Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich

 
WEITER LESEN
Amt und Gemeinde
68. Jahrgang, Heft 4, 2018                                                € 12, –

                              Erinnern und
                              Gedenken
                              Evangelische Kirchen in Mittel- und Südeuropa –
                              aktuelle Herausforderungen
                              Patrick Streiff                              224

                              Geschichtetes Erinnern.
                              Das Denkmal in der Grazer Heilandskirche
                              Matthias Weigold                               237

                              Vom ideologischen Gegeneinander
                              zum persönlichen Miteinander –
                              Die Evangelische Kirche und die national­-
                              politische Auseinandersetzung in Kärnten
                              im 20. Jahrhundert
                              Alexander Bach                                 243

                              Zum Hundertjahrjubiläum der
                              Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder.
                              Rückfragen und Anmerkungen aus
                              österreichischer Perspektive
                              Karl W. Schwarz                                251

                              Und weitere Beiträge

Evangelischer Presseverband   Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT

Editorial ......................................................................................................................................       221
Michael Bünker

Evangelische Kirchen in Mittel- und Südeuropa –
aktuelle Herausforderungen .........................................................................................                                   224
Patrick Streiff

Geschichtetes Erinnern.
Das Denkmal in der Grazer Heilandskirche                                                    ........................................................   237
Matthias Weigold

Vom ideologischen Gegeneinander zum persönlichen Miteinander –
Die Evangelische Kirche und die nationalpolitische
Auseinandersetzung in Kärnten im 20. Jahrhundert ....................................                                                                  243
Alexander Bach

Zum Hundertjahrjubiläum der Evangelischen Kirche
der Böhmischen Brüder. Rückfragen und Anmerkungen
aus österreichischer Perspektive ..............................................................................                                        251
Karl W. Schwarz

                                                                           ***
Rezensionen

Körtner Ulrich H. J.:
Dogmatik – Lehrwerk Evangelische Theologie ..................................................                                                          262
Martin Fischer

Petra Verbics / Nicolette Móricz / Miklós Köszeghy (Hg.)
Ein pralles Leben: Alttestamentliche Studien. Für Jutta Hausmann
zum 65. Geburtstag und zur Emeritierung ..........................................................                                                     267
Siegfried Kreuzer

Ulrich Gäbler:
Ein Missionarsleben: Hermann Gäbler und die Leipziger Mission
in Südindien (1891–1916) ...............................................................................................                               272
Elisabeth E. Schwarz
Siegfried Kreuzer / Dagmar Lagger / Helene Miklas (Hg.):
„Wir haben hier keine bleibende Stadt“ (Hebräer 13,14)
100 Jahre Evangelische Frauenschule – Evangelische Religionspädagogische
Akademie – Kirchliche Pädagogische Hochschule (2018) ...................................... 276
Karl W. Schwarz

Gerhard Giesemann:
Die Theologie des slowenischen Reformators Primož Trubar .................                                                                                280
Karl W. Schwarz

Christian Grethlein:
Evangelisches Kirchenrecht – Eine Einführung
Hendrik Musonius:
Evangelisches Kirchenrecht – Grundlagen und Grundzüge                                                                             .....................   284
Karl W. Schwarz

Ulrich H. J. Körtner:
Ökumenische Kirchenkunde – Lehrwerk Evangelische Theologie .......                                                                                        285
Karl W. Schwarz

Johannes Fichtenbauer / Lars Heinrich / Wolf Paul (Hg.):
Meilensteine auf dem Weg der Versöhnung –
20 Jahre „Ökumene der Herzen“ am Runden Tisch für Österreich –
Lehrwerk Evangelische Theologie .............................................................................                                             287
Karl W. Schwarz

Eginald Schlattner:
Wasserzeichen                    ......................................................................................................................   290
Ernst Hofhansl
                                                                             ***
Nachruf
In memoriam Professor Robert Kauer                                                  ...................................................................   292
Karl W. Schwarz
                                                                             ***
Anhang
Autor*innen ...............................................................................................................................               299
Jahresregister 2018 .............................................................................................................                         301
Impressum .................................................................................................................................               304
 ERINNERN UND GEDENKEN

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,                   Diasporapfarrer braucht eine ­konzentrierte
                                              und elementare Theologie.“ – so Bischof
mit dieser Ausgabe von „Amt und Ge­           May, der das auch noch mit den Erfah­
meinde“ wird ein Zwischenschritt gesetzt.     rungen der Kirche während des National­
Das Heft ist ein Restant aus dem Jahr 2018,   sozialismus zu begründen wusste. Von
dessen nachträgliches spätes Erschei­         daher legte sich die enge Kooperation mit
nen dem Umstand geschuldet ist, dass          den Professoren der evangelisch-theolo­
die Beiträge der Pfarrer*innnentagung         gischen Fakultät nahe.
am Hafnersee in Kärnten vom Sommer
2018 nach und nach und letztlich nur auf­     Die Schriftleitung hatte 1947 Prof. Erwin
grund des beharrlichen Nachfragens von        Schneider übernommen. Dies scheint nicht
Karl Schwarz einlangten. So haben Sie         ganz freiwillig erfolgt zu sein, denn Erwin
Heft 4/2018 erst nach den beiden Heften       Schneider gesteht freimütig, er hätte „dies
1 und  2 aus 2019 in den Händen. Wie auch     neue Amt nicht begehrt, sondern es ist ihm
immer: Mit diesem Heft und dem Sommer         auferlegt worden.“ Anfang der 1950er-
2019 endet zum fünften Mal die Heraus­        Jahre schien der erwähnte Notstand, der
geberaufgabe, die traditionellerweise der     die Existenzgrundlage von „Amt und Ge­
Bischof der Evangelischen Kirche A. B.        meinde“ darstellte, überwunden. Das Er­
für diese Zeitschrift innehat.                scheinen der Zeitschrift wurde kurzerhand
                                              eingestellt. Aber nur für wenige Jahre! Of­
Begonnen hat es im Jahr 1947, als Bischof     fenkundig hatte sie ihre Berechtigung und
D. Gerhard May „Amt und Gemeinde“ auf         Notwendigkeit erwiesen und wurde – vor
den Weg brachte. In seiner Einführung         allem auch im Ausland, wie Bischof May
zur ersten Ausgabe schrieb er, dass das       bei einem Besuch in die USA feststellen
Erscheinen dieser Zeitschrift durch einen     konnte – gerne gelesen.
Notstand veranlasst wurde. Der Zugang
zu theologischer Literatur war 1947 für       Unter neuer Schriftleitung durch Prof. Wil­
viele Pfarrer und andere Hauptamtliche        helm Kühnert wurde ihr Erscheinen im
in der Kirche erschwert oder gar unmög­       Jahr 1955 wieder aufgenommen und fort­
lich. Aber: „Gerade der auf sich gestellte    gesetzt. Von da an blieb die Kontinuität ge­

