N-REPORT MULTIMEDIAL - JOURNALISTISCHES ARBEITEN IN DER SCHULE - NIBIS
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Inhalt INHALT ONLINEJOURNALISMUS, VIDEO- EDITORIAL PODCAST & VERÖFFENTLICHUNG Die Suche nach der Wahrheit 4 Vom Suchen und Finden 40 Johannes Thoböll 64 Andreas Ulrich 66 VON HANS-JAKOB ERCHINGER VON THOMAS M. RUTHEMANN ERICH KÄSTNER GYMN. LAATZEN KGS PATTENSEN „Man hört gnadenlos jeden Fehler“ 42 INSIGHT n-report VON RAINER APPELT Blickwechsel 6 VON HANS-JAKOB ERCHINGER PRAXISBERICHTE DER LEHRER Tim Wagemester 68 Gabriele Waller 70 JOURNALISTISCHES SCHREIBEN IGS FÜRSTENAU IGS STUHR-BRINKUM Wenn der Hass seine mediale Bestätigung sucht 8 VON MARCUS BÖLZ n-report PREISVERLEIHUNG REFERENTEN / AUTOREN Ein Leben hart am Wind 12 Preise, Preise, Preise 72 EIN PORTÄT VON DIRK HORSTEN & CHRISTOPH TERHORST Marita Erdmann-Borgelt 44 Constance Gabriel 46 n-report-Preis SCHREIBEN (print) 74 BERUFSBILDENDE SCHULEN VERDEN BISMARCKSCHULE HANNOVER „6 Orte – 6 Geschichten – 6 Menschen“ FOTOJOURNALISMUS & MULTIMEDIA VON IDA KORTZ, GAUSSSCHULE GYMNASIUM „Wichtig ist ein gutes Maß an Nähe und Distanz“ 14 AM LÖWENWALL, BRAUNSCHWEIG EIN INTERVIEW MIT MICHAEL LÖWA n-report-Preis SCHREIBEN (online) 76 Hans-Jakob Erchinger Norbert Thien In der CEWE-Schneiderei 18 „Der Tüten-Trick der Industrie: Wenn man Luft einkauft“ EINE FOTOREPORTAGE VON CHRISTOPH TERHORST VON VIKTORIA SOCHOR, IGS RODERBRUCH, HANNOVER Matthias Reike 48 Florian Großmann 50 Spezialistin für alles 22 GYMNASIUM PAPENBURG EV. GYMNASIUM NORDHORN n-report-Preis FOTO 78 EINE FOTOREPORTAGE VON TIMM OSSENKOPP „Teil der Nationalmannschaft – jetzt zählt jeder Wurf!“ VON MELINA MENKENS, MAX-PLANCK-GYMNASIUM, Sehen. Fühlen. Erkennen 26 DELMENHORST Prof. Dr. Marcus Bölz Caroline Ebner VON MAREN PREISS n-report-Preis VIDEO 80 „Mathematik im Alltag“ VIDEOJOURNALISMUS Olaf Hasselmeier 52 Dirk Horsten 54 VON CAROLINE KRASNOSSELSKI UND AZADEH REZAEI, Der Videojournalist als Ein-Mann-Team 28 GYMNASIUM HITTFELD KGS RONNENBERG ERICH KÄSTNER GYMNASIUM, LAATZEN VON BERND WOLTER n-report-Preis RADIO 81 Michael Löwa Natalie Deseke K(l)eine Materialschlacht 30 „Zuhören, bitte!“ – NRD-Projekt „Hörspiel in der Schule VON NORBERT THIEN VON JOSHA KRONE, IGS FÜRSTENAU „Rausgehen!“ 32 Ein Tag beim NDR in Hamburg 82 EIN INTERVIEW MIT CAROLINE EBNER Melanie List 56 Timm Ossenkopp 58 IGS RODERBRUCH GAUSSSCHULE BRAUNSCHWEIG RADIOJOURNALISMUS & Maren Preiß Claas Tatje PRESSEKONFERENZ Perspektivwechsel per Mikrofon 34 VON NATALIE DESEKE ApeCrime? Muss rein! 36 Markus Schulenkorf 60 Christoph Terhorst 62 Referenten & Unterstützer 83 VON CLAAS TATJE MAX-PLANCK GYM. DELMENHORST RATSGYMNASIUM PEINE Impressum 83 Bernd Wolter Rainer Appelt Foto Titel: Hans-Jakob Erchinger, Rückseite: Marcel Zeumer 2 n-report multimedial n-report multimedial 3
Editorial DIE SUCHE NACH DER WAHRHEIT Durch aktive Medienarbeit den Wert von Journalismus vermitteln und Kommunikationsräume öffnen HANS JAKOB-ERCHINGER Zum Glück treffen in der Schule auch Menschen aufeinander, die sich in der Berufswelt, am Wohnort oder in der Freizeit nicht treffen würden. Bei allen elektronischen Medien jedoch ist das Gegenteil der Fall: Menschen kommunizieren meist mit selbst gewählten Partnern oder in bekannten Gruppen aus Familie, Berufswelt, Wohnort oder Freizeit. Beim Telefo- nieren ist dies jedem klar. ABGESCHLOSSENE KOMMUNIKATIONSRÄUME Im Internet dagegen ist nicht immer klar, mit wem wir kom- Foto: Hans-Jakob Erchinger munizieren oder wer die Informationen liefert. Oft unbewusst befinden wir uns in abgeschlossenen Kommunikationsräu- men: Ich erhalte nur die Informationen, die mich interessieren FILTERN LERNEN UND DIE WAHRHEITSSUCHE MUSS HEUTE bzw. die Google für mich gefiltert hat oder die in „Newsfeeds“ KOMMUNIKATIONSRÄUME ERWEITERN MULTIMEDIAL SEIN als „Futter“ für mich bereitstehen. Die Medien als klassische Vierte Gewalt hatten immer auch Ob Print, Fotoreportage, Videobeitrag oder Radiobeitrag nach Besuch einer Pres- Dies fängt bei den WhatsApp-Gruppen in den 5. Klassen an; eine Filterfunktion. Diese fällt bei ausschließlicher Web-2.0- sekonferenz – immer gilt es mit anderen zu sprechen, auf andere zuzugehen, später kommen dann die Sozialen Medien dazu: Facebook, Nutzung von Jugendlichen zunehmend weg. Das bedeu- nachzufragen und Wahrheiten zu hinterfragen. Die Suche nach der Wahrheit muss Instagram und das Abarbeiten der Kanäle auf YouTube. Häu- tet aber, dass wir selbst (nicht nur mit Google) filtern lernen Schülern auch im Umgang mit Fotos und Bewegtbildern vermittelt werden. Bilder fig ist die Folge: Konformismus in der eigenen Gruppe. Meine und Informationen nach Relevanz bewerten müssen, sprich und Videos stehen hoch in der Gunst in sozialen Medien. Häufig wird die Frage Bewertung kann zu einseitig werden, wenn ich mich nur noch Nachrichtenkompetenz entwickeln müssen. nach Herkunft und Entstehung nicht gestellt. Hier setzt n-report multimedial an: in meiner eigenen Nachrichten- und Informationsblase bewe- ge. Laut aktueller Nutzungsstudien sind 14- bis 29-Jährige Die Medienbildung bei Schülern muss daher durch aktive Selbst Informationen suchen, möglichst im Interview oder mit O-Ton aus erster durchschnittlich 214 Minuten pro Tag im Internet (ARD/ZDF Medienarbeit vermittelt werden. Hier sollte die Kommuni- Hand. Vor Ort eigene Bilder machen, rausgehen aus der Schule, um selbst als Re- Onlinestudie 2016). Was bedeutet das für die Schule? kation mit Menschen im Vordergrund stehen. Am besten porter die Wahrheit zu suchen. Wer diese Erfahrungen macht, lernt Medien immer ZUR PERSON: aus der Schule hinausgehen oder andere Menschen in die als einen Ausschnitt der ganzen Wahrheit kennen. Hans-Jakob Erchinger ist im NLQ für den Insbesondere bei aktuellen Themen merken wir, dass Ju- Schule holen. Viel zu lange hat Medienbildung nur im Com- Bereich Journalismus und historisch-poli- gendliche schnell Meinungen übernehmen, keine Zeitungen puterraum oder an Geräten stattgefunden. Lehrer sollten Der Klassenraum ist ein Schonraum, dennoch ist er ein kleines Abbild der Gesell- tische Medienbildung zuständig. lesen, kein Fernsehen schauen und vor allem kaum mit an- mit den Schülern selbst Medienprojekte durchführen und schaft. Hier können die Grundlagen für eine demokratische Gemeinschaft gelegt deren Menschen darüber sprechen. Auch in vielen Lernfä- den Schülern beibringen, wie Medienprodukte entstehen – werden, wenn Probleme erkannt werden und diesen entgegengewirkt wird. Jour- Er ist Lehrer für die Fächer Geschichte, chern haben die Schüler die Konkurrenz in der Hosentasche. nur so erkennen die Schüler den Wert von journalistischen nalisten sollten von Verständnisproblemen wissen. Sie müssen erklären, wie sie Politik-Wirtschaft, Erdkunde und Religion. YouTube und Facebook informieren aus Sicht vieler Kinder Beiträgen. Interviews, Porträts und Reportagen sind daher arbeiten, wie sie Fakten prüfen und sich ihr Bild der Welt machen. Hier kann ein An der Marie Curie Schule in Ronnenberg schneller und besser und dies oft auch multimedial. Ohne zentrale Bestandteile der n-report-Seminare. Nicht ohne Austausch mit Lehrern auch für den Journalismus fruchtbar sein, denn auch Me- leitet er den Fachbereich geschichtlich- richtiges Filtern und eine eigene Bewertung der Angebote Grund gilt das Interview unter Journalisten als eine Suche dienmacher müssen immer wieder ihre Kommunikationsräume öffnen, um am Ziel soziale Weltkunde. wird Lernen eher verhindert. Was sollen wir tun? nach der Wahrheit. der Wahrheitssuche dranzubleiben. 4 n-report multimedial n-report multimedial 5
