franz Rosenzweig. Mit Bildern von Marc 37–69. Chagall. Gütersloh 2007: Gütersloher Verlagshaus. 12 Siehe dazu Kuschel, Karl-Josef (2015): Martin 14 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 14: Schriften Buber – seine Herausforderung an das Christentum. zur Bibelübersetzung (Hg. von Ran HaCohen). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 279 ff. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, 227. 230 Amt und Gemeinde
Den ChristInnen das ist unschöpferisch, aus tausend Riten ein kritischer Partner und Dogmen gemischt“16. Das harmonisierende Bild, mit dem Buber eröffnete das Gespräch mit Chris- Bubers Beziehung zum Christentum tInnen lange bevor es zum sogenannten oberflächlich verbunden wird, hält einer christlich-jüdischen Dialog kam, der sich Überprüfung nicht stand. Das spätere Di- einer kritischen Selbstbesinnung auf Sei- alogdenken steht nicht im Gegensatz zur ten der Kirchen in Deutschland nach der Arbeit an der jüdischen Identität und ih- Schoah verdankt und an sein Gesprächs- rer Abgrenzung. Bezeichnend für Bubers angebot aus der Weimarer Zeit anknüpfen Lebenserfahrungen scheint eine Szene konnte. Buber ist in den Zeiten rassisti- aus seiner Zeit am Kaiser-Franz-Joseph- scher Hetzkampagnen und Deportationen Gymnasium in Lemberg (1888–1896), seitens protestantischer Theologen mit die er im hohen Alter in seinen autobio- Judenmission und theologisch zugeschrie- graphischen Fragmenten wiedergibt. Un- bener „Fremdlingschaft unter den Völ- ter den polnischen katholischen Schülern kern“ (so der Tübinger Neutestamentler gibt es eine kleine jüdische Minderheit. Gerhard Kittel 193315) konfrontiert. Seine Während des Morgengebets mit Dreifal- intellektuelle Entwicklung jedoch hat ihn tigkeitsformel über die geistige (kulturzionistische) Neu- bestimmung des Judentums auch zur Aus- „standen wir Juden unbeweglich da, einandersetzung mit den christlichen Ur- die Augen gesenkt. Ich habe schon an- sprüngen und mit der Gestalt Jesu geführt. gedeutet, dass es in unserer Schule kei- In seinen „Reden über das Judentum“ nen spürbaren Judenhass gab; ich kann aus dem Jahr 1910 markiert Buber be- mich kaum an einen Lehrer erinnern, reits früh eine deutliche Abgrenzung zum der nicht tolerant war oder doch als tole- Christentum, das er von seinen jüdischen rant gelten wollte. Aber auf mich wirkte Voraussetzungen her als „Ur-Judentum“ das pflichtmäßige tägliche Stehen im tö- versteht: „Was am Christentum schöpfe- nenden Raum der Fremdandacht schlim- risch ist, ist nicht Christentum, sondern mer als ein Akt der Unduldsamkeit hätte Judentum, und damit brauchen wir nicht wirken können. Gezwungene Gäste; als Fühlung zu nehmen, brauchen es nur in Ding teilnehmen müssen an einem sak- uns zu erkennen und in Besitz zu nehmen, ralen Vorgang, an dem kein Quäntchen denn wir tragen es unverlierbar in uns; was meiner Person teilnehmen konnte und aber am Christentum nicht Judentum ist, wollte; und dies acht Jahre lang Morgen 15 Siehe ausführlich bei Kuschel, Karl-Josef (2015): 16 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 3: Frühe jüdische Martin Buber – seine Herausforderung an das Chri- Schriften (Hg. von Barbara Schäfer). Gütersloh: stentum. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 171 ff. Gütersloher Verlagshaus 2007, 248 f. Amt und Gemeinde 231
um Morgen: das hat sich der Lebenssub- Am Schandpfahl der Menschheit stehend, stanz des Knaben eingeprägt“17. gegeißelt und gefoltert, demonstrieren wir mit unserem blutigen Volksleib die Un- So wird jenseits eines spürbaren Juden- erlöstheit der Welt. Für uns gibt es keine hasses real-symbolische Ausgrenzung Sache Jesu, nur eine Sache Gottes gibt als prägende Erfahrung eines Juden in es für uns“20. Die Schoah wird zu einem der christlichen Gesellschaft eindrück- grauenhaften Zeichen der Unerlöstheit lich auf den Punkt gebracht: anwesend der Welt. Buber sieht darin messianische und ignoriert in einer Fremdandacht. In Ansprüche des christlichen Glaubens als heutigen Zeiten interreligiösen Lernens widerlegt. Jesus wird in die Sache Gottes ist es wichtig, diese Erfahrung, für die gestellt und in das Judentum heimgeholt21. Buber das Wort „Fremdandacht“ kreiert Jahrhundertelang wurde mit der Messia- hat, im Bewusstsein zu behalten. Um das nität Jesu den Juden ihre Legitimität ab- Gestalten religiöser Feiern im Angesicht gesprochen. Buber kehrt den Spieß um. der Anderen oder miteinander wird sehr Kann sich der christliche Glaube auf den gerungen. Interkonfessionelle und interre- konkreten Jesus von Nazareth, den Juden ligiöse Gastfreundschaft ist hier an einem Jesus, gründen? Mit Bezug auf Buber for- sensiblen Punkt angelangt18. muliert Ebeling die Radikalität der Frage: Kann man „den christlichen Glauben radi- kaler in Frage stellen […], als wenn man Was ist ein echtes ihn im Namen Gottes um des Glaubens Religionsgespräch? willen unter Berufung auf Jesus in Frage stellt?