Amt und Gemeinde                                                                      221
wahrt. Im November 1968 übernahm Oskar        Besonders tiefgreifend sind die inhaltli­
Sakrausky als Nachfolger von B
                             ­ ischof May     chen Änderungen. In den ersten Nach­
die Herausgeberschaft, an die Seite von       kriegsjahren finden sich noch Predigthil­
Wilhelm Kühnert trat Dr. Stefanie Nad­        fen für die vorgeschlagenen Predigttexte,
herny-Prochaska. Sie nahm später allein       Vorschläge für die inhaltliche Arbeit der
die Aufgabe der Schriftleitung wahr, wäh­     Pfarrkonvente, Nachrufe auf Pfarrer so­
rend ab dem Mai 1983 Bischof Dieter Knall     wie Nachrichten aus der Kirche im In- und
Herausgeber geworden war. Für viele Jahre     Ausland. Später wurden in „Amt und Ge­
hat dann Prof. Gustav Reingrabner in einem    meinde“ Diskussionsbeiträge zu Proble­
Team, dem Prof. Georg Sauer, Paul Weiland     men abgedruckt, die die Kirche beschäf­
und Christoph Weist angehörten, die redak­    tigten, etwa zum Weisungsrecht oder zur
tionelle Verantwortung wahrgenommen. So       Frage des Zivildienstes u. a. m. Unter Bi­
war es auch noch in den ersten Jahren des     schof Sturm wurde als neuer inhaltlicher
Bischofsamtes von Herwig Sturm, der ab        Akzent regelmäßig eine Art Chronik des
1996 Dieter Knall nachfolgte.                 kirchlichen Lebens aufgenommen. In den
                                              letzten zehn Jahren wurden die Beiträge
Zwei Jahre später – 1998 – erscheint ein      der Pfarrer*innentagung und des Refor­
neues Team in der Schriftleitung, für die     mationsempfangs, die jährlich stattfinden,
Prof. Gottfried Adam die Verantwortung        und andere kirchliche Ereignisse doku­
trug. Mit ihm engagierten sich neu Till       mentiert. Hervorzuheben ist natürlich das
Geist, Birgit Lusche, Robert Schelander       Reformationsjubiläum des Jahres 2017!
und – gleichsam als Wahrer der Kontinu­
ität – Paul Weiland und Christoph Weist.      Den roten Faden von 1947 bis heute bilden
Dieses Redaktionsteam verantwortete           aber die theologischen Beiträge, zu denen
auch die Hefte des 59. Jahrgangs, also        auch die Rezensionen aus der Fachliteratur
des Jahres 2008, in dem bereits ich als       gehören. Schwerpunkte der kirchlichen
Nachfolger von Herwig Sturm als Bischof       Arbeit werden aufgegriffen, ich erwähne
die Herausgeberschaft übernommen hatte.       „Auf dem Weg der Umkehr“ 2008/2009,
Mit dem 60. Jahrgang 2009 änderte sich        also zehn Jahre nach der Synodenerklä­
das Redaktionsteam erneut. Prof. Karl W.      rung „Zeit zur Umkehr“, und zuletzt das
Schwarz wurde Chefredakteur, im Team          Doppelheft 1/2 des Jahres 2019 zur Seel­
waren Gerhard Harkam, Jutta Henner,           sorge, für das dankenswerterweise Mar­
Ingrid Tschank, Thomas Krobath, Char­         git Leuthold (gemeinsam mit Charlotte
lotte Matthias und Robert Schelander.         Matthias) die redaktionelle Verantwortung
Das war aber nicht die einzige Änderung:      übernommen hat. „Amt und Gemeinde“
Die Zeitschrift erhielt ein neues Aussehen    versteht sich von Anfang an bis heute als
und wurde von dem ursprünglich monat­         theologische Fachzeitschrift mit einem
lichen auf ein vierteljährliches Erscheinen   deutlichen Schwerpunkt auf der Situation
umgestellt.                                   der evangelischen Kirche in Österreich.

222                                                                  Amt und Gemeinde
Freilich hat sich die Medienlandschaft,      Ingrid Tschank, Gerhard ­Harkam und Tho­
auch die kirchliche, in den letzten Jahr­    mas Krobath, der mit Robert S  ­ chelander
zehnten grundlegend geändert. Vieles von     noch die letzten Hefte inhaltlich be­
dem, was bislang den Inhalt von „Amt         treute. Dann alle, die mit der Produktion
und Gemeinde“ ausgemacht hat, findet         befasst waren, in erster Linie ­Charlotte
sich heute in anderen Printmedien und        Matthias, dazu Hilde ­Matouschek, die
vor allem im Internet auf diversen Web­      sich um das Layout und Gesicht der Zeit­
sites. Aber manches in diesen Medien ist     schrift annahm, sowie die Mitarbeitenden
kurzlebig und nur von aktueller Bedeu­       im Evangelischen Presseverband, die die
tung. Wenn etwas bleibend festgehalten       Herstellung und den Vertrieb übernom­
und bewahrt werden soll, empfiehlt sich      men haben.
nicht nur aus meiner Sicht nach wie vor
die gedruckte Form. Auch die elektroni­      Zu danken ist allen Autorinnen und Au­
sche Speicherung bietet nicht immer einen    toren, die Beiträge zur Verfügung gestellt
leichten Zugang und auch keine nach­         haben und natürlich den Bezieherinnen
haltige Sicherung auf Knopfdruck. Aber       und Beziehern von „Amt und Gemeinde“.
neben dem Anliegen der Dokumentation         Ohne die staatliche Presseförderung und
dürfen auch die Anregung zur Diskussion      die namhafte Unterstützung von Fördern­
und die Information nicht zu kurz kom­       den wie dem Evangelischen Krankenhaus
men. Nicht alles, was für das kirchliche     Wien wäre die Herstellung der Zeitschrift
Leben hierzulande bedeutsam ist (oder        so nicht möglich. Auch dafür sei herzlich
zumindest sein sollte bzw. werden kann),     gedankt.
findet seinen Weg in jene Medien, die
unter den heutigen Bedingungen produ­        Wie bei jedem bisherigen Wechsel in der
ziert und vertrieben werden. Von daher hat   Herausgeberschaft seit 1947 kann man­
„Amt und Gemeinde“ seinen zwar einge­        ches abgeschlossen werden. Einige der
grenzten, aber dennoch klar bestimmba­       Genannten werden – wie ich selbst auch  –
ren Platz im Leben der Kirche.               mit dem Sommer 2019 ihr Engagement
                                             für „Amt und Gemeinde“ beendet haben.
„Amt und Gemeinde“ verändert sich in         Andere werden weiter dranbleiben. Ei­
der inhaltlichen Ausrichtung und im Er­      niges wird zu Ende gehen, anderes wird
scheinungsbild und bleibt sich selbst doch   weitergeführt, manches wird neu. Her­
durch die Jahrzehnte treu. Jeder Bischof     künftiges und Zukünftiges, Kontinuität
als Herausgeber hat mit dem Team der Re­     und Neuerung greifen ineinander.
daktion eigene Akzente gesetzt. Dass dies
auch in den letzten Jahren möglich gewe­     Herzlichen Dank für das Vergangene und
sen ist, ist vielen verdankt. Zuerst seien   alles Gute für das, was kommt,
die ehrenamtlichen Redaktionsmitglie­
der genannt: Karl Schwarz, Jutta Henner,                             Michael Bünker

Amt und Gemeinde                                                                   223
 ERINNERN UND GEDENKEN

Evangelische Kirchen
in Mittel- und Südeuropa –
aktuelle Herausforderungen

Vortrag des Bischofs der Evangelisch-methodistischen Kirche von Mittel-

und Südeuropa auf der gesamtösterreichischen Pfarrer*innentagung der

Evangelischen Kirchen im August 2018.

                                                               Von Patrick Streiff

Einführung                                      Ich möchte in einem ersten Teil ganz
                                             knapp das Bischofsgebiet vorstellen, da­
Ich möchte mich herzlich bedanken für        mit Ihnen mein eigenes Arbeits- und Er­
die Einladung, an Ihrer Pfarrer- und Pfar­   fahrungsgebiet besser verständlich wird.
rerinnentagung zu diesem Thema zu spre­      Auch wenn es den Namen „Mittel- und
chen. Ich mache es selbstverständlich aus    Südeuropa“ trägt, umfasst es sehr viel
meiner Perspektive als Bischof der Evan­     mehr Länder, als Sie mit dem mir gestell­
gelisch-methodistischen Kirche (EMK) in      ten Thema geographisch bezeichnet ha­
Mittel- und Südeuropa. Wie Sie wissen,       ben. In einem zweiten Teil möchte ich ei­
sind wir zwar eine weltweite Kirche, da      nige markante Punkte aus der Geschichte
und dort eine der größten protestantischen   von Mitteleuropa und Balkan von kom­
Kirchen, aber in ganz Europa in jedem        munistischer Zeit bis heute ins Bewusst­
Land eine kleine Minderheitenkirche. Das     sein bringen, da wir ohne sie die aktuel­
prägt meinen Blickwinkel auf das Thema.      len Herausforderungen nicht verstehen