INSIGHT n-report BLICKWECHSEL: LEHRER LERNEN IN DER ROLLE DES REPORTERS, WAS QUALITÄT IM JOURNALISMUS AUSZEICHNET Einblicke in die n-report-Seminare HANS-JAKOB ERCHINGER HILDESHEIM, 19. MAI 2016 Eine ungewöhnliche Begegnung: Ein ZEIT-Redakteur, ein es, das Gelernte umzusetzen: atmosphärisch schreiben, viele treibt einen mit 83 täglich in die Werkstatt? Beim Sichten von der Internetredaktion. „Da bietet das Studio ein wenig freier Fotojournalist, ein Videojournalist und eine Hörfunkex- Adjektive verwenden – aber keine Vermutungen als Tatsachen des Materials der Schreck des Reporters: „Warum hast du Schutz.“ Sehr hilfreich ist auch die Rückmeldung einer weite- pertin treffen auf hochmotivierte Lehrer, die ihre an den Schu- formulieren! Mit reiner Internetrecherche kann es nicht gelin- genau das nicht aufgenommen?“ Es zeigte sich aber: 70 ren vertrauten Person neben dem Kameramann. So gelingt Foto: Michael Löwa len geplanten Journalismus-Projekte vorstellen. Spontan gibt gen, dies wurde schnell klar. Seglern, Surfern, Umweltschüt- Minuten Material ist genug! es, die Lockerheit herzustellen und trotzdem die Botschaft Claas Tatje von der Wochenzeitung DIE ZEIT eine Rückmel- zern und Künstlern muss man begegnen. „Ein Leben hart am auf den Punkt zu bringen. dung zu den ersten Planungen und rät, mit Interviews zu Wind“, so der Titel des Porträts über den Surfer. (s. S. 12 – 13). WOLFSBURG, 15. MÄRZ 2017 den Themen zu beginnen, die die Schüler bewegen. Michael Über den VIP-Eingang kommen die n-report-Lehrer in den HANNOVER, KINO IM KÜNSTLERHAUS, Löwa rät, Kameras zu nutzen, die die Schüler beherrschen: OLDENBURG, 15. SEPTEMBER 2016 Pressekonferenz-Raum des Bundesligisten VfL Wolfsburg. 19. JUNI 2017 „Fotojournalismus ist auch mit dem Smartphone möglich.“ Alte Hasen sind hier nur die Mitarbeiter der größten Fotodru- Ganz in ihrer Rolle als Radio-Journalisten nehmen die n-Re- Bei hochsommerlicher Hitze treffen sich die Schüler der Die Videokameras für die n-Reporter werden vom Projekt- ckerei Europas: Die meisten haben sich schon beim letzten porter Platz und warten auf André Hahn, den Pressespre- n-report-Teilnehmer im Foyer des Künstlerhauses Hanno- leiter Hans-Jakob Erchinger verteilt, und einige würden am n-report-Kurs vor die Kamera der Fotoreporter, die eigentlich cher, und die VfL-Spieler, auf die ein Feuerwerk von Fragen ver und freuen sich über die Begrüßung mit einem Erfri- liebsten gleich loslegen. Die ersten Tipps von Bernd Wolter, Lehrer sind, gewagt. Daher wissen sie, wie es läuft. Nicht in der Lehrer wartet. Gleich rechts der beeindruckende Blick schungsgetränk. Aber auch jetzt noch sind einige Schüler Natalie Deseke und den Medienpädagogen der multimedia- die Kamera schauen und einfach das machen, was sie immer auf die weltgrößte zusammenhängende Autofabrik. Natürlich mit der Kamera aktiv: Noch vor Beginn der Preisverleihung mobile werden eingeholt. Diese kommen dafür sogar in den machen: gefühlvoll mit dem Werkzeug tüfteln, mit dem Ga- werden die Spieler auf die VW-Krise angesprochen, die hier werden Videoaufnahmen gemacht und geschnitten. Eine Klassenraum – auch nach Harburg bei Hamburg. belstapler balancieren oder einfach freundlich bleiben beim immer mitschwingt – gerade gestern war die Pressekonfe- Gruppe zeigt, was sie kann und rahmt den gerade gedreh- Kundengespräch. Dies gilt es mit der Kamera als Geschichte renz des VW-Vorstandes, von der Claas Tatje als Vertreter ten Videoclip aus dem Foyer in eine Theaterszene ein. Das STEINHUDE, 14. JUNI 2016 einzufangen. Auch hier wird deutlich: Die n-Reporter müssen der Wirtschaftsredaktion der ZEIT den Lehrern berichtete. Thema: Handysucht. „SLSV steht für Schaumburg-Lippischer Segelverein“, so Sven die Arbeit verstehen, mit den Mitarbeitern sprechen und Fra- Spannend ist meist das Gespräch nach dem offiziellen Teil. Sokoll vor den Lehrern. Referent oder Reporter? Beim kurzen gen stellen. Erst dann ist der Fotograf einen Schritt voraus So war es auch im VfL-Presseraum, als alle Lehrer die Sport- Dann beginnt die Preisverleihung mit einer Diashow als Ein- Besuch des HAZ-Redakteurs im Seminar „Schreiben“ ist er und kann still auf den Moment warten, bis der Gabelstapler ler umringten und der Pressesprecher und die Lehrer selbst blick in die Arbeit der Lehrer in den Seminaren – alle freuen beides! Selbst Wassersportler, beantwortet er den Lehrern die größte Kiste ins höchste Fach hebt. das Mikro ausstrecken durften. sich, wenn der eigene Lehrer entdeckt wird. detailreich alle Fragen zu den Menschen in Steinhude, die die Lehrer porträtieren müssen – danach schnell noch das Foto HANNOVER, STEINTOR, 28. NOV. 2016 HANNOVER, RATHAUS, 3. MAI 2017 Vor der Vergabe der Preise steigt die Spannung, als alle no- für den eigenen Artikel über das Seminar gemacht. Dann Ein großer Autospiegel ist am Fenster der Werkstatt des Ein grünes Tuch, ein Handy und die passende Software: Das minierten Video- und Fotobeiträge in einem Videotrailer ge- übernimmt wieder Journalismus-Professor Marcus Bölz, der Geigenbauers angebracht. Schon hat er die n-Reporter reicht für einen Videopodcast vor dem Greenscreen. Schnell zeigt werden. Nach der Preisverleihung erhalten heute auch die Lehrer in das Schreiben von Porträts und Reportagen ein- gesehen, die eigentlich noch ein paar kleine Absprachen ist das Bild der Schule eingefügt und Timm Ossenkopp steht die n-report-Lehrer Zeugnisse. Alle Teilnehmer erhalten ihr führt. Wenig später stehen Dirk Horsten und Christoph Ter- treffen wollten. Auch wenn die Rollen längst verteilt sind: vor der Gaußschule in Brauschweig. Die Politiker in Hannover NLQ-Zertifikat mit den Themen der selbst produzierten Bei- horst selbst in der Rolle des Reporters auf dem Steg des Surf- Ton, Kamera und Reporter mit Mikro. Aber: Fragen stellen bevorzugen dennoch das ruhige, abgeschirmte Studio mit träge, eine Teilnahmeurkunde zum N-REPORT-PREIS 2017 und Segellehrers Samir Lemjid. Ziel ist es, ein Porträt über den ist kaum möglich. Die Themen setzt der 83-Jährige selbst. der fast schon intimen Atmosphäre. Dies zeigt sich auch im – und einige dazu auch eine Siegerurkunde. aus Tunesien stammenden Surflehrer zu schreiben. Jetzt gilt Dennoch gelingt es dem Lehrer, sich durchzusetzen. Was Seminar: „Man zieht sich schon aus vor Kamera“, so Appelt 6 n-report multimedial n-report multimedial 7