“22 Buber hat Jesus als seinen „großen Bru- In der unerlösten Welt des nationalso- der empfunden“19, ohne dass damit seiner zialistischen Judenhasses geht Buber über Kritik am Christentum der Stachel gezo- Abgrenzung und Kritik weit hinaus. Mit gen würde. Es bleibt die grundsätzliche seinem dialogischen Begegnungsdenken Haltung, dass „wir Jesus nie als gekom- stellt Buber dem Konzept der christlich- menen Messias anerkennen werden […]. theologischen Vergegnung mit dem Ju- dentum die Begegnung und das Gespräch 17 Buber, Martin (1960): Begegnung. Autobiographi- entgegen. Im Jahr 1930 schrieb Buber: sche Fragmente. Heidelberg: Lambert Schneider, 21. 18 Zur interreligiösen Auseinandersetzung um interreli- giöses Beten siehe z. B. Brocke, Edna / Zirker, Hans / Kaddor, Lamya (2009): Kann man zu einem „Gott 20 Buber, Martin (1985): Pfade in Utopia. Heidelberg: der abrahamitischen Religionen“ beten?, in: Englert, Lambert Schneider (1. Auflage 1950), 378. Rudolf et al (Hg.): Gott im Religionsunterricht. Jahr- 21 Den Begriff von der „Heimholung Jesu in das jüdi- buch der Religionspädagogik, Band 25, Neukirchen- sche Volk“ prägt Ben Chorin, Schalom (1962): Das Vluyn: Neukirchener, 91–105. Jesus-Bild im modernen Judentum, in: ders.: 19 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 9: Schriften Im jüdisch-christlichen Gespräch. Berlin: Vogt, 61 zum Christentum (Hg. von Karl-Josef Kuschel). (der Aufsatz wurde zuerst 1953 publiziert). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, 206 (in der 22 Ebeling, Gerhard (1975): Wort und Glaube. Band 3. Schrift „Zwei Glaubensweisen“ von 1950). Tübingen: J. C. B.Mohr (Paul Siebeck), 239. 232 Amt und Gemeinde
„Eine Zeit echter Religionsgespräche be- wechselseitiger Anerkennung. Der „tech- ginnt“. Vor seinem zeitgeschichtlichen nische“ Dialog hingegen dient „der Not- Hintergrund nimmt sich diese Ansage vi- durft der sachlichen Verständigung“. Als sionär und zukunftsweisend aus und sei dritte Form führt Buber die missbräuch- darum in der aktuellen Situation, in der liche Verwendung des Wortes Dialog in viele ob der täglichen Horrormeldungen der Gestalt des „dialogisch verkleideten über islamistischen Terror am interreligi- Monologs“ an. Im Scheindialog wird vor ösen Dialog zweifeln, besonders beachtet. allem ein Kriterium nicht erfüllt: „Dialo- gisches Leben ist […] eins, in dem man „Eine Zeit echter Religionsgesprä- mit den Menschen, mit denen man zu tun che beginnt, – nicht jener so benann- hat, wirklich zu tun hat“25. ten Scheingespräche, wo keiner seinen Partner in Wirklichkeit schaute und an- rief, sondern echter Zwiesprache, von Verschiedene Gottes- Gewissheit zu Gewissheit, aber auch geheimnisse anerkennen von aufgeschlossner Person zu aufge- schlossner Person. Dann erst wird sich Im Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus hat die echte Gemeinschaft weisen, nicht die Buber jüdisch-christliche Gespräche ge- eines angeblich in allen Religionen auf- führt. Er sah diese nicht auf einer offizi- gefundenen gleichen Glaubensinhalts, ellen Ebene von Religionsgemeinschaften sondern die der Situation, der Bangnis und ihren autorisierten Vertretern. Buber und der Erwartung.“23 war auch kein Rabbiner. Das letzte denk- würdige Stuttgarter Lehrhaus-Gespräch Was versteht Buber unter einem echten fand am 14.1.1933, wenige Tage vor Hit- Religionsgespräch? Er unterscheidet an lers „Machtübernahme“, mit dem evan- dieser Stelle „dreierlei Dialog“ und führt gelischen Neutestamentler Karl Ludwig als ersten den „echten“ ein. Der echte Dia- Schmidt statt26. Schmidt vertritt in tradi- log zeichnet sich dadurch aus, dass „jeder tioneller und eindeutiger Weise den An- der Teilnehmer den oder die anderen in spruch der Kirche, das neue, wahre Israel ihrem Dasein und Sosein wirklich meint zu sein. Es geht darum, dass die Juden und sich ihnen in der Intention zuwen- der Kirche des Messias Jesus einverleibt det, dass lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte“24. In der echten Zwiesprache ereignet sich leben- 25 A. a. O., 167. dige Gegenseitigkeit auf der Grundlage 26 Ausführlich dargestellt bei Kuschel, Karl-Josef (2015): Martin Buber – seine Herausforderung an das Christentum. Gütersloh: Gütersloher Verlags- haus, 195 ff. Schmidt, ein Gegner des Nationalso- 23 Buber, Martin (2009): Das dialogische Prinzip. Gü- zialismus, verliert noch 1933 seinen Lehrstuhl und tersloh: Gütersloher Verlagshaus (11. Auflage), 149. emigriert in die Schweiz. Buber bleibt bis 1938 in 24 A. a. O., 166. Deutschland. Amt und Gemeinde 233