224                                                                Amt und Gemeinde
können. Die Teile drei bis sechs nehmen      Frankreich, Kroatien, Makedonien, Öster­
dann die aktuellen Herausforderungen         reich, Polen, Rumänien, Schweiz, Serbien,
für die Evangelischen Kirchen in Mittel-     Slowakische Republik, Tschechische Re­
und Südeuropa näher in den Blick: Teil       publik, Tunesien, Ungarn. Mit Ausnahme
3 beleuchtet den gesellschaftlichen Kon­     von Albanien, Kroatien und Rumänien,
text heute; Teil 4 geht auf die anhaltende   in denen die kirchliche Arbeit erst nach
inner-europäische Migration ein; Teil 5      der Wende wiederaufgenommen wurde,
fokussiert auf die zwischenkirchliche bzw.   gab es im Prinzip in allen Ländern nach
multireligiöse Situation in den einzelnen    dem Zweiten Weltkrieg eine methodis­
Ländern und deren Auswirkung auf die         tische Präsenz. Das Bischofsgebiet von
evangelischen Kirchen; Teil 6 schließlich    Mittel- und Südeuropa war während der
geht auf die nationale Identitätssuche und   Ost-West Trennung das einzige innerhalb
die multi-ethnische Situation ein. Da Mit­   der EMK, das diese Grenzziehung über­
tel- und Südeuropa aus einer Vielzahl sehr   brücken konnte.
unterschiedlicher Länder besteht, wird es       In den sechzehn Ländern mit über
immer wieder nötig sein, konkret genug       zwanzig verschiedenen Sprachen gibt es
zu bleiben und die Unterschiede nicht mit    über 300 Ortsgemeinden. Zur Kirche zäh­
Allgemeinheiten zu überdecken.               len sich gut 13 000 erwachsene Mitglieder
    Eine letzte Vorbemerkung: Ich lese       („Bekennende Glieder“, die zu einem frei
recht regelmäßig Artikel, seltener Bücher,   gewählten Zeitpunkt in einer Bekennt­
zu diesem spezifischen Themengebiet,         nisfeier sich verbindlich der Kirche an­
verzichte aber weitgehend auf Verweise       schließen wollen). Insgesamt zählen sich
auf andere Autorinnen und Autoren.           rund 25 000 Personen, inklusive Kinder,
                                             zum Kreis derer, die mehrmals jährlich an
                                             Angeboten der Kirche teilnehmen. Etwas
1. Das Bischofsgebiet                        über 200 Frauen und Männer sind in pas­
   der EMK von Mittel-                       toraler Verantwortung in der Kirche tätig.
   und Südeuropa –
   ein Überblick
                                             2. Mitteleuropa und Balkan
Für den ersten Teil, einen Überblick über       – aus der Geschichte
das Bischofsgebiet der EMK von Mittel-          von kommunistischer
und Südeuropa hier stichwortartig einige        Zeit bis heute
Hinweise. Ausführlichere Darstellungen
finden sich auf der offiziellen Webseite:    Wie bereits kurz angesprochen, gehörten
www.umc-cse.org.                             in kommunistischer Zeit alle Länder west­
   Folgende Länder (in alphabetischer        lich der UdSSR zum Bischofsgebiet von
Reihenfolge) zählen zum Bischofsgebiet:      Mittel- und Südeuropa, währenddessen
Albanien, Algerien, Belgien, Bulgarien,      in der UdSSR selber die methodistische

Amt und Gemeinde                                                                   225
Arbeit zerstört und aufgegeben werden          unterschiedlichen Zeitpunkten in den
musste. Die Entwicklung verlief aber auch      verschiedenen Ländern. Der Bischof
in kommunistischer Zeit in den einzel­         erhielt dann ein Visum zumindest für
nen Ländern von Mitteleuropa und dem           die jährliche Konferenz, da und dort
Balkan sehr unterschiedlich. Es war kei­       wurde ihm auch erlaubt, Gemeinden
neswegs ein gemeinsamer „Ostblock“,            zu besuchen. Als es in Ungarn 1974 zu
in dem alles genau gleich war. Wie un­         einer Kirchenspaltung kam, wollten der
terschiedlich die Situation zwischen der       Bischof und die ungarische Kirchenlei­
kommunistischen Machtergreifung und            tung die Sache nicht vor weltliche Ge­
deren Zusammenbruch war, können zwei           richte bringen, obwohl die staatlichen
Beispiele deutlich machen:                     Organe immer wieder darauf drangen,
• In der Tschechoslowakei vertraten die        dass sie den Bischof und die Kirchen­
   Kommunisten bei Amtsantritt die An­         leitung aktiv unterstützen möchten.
   sicht, dass eine private Unterstützung      Ganz anders wiederum war die Situ­
   der Pfarrer (damals nur männlich) –         ation in Bulgarien. Dort blieb es dem
   und zudem noch bei einer möglichen          Bischof während der gesamten kom­
   Unterstützung aus dem Ausland – eine        munistischen Zeit untersagt, mit einem
   Idee der Bourgeoisie sei und deshalb        offiziellen Visum einzureisen und die
   abgeschafft gehöre. Der Staat wollte        Evangelisch-methodistische Kirche als
   bewusst alle Arbeitnehmer und -neh­         eigenständige Kirche zu organisieren.
   merinnen entlohnen, also auch die           Die staatlichen Organe hatten mitge­
   Pfarrer. Dieses System hat den Kom­         holfen, die drei miteinander verbun­
   munismus überdauert. Erst seit kurzem       denen protestantischen Kirchen über
   läuft in der Tschechischen Republik         einen von ihnen approbierten Bischof
   eine mehrjährige Übergangsphase von         zu leiten. Der Bischof der EMK hätte
   einer staatlichen Besoldung zu einer        höchstens als privater Tourist reisen
   privaten durch die Kirchen. In der Slo­     dürfen, was er immer abgelehnt hat.
   wakischen Republik wird das System
   der staatlichen Besoldung noch immer      Was hat meine eigene Perspektive ge­
   weitergeführt.                            prägt? Ich bin 1955 geboren. Meine Eltern
• In keinem kommunistischen Land             erlebten die Ungarnkrise 1956 und unga­
   war dem Bischof der EMK (es waren         rischen Flüchtlinge, die die Schweiz auf­
   Schweizer Staatsbürger) erlaubt, die      nahm. Mein Vater war immer interessiert
   Tagungen der Jährlichen Konferenz         am politischen Geschehen in der Welt.
   (Synode) zu präsidieren, wie es von       Für mich wurde das Erlebnis des Prager
   der Kirchenordnung vorgesehen ist.        Frühlings 1968 sehr einschneidend. Ich
   Zu Beginn, in stalinistischer Zeit, gab   war damals ein Teenager. Ich verfolgte
   es auch keine Einreisevisas, anschlie­    gespannt die politische Öffnung zu Rede-
   ßend lockerte sich die Situation zu       und Meinungsfreiheit. Und dann prägte

