Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband

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Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband
I   I                                  Heft 2
                                                                     Jahrgang 33
                                                                     Herbst 2016

Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs

Herausforderung des Hindu Nationalismus · Drei Deutsche in Indien:
Interviews · Das Geld der Migranten · Inderinnen in Deutschland: Porträt
und Interview · Erzählung · Gedichte · Buchrezensionen · Tagungsbericht etc.
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband
I    I N H A LT           I

                                                       Editorial.........................................................................................................................3
Herausgeber
                                                       Indien als Hindusthan? Die indische Demokratie vor der
          Diözesan-Caritasverband
                                                       Herausforderung des Hindunationalismus ...............................................................4
          für das Erzbistum Köln e.V.
                                                       Clemens Jürgenmeyer
          Abteilung Integration und Migration
          Georgstr. 7, 50676 Köln                      Drei Deutsche in Indien
          Tel. 0221/2010-287
                                                       1. Nur wenn der Hinduismus politisiert wird, wird er dynamisch
          www.caritasnet.de
                                                       und das heißt agressiv, eng und identitätsversessen ................................................9
Vertreter des Herausgebers:                            Dr. Martin Kämpchen
Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV
E-Mail: heinz.mueller@caritasnet.de                    2. In den fünf Jahren, die ich hier lebe, habe ich nicht das Gefühl,
                                                       dass sich hier viel verändert hat, aber das Aufbrechen von alten
Redaktion:                                             Strukturen geht sehr langsam überall vonstatten. ................................................12
Jose Punnamparambil (verantwortlich),
                                                       G. A. Gopal
Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224 / 7 53 17
E-Mail: punnam@t-online.de                             3. Inder und Deutsche sind in Lebensweise und Denkart grundverschieden.....16
Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln,          Rainer Hörig
Tel. 02203 / 2 26 54; E-Mail: tchakkiath@yahoo.de
                                                       Mahasweta Devi ist tot..............................................................................................18
Nisa Punnamparambil,                                   Jose Punnamparambil
Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224/9897690;
E-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de                        Zum Tod von Mahasweta Devi ................................................................................19
                                                       Dr. Hans-Martin Kunz
Georgy Koottummel, Dürener Str. 12,
53332 Bornheim, Email: koottummel@web.de               Mahasweta Devi gestorben.......................................................................................20
Redaktionelle Mitarbeit:                               Dr. Martin Kämpchen
Walter Meister, Öhringen
                                                       Stiften ist eine runde Sache ..................................................................................... 21
Unterstützung und Beratung:                            Dr. George Arickal
Pater Ignatius Chalissery, Köln; Dr. Urmila Goel,
Berlin; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien;     Ich pflege so, wie ich später selbst gerne gepflegt werden möchte.......................24
Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Walter Meister, Öhringen;   Annamma Francis
Pfarrer Dariusz Glowacki, Königswinter;
                                                       Das Geld der indischen Migranten ..........................................................................25
Dr. Claudia Warning, Lohmar
                                                       Irudaya Rajan
Gestaltung und Satz:
Alexander Schmid, Nohn                                 Das Lied zum Abschied einer Frau .........................................................................27
                                                       Mrinal Pande
Layout:
Jose Punnamparambil; Jose Ukken                        Indien braucht ein modernes Bildungssystem, das die Kreativität fördert ........34
Herstellung und Vertrieb:                              Dr. Pappachan Kolattukudy
Jose Ukken, Im Rheingarten 21,
                                                       Gandhis Enkel Kanubhai und seine Frau Shiva Laxmi
53639 Königswinter, Tel. 02223 / 49 49;
E-Mail: joseukken@googlemail.com
                                                       kehrten zurück aus den U.S.A. .................................................................................36