Schreiben WENN DER HASS SEINE MEDIALE BESTÄTIGUNG SUCHT PROF. DR. MARCUS BÖLZ Der digitale Medienwandel verändert unser Kommunika- tionsklima auch in den Schulen. In der gesellschaftlichen Debatte darüber dominieren kulturpessimistische oder technikeuphorische Zustandsbeschreibungen. Wie Schüler, Lehrer und Eltern miteinander einen sinnhaften und prag- matischen Weg im Umgang mit Smartphone, Facebook und Google finden, gerät dabei im öffentlichen Diskurs in den Hintergrund. Weltbildbestätigung und kommerzielle Interessen verstellen den Blick auf das Wesentliche, und Beobachter beschleicht ein mulmiges Gefühl: Könnte es sein, dass Lehrer im Umgang mit den neuen digitalen Kommunika- tionsformen eher von Schülern lernen als umgekehrt? Marcus Bölz beim Grundlagenseminar in Steinhude, Foto: Hans-Jakob Erchinger Nein, Sie möchten solche Bilder nicht sehen. Entblößte Genitalien neben Prügelor- hatte. Vor zwei Jahren veräußerte Poole „4Chan“ an einen japanischen Betreiber. gien. Szenen von Vergewaltigungen. Und immer wieder Bilder von Demütigun- Die Geschmacklosigkeiten und Grenzüberschreitungen blieben. Doch die Seite ist gen Jugendlicher. Darunter zynische Debatten und Beleidigungen der wehrlosen legal. Vor ein paar Monaten folgte dann der Tabubruch: Der 19 Jahre alte Kinder- „Opfer“. Selbstverständlich werden die Inhalte alle anonym hochgeladen. Das mörder Marcel H. aus dem Ruhrgebiet hat abscheuliche Szenen seiner Taten auf ist „4Chan“. Die Webseite wird in den Medien zwar selten erwähnt, ist aber eine der Suche nach medialer Bestätigung in dem Forum veröffentlicht. Er inszeniert intensiv geklickte Webpage im Internet. Nach Angaben der Betreiber besuchen seine Taten medienkompatibel, schneidet einem Opfer seine Genitalien ab, um mehr als 27 Millionen Nutzer die Seite jeden Monat, bis zu eine Million Beiträ- „4Chan-reife Bilder“ – so seine erschütternden Textbotschaften – posten zu kön- ge werden jeden Tag veröffentlicht. Für Sie ist die Seite neu? Dann fragen Sie nen. Kurz vor seiner Festnahme gibt er in dem digitalen Forum kund, wie sehr er mal auf dem Schulhof nach, ob Ihre Schüler, Ihre Kinder, die Klassenkameraden sich freut, ein sogenanntes „Mem“ geworden zu sein. Damit bezeichnet man po- die Seite kennen. Wir reden über kein mediales Nischenprodukt. Wir reden über puläre Internetphänomene. Erschreckend: Zahlreiche Mitforisten bejubeln Marcel ein von Schülern stark frequentiertes digitales Hassforum. Hier kann man seiner H. für seine Abscheulichkeiten. Während die verzweifelten Eltern des ermordeten Menschenverachtung freien Lauf lassen und bekommt seine mediale Bestätigung. neunjährigen Jungen noch ihren Sohn suchen, wird der Täter bereits auf der Platt- Programmiert ist die Kommunikationsplattform so, dass man die Identitäten der form für seinen Mord auch noch beglückwünscht. Ein englischsprachiger Nutzer Forumsbesucher nur schwierig nachvollziehen kann. schreibt: „Fucking mad man, he did it!“, ein anderer: „1st Murder on /b/ nice“. Debattiert wurde über das Forum im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder: Gerade viele Lehrer sind in den Tagen nach den begangenen Greueltaten entsetzt Gestohlene Nacktbilder von Jennifer Lawrence und anderen Prominenten wur- und beginnen, mit ihren Schülern über die Kultur unserer digitalen Kommunikation den dort veröffentlicht oder mit Veröffentlichungen wüst gedroht. Die digitale Pro- zu diskutieren. Sie erleben einen Schock: Während Polizei und Medienvertreter testbewegung „Anonymous“, ist auf „4Chan“ groß geworden. Gegründet hat die lange davon ausgingen, dass sich die Kommunikation im sogenannten „Darknet“ Plattform ein 15 Jahre alter amerikanischer Schüler. Nach seiner Enttarnung als abspielte und ein paar verirrte dort mitdiskutierten, erklärten Schüler deutschland- Betreiber der Seite wurde Christopher Poole 2009 vom „Time“-Magazin als ein- weit ihren Lehrern, wie einfach „4Chan“ funktioniert und wie sie die Geschehnisse flussreichste Person der Welt geehrt – allerdings nur, weil er die Wahl manipuliert verfolgten. Man fragt sich: Wer klärt hier eigentlich wen auf? 8 n-report multimedial n-report multimedial 9
Schreiben »Wer klärt hier eigentlich wen auf?« krise. Man kann nun eigene Bestätigungsmilieus gründen, Vor gar nicht so langer Zeit gehörte Angst zum deutschen sich in eine spezielle Wirklichkeit hineingoogeln, sich mit Nationalwesen, und allein der moralische Aufschrei „Ich habe Gleichgesinnten in sozialen Netzwerken sein Weltbild teilen Angst“ rechtfertigte umfassende Maßnahmen weit über Ers- und vor allem bestätigen und dann die Frage stellen: Woran te Hilfe hinaus. Bisher galt es stets als Tugend, auch schon liegt das eigentlich, dass das, was ich denke, und das, was einmal voreilig und ohne fundierten Nachweis Alarm zu schla- scheinbar die vielen anderen denken, gar nicht bei meinem gen, etwa was die Qualität von Lebensmitteln betrifft oder Lehrer, bei den Politikern oder als Inhalt in meiner Tageszei- die Bedeutung eines Erdbebens in Japan für die Sicherheit tung vorkommt? So wird jeder zum Regisseur seiner eigenen von Kernkraftwerken in Deutschland. Bei dem Thema der Welterfahrung. Oder zum Gläubigen seiner eigenen Weltbild- Medienwirkungen digitaler Kommunikation für junge Men- konstruktionen. Echokammern des Wahnsinns findet man schen dagegen oszillieren die Meinungen zwischen einem dabei im Netz oder in der bizarren Welt diverser Facebook- inzwischen weltfremden Kulturpessimismus und begeister- Freundschaften immer: Sexisten, Verschwörungstheoretiker, ter Technikeuphorie, die blind für Medienwirkungen zu sein Nationalisten, islamistische Terrorprediger oder Päderasten. scheint. Flankiert wird die Debatte mit massiver Lobbyarbeit In der digitalen Welt sind sie nur ein paar Klicks von uns digitaler Kommunikationskonzerne, die uns als deutsche Be- und vor allem von den Kindern und Jugendlichen entfernt. völkerung erklären möchten, wie nützlich doch digitale Tech- Bekommen junge Menschen im Umgang mit dem digitalen nik in der Schule sei – und wie wenig Ahnung wir doch davon Mediendschungel Orientierungshilfen aus dem Elternhaus? hätten. Teilweise stimmt dies. Doch wir sollten uns das Recht Marcus Bölz im Gespräch mit HAZ-Redakteur Sven Sokoll, Foto: Hans-Jakob Erchinger Es steht zu befürchten: Nein! In der BLIKK-Studie gaben 90 gönnen, diese Fragen unabhängig von Lobbyisten und hand- Prozent der befragten Eltern an, dass Sie keinen Beratungs- lungsorientiert zu beantworten. Die Zeit des Beweinens einer bedarf für ihre Kinder