werden sollen. Er vertritt einen exklusiven Bubers „zukunftsweisendes Gesprächs kirchlichen Heilsanspruch. angebot“29 wird zu seiner Zeit in Deutsch- Buber dagegen vertritt keinen An- land nicht aufgegriffen, auch Schmidt spruch. Bubers Idee der zwei Glaubens- geht in seiner Replik nicht darauf ein. weisen, der zwei Wege keimt auf, indem er Buber hat Maßstäbe für den jüdisch- hier das Anderssein von Kirche und Israel christlichen Dialog von heute gesetzt: nebeneinander stellt statt das eine durch „die Selbstanerkennung und die Aner- das andere zu ersetzen. Es geht ihm um kennung des anderen“30. Ein echter Di- ein „grundverschiedenes Wissen“, dass alog braucht gemäß Klapperts späterer er so ausdrückt: „Aber wir Israel wissen Antwort auf Buber die Anerkennung des um Israel von innen her, im Dunkel des Geheimnisses Israels durch die Kirche von innen her Wissens, im Lichte des von und mit Bezug auf Bubers „Ich und Du“ innen her Wissens. Wir wissen um Israel den Grundsatz, „dass man den anderen anders […], wir wissen, dass wir doch nicht auf das hin befragt, was er aufge- nicht verworfen sind“27. Gegenüber Gott geben hat, sondern auf das hin befragt, gibt es für Buber ein bleibendes Neben- was er zu geben hat“31. Bubers Verweis einander von Kirche und Israel, für das auf die bleibende Erwählung Israels hat er die Kategorie der Anerkennung geltend sich heute in christlichen Stellungnahmen macht: „Jedes echte Heiligtum kann das weitgehend durchgesetzt32. Sie ist aber Geheimnis eines anderen echten Heilig- nur ein, wenn auch wichtiger, Bestand- tums anerkennen“. Darum können Juden teil der Zumutung, die Buber angesichts und Christen, die ihr je eigenes Geheimnis der Bedrohung des Atomzeitalters 1959 nur von innen her kennen können (und ausspricht und die uns in den heutigen auch nicht von außen das jeweils andere), Krisen herausfordert: „Eine Zusammen- „nichtwissend […] einander im Geheim- nis anerkennen“. Es geht nicht um eine 29 So der Gelehrte Daniel Krochmalnik, zitiert bei Einheit der Verschiedenen, sondern „in- Kuschel (2015), 212. dem wir unter Anerkennung der Grund- 30 Stegemann, Ekkehard (1988): Auf dem Weg zu verschiedenheit in rücksichtslosem Ver- einer biblischen Freundschaft. Das Zwiegespräch zwischen Martin Buber und Karl Ludwig Schmidt, trauen einander mitteilen, was wir wissen in: Kremers, Heinz / Schoeps, Julius H. (Hg.): Das von der Einheit dieses Hauses […], die- jüdisch-christliche Religionsgespräch, Stuttgart- Bonn: Burg-Verlag, 146. nen wir getrennt und doch miteinander, 31 Klappert, Berthold (1982): Martin Buber und der bis wir einst vereint werden in dem einen christlich-jüdische Dialog, in: Licharz, Werner (Hg.): Dialog mit Martin Buber. Frankfurt a. M.: gemeinsamen Dienst“28. Haag + Herchen, 67. 32 Belege dazu bei Kuschel (2015), 226 ff. Zur „dia- logischen Wende“ in der interreligiösen Arbeit der ökumenischen Bewegung und des Ökumenischen 27 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 9: Schriften Rates der Kirchen siehe Bernhardt, Reinhold (2005): zum Christentum (Hg. von Karl-Josef Kuschel). Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, 156. und ihre theologische Reflexion. Zürich: Theologi- 28 A. a. O., 159. scher Verlag. 234 Amt und Gemeinde
arbeit der Religionsgemeinschaften ist in Mit dem geistigen Aufbruch nach dem unserer Zeit erforderlicher als je vorher. Ende des ersten Weltkrieges wird im phi- […] Die Mitglieder verschiedener Glau- losophisch-anthropologischen Nachden- bensgemeinschaften sollen einander nicht ken vermehrt die grundlegende Bedeu- ‚dulden‘, sondern in einem gemeinsamen tung des Dialogs herausgearbeitet. Als Dienst am Menschen […] die Bindung „dialogische Wende“ gilt die Abkehr von an Gott als eine gemeinsame erfahren einer monologischen cartesianischen Er- und wahren“33. kenntnistheorie oder von einem Denken aus einer Subjekt-Objekt-Logik heraus. Dem idealistischen Erkenntnissubjekt Dialogische Wende? werden das empirische Ich und seine Ich- Du-Unterscheidung entgegengesetzt34. Aus Bubers ersten Religionsgesprächen Inspiriert von Ferdinand Ebner, Martin wird deutlich, dass es sich bei „Dialog“ Buber, Franz Rosenzweig und Hermann um keine einfache Gesprächsform han- Goldschmidt sowie vermittelt über Da- delt. Sein genannter Gesprächspartner vid Bohm35 hat sich das Dialogdenken in hat sich nicht darauf eingelassen. Buber vielen Wissenszweigen und Handlungs- konnte aber aufzeigen, welche Ernsthaf- feldern etabliert. Wie wirksam es letzt- tigkeit es braucht, sich aufeinander ein- lich schon geworden ist, bedarf jeweils zulassen, und welche weiterführenden differenzierter Analysen, denn zwischen Chancen es bringt, aufeinander zu hö- ernsthaften Dialogprozessen und ober- ren. Heute kann man davon ausgehen, flächlichem Dialoggehabe lassen sich dass „Dialog“ in aller Munde ist, aber keine seriösen Einschätzungen machen. auch als anspruchsvolles Konzept Ver- So steht beispielsweise der erstaunlichen breitung gefunden hat. „Dialog“ scheint Fülle an Dialogansätzen in der Manage- immer notwendiger zu werden. Die viel- mentliteratur und den in ihr propagierten fach beschriebenen tiefgreifenden Verän- Konzepten der letzten 20 Jahre36 eine häu- derungen unserer Lebensweisen und der fig dialogarme Alltagserfahrung in vielen ökonomischen und sozialen Strukturen Organisationen und Lebensbereichen ge- bringen wachsenden Gesprächsbedarf genüber. Es scheint darüber hinaus, dass mit sich. Wie soll es denn weitergehen wir vor allem im politischen Bereich eine mit alledem? Wir suchen nach Verstän- digungsformen, die über das Vertreten 34 Siehe dazu Schrey, Heinz-Horst (1970): Dialogisches eigener Interessen hinausgehend nach gu- Denken. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. ten Lebensmöglichkeiten für alle fragen. 35 Sein Dialogansatz wird im posthum 1996 erschie- nenen Werk vorgestellt: Bohm, David (1998): Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussio- nen (Hg. von Lee Nichol). Stuttgart: Klett-Cotta. 33 Buber, Martin: Werkausgabe, Band 9: Schriften 36 Siehe dazu Rautenberg, Michael (2010): Der Dialog zum Christentum (Hg. von Karl-Josef Kuschel). in Management und Organisation – Illusion oder Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, 328. Perspektive? Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Amt und Gemeinde 235
dialogische Wende37 in vielen zukunfts- ligionen, Weltanschauungen bis hin zu Fe- relevanten Entscheidungsfragen noch vor ministinnen, KünstlerInnen und Kunst40. uns haben. Der ehemalige Wiener Professor für Systematische Theologie, Kurt Lüthi38, Dialog und Anerkennung vollzog schon relativ früh im Anschluss an Martin Buber eine dialogische Wende Eine zentrale Aussage Bubers lautet: „Im der Theologie mit seinem 1971 erschie- Anfang ist die Beziehung“41. Personale nenen Buch „Theologie als Dialog mit Existenz gründet in der Beziehung, die als der Welt von heute“. Er entwickelt darin Ich-Du-Beziehung näher begründet wird. ein Verständnis von Dialogik als „Theo- Durch die Berührung des Du, durch die rie der existentiellen Praxis, die auf dem Teilnahme am Mitsein tritt die einzelne Vorrang des ‚Zwischen‘ beruhe“39. Indem Person im Raum des „Zwischen“, also er Theologie und Kirche in ihren dialogi- zwischen zwei oder mehreren Personen in schen Potentialen ausleuchtet und die Bu- Erscheinung. Personale Existenz gründet bersche Ich-Du-Relation als Strukturvor- in der Beziehung zwischen Menschen, gabe für den Dialog mit gesellschaftlichen sie ist nicht außerhalb der Wechselsei- Gruppen und Positionen anwendet, führt tigkeit realer Begegnung denkbar. „Alles er in seinem ganzen akademischen und wirkliche Leben ist Begegnung“42. In der praktischen Wirken das Gespräch mit den relationalen Sphäre des Zwischen ent- Anderen, von anderen Konfessionen, Re- faltet sich Beziehungskraft, entsteht und wachsen Identität und Sozialität in einem koevolutiven dialogischen Prozess. In der Modellsprache moderner Systemtheorie43 gelesen: Es entsteht ein neues soziales System des „Zwischen“ der beteiligten Gesprächspartner, die in ihren Individu- 37 In vielen ethischen Ansätzen hat eine dialogische Wende dergestalt stattgefunden, dass Ethik zu einer dialogischen Angelegenheit wurde: moralische Fragen müssen kommunikativ verhandelt werden, so z. B. prominent im Werk von Jürgen Habermas. 40 Aus heutiger Sicht könnte man sagen, Lüthi habe Eine andere Spielart der dialogischen Wende ist z. B. das Dialogmodell von Buber von Anfang an als ein das Konzept „the dialogical turn“ von Camic und transdisziplinäres Unternehmen weiter entwickelt, Joas, das dem wissenschaftstheoretisch produktiven siehe die Beiträge in der neueren Buberforschung Umgang mit der Vielfalt von Theorieansätzen dienen bei Mendes-Flohr, Paul (Ed.) (2015): Dialogue as a soll, siehe Camic, Charles / Joas, Hans (Eds.) (2004): Trans-disciplinary Concept. Martin Buber’s Philo- The dialogical turn. Lanham: Rowman & Littlefield. sophy of Dialogue and its Contemporary Reception. Berlin: Walter de Gruyter. 38 Kurt Lüthi (1923–2010), Schweizer reformierter Theologe, lehrte von 1964–1990 Systematische 41 Buber, Martin (2009): Das dialogische Prinzip. Gü- Theologie an der Evangelisch-theologischen Fakultät tersloh: Gütersloher Verlagshaus (11. Auflage), 22. der Universität Wien. Er engagierte sich u. a. auch 42 A. a. O., 15. im christlich-jüdischen Dialog. 43 In der Luhmannschen Ausprägung, vgl. Luhmann, 39 Lüthi, Kurt (1971): Theologie als Dialog mit der Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer Welt von heute. Freiburg i. Br.: Herder, 19. allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 236 Amt und Gemeinde