Druck:                                                 Religionen eines Welt-Dichters – Rabindranath Tagore.......................................37
Siebengebirgs-Druck,                                   Arnold Köpcke-Duttler
Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef
                                                       Jahrzehnte des Ankommens .....................................................................................39
Erscheinungsweise: dreimal jährlich
                                                       Antje Stiebitz
Eine Spende von mindestens 13 Euro
wird von den Lesern erwartet.                          Jose Punnamparambil feiert seinen 80. Geburtstag .............................................41
IBAN-Nr. : DE 08 370 20500 000106 3205,                Dr. Ajit Lokhande
BIC: BFSWDE33XXX
Diözesan-Caritasverband Köln                           Gedichte ......................................................................................................................42
                                                       Abdul Rahman Rahi, Gulam Mohammed Sheikh, Surjit Patar, Nilim Kumar

                                                       Literatur der Adivasi .................................................................................................44
Titelbild                                              Reinhold Schein
„Der Baum und der Vogel“ von Durga Bai Vyam
(Siehe Seite 25)
                                                       Das gemalte Werk von Rabindranath Tagore.........................................................45
                                                       Georg Lechner
Rückseite
„Auf den Spuren von Gandhi“ – Anja Bohnhof             Ein Familienroman voller Spannung ......................................................................47
                                                       Rüdiger Sareika