im Umgang mit ihrer Internet- oder untergehenden Buchkultur ist vorbei. Wir sollten uns darauf Smartphone-Nutzung sehen. Ob sich alle Lehrer für diese besinnen, die Realitäten klar zu benennen. Ein durchschnitt- Vor dem Hintergrund des Nichtwissens digitaler Schmuddel- ihrer Eltern mehr als eine halbe Stunde täglich. Es gibt einen Orientierungsaufgabe gewappnet fühlen? licher Deutscher hat einen durchschnittlichen täglichen Me- ecken hat man Angst, dass Lehrer oder Eltern nicht wirkliche signifikanten Zusammenhang zwischen einer intensiven di- dienkonsum von zehneinhalb Stunden. Tendenz steigend. Hilfsinstanzen sein könnten, wenn junge Menschen selbst gitalen Mediennutzung und Entwicklungsstörungen der Kin- Die digitalisierte Kommunikation führt zudem zu einem Ef- In der Regel wird mehr medial kommuniziert, als mündlich körperlich oder seelisch attackiert werden. Zu bedenken: In der. Bei Kindern bis zum 6. Lebensjahr finden sich vermehrt fekt, den Medienforscher als die Schweigespirale bezeich- mit seiner eigenen Frau geredet. Bejammern wir dies nicht. Deutschland wird nach einer neuen PISA-Studie fast jeder Sprachentwicklungsstörungen sowie motorische Hyperak- nen: Die digitale Massenkommunikation verstärkt vor dem Stellen wir uns der Tatsache, was dies für das Zusammen- sechste 15-Jährige regelmäßig Opfer von teils massivem tivität bei denjenigen, die intensiv digitale Medien nutzen. Hintergrund ihrer technischen Logik Konformismus, weil sie leben und das Lernen in unserer Gesellschaft bedeutet und Mobbing an seiner Schule. Dies geht aus dem OECD-Report Wird eine digitale Medienkompetenz nicht frühzeitig erlernt, bestehende Mehrheitsmeinungen sichtbar macht und Nicht- bereiten wir junge Menschen auf diese digitale Realität vor. zum Wohlbefinden von Jugendlichen aus aller Welt hervor. besteht ein erhöhtes Risiko, den Umgang mit den digitalen konformes so nach hinten selektiert, dass es kaum noch Nicht pessimistisch, nicht euphorisch, sondern handlungs- Insgesamt sind Jungen im OECD-Schnitt häufiger Mobbing- Medien nicht kontrollieren zu können. Probleme entstehen wahrgenommen werden kann. Insgesamt gilt: Meinungen orientiert, klar, mit Blick für die Ausgegrenzten und wenn es Opfer in der Schule als Mädchen. Diese sind aber stärker bereits im Säuglingsalter: Selbst Babys bekommen es zu verstärken sich. Wer Sozialdemokrat ist, bekommt mehr sein muss auch mit Verboten. von Ausgrenzung und bösen Gerüchten betroffen. „Mobbing spüren, wenn die Mutter während des Stillens digitale Medi- Sozialdemokratisches. Und wer Mario Gomez hasst, erhält müssen wir in Deutschland viel stärker thematisieren, weil en nutzt: Fütter- und Einschlafstörungen sind Folgen, die von mehr Kritik an Mario Gomez. Die technische Logik der digi- es hier oft noch an den Rand gedrängt wird“, kommentiert den Forschern konstatiert wurden. Die Folgen sind vor allem talen Kommunikation zensiert nicht inhaltlich, sondern wählt OECD-Direktor Andreas Schleicher die Situation an deut- drastische Konzentrationsprobleme, die bereits im Kindheits- so individuell aus, dass zum (digitalen) Eigenverhalten un- schen Schulen. „Da hilft nur eine Null-Toleranz-Praxis, um alter offensichtlich sind: 65,5 Prozent der 2- bis 5-jährigen passende Inhalte gar nicht erst angezeigt werden. Kritik an deutlich zu machen, dass so etwas nicht akzeptiert wird.“ Kinder in unserem Land können nach den Angaben der dem, was schon da ist, wird von Algorithmen aussortiert. Die Schön und gut. Aber was hilft null Toleranz, wenn die dafür Autoren der Studie weniger als zwei Stunden spielen, ohne bereits erstmals in den 1970er Jahren von Elisabeth Noelle- zuständigen Lehrer in der Regel überhaupt nicht kompetent dabei auf digitale Medien zurückgreifen zu müssen. Im Alter Neumann beschriebenen Prinzipien der Schweigespirale die Praktiken des Mobbings in digitalen Netzwerken nach- von sechs Jahren werden die meisten Kinder in Deutschland werden somit im digitalen Kommunikationszeitalter verstärkt. vollziehen, juristisch einordnen oder gar bekämpfen können? eingeschult. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Werden wir also eine Gesellschaft, in der die Menschen Wie relevant im Gegenzug die Rezeption digitaler Medien für sie sich dann plötzlich sechs Schulstunden am Morgen auf ihre Weltbilder nicht mehr auf der Basis von recherchierten Kinder und Jugendliche sind, verdeutlichen die Ergebnis- einen Unterricht konzentrieren können, wenn sie nicht einmal Fakten aus glaubwürdigen Quellen zimmern, sondern ihre se der „BLIKK-Studie“, die im Auftrag des Bundesgesund- mehr zwei Stunden im Sandkasten aushalten, weil sie auf Meinung aus Facebookfreundschaften generieren, die zielsi- heitsministeriums die Folgen von digitaler Mediennutzung im Mamas Smartphone ein YouTube-Video sehen müssen. cher das Denken und Fühlen reproduzieren, was man selbst Kindes- und Jugendalter untersuchte, und die vor ein paar denkt und fühlt? So lässt sich erklären, wie ein Mann wie ZUR PERSON: Monaten veröffentlicht wurde. Die Digitalisierung ist demnach In der Tat hat sich die Medienrezeption vor dem Hintergrund Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten wer- Prof. Dr. Marcus Bölz lehrt an der nicht ohne Risiko, zumindest dann, wenn der Medienkonsum des digitalen Medienwandels fundamental verändert: Medien den konnte. Sein Chefberater Stephen Bannon hat jahrelang staatlich anerkannten, privaten Fach- außer Kontrolle gerät: Die Zahlen internetabhängiger Ju- werden nicht mehr vor allem deshalb konsumiert, um sich als Chef eines Netzwerkes von Verschwörungstheoretikern hochschule des Mittelstands (FHM) in gendlicher und junger Erwachsener steigen rasant – mittler- eine möglichst umfassende Sicht auf die Welt zu verschaffen. („Breitbart News“) den digitalen Resonanzraum für seine An- den Bereichen Journalismusforschung, weile gehen Experten von etwa 600 000 Internetabhängigen Es gibt auch den Wunsch, sich vor allem mit der eigenen sichten geschaffen. Darf man sich dann wundern, warum Journalistische Stilistik und Berufspraxis und 2,5 Millionen problematischen Nutzern in Deutschland Meinung wiederzufinden. Medienforscher bezeichnen diese zahlreiche US-Amerikaner sein Weltbild teilen – und ihn zum sowie Sportpublizistik. aus. 70 % der Kinder im Kita-Alter benutzen das Smartphone Entwicklung als das Zeitalter der gefühlten Repräsentations- Präsidenten einer demokratischen Weltmacht wählen? 10 n-report multimedial n-report multimedial 11