alitäten dessen erste relevante System- menschliche Beziehungsabhängigkeit46 umwelt bilden. vermag Buber in großartiger poetischer Verdichtung auszudrücken, darum sei er „Die Sphäre des Zwischenmenschlichen ausführlich zitiert: ist die des Einander-gegenüber; ihre Entfaltung nennen wir das Dialogische. „Aus dem Gattungsreich der Natur ins […] Der Sinn des Gesprächs findet sich Wagnis der einsamen Kategorie ge- weder in einem der beiden Partner noch schickt, von einem mitgeborenen Chaos in beiden zusammen, sondern nur in die- umwittert, schaut er heimlich und scheu sem ihrem leibhaften Zusammenspiel, nach einem Ja des Seindürfens aus, das diesem ihrem Zwischen“44. ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; Die Sphäre des Zwischen beruht auf einander reichen die Menschen das wechselseitiger Anerkennung. Buber Himmelsbrot des Selbstseins“47. geht anthropologisch von einem doppel- ten Prinzip aus: Menschsein setzt sich der Gegenseitigkeit begründet Dia-logik in Welt gegenüber und tritt in Beziehung zu einem relationalen Denken. Die Kategorie ihr. Menschsein gibt es nur in konkreten des Anderen ist konstitutiv für die Perso- menschlichen Individuationen, die zuei- nalität des Individuums. Darum liegt die nander in Beziehung treten müssen, um Verwirklichung von Menschsein nicht in sich ihres Selbstseins zu vergewissern, zu Individuation, sondern in Vergegenwär- vergegenwärtigen. „Vergegenwärtigung“ tigung der jeweils Anderen, in ihrer Be- nennt Buber den zentralen Vorgang in der gegnung als der elementarer Dimension Sphäre des Zwischen: Menschwerdung ihres Seins. Der dialogische Charakter vollzieht sich nicht im inneren Selbstver- der Sprache, des gesprochenen Wortes hältnis des distanzierten „Ich“, sondern ermöglicht Begegnung. „Das Wort, das „aus dem zwischen dem Einen und dem gesprochen wird, begibt sich […] in der Anderen, unter Menschen also vornehm- schwingenden Sphäre zwischen den Per- lich aus der Gegenseitigkeit der Vergegen- sonen, der Sphäre, die ich das Zwischen wärtigung […] in einem mit der Gegen- seitigkeit der Akzeptation, der Bejahung 46 Diese philosophisch-anthropologische Denkent- und Bestätigung“45. Die vor allem seit wicklung seit Rousseau wird vor allem von Todorov, Rousseau immer stärker herausgearbei- Tzvetan (1998): Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt tete Einsicht in die konstitutive zwischen- a. M.: Fischer, instruktiv herausgearbeitet. Er ist auch einer der ganz wenigen AutorInnen im Anerken- nungsdiskurs, die Martin Buber aufgreifen, obwohl 44 Buber, Martin (2009), a. a. O., 276. sich hier dichte Bezüge erschließen. 45 Buber, Martin (1950): Urdistanz und Beziehung , in: 47 Buber, Martin (1950), ebd. Siehe auch den Satz von Buber, Martin (1962): Werke. Erster Band. Schriften Todorov: „Ein jeder hat das Recht zu existieren, und zur Philosophie. München-Heidelberg: Kösel und er erheischt dazu den Blick des anderen“ (Todorov Lambert Schneider, 423. a. a. O., 171). Amt und Gemeinde 237
nenne und die wir niemals in den beiden wäre das eine Anerkennungsfunktion im Teilnehmern aufgehen lassen können“48. Bereich der Ich-Es-Beziehung. Dialogi- Sprache im performativen Sinn ist ele- sche Anerkennung zielt existentiell auf mentar für die Dialogik der Anerkennung die Konstitution der Person in der Ich- der Anderheit des Anderen in ihrem je- Du-Beziehung. Sie erschöpft sich nicht weiligen „So-beschaffen-sein“, das der in der Bestätigung des So-Seins, sondern Annehme und Bestätigung bedarf. „Das geht darüber hinaus: echte Gespräch, und so jede aktuale Erfül- lung der Beziehung zwischen Menschen, „Das Fundament des Mensch-mit- bedeutet Akzeptation der Anderheit“49. Mensch-seins ist dies Zwiefache und Eine: der Wunsch jedes Menschen, als das was er ist, ja was er werden kann, Dialogische Anerkennung von Menschen bestätigt zu werden, und des Möglichkeitsraumes die dem Menschen eingeborene Fähig- der Anderen keit, seine Mitmenschen eben so zu bestätigen“52 Bubers Verständnis von Anerkennung be- ruht auf der Dynamik der dialogischen Nach Buber erstreckt sich die zwischen- Beziehung, die Anerkennung konkret er- menschliche Anerkennung, wenn sie die fahren lässt. Im Unterschied zu einem Ganzheit einer Person betrifft, auch auf heute bestimmenden Begriff der sozia- dessen noch unausgeschöpfte Möglich- len Anerkennung50 kann man hier von keiten53. Es geht um das Erschließen des „dialogischer Anerkennung“51 sprechen. Anderen in „seiner Potentialität“ durch Im Konzept der sozialen Anerkennung die Begegnung, das intensive Hören auf besteht die Gefahr einer Reduktion der den Anderen „durch existentielle Kom- Anerkennungsbeziehung auf die Funk- munikation zwischen einem Seienden und tion der Bestätigung aufgrund sozial aner- einem Werden-könnenden“54. Begegnung kannter Eigenschaften. Im Denken Bubers ist auf die Anerkennung auch des Anderen in seinen Möglichkeiten ausgerichtet. Sie 48 Buber, Martin (1960): Das Wort, das gesprochen wird , in: Buber, Martin (1962): Werke. Erster Band. 52 Buber, Martin (1950), a. a. O., 428. Schriften zur Philosophie. München-Heidelberg: Kösel und Lambert Schneider, 443 f. 53 Das wird vor allem von Ziegler herausgearbeitet, der sich m. E. als erster ausführlicher mit Bubers 49 Buber, Martin (1950), a. a. O., 421. Dialogphilosophie unter anerkennungstheoretischen 50 Im deutschsprachigen Diskurs vor allem von Hon- Aspekten auseinander gesetzt hat: Ziegler, Walther neth beeinflusst, vgl. Honneth, Axel (1992): Kampf Urs (1992):Anerkennung und Nicht-Anerkennung. um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik Studien zur Struktur zwischenmenschlicher Bezie- sozialer Konflikte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. hung aus symbolisch-interaktionistischer, existenz- 51 So besonders Bonnemann, Jens (2013): Ist die Anerken- philosophischer und dialogischer Sicht. Bonn-Berlin: nung ein dialogisches Geschehen?, in: Reichert, Thomas / Bouvier, 113 ff. Siegfried, Meike / Waßmer, Johannes (Hg.): Martin Buber 54 Buber, Martin (2009), a. a. O., 287. Das gilt für Buber neu gelesen. Lich / Hessen: Edition AV, 298-325. besonders in der Erziehung. 238 Amt und Gemeinde