226                                                                Amt und Gemeinde
sich mir ein, wie im August – vor genau                  macht, wie künstlich und ideologisch
50 Jahren  – die Truppen des Warschauer                  bedingt diese Trennung in zwei unter­
Pakts mit Panzern auffuhren, um den „So­                 schiedliche Welten war. Das Wort vom
zialismus mit menschlichem Antlitz“ nie­                 „Eisernen Vorhang“ war für mich immer
derzuwalzen.1 Wie in der Ungarnkrise                     zu sehr politisch überladen. Im größeren
zeichnete sich die Schweiz durch eine                    geschichtlichen Horizont war mir schon
grosszügige Flüchtlingspolitik aus und                   damals bewusst, dass die Mitte Europas in
nahm in kürzester Zeit weit über 10 000                  diesen Ländern lag und liegt. Für uns als
Flüchtlinge auf. In den 80er-Jahren be­                  EMK kommt dazu – und das gilt zum Teil
suchte ich dann vor allem Ungarn regel­                  auch für die anderen evangelischen Kir­
mäßig im Rahmen von kirchlichen Tagun­                   chen: wir haben uns an sehr vielen Orten
gen, weil dies ein günstiger Treffpunkt                  aufgrund der deutschsprachigen Ansied­
war, um sowohl vom Westen als auch aus                   lungen in Mittel- und Osteuropa und im
anderen kommunistischen Ländern anrei­                   Balkangebiet ausgebreitet. Die deutsch­
sen zu können. Ich erlebte mit, wie un­                  sprachigen Gebiete waren in Europa vor
terschiedlich viel Freiraum die Kirchen                  den beiden Weltkriegen geographisch
damals für ihre Arbeit in den einzelnen                  sehr viel ausgedehnter. In vielen dieser
kommunistischen Ländern hatten. Als                      Regionen kam es über die Ansiedlung
dann 1989 die Flucht vieler Menschen,                    deutschsprachiger Bauern und Händler
vor allem aus der DDR über Ungarn in                     zur Gründung evangelischer Kirchen. Es
den Westen erfolgte, stand für mich die                  ist ein gemeinsamer Kulturraum gewesen,
ungewisse, bange Frage im Vordergrund:                   auch wenn er nicht uniform war.
Wie lange wird das noch dauern, bis wie­                     Die politische Wende im Jahr 1989 kam
der Panzer auffahren? Der Fall der Berli­                völlig überraschend. Für die Menschen in
ner Mauer war für mich zunächst irreal.                  jenen Ländern war sie begleitet von gro­
Es dauerte einige Tage, bis ich überzeugt                ßen Träumen von Freiheit und westlichem
war, dass die politische Umwälzung – zu­                 Wohlstand. Die Zeit der Wende und was
mindest für die DDR – irreversibel ist.                  dann kam, erinnert mich an die biblische
   Sie sehen: Ich bin mit einer starken                  Geschichte vom Auszug aus der Sklave­
Prägung durch den Ost-West Konflikt                      rei und vom Traum vom gelobten Land,
aufgewachsen. Meine Kenntnis der Ge­                     wo Milch und Honig fließen. Religiös
schichte hat mir aber auch bewusstge­                    waren die 90er-Jahre tatsächlich geprägt
                                                         von einer Aufbruchsstimmung und gro­
                                                         ßem Interesse am christlichen Glauben.
1   Am 21. August 1968 kam es zum Einmarsch der
    Truppen des Warschauer Pakts; am 26. August un­      Die Menschen hatten genug von den alten
    terschrieben die Reformer in Moskau ihr Geständnis   Ideologien und suchten nach einem festen
    einer „Reform ohne Extreme“; am 16. Januar 1969
    kam es zur Selbstverbrennung des Studenten Jan       Grund für ihr Leben. Zumindest in unserer
    Palach in Prag; am 17. April 1969 wurde Alexander
    Dubček als Generalsekretär der kommunistischen
                                                         eigenen Kirche prallten aber auch Gegen­
    Partei durch Gustáv Husák ersetzt.                   sätze aufeinander: die bisherigen, treuen

Amt und Gemeinde                                                                              227
Gemeindeglieder, die sich nicht vorstellen    gene Klientel zu bedienen und in den vier
konnten, zeugnishaft von ihrem Glauben        Jahren ihrer Regierungszeit möglichst viel
zu erzählen, weil man mehr als eine Gene­     zu profitieren.
ration lang sich abkapseln und vorsichtig        Nach dem ersten Enthusiasmus über
sein musste, wem man was erzählte. Und        den Fall der kommunistischen Regierun­
daneben westliche Missionsgruppen oder        gen wurde langsam auch bewusst, dass
Neubekehrte im eigenen Land, die intensiv     nicht alles Frühere nur schlecht war. In
und enthusiastisch evangelisieren wollten.    der Sozialgesetzgebung war manches viel
In den 90er-Jahren gab es eine große Of­      fortschrittlicher als im Westen, aber auf die
fenheit gegenüber christlichen Aktivitäten.   Dauer nicht finanzierbar. Deutlich wird
Um das Jahr 2000 hat sich das Blatt gewen­    dies zurzeit in Osteuropa an den Protes­
det. In den letzten 15–20 Jahren sind die     ten in Russland, weil die Regierung das
Menschen viel vorsichtiger und zurückhal­     Rentenalter erhöhen will. Wir lesen dabei
tender geworden. Als Beispiel: wenn in den    auch, wie niedrig die Renten sind. Doch
90er-Jahren eine christliche Gruppe auf der   das hängt weitgehend damit zusammen,
Straße eine evangelistische Aktion plante,    dass die Renten nicht mehr der Teuerung
kamen die Leute und wollten sich anhören,     angepasst werden konnten. In kommunis­
was da läuft und gesagt wird. Heute ma­       tischer Zeit erlaubte das niedrige Ruhe­
chen die Menschen in Mitteleuropa einen       standsalter und die weitere Erwerbstätig­
genauso weiten Bogen darum herum wie          keit (die es in vielen Berufsgattungen gab)
in Westeuropa.                                den Pfarrerinnen und Pfarrern in der Regel,
   Die Wende ließ die Menschen vom ge­        ein Haus im Familienbesitz als Alterswohn­
lobten Land träumen. Was aber kam, war        sitz herzurichten. In Serbien hatten wir
eine Wüstenzeit für den größten Teil der      sogar die Situation, dass Pfarrpersonen
Bevölkerung. Niemand war darauf vorbe­        beim Eintritt in den Ruhestand eine hö­
reitet. Es kam ein chaotischer Umbruch,       here Rente erhalten haben, als ihr früheres
in dem sich einige Wenige maßlos berei­       Gehalt. Die meisten Länder Mitteleuropas
cherten und die meisten Menschen ums          und des Balkans haben noch heute eine viel
Überleben kämpften. Hohe Arbeitslosig­        großzügigere Regelung für Mutterschafts­
keit, extreme Teuerung und der Zusam­         urlaub als die westlichen Länder. So wird
menbruch des staatlichen Arbeits-, Lohn-      verständlich, dass die Sehnsucht nach den
und Sozialnetzes prägten die 90er-Jahre.      „Fleischtöpfen Ägyptens“ bei manchen
Auch politisch gab es kaum Stabilität, je     Menschen im idealisierten Rückblick auf
südlicher in Mitteleuropa desto weniger.      die Zeit vor 1989 wach geblieben ist.
Alle vier Jahre wechselte die Regierung,         Es ist ein eher neueres Phänomen, dass
einmal sogenannt bürgerlich, das nächste      Parteien mehrmals hintereinander Wahlen
Mal sogenannt sozialdemokratisch. Im          gewinnen, wie es zurzeit in vielen Län­
Grund herrschte aber die gleiche Gesin­       dern Mitteleuropas der Fall ist. In der ers­
nung: Jede Regierung versuchte, ihre ei­      ten Phase nach 1989 war natürlich für die

228                                                                    Amt und Gemeinde
meisten Menschen das „gelobte Land“                      Prozess und wird es weiterhin sein. Frie­
ihrer Träume geprägt vom Westen (West­                   denssicherung, Menschenrechte und ge­
europa oder die USA). Die Möglichkeit,                   waltfreie Lösung von Konflikten, wie es
in die EU aufgenommen zu werden und                      vor allem im Bereich des Europarats und
Mitglied der NATO zu werden, war begeh­                  der OSZE wichtige Anliegen sind, werden
renswert. Heute schwingt bei vielen die Ent­             weiterhin ständige Themen bleiben. Eu­
täuschung über die EU oben aus. Die Angst                ropa hat zwar insgesamt seit dem Zweiten
vor „westlichem Liberalismus“ wird von                   Weltkrieg eine lange Friedenszeit auf fast
manchen rechts-bürgerlichen Regierungen                  dem ganzen Kontinent gehabt, aber die
zurzeit bewusst eingesetzt, um die eigene                Jugos­lawienkriege Ende der 90er-Jahre
Machtbasis auszubauen. Man nimmt na­                     und vor kurzem der gewaltsame Konflikt
türlich gerne die finanzielle Unterstützung              in der Ostukraine und der Krim rufen in
durch die EU-Osterweiterung entgegen und                 Erinnerung, wie rasch der Friede gefähr­
möchte Investitionen anziehen, versucht                  det sein kann. Aus meinem Blickwinkel
aber zugleich, den Markt spielen zu las­                 scheint mir die EU zurzeit weitgehend
sen und ist für Avancen von anderen politi­              absorbiert mit wirtschaftlichen Fragen
schen Machtträgern, Russland, der Türkei                 (inkl. Brexit). Demgegenüber fehlt eine
und neuerdings verstärkt auch China, offen.              gemeinsame politische Agende.
   Zurzeit wird oft geklagt, wie insta­                     Blicken wir nun auf einige Herausforde­
bil die Situation, gerade in der EU, sei.                rungen für die evangelischen Kirchen (bzw.
Ich denke nicht, dass wir heute in einer                 die Kirchen überhaupt) in der gegenwär­
weniger stabilen Zeit leben als vor zehn                 tigen Situation in Mittel- und Südeuropa.
oder zwanzig Jahren. Nicht einmal vor der
Wende und sicher nicht nach der Wende
gab es je eine stabile Zeit, aber im Rück­
blick werden die Unsicherheiten geglättet                  1981: Süderweiterung I auf 10 Länder: neu mit
                                                           Griechenland;
und beim Blick in die Zukunft erscheint
alles viel bedrohlicher. Wir sollten nicht                 1986: Süderweiterung II auf 12 Länder: neu mit
                                                           Portugal und Spanien;
vergessen, dass auch die EU erst langsam
                                                           (1990: Deutsche Wiedervereinigung: BRD + DDR
zu dem geworden ist, was sie heute ist.2                   gemeinsam als Deutschland)
Der ganze Prozess der EU-Erweiterung                       1995 EFTA-Erweiterung auf 15 Länder (EU:
war ein risikoreicher und langwieriger                     Europäische Union): neu mit Österreich, Schweden,
                                                           Finnland; ohne Norwegen (erneut negative Volksab­
                                                           stimmung)