Schreiben Lehrer als Printjournalisten EIN LEBEN HART AM WIND „ Zitat??? “ Fotos: Christoph Terhorst Der Tunesier Samir Lemjid führt seit 9 Jahren In Samir Lemjid wächst der Traum, selbst eine Wassersport- sich das Bild des Steinhuder Idylls am Ende der Uferstraße. schule zu führen. Tunesien scheidet schnell für ihn aus. Zu in- Hier liegt „Fun and wave“, Lemjids Reich. Das Gebäude ist seine Surf- und Segelschule in Steinhude stabil ist die wirtschaftlich-politische Lage in seiner Heimat. Er sanierungsbedürftig. Die Schule befindet sich in den hinteren hofft zwar, dass sich Tunesien stabilisiert, doch die Situation Räumen, vom Meer abgewandt. Innen stehen Surfbretter an EIN PORTRÄT VON DIRK HORSTEN in den nordafrikanischen Ländern versetzt ihn in ungläubiges der Wand, Neoprenanzüge, Segel- und Surfzubehör in allen UND CHRISTOPH TERHORST Es kann kein Zufall sein: Samir Lemjids Surf- und Segelschule in Steinhude Staunen: „Die fahren heute mit einem Panzer zur Hochzeit Ecken, Getränke in Plastikflaschen auf dem Tisch. Für die liegt an der Uferstraße. Das Ufer ist die Konstante in seinem wechselhaften Leben. und stellen ihn sich später in ihren Vorgarten.“ Lemjid lacht. einen mag es wirken wie eine klaffende Wunde im saube- Ein Leben am Wasser und hart am Wind auf der Suche nach dem ultimativen Das ist das Schlimmste. Was soll man auch machen? Gut, ren Kleinstadtkörper. Für die anderen ist es eine anarchische Spaß: Bei Sonne, 30 Grad, Sand unter den Füßen, das Wasser warm und einer dass er in Steinhude ist. Blume, die sich wundersam durch den glatten Asphalt bohrt. Windstärke von fünf oder sechs steigt er am liebsten auf sein Surfboard. „Dann habe ich vier oder fünf Stunden...“ Hier stockt er plötzlich, sucht nach einem Wort 2007 erfährt Samir Lemjid, dass der Betreiber einer Wasser- In der ersten Zeit in Steinhude lebt Samir Lemjid mit den Jah- für dieses Glücksgefühl. Langsam breitet sich ein Lächeln aus, die Augen begin- sportschule in Steinhude krank geworden war. Auch wenn reszeiten. Den Sommer arbeitet er in Steinhude und im Winter nen zu strahlen und es wird deutlich, dass hier Sprache an seine Grenzen stoßen viele ihm abraten, entscheidet er sich, es zu versuchen. Er zieht es ihn nach Tunesien, den Akku aufladen: „Ich brauche muss. Zu viel liegt in diesem Blick: Freude, Leidenschaft und Glückseligkeit. Dann, übernimmt die Schule am Steinhuder Meer. Die erste Saison energy und meine energy ist die Sonne.“ Doch je länger er in fast unhörbar, seufzt Samir Lemjid. Warum? Dieser Seufzer passt nicht ins Bild von ist besonders hart. „Mit 6 oder 7 Surfbrettern, die 20 Jahre Steinhude ist, desto mehr wächst seine Verantwortung. Jetzt diesem sportlichen, lebensfrohen Mann, dem man seine 52 Jahre nicht ansieht. alt waren, und ein paar sehr, sehr alten Booten habe ich an- sind seine Kinder in der Schule und im Winter bleibt er deshalb Dennoch setzt er sich wie ein Grundrauschen beim Zuhörer fest. gefangen.“ Doch er beißt sich durch, baut eine Internetseite in Deutschland. Lemjids Lächeln wirkt bitter. Doch dann bre- auf und profitiert von seinem Know-how. chen die Wolken auf an diesem wechselhaften Junitag. Samir Samir Lemjid packt an: „Alle zwei Jahre war mein Ziel, eine neue Erfahrung zu Lemjid präsentiert stolz seine Boote. Zwei neue Katamarane machen.“ Es geht ihm um Know-how, um seine persönliche Entwicklung. Aufge- Der Weg zu Samir Lemjids Wassersportschule führt über die hat er sich im vergangenen Jahr gekauft. Und auch seine ers- wachsen ist er an der tunesischen Küste. Seit Beginn der 90er Jahre arbeitet er im verkehrsberuhigte Uferstraße. Autos fahren im Schritttempo. ten Boote liegen noch am Steg. „Alt aber funktionstüchtig“, Tourismus, wird Wassersportlehrer – Segeln und Windsurfen. Sein innerer Antrieb Fußgänger gehen zur Seite, machen Platz, haben alle Zeit erzählt Lemjid, während sein Blick über das Wasser schweift. führt ihn an verschiedene Orte. Zunächst ging er nach einem tunesischen Sommer der Welt. Die Straße führt vorbei an der Segelschule „Ahoi“. Ansonsten ist es menschenleer. Kein Kunde in Sicht. Ein Pro- im Winter auf die Malediven. „Wenn ich zurückkam, hatte ich immer warme Füße.“ Ein Konkurrent für Samir Lemjid? „Nein, keine Konkurrenz“, blem für Samir Lemjid? „Nein, an einem sonnigen Wochen- Die Wassersportwelt ist eine internationale Familie. Er lernt Wassersportlehrer ken- versichert er. Alle verstünden sich gut, profitierten voneinan- ende ist es hier brechend voll“, sagt er und genießt weiter die nen, die ihn begeistern. Sie kommen aus Deutschland. Als es ihn dann Anfang der der. Auch der Kontakt zu den Segelvereinen sei gut. Aus Sa- Stille, die Sonne und das Zwitschern der Vögel. 2000er Jahre selbst nach Deutschland verschlägt, merkt er: „Die Kälte tut mir gut.“ mir Lemjids Mund hört man keine Klagen. Und doch ändert 12 n-report multimedial n-report multimedial 13
Foto Foto: Hans-Jakob Erchinger „WICHTIG IST EIN GUTES MASS AN NÄHE UND DISTANZ“ Über die Lernerfahrungen der Lehrer, das Fotografieren von Menschen und das Verstehen von Bildern EIN INTERVIEW MIT DEM FOTOGRAFEN MICHAEL LÖWA Hans-Jakob Erchinger: Das dreitägige Foto-Seminar Am Vorbereitungstag wurde viel Zeit für „Tech-Talk“ mit Reportagen wurde nun zum zweiten Mal bei verwendet. Auf was muss man besonders achten? CEWE durchgeführt. Warum ist die Lernsituation Die Technikvorbereitung ist wichtig, damit die Seminarteil- dort so ideal? nehmer die Fotokamera soweit verstehen, dass sie beim Michael Löwa: Bei CEWE können die Lehrerinnen und Lehrer Fotografieren nicht die ganze Zeit über deren Funktionen unterschiedliche Stationen durchlaufen. Sie begleiten zum nachdenken müssen. Sie sollen die Augen offenhalten, um Zeit Fragen entstehen, dann sollte man eine gezielte Pause Bildunterschriften und Exposé sind ein wichtiges Beispiel einen Gabelstaplerfahrer ausschließlich in seinem die Situation vor Ort zu begutachten und inhaltlich dabei zu machen, diese Fragen beantworten und sich im Anschluss Qualitätsmerkmal bei Fotojournalisten. Was ist zu Bereich. Dieser begrenzte Bereich ermöglicht den Semin- sein. Ich würde immer sagen, lieber ein Bild, das wirklich gu- daran wieder auf die Fotografie konzentrieren. beachten? arteilnehmern, die Geschichte wirklich zu Ende zu erzählen ten Inhalt zeigt, als ein Bild, auf dem eigentlich gar nichts zu Das Exposé ist geeignet, um ein Thema schnell zu erfassen – ohne zwischendurch gezwungen zu sein, inhaltlich die Fo- sehen ist, das aber technisch perfekt ist. Was war für die Lehrerinnen und Lehrer die größte und eine Idee davon zu bekommen, ob das Thema interes- tografie zu ändern oder den Ort zu wechseln. Herausforderung hinsichtlich der Kommunikation sant genug ist, um es zum Beispiel in einem Magazin zu plat- Was ist das Besondere bei der vor Ort? zieren. Auf der anderen Seite soll das Exposé neugierig auf Mit Smartphones und digitalen Kameras schießen Fotografie von Menschen? Herausforderungen ergeben sich immer aus der Persönlich- die Bilder machen. Hobbyfotografen zahlreiche Bilder. Auch die Teil- Bei einer Reportage über einen Menschen liegt der Schwer- keit des Fotografen und dem, was vor Ort passiert. Manch- nehmer