legt nicht auf einmal anerkannte Eigen- radikale Akzeptanz des anderen als Part- schaften oder Wesenszüge fest und macht ner die Basis für ein sachliches Gespräch. damit sensibel gegenüber der Falle einer Die Beteiligten bringen sich rückhaltlos verkennenden Anerkennung55. Der Andere und ohne taktisches Kalkül in das Gespräch wird nicht auf sein konkretes Anderssein ein. Die Gemeinschaft des dialogischen festgelegt, sondern in diesem als seinem Wortes, das Zwischen lebt vom Vertrauens- Möglichkeitsraum ernst genommen. An- vorschuss, mit dem ich mich dem Gespräch erkennung umfasst mit der Anerkennung öffne. Ich lasse die anderen über meine der Potentialität des Anderen auch dessen Sichtweise nicht im Dunkeln. Die Überwin- Freiheit56. Damit wahrt Begegnung die dung taktischer Vorsicht ist das Wagnis, das Freiheit des Anderen und macht Begeg- es zum echten Gespräch braucht. nung als Entwicklungsrahmen sichtbar: In Dazu gehört der Verzicht darauf, auf der Begegnung kann sich neues ereignen, die eigene Wirkung bedacht zu sein, zur Begegnung kann die an ihr Beteiligten, Geltung kommen zu müssen. Das Ge- die sich aufeinander einlassen, verändern. spräch ist für Buber eine Sphäre des zwi- schenmenschlichen Seins, die durch den Drang zum eigenen Scheinenwollen be- Das echte Gespräch einträchtigt werden kann. Das echte Gespräch ist nicht nach ei- Das dialogische Prinzip beinhaltet Vor- nem Regieplan steuerbar, es folgt dem aussetzungen für das „echte Gespräch“57. Gang des Geistes. Erst sein Prozesscha- Dieses versteht Buber als wahrhafte Hin- rakter gibt Raum für überraschend neue wendung zum Gesprächspartner, die sich Einsichten. Darum sollen alle Teilneh- als Anerkennung der Person des anderen menden bereit sein, sich darauf einzu- manifestiert. Das Ja zur Person ist nicht lassen. Zudem sind alle Anwesenden als schon die Zustimmung zum Standpunkt, Beteiligte anzusehen. Das echte Gespräch zur Position des anderen. Die Entflechtung findet nicht vor Zuschauern statt. von Person und Meinung bildet über die „Wo aber das Gespräch sich in seinem Wesen erfüllt, zwischen Partnern, die sich einander in Wahrheit zugewandt 55 Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Berlin: Suhrkamp. Bedorf haben, sich rückhaltlos äußern und vom betont die Vorläufigkeit von Anerkennungsprozessen, Scheinenwollen frei sind, vollzieht sich um „die Stilllegung eines Prozesses der Identifizie- rung“ (a. a. O., 126) zu vermeiden. Buber word von Be- eine denkwürdige, nirgendwo sonst sich dorf nicht einbezogen. Hier würden sich noch Bezüge zu Bubers Rede von der „Vergegnung“ (Buber, Martin einstellende gemeinschaftliche Frucht- (1960): Begegnung. Autobiographische Fragmente. barkeit. […] Das Zwischenmenschliche Heidelberg: Lambert Schneider, 10) nahe legen. erschließt das sonst Unerschlossene“58. 56 Vgl. Ziegler, Walther Urs (1992), 211 f. 57 Siehe zum Folgenden: Buber, Martin (2009), a. a. O., 293 ff. 58 A. a. O., 295. Amt und Gemeinde 239
Dialog meint nach Buber kein unverbind- Kommunikationstechniken, die den Ein- liches Plaudern. Er ist eine anspruchsvolle druck erwecken, dass die bloße Tatsa- und riskante Form der Begegnung aus che des miteinander Redenkönnens zum einer dialogischen Haltung heraus. Der Dialog befähigt. Smalltalk und interes- Bezug auf Buber macht deutlich, wor- sengesteuerte Diskussion karikieren ein auf es vor jeder Verkürzung auf das Ge- dialogisches Verständnis vom Menschen. spräch als Methode ankommt: Es geht Im Blick auf organisierte Arbeitskontexte zuerst um eine reflektierte dialogische oder politische Hierarchien käme dem Haltung in einem höchst voraussetzungs- Dialogischen radikal gedacht die Rolle reichen und anspruchsvollen Geschehen. des Anarchischen zu: Dialogische Egali- Das Ideal einer geglückten Begegnung tät würde bestehende Machtverhältnisse bleibt für Buber jedoch eine gnadenhafte außer Kraft setzen. ■ Erfahrung. Anderes suggerieren moderne Zusammenfassung Bubers vielschichtiges Denken wartet trotz breiter Rezeption noch immer darauf, unter der Oberfläche vielfach traktierter Formeln und Zitate tiefer erschlossen und in eine breitere Auseinandersetzung eingeführt zu werden. Sein Werk stellt unter anderem den Herausforderungen des Zusammenlebens von Menschen unterschied- licher religiöser Zugehörigkeiten, in die wir in unserem Kontext heute in einer noch nie da gewesenen Dichte und unaufschiebbaren Dringlichkeit und Wichtigkeit hin- ein gestellt sind, wichtige Grundlagen bereit: den Weg von der Konfrontation zum Dialog, vom Monolog zum echten Gespräch in einer lebendigen Begegnung; wech- selseitiges Anerkennen der grundverschiedenen Möglichkeiten und Gottesgeheim- nisse der jeweils Anderen; Gott nicht für eigene Interessen oder religiöse Systeme verzwecken; die Berufung zum gemeinsamen Dienst am Menschen annehmen. 240 Amt und Gemeinde