2   1957 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs     2004: Osterweiterung I auf 25 Länder: neu mit Est­
    Ländern: Belgien, BRD, Frankreich, Italien, Luxem­     land, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei,
    burg und Niederlande;                                  Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern

    1973 Norderweiterung auf 9 Länder (EG: Europä­         2007: Osterweiterung II auf 27 Länder: neu mit
    ische Gemeinschaft): neu mit Dänemark, Irland,         Rumänien und Bulgarien
    Vereinigtes Königreich; ohne Norwegen (negative        2013: Südosterweiterung auf 28 Länder: neu mit
    Volksabstimmung);                                      Kroatien

Amt und Gemeinde                                                                                            229
3. Der gesellschaftliche                     teressiert, weil die Firmen Rechtssicher­
   Kontext für evangelische                  heit brauchen, um Geschäfte tätigen zu
   Kirchen in Mittel- und                    können. Doch Rechtssicherheit kommt
   Südeuropa heute                           insgesamt allen Bürgerinnen und Bürgern
                                             zugute. Sie ist ein gefährdetes Gut, dem
Im dritten Teil versuche ich, auf den        Sorge zu tragen ist.
heutigen gesellschaftlichen Kontext für         Blickt man auf die Länder im Balkan,
evangelische Kirchen einzugehen. Dabei       die nicht Mitglieder der EU sind, so fällt
muss unterschieden werden und zwar in        zunächst auf, dass sie rundum von EU-
mehrfacher Hinsicht. Zunächst in Bezug       Ländern umgeben sind. Sie sind nicht
auf die EU-Mitgliedschaft der einzelnen      etwa irgendwo am Rande von Europa,
Länder.                                      wie man es bei der Türkei sagen kann.
   Die EU-Erweiterungen (2004, 2007,         Serbien, Bosnien-Herzegowina, Monte­
2013) haben einen immensen Transfor­         negro, Kosovo, Makedonien und Albanien
mationsprozess in Gang gesetzt. Die wirt­    sind als Nicht-Mitgliedsländer im Norden
schaftlichen Veränderungen hin zu einer      angrenzend an Kroatien, gegen Nordosten
Marktwirtschaft sind zwar mehr oder          und Osten an Ungarn und Bulgarien und
weniger in allen Ländern spürbar, aber       gegen Süden an Griechenland. Weil die
die EU hat einen gemeinsamen Rechts­         EU im Moment auf den Brexit und die
raum geschaffen, der sowohl bezüglich        Eurokrise fixiert ist, fehlt ihr der politische
der Freizügigkeit von Personen, Gütern       Wille zu klaren Signalen an diese nicht-
und Dienstleistungen als auch des ge­        EU-Länder bzw. der politische Wille zur
samten EU-Rechts in der europäischen         Umsetzung dessen, was man bereits vor
Geschichte seinesgleichen sucht. Die EU      fünfzehn Jahren(!) als nächstes großes
hat dabei auch Ansprüche an die Gewal­       Ziel bezeichnet hatte.3 Umso mehr ver­
tenteilung im modernen demokratischen
Staat gestellt, die überhaupt erst größere   3   EU-Gipfel in Thessaloniki 2003: Integration der
Rechtssicherheit für alle Bürgerinnen und        Westbalkan-Länder (Albanien und Nachfolgestaaten
                                                 Jugoslawiens) als nächstes grosses Ziel. (Beitritts­
Bürger eines Landes gewährleistet. Natür­        kandidat = assoziiertes Mitglied der EU; aber nicht
lich wissen und hören wir alle über den          automatisch schon Beitrittsverhandlungen)

Korruptionssumpf und Mafia-ähnliche              2013: Kroatien wird EU-Mitglied
Verbindungen in vielen Ländern, die nun          Albanien: 2009 Beitrittsgesuch; 2014 Beitrittskandidat
zur EU gehören, aber in den Ländern, die         Mazedonien: 2004 Beitrittsgesuch, dann Tod von
zur EU gehören, kann wenigstens Ein­             Staatspräsident Boris Trajkovski; 2005 Beitrittskan­
                                                 didat; Namensstreit mit Griechenland
spruch gegen solche Praktiken erhoben
                                                 Montenegro: 2008 Beitrittsgesuch; 2010 Beitritts­
werden, weil es grundsätzlich einen ge­          kandidat
meinsamen Rechtsrahmen gibt. Die EU ist          Serbien: 2009 Beitrittsgesuch; 2012 Beitrittskandidat
wesentlich aus wirtschaftlichen Gründen          Türkei: 1959 Beitrittsgesuch; 1999 Beitrittskandidat;
an diesem gemeinsamen Rechtsraum in­             2005 Beitrittsverhandlungen

230                                                                          Amt und Gemeinde
suchen Russland, die Türkei und neuer­                  len, tönen für sie völlig überzogen, denn
dings auch China in das Vakuum vorzu­                   so anders und schlimm kann es doch gar
stoßen mit ihren eigenen Interessen. Und,               nicht gewesen sein. Sie orientieren sich
wie bereits zuvor gesagt, ist das Interesse             nur noch an der Welt des 21. Jahrhun­
dieser mächtigen Staaten auch für man­                  derts und der digitalen Vernetzung. Wel­
che EU-Mitgliedsländer willkommen im                    che Perspektiven bieten sich ihnen dann
Kräftespiel mit Brüssel.                                in ihrer Heimat? Oder sollten sie ebenso
    Für die evangelischen Kirchen stellt                auswandern wie viele andere?
sich bereits in den EU-Ländern von Mit­                     Die Aufbauarbeit, die Jean und Wil­
teleuropa und Balkan, aber insbesondere                 fried Nausner in Albanien, in einer unse­
in den nicht EU-Ländern die Frage, ob sie               rer jüngsten Missionsgründungen, leis­
der ansässigen Bevölkerung eine Hoff­                   ten, ist ein leuchtendes Beispiel für ein
nungsperspektive geben können, um im                    ganzheitliches Verständnis und Umset­
Land zu bleiben und sich für den Aufbau                 zen des Evangeliums. Gemeinsam mit
des Landes einzusetzen. Nicht überall                   den Kirchengliedern vor Ort überlegen
ist zum Glück die Abwanderung so stark                  sie sich, in welchem Bereich der Gesell­
wie unter den Lutheranern in Siebenbür­                 schaft sie eigenes Potential haben, um
gen, wo nur noch ein Zehntel dort wohn­                 etwas zum Wohl der Menschen zu tun.
haft geblieben ist (vgl. nachfolgend zu                 Daraus sind ein Nähatelier von und für
Migration). Als Kirchen können wir der                  Frauen, Landwirtschaftsprojekte, und Be­
Bevölkerung in diesen Ländern nur eine                  hindertenbetreuung entstanden. Natürlich
Hoffnungsperspektive geben, wenn wir                    ist dies in Albanien nur ein Tropfen auf
ein ganzheitliches Verständnis des Evan­                einen glühend heißen Stein, aber für die
geliums leben. In der Tradition Wesleys                 Albanerinnen und Albaner, die sozial-
rede ich dann gerne von persönlicher und                diakonische Aktivitäten erleben, macht es
sozialer Heiligung, also der Verbindung                 einen Unterschied. Solches Tun des Guten
von Glaube und Tat; von persönlichem                    lässt aufhorchen und macht das christliche
Gottesbezug und Tun des Guten für an­                   Zeugnis glaubhaft und ansteckend.
dere; von Liebe zu Gott und Liebe zum
Nächsten. Wir Älteren sollten dabei nicht
vergessen: Die heute 30-Jährigen kennen                 4. Die anhaltende inner-
die Zeit vor der Wende nicht mehr. Die                     europäische Migration
Geschichten, die ihnen ihre Eltern erzäh­                  als Herausforderung
                                                           für die Kirchen
   Potentielle Beitrittskandidaten:
                                                        Im vierten Teil möchte ich die inner-eu­
   Bosnien und Herzegowina: 2008 Stabilisierungs- und
   Assoziierungsabkommen; 2016 Beitrittsgesuch          ropäische Migration ansprechen. Wir re­
   Kosovo: noch in Verhandlung über Stabilisierungs-
                                                        den zu Recht in Europa über die Flücht­
   und Assoziierungsabkommen                            lingsfrage und welche Politik unsere