im Seminar haben bis zu sechs Stunden fo- punkt natürlich auf der Person selbst. Wichtig ist hierbei ein mal ist es für den Fotografen eine Herausforderung sich zu- Thema Bildbearbeitung: Was sollte, was kann, tografiert und bis zu 900 Aufnahmen gemacht. Was gutes Maß an Nähe und Distanz. Der Fotograf sollte nicht zu rückzunehmen und Distanz zu wahren. Herausfordernd kann was darf nicht gemacht werden? ist der Unterschied zur Hobbyfotografie? weit von der Person entfernt sein, so dass sie wie ein Frem- es auch sein, wenn das Thema zäh ist und man trotzdem Ich glaube, jeder Fotojournalist und jede Redaktion hat ihre Zuerst einmal muss man überlegen, warum der Laie so viele der wirkt. Auf der anderen Seite sollte er mit ihr aber auch versuchen muss, Inhalte zu schaffen. eigenen Dogmen zum Thema Bildbearbeitung und die da- Bilder macht. Meiner Meinung nach probiert er einfach aus. nicht zu kumpelhaft, zu freundschaftlich umgehen, weil man mit verbundene Wahrhaftigkeit. Ich persönlich versuche, das Der Profi dagegen macht viele Bilder, weil er mehr Inhalte dadurch die Realität intensiv verzerrt. Dem Fotografen zulie- Wie wählt man aus 900 Bildern fünf bis sieben Erlebte oder die erlebte Lichtstimmung, die erlebte Farb- liefern möchte, damit die Redaktion im Anschluss genug be tut die Person dann Dinge, die sie normalerweise gar nicht passende aus? temperatur im Nachhinein wiederzugeben. Geht man noch Material hat, um die Geschichte inhaltlich zu verfeinern oder tun würde. Wichtig ist, sich am Anfang ausführlich zu unter- Das größte Problem bei der Bildauswahl ist der Schritt zu- einen Schritt weiter, dann kann man durch Bildbearbeitung andere Nuancen wiederzugeben. Aber selbst bei den Pro- halten, um zu verstehen, wer dieser Mensch ist, aber auch zu rück, den die Teilnehmer zu Beginn machen müssen. Sie auch versuchen, eine bestimmte Gefühls- oder Erlebniswelt fis gibt es Unterschiede. Der eine macht mehr Bilder als der erklären, wer man selbst ist. Wenn man dann anfängt zu fo- sollten sich fragen, ob der Leser der Reportage mit dem Bild oder eine bestimmte Wahrnehmung wiederzugeben. Dann andere. Das hängt auch damit zusammen, wie sicher oder tografieren, sollte man sich wirklich nur auf die Fotografie und etwas anfangen kann, ob das Bild verständlich ist. Auch Pro- bewegt man sich aber eigentlich schon weg vom Journalisti- unsicher man vor Ort ist. Letztlich sind die Geschichten aber das Beobachten konzentrieren. Die fotografierte Person kon- fifotografen fragen aus genau diesem Grund auch mal Nach- schen hin zum Essayistischen. beide brauchbar und lassen sich sauber editieren. zentriert sich wiederum auf ihre Tätigkeit. Wenn im Laufe der barn oder die Freundin, ob das Bild verständlich ist. 14 n-report multimedial n-report multimedial 15
Foto ZUR PERSON: Michael Löwa studierte an der FH Hanno- ver Fotografie. Er arbeitet heute als freibe- ruflicher Fotojournalist für Auftraggeber im In- und Ausland. Link zum ausführlichen Audio-Interview Foto: Hans-Jakob Erchinger Zeitautomatik, Blendenautomatik, Vollautomatik Fotograf eine andere Persönlichkeit hat. Daher ist es auch Was ist in Bezug auf die Persönlichkeits- und Urhe- sen, damit sich die Schüler nicht auch noch auf das Filtern oder manuell? Wie stelle ich meine Spiegelreflex- schwierig, eine bestimmte Brennweite vorzugeben. Es geht berrechte zu beachten? der Farben konzentrieren müssen. Generell entscheidet man kamera für Reportagen ein? darum, dass der Fotograf sich in dem Moment des Fotogra- Bevor ein Bild veröffentlicht werden darf, muss das Einverständ- sich für Schwarz-weiß, wenn man ganz bewusst reduzieren, Am Anfang, wenn ich mit der Kameratechnik noch unsicher fierens selbstsicher und wohl fühlt und dadurch souveräner nis des Fotografierten eingeholt werden. Der einfachste Weg ist, also sich noch mehr auf Gesichtszüge oder die Handlung bin oder meine Kamera noch nicht hundertprozentig kenne, fotografiert. das Bild direkt auf der Kamera zu zeigen. Rechtlich korrekt wäre konzentrieren möchte. Auch wenn man die Geschichte zeit- würde ich immer versuchen, es mir technisch so einfach wie es, wenn man vorab eine Freigabeerklärung verfassen und sich los wirken lassen will, kann man die Farbe weglassen. möglich zu machen, damit ich mich auf den Inhalt und den Was ist unter einem journalistischen Aufhänger zu diese dann von der Person unterschreiben lassen würde. Ich Moment konzentrieren kann. Aus diesem Grund sollte man verstehen? Welche Themen sind relevant, wer ent- würde übrigens immer zuerst das Bild machen und dann die Machen Sie selbst noch private Fotos? zu Beginn eine Automatik wählen. Ich würde die Zeitauto- scheidet das? Freigabe einholen. Geht man im Vorfeld zu der Person hin und Mittlerweile mache ich kaum noch private Fotos, sondern matik wählen. So habe ich mit der Blende noch ein bisschen Unter Fotografen gibt es oft Diskussionen bezüglich der The- erklärt sich, ist der perfekte Moment vielleicht schon vorbei. genieße die Momente lieber, wie sie sind: mit allen Sinnen. Spielraum in der Gestaltung. menwahl für eine Reportage. Viele fangen an zu überlegen, Sobald ich durch die Linse schaue, ist es nicht mehr das ent- wann ein Thema gut, und wann es schlecht ist. Meiner Mei- Schwarz-weiß oder Farbe? spannte Erleben. Dann folgt automatisch eine ganze Kette Weitwinkel oder Zoom – was braucht man wann? nung nach sollte man sich bei der Themenwahl davon frei ma- Wenn der Lehrer vor der Frage steht, ob die Bilder in Schwarz- von Überlegungen: ist das Licht gut, ist der Standpunkt gut, Die Distanz des Fotografen zum fotografierten Menschen chen, ob sich ein Magazin, egal in welcher Form, dafür inter- weiß oder in Farbe gemacht werden sollen, würde ich ganz ist der Moment gut, so dass ich dann eigentlich nicht mehr in muss jeder Fotograf mit sich selbst ausmachen, weil jeder essiert. Wichtig ist, dass der Fotograf sich dafür interessiert. pragmatisch vorschlagen, erst einmal die Farbe wegzulas- der Lage bin zu genießen. 16 n-report multimedial n-report multimedial 17
Foto Lehrer als Fotojournalisten IN DER CEWE-SCHNEIDEREI Ein Beispiel aus dem Seminar Fotojournalismus VON CHRISTOPH TERHORST Die Philippinin Maria Victoria Heitland arbeitet im CEWE-Fotobuch-Werk in Oldenburg seit 1994. Dort wirkt sie derzeitig an der Multiformatcutter-Station. Ihre Aufgabe ist es einerseits, die verschiedenen Bild- formate (6x9, 9x15 etc.) mithilfe einer dreiläufigen Cutter-Maschine zu schneiden. Andererseits ist sie für die anschließende Berechnung des Versandgewichts und die Versendung der fertigen Bilder in kleinen, mittelgroßen, großen Briefumschlägen, sowie in Kleinpaketen zuständig. Hunderte von Fotos werden binnen kurzer Zeit durch die Schneidemaschine gezogen. Hierbei muss die CEWE-Angestellte gut beim Zuordnen der Fotos aufpassen. Obwohl viele Arbeitsprozesse maschinell erfolgen, muss die Philippinin präzise nachjustieren und Fehlermeldungen – manchmal im Akkord – beheben. Maria kennt sich mit verschiedenen Maschinen im CEWE-Werk aus. Je nach Kundenwunsch werden ihr andere Fertigkeiten abverlangt. Hier befindet sie sich in der Multi-Cut-Abteilung, wo die langen Fotorollen zugeschnitten werden. 18 n-report multimedial n-report multimedial 19