MARTIN BUBER Jüdisch-islamische Begegnung: Der Mensch wird am Du zum Ich. Annäherungen an das Werk des deutsch- jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber aus islamischer Sicht Wie sehr können sich MuslimInnen in Europa von den Gelehrten und Philosophen des europäischen Judentums auch in ihrem Verständnis von Religion im Allgemeinen und vom Islam im Be- sonderen inspirieren lassen? In diesem Beitrag wird ersichtlich, welch bemerkenswerte Beziehungen diese miteinander verwandten Religionen verbinden können. Von Amena Shakir Amt und Gemeinde 241
D ie Spannungen zwischen Judentum und Islam scheinen – zumindest seit der aufgeheizten politischen Lage im Na- Der jüdisch-islamische Dialog steckt – zumindest in Österreich – noch in den Kinderschuhen. Dialogkreise, in welchen hen Osten – unüberwindbar zu sein. Be- theologische, aber auch spirituelle Frage- sonnene Stimmen betonen zwar immer stellungen beider Religionen systematisch wieder, dass es sich hier um einen politi- betrachtet und erörtert werden, bestehen schen und nicht um einen Konflikt zwi- nicht, selbst wenn erste Schritte in diese schen Religionen handele, der nur auf Richtung zu beobachten sind.1 einer politischen Ebene gelöst werden Dabei bietet sich der pluralistische ös- könne. Andere betonen jedoch lautstark terreichische Kontext, in welchem, anders die vorgeblich unbezwingbaren Differen- als in anderen europäischen Ländern, der zen und Barrieren zwischen den beiden Islam gleichermaßen als Religionsgesell- Religionen, die unweigerlich dazu führen schaft staatlich anerkannt ist, besonders müssten, jegliche Hoffnung in Dialog und gut dazu an, abseits politischer Fragestel- Aussöhnung zu verlieren. Diese Schwarz- lungen eine interreligiöse Annäherung weiß-Malerei, in welcher JüdInnen und durchzuführen, denn – wie es der deut- MuslimInnen per se als Feinde deklariert sche Journalist Armin Langer ausdrückt: werden, findet zunehmend Gehör auch im Juden und Muslime sind keine Feinde.2 europäischen Kontext und hat Folgen für das selbstverständliche und konstruktive Zusammenleben von Menschen, die un- Der jüdisch-islamische terschiedlichen Religionen und Weltan- Dialog steckt voller Über- schauungen angehören. raschungen und unerwarteter Wo stehen europäische MuslimInnen? Gemeinsamkeiten Welches Wissen haben sie über das Ju- dentum, welche Beziehungen haben sie Im Gegenteil. Im Zuge meiner Verant- zu JüdInnen, begegnen sie einander und wortung für die Ausbildung von Religi- tauschen sie sich aus? onslehrerinnen und Religionslehrern be- In diesem Beitrag soll erörtert werden, suchte ich mit jungen Studierenden der ob europäische MuslimInnen im Leben islamischen Religionspädagogik regel- und Wirken des bedeutenden europäisch- mäßig die Synagoge im Wiener Stadtzen- jüdischen Religionsphilosophen, der als assimilierter Jude des frühen 20. Jahrhun- 1 Vgl. „Kopftuch, Kippa, Kreuz“ in: www.momagazin.at. derts über den Zionismus zum Judentum 12.03.2015. Ein gemeinsames Interview des Wiener fand, Anstöße für ihre eigene Auseinan- Rabbiners Schlomo Hofmeister und des Islamischen Religionslehrers Ramazan Demir über ihr Leben als dersetzung mit und ihr Verständnis von Jude und Muslim in Österreich. Religion sowie ihre Präsenz bzw. ihre 2 Langer, Armin (9.3.2015): Muslime und Juden sind keine Feinde. www.zeit.de/gesellschaft/zeitge- Verantwortung in der Gesellschaft fin- schehen/2015-03/juden-muslime-zusammenleben- den können. deutschland. 242 Amt und Gemeinde
trum. Ziel war der Besuch eines zentralen Martin Bubers religiöse Ortes jüdischen Lebens und eine Einfüh- Wegmarken rung in das Judentum aus erster Hand. Diese Begegnungen wurden von den Stu- Auch die Auseinandersetzung mit dem dierenden zu Beginn oft kritisch betrach- Leben und Wirken Martin Bubers birgt für tet, viele hatten nur sehr wenige Informa- MuslimInnen unerwartete Erkenntnisse, tionen vom Judentum als Religion. Die es sind durchaus markante Bezugspunkte Besuche hatten automatisch zur Folge, zum gegenwärtigen muslimischen Leben dass politische Dimensionen ausgeblen- in Europa zu entdecken. det und ein Gespräch über Spiritualität, Martin Buber wuchs nach der Tren- über religiöse Traditionen, Sichtweisen nung seiner Eltern bei seinen Großeltern und Bräuche, möglich wurde. So erfuh- in Galizien auf. Sein Großvater war jüdi- ren viele der muslimischen Studierenden scher