Amt und Gemeinde                                                                              231
Regierungen in Bezug auf die Migrati­                         Wer abwandert, sind die Erwachsenen
onsströme aus dem Mittleren Osten und                      im erwerbsfähigen Alter, die oft schon
Afrika einschlagen sollten. Wir vergessen                  eine Familie gegründet haben. So bleibt
darüber aber oft die inner-europäische                     ein Elternteil mit den Kindern zurück,
Migration von Ost nach West und von                        oder öfters als man meint, gehen beide
Süd nach Nord. In der Vorbereitung auf                     Elternteile und geben die Kinder in die
diesen Beitrag erschien in der Neuen Zür­                  Obhut der Großeltern. So radikal, dass
cher Zeitung ein Artikel über diese inner-                 gleich beide Elternteile ins Ausland ge­
europäische Migration4.                                    hen, ist es zumindest in methodistischen
    Es gibt auch beim Thema der inner-                     Kreisen kaum. Der hohe Stellenwert der
europäischen Migration eine Unterschei­                    Familie in christlichen Kreisen hält wohl
dung zwischen EU- und Nicht-EU-Län­                        viele davon ab. Dass aber ein Elternteil
dern auf Grund der Personenfreizügigkeit                   im Ausland arbeitet und Geld verdient,
innerhalb der EU-Länder. Der EU-Bei­                       kommt häufig vor. Welche Langzeitfolgen
tritt hat zu einer erhöhten Wanderungs­                    wird dies für gewachsene Sozialstrukturen
bewegung geführt. Beispiel dafür wäre                      und sozialen Zusammenhalt in (Groß-)
die starke Auswanderung von Polen nach                     Familien haben?
Großbritannien und Irland, weil dort die                      Für evangelische Kirchen in den Ab­
Personenfreizügigkeit sehr schnell und                     wanderungsländern erwachsen neue Her­
ohne längere Übergangsfristen gültig                       ausforderungen, sowohl gegenüber direkt­
wurde. Kürzlich habe ich in den nicht-                     betroffenen eigenen Gemeindefamilien
EU-Ländern des Balkans aber erfahren                       als auch in Bezug auf offene Angebote
müssen, dass die Abwanderung dort noch                     der Kinder- und Teenagerarbeit für all
stärker ist und ein bedrohliches Ausmaß                    jene, die „zu Hause“ geblieben sind. Die
annimmt. Wie ist das möglich? Man sucht                    Herausforderung ist umso schwieriger, als
z. B. nach direkten Vorfahren, die aus ei­                 oft auch in den eigenen Reihen fähige Per­
nem EU-Land zuzogen, und kann sich                         sonen für die Arbeit mit Kindern und Ju­
dann in dem entsprechenden EU-Land                         gendlichen ins Ausland abgewandert sind.
erleichtert einbürgern lassen und hat da­                     Es gibt noch eine weitere Herausforde­
mit die EU-Freizügigkeit. Aufgrund der                     rung aus umgekehrter Sicht auf die Mi­
guten Wirtschaftslage und dem Mangel                       gration: wie offen sind unsere Kirchen
nicht nur an Fachkräften, sondern oft auch                 und Gemeinden in Westeuropa, um den
an einfachen Fabrikarbeitern in vielen                     Menschen Heimat zu bieten, die aus Mit­
EU-Ländern, ist die Chance groß, zu ei­                    teleuropa oder dem Balkan zu uns kom­
ner Arbeitsstelle im Ausland zu kommen.                    men? Nehmen wir sie wahr? Sind wir
                                                           eine einladende Gemeinschaft, die ihnen
                                                           z. B. über die ersten Sprachbarrieren hin­
4   Neue Zürcher Zeitung, 31. Juli 2018. Der Artikel war
    verbunden mit einer interessanten Grafik, die einige
                                                           weg hilft? Auch in unserer Evangelisch-
    der Länder und ihre Ab- bzw. Zuwanderung darstellt.    methodistischen Kirche muss ich öfters

232                                                                               Amt und Gemeinde
solche Fragen stellen, denn obwohl wir        Gegenüber, währenddessen die Luthera­
uns gerne rühmen, eine weltweite Kir­         ner deutlich kleiner sind. Und dann gibt
che zu sein, müssen auch wir noch viele       es eine Reihe von Ländern, in denen or­
Lernschritte machen, um die Migration         thodoxe Kirchen seit Jahrhunderten das
als positive Chance zu nutzen.                Land und Volk prägen, wobei die Länder
                                              im süd-östlichen Teil Europas jahrhunder­
                                              telang zum Osmanischen Reich gehörten.
5. Die zwischenkirchliche                     In jenen Ländern ist der Islam über lange
   bzw. multireligiöse                        Zeiträume und in einer Ausbreitung prä­
   Situation in Mittel-                       sent, wie es für Menschen in Westeuropa
   und Südeuropa                              völlig ungewohnt ist.
                                                  Als Evangelisch-methodistische Kir­
In Teil 5 möchte ich auf die zwischen­        che sind wir in all diesen Ländern eine
kirchliche bzw. multireligiöse Situation in   ganz kleine Minderheitenkirche. Als sol­
Mittel- und Südeuropa eingehen, wiede­        che sind wir vermutlich noch stärker als
rum mit der Frage, welche Herausforde­        größere, evangelische Kirchen mitgeprägt
rungen dies für die evangelischen Kirchen     vom jeweils größeren, kirchlichen Ge­
mit sich bringt.                              genüber. Allerdings ist es oft gar nicht
   Bei dieser Themenstellung spielt die       so leicht, diese Prägung zu beschreiben,
Mitgliedschaft in der EU keine Rolle. Die     da es sowohl Elemente der Adaption als
Situation ist tatsächlich von Land zu Land    auch der Abgrenzung gibt. Aber das Ge­
sehr verschieden, mit der einzigen Ge­        genüber, das man zum Vergleich wählt,
meinsamkeit, dass in keinem der Länder        ist die jeweils prägende Mehrheitskirche
eine evangelische Kirche eine Mehrheits­      oder die größte unter den evangelischen
stellung hat. Es gibt in jedem Land eine      Kirchen, und insofern fällt das Verglei­
nicht-evangelische Mehrheitskirche, die       chen je nach Kontext mit unterschiedli­
in den meisten Fällen sehr prägend ist        chen anderen Kirchen aus.
für das Land. In Polen ist es die römisch-        Eine nicht unwichtige Begleiterschei­
katholische Kirche, ebenso in der Slowa­      nung dieses unterschiedlichen Kontextes
kei oder in Kroatien. In Tschechien ist die   und Vergleichspunktes ist die Tatsache,
römisch-katholische Kirche zwar auch          dass die Gleichstellung der Geschlechter
die größte Kirche, aber über die Hälfte       im Bereich der Kirche noch keineswegs
aller Bürgerinnen und Bürger zählen sich      selbstverständlich ist. Grundsätzlich hat
zu gar keiner Kirche – Tendenz stark zu­      die Evangelisch-methodistische Kirche
nehmend. Dadurch ist das ökumenische          zwar seit 1956 die Regelung, dass alle
Klima in Tschechien sehr viel offener als     Ämter der Kirche ohne Unterschied bei­
in anderen Ländern. In Ungarn hat die         den Geschlechtern offenstehen. Doch in
römisch-katholische Kirche in der refor­      der Umsetzung in die Praxis ist dies in
mierten Kirche ein doch sehr bedeutendes      einem ausgeprägt römisch-katholischen