Foto Die Arbeit an der Schneidemaschinen-Station ist vielfältig und nach bestimmten Abläufen unterteilt. Sobald technische Fehler auftreten, ist es wichtig, schnellstmöglich eine Lösung zu finden. Viele Ursachen kann Maria aufgrund ihrer Erfahrung selbstständig beheben. In manchen Fällen ist sie auf den technischen Service angewiesen. Laut Maria stammt die Mehrheit der Im Anschluss an den Schneideprozess werden die einzelnen Bildbestellungen Bestellungen aus Deutschland, aber sie hat für den Versand vorbereitet. In der Regel reichen Versandtaschen. Bei Großbestellungen auch schon einige aus Dänemark, Frankreich von Hochzeiten und anderen Events sind öfters Pakete notwendig. und Brasilien in den Händen gehabt. Zur Überwachung der technischen Abläufe setzt die CEWE-Angestellte verschiedene Hilfsmittel Maria ist glücklich bei CEWE und sieht und Techniken ein. Multi-Tasking ist eine wesentliche Fähigkeit, auf die sie zurückgreift. sich noch lange Zeit in der Fotobranche. Im Anschluss an die Frühschicht freut sie sich auf ihr Zuhause und geht dort ihren häuslichen Aufgaben nach. STATEMENT Meine wichtigste (Lern-)Erfahrung als Fotograf war es, die nächsten Arbeitsschritte bzw. Hand- lungen meiner Zielperson zu antizipieren, um ihr beim Fotografieren einen oder zwei Schritte voraus zu sein und mich in die ideale „Schnapp- schuss“-Position zu bringen. Gerade auf engem Raum ist diese Fähigkeit von großer Bedeutung. Christoph Terhorst 20 n-report multimedial n-report multimedial 21
Lehrer als Fotojournalisten Foto SPEZIALISTIN FÜR ALLES Ein Beispiel aus dem Seminar Fotojournalismus VON TIMM OSSENKOPP Wenn sich morgens um 6 Uhr die Werkstore bei CEWE Fotocolor in Oldenburg öffnen, sitzt eine Mitarbeiterin schon an ihrem Arbeitsplatz: Sylvia Piegsdas Aufgabe ist die Lösung technischer Probleme. Dafür muss sie sich vor dem Eintreffen der Belegschaft einen Überblick über die Störungen des Betriebsablaufes verschaffen und ihren Arbeitstag danach planen. Jede Aufgabe erfordert eine andere Art von Speziali- sierung von Sylvia Piegsda. Montieren, reparieren, justieren, reinigen, austauschen und manchmal nur den Kollegen bei ihren kleinen Sorgen des Arbeitsalltags zuhören – das sind ihre Arbeitsfelder. Ohne Kreati- vität und Spontanität wäre sie verloren. Ohne sie wären ihre Kollegen verloren. Wie gut, dass Sylvia Piegsda „Spezialistin für alles“ ist! Öffnen, auswählen, priorisieren – Sylvias Arbeitstag beginnt um 6 Uhr. Sie sortiert die „Tickets“, die Anzeigen der Kollegen über technische Zwischen den Stühlen – Sylvia versucht, die Abteilungsleiterin zu sprechen. Probleme und Fehler, nach Priorität und plant ihren Arbeitstag. Vergeblich, da die Diskussion über einen Optimierungsprozess noch länger andauert. Ausgebildete Bastlerin – Der Arbeitstisch einer Verpackerin hat sich verschoben. Selfmade woman – Ein technisches Problem bringt den Arbeitsprozess Bei der Gelegenheit sorgt Sylvia Piegsda im PC-Kabel-Wirrwarr für Ordnung. an einer Verpackungsmaschine ins Stocken. In einem Telefonat mit dem Hersteller informiert Sylvia sich über das fehlerhafte Teil. Keine Zeit – Jeder Auftrag zieht meist noch weitere kleine Handgriffe nach sich, die Zeit 22 n-report multimedial kosten und den Tagesplan ins Wanken bringen. n-report multimedial 23
Foto Multitaskingfähig – Ihr Werkzeug zusammenräumend plant Sylvia Piegsda schon ihren nächsten Einsatz. Voller Durchblick – Nur mit Nachtsichtgerät Arbeiten mit Augenmaß – 500 Messungen pro Tag gehen kann sie die Fehlstrahlung des defekten nicht spurlos an der Paketwaage vorüber: Sie hat sich verschoben. Lasersensors in ihrer Handfläche sehen. STATEMENT Die wichtigste Lern-Erfahrung, die ich in Ol- denburg in Bezug auf journalistisches Fotogra- fieren gemacht habe, ist, dass ein guter Fotograf seinem Motiv immer einen Schritt voraus ist – nicht nur räumlich, sondern auch gedanklich. Erst wenn er Vermutungen darüber anstellt, was die Person, die er fotografieren möchte, als nächstes tun wird, kann er entscheiden, aus wel- cher Perspektive ein Foto ihr Handeln am sinn- vollsten darstellt. Beachtet er das nicht, macht er viele schöne Fotos; aber leider nur vom Rücken der Person. Timm Ossenkopp Mittag unter Männern – Um Punkt 12 Uhr ist Sylvia Piegsda eine Ressourcen nutzen – Gemeinsam mit einem andere. Die lockeren Gespräche kreisen um Anekdoten des Berufstages. erfahrenen Kollegen an ihrer Seite löst Sylvia ein 24 n-report multimedial Doch auch in der Pause ist ihr Ordnung wichtig. Problem mit dem Verpackungsautomaten. n-report multimedial 25
Foto SEHEN. FÜHLEN. Die einfache Anmutung der Kurzporträts mag in Hinsicht auf den Aufwand der Produktion täuschen. Visual Storytelling ist ein anspruchsvolles Fach. Denn ein visueller Geschichtener- LEHRERBEISPIELE ERKENNEN zähler muss nicht nur Interviews so führen, dass er verwert- bares Material, also starke und wirkmächtige O-Töne erhält. „Es muss immer laufen“ Er muss auch die passende Atmo aufnehmen, muss fotogra- VON OLAF HASSELMEIER UND FLORIAN GROSSMANN fieren und/oder filmen können, muss sich um Dramaturgie, Warum im Journalismus kein Weg Schnitt, vielleicht um die Musikrecherche in einer GEMA-frei- Statements en Musikdatenbank und um die Postproduktion kümmern. „Im Nachgang können wir sagen, dass ein Problem darin am Visual Storytelling vorbeigeht Ohne Teamarbeit ist das nicht zu leisten. Die Schulung von bestand, das Material (Bild/Ton) miteinander zu kombinie- VON MAREN PREISS Empathie- und Teamfähigkeit und die Erkenntnis, dass das ren. Dazu müsste man in der Vorbereitung eine klarere gemeinsam in der Gruppe geschaffene Produkt am Ende Vorstellung vom „Gegenstand“ der Slideshow haben, um mehr ist als die Summe seiner einzelnen Teile – das ist der sich als Fotograf und Tontechniker noch besser miteinan- Foto: Hans-Jakob Erchinger Lohn für diese herausfordernde wie beglückende Arbeit. der abstimmen zu können. Uns fehlte da etwas die Erfah- rung. Das dürfte bei der Fotoreportage deutlich weniger Für Pädagogen, die Visual Storytelling an einer Schule un- komplex sein.“ (Olaf Hasselmeier) terrichten, lautet die große Herausforderung: Sie müssen die Schüler von passiven Medienkonsumenten zu aktiv und „Die Slideshow haben wir mit dem Windows Movie Maker verantwortlich handelnden Mediengestaltern machen. Dafür gemacht. Dieser ist für den Laien (wie wir es sind) ganz gut sind weder Geräte noch Software der Profis dringend erfor- verwendbar, wie ich finde. Man stößt aber in der Detailar- Visual Storytelling für die Generation Selfie als Medienfach Wie bei einer geschriebenen Reportage auch, soll der Zu- derlich, denn auch das Smartphone leistet hier heute exzel- beit an seine Grenzen.