Religionsgelehrter, der sich sowohl erstmals, dass auch bei JüdInnen rituelle der Tradition wie auch den mystischen Zu- Reinheit eine große Bedeutung hat. Vie- gängen des Judentums verpflichtet fühlte. len war unbekannt, wie heilig den Juden Eines seiner Forschungsfelder waren die der Eigenname Gottes ist, so dass sie ihn Erzählungen der Chassidim, die Bubers aus Ehrfurcht nicht aussprechen. Dies war Verständnis des Judentums bedeutend prä- nicht für alle Studierende nachvollziehbar, gen sollten. haben manche von ihnen doch seit ihrer Als Buber älter wurde, zog er in das Kindheit die 99 Namen Gottes verinner- assimilierte Haus seines Vaters ein und be- licht, die für sie Ausdruck des bildlosen schäftigte sich intensiv mit der deutschen Gottesverständnis im Islam sind. So lern- Literatur und ihren Dichter und Denkern, ten sie ganz selbstverständlich Ähnlich- besonders Nitzsche beeindruckte ihn keiten der Religionen kennen, tauschten nachdrücklich. Er entfernte sich immer sich aber auch über Unterschiede aus. Das mehr vom traditionellen Judentum, was Urteil der Studierenden über die Besu- sich unter anderem darin ausdrückte, dass che und den Austausch war immer ähn- er mit 14 Jahren damit aufhörte, die Tefil- lich: Überraschung über die unerwarteten lin zu legen; auch andere religiösen Riten Gemeinsamkeiten und der Wunsch nach praktizierte er bis an sein Lebensende mehr Information und Begegnung. nicht mehr.3 In seiner Studienzeit, die ihn von Wien auch nach Berlin, Zürich und Leipzig führte, lernte er den Zionismus und dessen Begründer, Theodor Herzl, persönlich kennen und begeisterte sich für dessen Idee. Allerdings lehnte er schon 3 Vgl. Wehr, Gerhard (2010): Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Amt und Gemeinde 243
sehr früh die rein national-politische Deu- Schule in Deutschland, die Erziehung „im tung des Zionismus ab und setzte sich für Sinne eines wahrhaften und lebendigen einen ‚Kulturzionismus‘ ein, was zum Judentums inaugurieren sollte.“5 Er initi- Bruch mit Herzl führte und zum Rückzug ierte Tagungen zur Reform des Bildungs- aus dem zionistisch geprägten Denken. Er wesens und beteiligte sich schließlich in vertrat die Ansicht, dass die grundlegen- den 1930-er Jahren an der Gründung des den Informationen über das Judentum bei Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt Juden selbst immer mehr schwanden bzw. am Main, einer jüdischen Einrichtung der nicht verfügbar waren und gründete des- Erwachsenenbildung. Er lehrte auch in der halb schon im Jahre 1902 im Alter von 24 Schweiz, in Holland und in Deutschland, Jahren mit einem Freund den ‚Jüdischen bevor ihm 1935 jegliche öffentliche Lehr- Verlag‘, der zum Ziel hatte, das Judentum tätigkeit untersagt wurde und er 1938 nach kulturell und geistig zu erneuern. Bevor Palästina einwanderte (auf diesen Begriff er im Jahre 1925, inzwischen der einzige legte er großen Wert). Professor für Religionswissenschaft und Der Lebenslauf Martin Bubers weist jüdische Ethik in Deutschland, gemein- m.E. interessante Parallelen zu Lebens- sam mit Franz Rosenzweig mit seinem läufen junger europäischer MuslimInnen Lebenswerk, einer Übersetzung der Bi- auf, wie ich im Folgenden kurz skizzieren bel aus dem Hebräischen ins Deutsche möchte: auch junge MuslimInnen erleben begann, widmeten sich seine Veröffent- im europäischen Kontext eine Vielfalt an lichungen der Mystik (in diesem Kontext islamisch geprägten Gedankenwelten und erschien auch seine einzige Publikation, Gruppierungen, die parallel nebeneinan- die sich spezifisch auf islamische Quellen der Bestand haben und sich nur hin und stützt4) sowie den chassidischen Überlie- wieder berühren. Unterschiedlichste Aus- ferungen. Darüber hinaus reflektierte er prägungen der Interpretation des Islam über das Judentum und seine Rolle in der konkurrieren miteinander um das rechte (Welt-) Gesellschaft, u. a. in der von ihm Verständnis der Religion, weitgehend ‚as- geleiteten Monatszeitschrift ‚Der Jude‘, similierte‘ Musliminnen und Muslime die als Sprachrohr jüdischer Neubesin- disputieren mit ‚konservativen‘ und die nung und Sammlung galt. 1923 veröffent- religiöse Praxis achtenden MuslimInnen lichte er seine Grundschrift ‚Ich und Du‘. teilweise in sehr polemischer Form um Bubers Bemühungen um Bildung und Inhalte, aber auch um den Rahmen so- Ausbildung von Juden begleiteten kon- wie die Zukunft des Islam. Nicht wenige sequent sein Leben. Er plante noch wäh- MuslimInnen finden ihren Zugang zur rend des ersten Weltkrieges eine jüdische Religion über den Umweg des Politischen, oder des Mystischen, und es scheint mehr 4 Buber, Martin (1984, 5.Auflage): Ekstatische Konfessionen. Heidelberg: Lambert Schneider. Diese sind zum ersten Mal 1909 im Inselverlag in Leipzig 5 Wehr, Gerhard (1997): Der deutsche Jude Martin veröffentlicht worden. Buber. München: Kindler. S. 95. 244 Amt und Gemeinde
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