Amt und Gemeinde                                                                   233
oder ausgeprägt orthodoxen Umfeld deut­       gelobten Land erzählten, weicht jetzt in
lich schwieriger. Im Balkanraum ist auch      den Ländern Richtung Osten der Traum
insgesamt die patriarchale Prägung der        vom Westen einer Angst vor negativen
Gesellschaft noch viel ausgeprägter. Als      Einflüssen liberaler „Riesen“. Je stärker
Methodisten können wir zwar anknüp­           man gegen Osten blickt, umso vehementer
fen an die Aufbauarbeit von sogenann­         werden sozial-ethische Fragen auf einem
ten „Bibel­frauen“ um 1900, die wesent­       Verständnishintergrund bearbeitet, dass es
lich zum Aufbau der Kirche beigetragen        um einen Kampf geht zugunsten des Er­
­haben. Wir haben auch Kriegsjahre durch­     halts traditioneller Werte und gegen einen
 lebt, in denen nur oder fast nur Frauen      militanten Säkularismus. Entsprechend
 kirchliche Aufgaben wahrnehmen konn­         heftig ist man überzeugt, dass man ei­
 ten. Aber dennoch muss eine Frau noch        nen Schutzwall dagegen aufbauen müsse.
 heute deutlich höhere Qualifikationen        Dies ist z. B. in den Themenbereichen von
 aufweisen, um nicht Vorbehalte gegen­        Abtreibung oder gleichgeschlechtlichen
 über einer Empfehlung zu einem kirch­        Beziehungen bzw. Ehedefinition deutlich
 lichen Amt zu ernten. Ich vermute, dass      spürbar. In der Evangelisch-methodisti­
 dies in lutherischen und reformierten        schen Kirche erleben wir dies zur Zeit
 ­Kreisen sehr ähnlich ist, da mir in jenen   sehr heftig, weil die Frage der gleichge­
  Ländern nur selten Pfarrerinnen begegnet    schlechtlichen Lebensformen nach bald
  sind und nie in kirchenleitender Funk­      fünfzig Jahren heftigen Streits auf der
  tion. Hier stellt sich meines Erachtens     weltweiten Ebene der Generalkonferenz
  eine wichtige Herausforderung für die       an einer Sondertagung der Generalkon­
  evangelischen Kirchen und vor allem für     ferenz im Februar 2019 gelöst werden
  kirchenleitende Männer, Frauen bewusst      sollte.5
  in der Übernahme verantwortungsvoller
  Aufgaben in der Kirche zu fördern.
     Aktuell ist auch im Blick auf ethische   6. Nationale Identitäts­suche
  Fragestellungen in Mitteleuropa und dem        und multi-ethnische
  Balkan eine starke Tendenz zu spüren,          Situation in Mittel-
  dass die Gesellschaft (nicht nur die Kir­      und Südeuropa
  chen, sondern oft auch staatliche Medien
  und Gesetzgebung) die Gefahr des westli­    Im letzten Teil möchte ich einige Gedan­
  chen Liberalismus beschwören, vor dem       ken zur nationalen Identitätssuche und
  man sich schützen und die traditionel­      zur multi-ethnischen Situation in den ver­
  len, christlichen Werte hochhalten muss.    schiedenen Ländern aufgreifen.
  Oder in der biblischen Metapher der Aus­
  zugsgeschichte und Wüstenwanderung:
                                              5   Anmerkung (Dezember 2019): Es kam an der Gene­
  wie das Volk Israel vor Angst erstarrte,        ralkonferenz im Februar 2019 zu keiner Lösung. Der
  als die Kundschafter von „Riesen“ im            Streit schwelt weiter.

234                                                                         Amt und Gemeinde
Mit der Wende 1989 verband sich die         die christlichen Kirchen aufgrund ihres
Hoffnung, den Ost-West Graben zu über­         Glaubens eine Vorhut versöhnter ethni­
winden und ein geeintes Europa aufbauen        scher Gemeinschaft sein. Allerdings zeigt
zu können. Doch was entstand, war zu­          sich gerade in dieser Frage, wie stark na­
nächst ein wilder Nationalismus, in dem        tionales Denken die meisten Kirchen be­
sich alte (Bsp. Serbien) oder neue (Bsp.       stimmt. Ich nenne als Beispiel Serbien:
Slowakei) Führerpersönlichkeiten profi­        die traditionelle Aufteilung ist völlig klar,
lierten, um nationalistische Träume zu         denn Serben sind orthodox, Slowakisch­
verfolgen und neue Staaten zu gründen          sprachige sind lutherisch und Ungarisch­
oder Staatsgrenzen zu verändern. Wenn          sprachige sind reformiert. Nur die kleine
Ideologien zerbrechen, ist es naheliegend,     Evangelisch-methodistische Kirche, ur­
dass die Identitätssuche sich auf die ge­      sprünglich entstanden unter deutschen
meinsame Nation oder Sprache zurückbe­         Siedlern, dann missionarisch tätig unter
sinnt, um ein Gemeinwesen aufzubauen.          den sich ansiedelnden Slowaken, arbeitet
Nationale Identitätssuche ist meines Er­       in allen drei Sprachen unter allen Ethnien,
achtens nicht an sich negativ zu bewerten.     und dazu noch in Romagemeinschaften.
Wir sind als Beziehungswesen geschaffen,       Gerade weil wir eine kleine Minderheiten­
wobei sich das Beziehungsnetz natürli­         kirche in jedem Land sind, ist die Gefahr
cherweise in einem mehr oder weniger           ethnischer oder nationalistischer Identifi­
überschaubaren Raum von Großfamilie,           kation in der EMK deutlich kleiner. Und
Clan oder Interessenverbund abspielt.          deshalb wird in der EMK in Europa eine
Will man darüber hinaus ein größeres           trans-nationale Dimension der weltweiten
Gemeinwesen wie einen nationalen Staat         Struktur besonders geschätzt. Es bleibt
aufbauen, braucht es gemeinsame Identi­        meines Erachtens eine Herausforderung
tätsfaktoren. Insofern ist nationale Identi­   für alle evangelischen Kirchen (auch die
tätssuche ein natürlicher Vorgang. Wenn        EMK), diesen trans-nationalen Charakter
die Nation aber nationalistisch überhöht       des Kircheseins höher zu gewichten und
wird, lauert die Gefahr von Machtmiss­         besser zu entwickeln. Die römisch-katho­
brauch gegenüber Menschen anderer Her­         lische Kirche ist hier den anderen Kirchen
kunft. Die Jugoslawienkriege und die mit       voraus, auch wenn meines Erachtens ihr
ihnen verbundenen ethnischen Säuberun­         hierarchisch-rechtlicher Aufbau mehr dem
gen bleiben in schrecklicher Erinnerung.       Vorbild des römischen Reiches als dem
   Wenn nationale Identitätssuche in den       Evangelium geschuldet ist.
Nationalismus abdriftet, wird sie meist mit        Zur multi-ethnischen Situation in den
ethnischen Kategorien verbunden. Keine         meisten Ländern von Mitteleuropa und
europäische Nation war aber vor oder nach      dem Balkan zählt auch ein oft hoher An­
1989 ein ethnisch einheitlicher Staat. Alle    teil an Romabevölkerung. Es sind fast
waren multi-ethnisch, wenn auch in unter­      ausnahmslos sesshaft gewordene Roma.
schiedlicher Intensität. Eigentlich müssten    Sie haben unter der Wende besonders