“ (Florian Grossmann) an Schulen – soll man das als Pädagoge wirklich unterstüt- schauer von Beginn an in eine visuelle Geschichte hineinge- lente Dienste. Zahllose Apps und Gratisprogramme laden zen? Die klassischen Formen journalistischen Schreibens zogen werden und freiwillig nicht wieder aus ihr auftauchen zum Experimentieren auf diesem Feld ein. Und der Schul- zu erlernen, also Reportage, Porträt und Interview, ist im wollen. Dramaturgisch gut erzählte Geschichten, in denen alltag bietet eine Vielzahl interessanter Themen, die es wert Zeitalter von Kurznachrichten und Emoticons wichtiger wir Bilder von Originalschauplätzen und authentisch agie- sind, multimedial erzählt zu werden. Wer würde sich nicht Link zur Audio-Slideshow denn je. Aber man sollte die Augen nicht vor der Realität rende Protagonisten sehen und deren Stimmen hören, dazu Porträts von Schülern eines Abi-Jahrgangs anschauen, die aus dem Seminar „Multimedia“ verschließen: Die gedruckte Zeitung hat es in diesen digi- den Sound einer Umgebung, können einen großen Sog Rückschau halten auf ihre Schulzeit und von ihren Zukunfts- talen Zeiten schwer. Immer mehr Menschen wenden sich entfalten. Und wenn man viel Glück hat, schließt man mit plänen erzählen? Oder einen Film über die Arbeit des So- von ihr ab und dem Smartphone oder Tablet zu. Und sie ihnen Herzen auf. „Menschen werden vergessen, was du zialpädagogen, der Frau in der Mensa, des Hausmeisters, „Vom Hobby zum Beruf“ verweilen Studien zufolge doppelt so lange auf Seiten, auf gesagt hast, sie werden vergessen, was du getan hast, nie der Schulsekretärin: Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Wofür VON TIM WAGEMESTER UND JOHANNES THOBÖLL denen Videos eingebunden sind. Dieser veränderten Me- aber werden sie vergessen, was du sie hast fühlen lassen“, brennen sie außerhalb der Schule? diennutzung müssen auch Journalisten Rechnung tragen. sagt die amerikanische Schriftstellerin Maya Angelou. Und Statements Sie holen die Leser deshalb immer häufiger dort ab, wo genau hier liegt der Schlüssel zum Geheimnis des Visual Wie formulierte es einst der Reporter Egon Erwin Kisch: „Obwohl ich persönlich nicht vor Ort fotografiert habe, diese sich ohnehin schon befinden: im Netz. Das Internet Storytellings. „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist sondern mich um Tonaufnahmen gekümmert habe, konn- ist damit zum Schauplatz eines erbittert geführten Kampfes exotischer als unsere Umwelt.“ Der Satz stammt aus dem te ich trotzdem in der Zusammenarbeit mit meinem Kolle- geworden. Mit großem Aufwand wird um die Gunst der Le- Doch wie wecke ich beim Zuschauer Emotionen? Was braucht Jahr 1925, aus einer Zeit also, als das Visual Storytelling erst gen wichtige Erfahrungen zur Rolle des Fotografen sam- ser gebuhlt, deren Aufmerksamkeitsspanne bis zum nächs- es, um eine gute Multimedia-Reportage zu erzählen? Neben noch erfunden werden musste. Er gilt bis heute – über alle meln. Die zentralste Erfahrung war für mich dabei, dass ten Klick meist nur wenige Sekunden beträgt. einer fokussierten Story braucht es vor allem starke, das heißt Genregrenzen des Journalismus hinweg. Sein Geist steckt es weniger darauf ankommt, einige gelungene Bilder zu authentische Protagonisten und gutes Ton- und Bildmaterial. in den 98 Filmen von berlinfolgen genauso wie in meinen ei- fotografieren, sondern eine Fülle an Material aus allen Si- Wenn Aufmerksamkeit also die neue Ware ist, dann ist Visu- Das vielleicht wichtigste Gesetz beim visuellen Erzählen lautet genen Arbeiten. tuationen, die sich vor Ort ergeben, zu sammeln, um dann al Storytelling die neue Währung. Doch was genau versteht dabei: „Don’t tell, show!“ – erzähle nicht, wie jemand handelt im Nachhinein durch eine gründliche Sortierung und Sich- man eigentlich unter Multimedia, Digital oder auch Visual und fühlt, zeige es und mache es dem Zuschauer erfahrbar. tung geeignete Bilder herauszusuchen, da sich erst durch berlinfolgen: Storytelling? Wer diese journalistische Form wählt, der er- Das setzt voraus, dass man sich in sein Gegenüber hineinver- das Stricken einer Geschichte wirklich herausstellt, welche zählt eine Geschichte unter Verwendung verschiedener Me- setzt. Ohne Empathie gibt es weder aussagekräftiges Bildma- Bilder man benötigt und welche nicht.“ (Tim Wagemester) dien. Dazu können Fotos und Videos, Originaltöne („O-Töne“) terial noch starke O-Töne der Protagonisten. von Interviewten, Geräusche („Atmo“) und Musik gehören. „Als Fotograf musst du unsichtbar und gleichermaßen Welche Elemente man davon benutzt, wie aufwendig der Die Serie „berlinfolgen“ (siehe Link rechts) beweist ein- sehr präsent sein. Es ist ein Spagat zwischen Aufdringlich- Film am Ende gestaltet werden soll, muss bei jedem Projekt drücklich, dass man in nicht einmal drei Minuten einen ganz keit und Zu-weit-weg-sein vom Geschehen. Gute Beob- neu ausgelotet werden. gewöhnlichen Menschen auf eine Weise porträtieren kann, achtungsgabe, Timing und das Quäntchen Glück gehören die den Zuschauer fesselt und berührt. dazu, wodurch man ständig unter Strom steht. Besonders Dass Visual Storytelling sich einen Platz im Journalismus er- „Koch am Ende nehme ich mit, dass man als Fotograf die Möglichkeit hat, obern konnte, hat mit der Macht von Bildern zu tun. Bilder, 98 Folgen von nicht prominenten Berlinern wurden bis zum Situationen, Gefühle und Atmosphäre einzufangen ohne aller Tage“ so heißt es nicht umsonst, sagen mehr als tausend Worte. April 2017 produziert. Entstanden sind feine Porträt-Minia- ZUR PERSON: Worte zu verwenden. Die Bilder sollten im Bestfall für sich von Maren Preiß: Tatsächlich erfasst sie das menschliche Gehirn 60 000-mal turen, die das Ungewöhnliche in einem gewöhnlichen Men- Maren Preiß arbeitet als freie Journalistin sprechen.“ (Johannes Thoböll) schneller als das geschriebene Wort. Und der Mensch rea- schen zum Thema machen. Die Bandbreite der Porträtierten in Hamburg. Bei n-report ist sie Koope- giert auch stärker auf das Visuelle. Bilder sind in der Lage, ist so bunt wie die Berliner Gesellschaft selbst: Von der Ver- rationspartnerin in den Schwerpunkten beim Zuschauer auf direktem Wege Gefühle und Stimmun- führerin über den Schatzsucher bis hin zum Lichtausmacher Journalistisches Schreiben und Visual gen zu erzeugen, die allein mit dem gedruckten Wort herzu- ist alles dabei. Storytelling. Link zur Audio-Slideshow stellen ungleich schwieriger ist. aus dem Seminar „Multimedia“ 26 n-report multimedial n-report multimedial 27
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