Amt und Gemeinde                                                                        235
gelitten, denn in kommunistischer Zeit       an jungen Menschen, an Menschen mit
wurde ihnen Wohnraum zur Verfügung           universitärem Studium und an Romag­
gestellt, die Kinder verpflichtend in die    liedern haben. Das ist ein guter wesleya­
Schule gesandt, die Eltern staatlich ange­   nischer Mix. In Anbetracht eines immer
stellt und Sozialleistungen wurden ihnen     wieder aufflammenden Nationalismus
ausbezahlt. Nach der Wende haben die         sind wir als Kirchen aufgefordert, zei­
allermeisten ihre Stelle verloren. Wenn      chenhaft versöhnte Gemeinschaft über
Kinder nie gesehen haben, dass ihre El­      die Differenzen von Ethnien, Sprachen
tern zur Arbeit gehen, kann man ihnen        und Kulturen hinaus aufzubauen. Es ist
zwar sagen, sie sollten in die Schule ge­    eine der bleibenden Herausforderungen
hen und einen Beruf erlernen, aber sie       für alle evangelischen Kirchen.
werden denken: wer wird mir je eine Ar­
beit geben? Wir haben als EMK in vie­
len Ländern Romagemeinden, manchmal          Zum Schluss
auch gemischte Gemeinden mit „Wei­
ßen“. Überall ist es aber eine kirchliche    Zum Schluss noch ein kurzes Wort zum
Arbeit, die sehr viel Geduld, liebevolle     Miteinander der evangelischen Kirchen. Es
Beziehungsarbeit und eine gute Mischung      ist nirgends so gut wie bei Ihnen in Öster­
von Förderung und Forderung braucht.         reich. Ich erwähne oft und gerne Österreich
Für mich war es besonders erfreulich,        als gutes Beispiel für ein aktives und en­
als ein Artikel nach der Volkszählung in     gagiertes Miteinander der GEKE-Kirchen.
Ungarn über die Methodisten schrieb, sie     Hier können Sie in Ihren Kontakten mit an­
würden sich dadurch auszeichnen, dass        deren Ländern Ansporn zur Nachahmung
sie eine überdurchschnittlich hohe Zahl      geben. – Herzlichen Dank!                 ■

236                                                                 Amt und Gemeinde
 ERINNERN UND GEDENKEN

Geschichtetes Erinnern.
Das Denkmal in der Grazer Heilandskirche

In vielen evangelischen Kirchen in Österreich gibt es Denkmäler, welche

an gefallene und vermisste Soldaten der Weltkriege erinnern. Matthias

Weigold berichtet darüber, wie sich die Grazer Heilandskirche mit ihrem

Kriegerdenkmal auseinandergesetzt hat.

                                                           Von Matthias Weigold

   „Geschichte ist nicht                   set hielt.1 Im Anschluss daran stellte er
   nur Geschehenes,                        sich bei einer Konferenz dem Gespräch
   sondern Geschichtetes.“                 mit jungen Israelis und Deutschen. Aus
                                           jenem Gespräch hat sich mir dieses ­Zitat

D    ieser Satz ist mir beim Studium in
     Jeru­salem zugeflogen. Er stammt
vom früheren württembergischen Landes­
                                           eingeprägt: „Geschichte ist nicht nur Ge-
                                           schehenes, sondern Geschichtetes.“ Die­
                                           ses Bild begleitet mich seitdem, im Blick
bischof Hans von Keler. Gehört habe ich    auf Geschichte und auch im Blick auf die
ihn aus dem Mund des damaligen deut­       Erinnerung daran.
schen Bundespräsiden Johannes Rau, der
am 16. Februar 2000 als erstes deutsches
                                           1   Die Rede ist hier dokumentiert:
Staatsoberhaupt eine Rede vor der Knes­        www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/
                                               Johannes-Rau/Reden/2000/02/20000216_Rede.html.

Amt und Gemeinde                                                                         237
Das Denkmal in der                                   Katho­lizismus zur Staatsideologie erhob,
Grazer Heilandskirche                                wurde sie zur Handlangerin des National­
                                                     sozialismus.
Erinnern wollten sich unsere Vorfahren an               Besonders verstrickt war damals vor al­
die gefallenen Soldaten der beiden Welt­             lem die Grazer Heilandskirche. Die Pfarr­
kriege. Wie in vielen Kirchen errichteten            gemeinde mit ihrem damaligen Pfarrer
sie ihnen daher auch in der Grazer Hei­              Friedrich Ulrich und der von ihm herausge­
landskirche ein Denkmal: prominent ne­               gebenen Zeitschrift „Der Säemann“ spielte
ben der Kanzel, drei monumentale Tafeln              kirchenpolitisch und propagandistisch eine
mit den Namen, zuerst „Unseren Helden                führende Rolle, agierte als öster­reichischer
1914 –1918“ (1924) und dann erweitert                Vorposten der „Deutschen Christen“. 3
um „1939 –1945“ (1949). Dazu das Wort
Jesu aus dem Johannesevangelium: „Nie-
mand hat größere Liebe denn die, daß er              „Lernen wir miteinander zu
sein Leben lässet für seine Brüder [sic!].“2         leben, nicht gegeneinander“
   Ein Kriegerdenkmal, das – wie so
viele – den Soldatentod glorifiziert – und           Es hat lange gedauert, bis in der Gemeinde
verschweigt, wie sie endeten, das ganze              seit Mitte der 1970er-Jahre langsam be­
Grauen der Kriege. Ein Denkmal, das nur              gonnen wurde, sich dieser Geschichte zu
an die umgekommenen Landsleute erin­                 stellen, Widerständen zum Trotz. Bahn­
nert und keinen Sinn hat für das Millio­             brechend für die Auseinandersetzung mit
nenheer der toten und ins Elend gestürzten           der antisemitischen Tradition in Theologie
Menschen der vielen Völker, gegen die                und Kirche und für das Engagement im
diese Kriege geführt wurden. Daran woll­             christlich-jüdischen Dialog waren Othmar
ten sich unsere Vorfahren nicht erinnern.            Göhring (Pfarrer von 1975 bis 2000), ge­
Auch nicht erinnern wollten sie sich an              meinsam mit Mitstreiter*innen wie Ulrich
die Opfer des Nationalsozialismus; deren             Trinks (Wien), Gerhard Beermann und
Namen gerieten in Vergessenheit. Und                 Evi Krobath.
schon gar nicht erinnern wollten sie sich               Als sichtbares Zeichen dieser Ausei­
an die eigenen Verstrickungen.                       nandersetzung wurde 1992 im Zuge der
   Die Evangelische Kirche in Öster­                 Innenrenovierung der Kirche nach hefti­
reich war seit der Wende zum 20. Jahr­
hundert tief verstrickt in die Ideologie             3   Siehe dazu die Diplomarbeit von Heinz Schubert,
des Deutschnationalismus und damit ein­                  Pfarrer Friedrich Ulrich. Ein Grazer evangelischer
                                                         Geistlicher als Kirchenpolitiker, Publizist und
hergehend des Antisemitismus. Konfron­                   Antisemit, Karl-Franzens-Universität Graz 2005;
tiert mit einem Staat, der den römischen                 vgl. seinen Beitrag „Pfarrer Friedrich Ulrich. Schlag­
                                                         lichter auf einen Grazer Geistlichen mit Strahlkraft
                                                         im Spiegel des „Säemann“, in: Jahrbuch für die Ge­
                                                         schichte des Protestantismus 124/125 (2008/2009),
2   In Joh 15,13 ist nicht von „Brüdern“ die Rede,       Schwerpunkt: Protestantismus und Nationalsozialis­
    sondern von „Freund*innen“.                          mus in Österreich, Leipzig 2010, 121–196.

238                                                                                  Amt und Gemeinde
Sie können auch lesen