2   MEINE WELT 2/2016
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband
I   EDITORIAL         I

Inder in Deutschland – Deutsche in Indien
Ich bin im November 1966 nach             gen gründen, auch Indien baute seine       Die meisten der Inder/Inderinnen der
Deutschland gekommen. Damals              Geschäftsbeziehungen mit Deutsch-          ersten Generation haben ein eigenes
war ich 30 Jahre alt. Es lebten ca.       land beträchtlich aus und gründete         Haus oder eine Eigentumswohnung.
15000-20000 Inder/Inderinnen in           hier Niederlassungen und Vertretun-        Sie haben einen Lebensstandard ver-
Westdeutschland. Die meisten von          gen. Heute beträgt die Zahl dieser         gleichbar mit dem der Deutschen, die
ihnen waren Studenten, es gab aber        Stellen mehr als 120. Es kamen viele       zur oberen Mittelschicht gehören. Die
auch einige junge Mädchen, die zur        Inder/Inderinnen hierher, um bei die-      Mehrzahl ihrer Kinder sind Ärzte,
Ausbildung als Krankenschwester           sen Geschäftsstellen tätig zu werden.      Ingenieure oder in führenden Positio-
hierher kamen. Mit der Zeit stieg die     Um den Fachkräftemangel im Bereich         nen in der Industrie, Verwaltung oder
Zahl derjenigen, die zur Ausbildung       Informationstechnologie zu begegnen,       Bildungseinrichtungen tätig. Eine gro-
als Krankenschwester kamen auf ca.        hat Deutschland viele IT-Fachleute aus     ße Zahl von ihnen ist mit Deutschen
5000. Die große Mehrheit von ihnen        Indien rekrutiert. Sie kamen für be-       verheiratet und führt ein bi-kulturelles
heiratete dann Männer aus Kerala und      grenzte Zeiten nach Deutschland mit        Leben.
brachte sie nach Deutschland mit. Sie     Familie. Die Zahl solcher indischen        In den 1980er und 1990 Jahren führ-
gründeten hier Familien und Kinder        IT-Fachleute liegt heute schätzungs-       ten die Inder/Inderinnen der ersten
wurden geboren. Viele der Studenten       weise über 4000. Hinzu kommen die          Generation ein aktives Vereinsleben.
blieben nach Beendigung des Studi-        indischen Studenten, deren Zahl in         In der letzten Zeit merkt man schon,
ums in Deutschland, heirateten und        den ersten 10 Jahren des 21. Jahrhun-      dass das Interesse an Vereinsaktivi-
gründeten Familien. Ihnen wurden          derts alarmierend niedrig war. Durch       täten nachlässt. Die Mitgliederzahl
auch Kinder geboren. So wuchs die         Umstrukturierung des universitären         rutscht nach unten. Früher war das
indische Gemeinschaft hier langsam.       Bildungsangebots und durch erfolgrei-      Mülheimer Seminar der jährliche
                                          che Werbung hat Deutschland erreicht,      Treffpunkt für viele Inder/Inderinnen
Anfang der 1960er Jahre kamen vie-        dass viele junge indische Studenten/       aller Schattierungen. Heute existiert
le junge katholische Mädchen nach         Studentinnen heute stark daran inte-       das Seminar nicht mehr. Auch die
Deutschland, um hier in ein deutsches     ressiert sind, in Deutschland ein Stu-     Deutsche Kalkutta Gruppe stellte ihre
Kloster einzutreten. Etwa 15 deutsche     dium zu absolvieren. Die fördernde         Aktivität ein, nach fast 40-jähriger
Ordensgemeinschaften haben damals         Lockerung der Kreditvergabebedin-          Arbeit zu Gunsten von Menschen in
indische Aspirantinnen aufgenommen,       gungen zum Zweck des Studiums im           Kalkutta und Umgebung. Auch der
um das Problem fehlenden Nach-            Ausland seitens der Banken in Indien       größte bilaterale Freundschaftsverein
wuchses in den Griff zu bekommen.         hat auch eine Rolle gespielt, viele jun-   in Deutschland, die Deutsch-Indische
Später kamen viele fertige, beruflich     ge Inder/Inderinnen zu verlocken, in       Gesellschaft, befindet sich auf einer
ausgebildete Ordensschwestern nach        Deutschland ein Studium zu absolvie-       Talfahrt. Die Mitgliederzahl rutscht
Deutschland, um hier in Kranken-          ren. So studieren heute fast 12 Tausend    schnell nach unten – von 3700 Mit-
häusern und Altenheimen tätig zu          Inder/Inderinnen in Deutschland.           gliedern bis vor 10 Jahren ist sie heute
werden. Heute beträgt die Gesamtzahl      So beträgt die indische Gemeinschaft       vielleicht auf ca.2500 geschrumpft. Das
der indischen Ordensschwestern in         in Deutschland heute um 120.000 Per-       Interesse der 2. Generation an solchen
Deutschland ca. 2000. Auch im seel-       sonen, die Hälfte davon mit deutscher      Vereinsaktivitäten ist äußerst gering.
sorgerischen Bereich der katholischen     Staatsbürgerschaft. Fast alle der Inder/   Auch das Interesse der jungen Deut-
Kirche herrschte eine Art Notstand we-    Inderinnen der ersten Generation, die      schen am deutsch-indischen Vereinsle-
gen fehlendem Nachwuchs. So kamen         nach Deutschland in den 1960er und         ben hält sich in Grenzen. Es kommen
ausgebildete Priester aus dem Aus-        1970er Jahren kamen, befinden sich         aber noch Menschen zu traditionellen
land, ihre Zahl heute beträgt ca. 2300.   heute im Ruhestand. Die meisten ihrer      Festen wie Onam (bei Keralesen) oder
Davon sind 30% (ca. 600) indische         Kinder haben eine akademische Aus-         Durga Puja ( bei Bengalis). Vielleicht
Priester, die in Pfarreien und anderen    bildung, einige waren aber zufrieden       sind die Inder/Inderinnen der zweiten
Seelsorgebereichen tätig sind.            mit einer Berufsausbildung. Sie sind       und dritten Generationen so integriert,
Mit der Globalisierung und Liberali-      berufstätig, haben Familien gegründet      dass sie ein Leben führen wie ein deut-
sierung der indischen Wirtschaft wuchs    und ihre Kinder wachsen heran. Sie         scher Normalbürger.
die deutsch-indische Wirtschaftsbezie-    leben hier angepasst und integriert,       Die Inder/Inderinnen der ersten Ge-
hung kräftig. Viele neue deutsche Fir-    versuchen aber ihre kulturelle Identität   neration haben viel geleistet, um das
men konnten in Indien Niederlassun-       zu pflegen und zu bewahren.                eigene Leben hier aufzubauen und

                                                                                                           MEINE WELT 2/2016   3
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband
I   POLITIK           I

ihre Geschwister, Verwandte und
Freunde in der Heimat unter die Arme           Indien als Hindusthan?
zu greifen. Sie haben auch einen Teil
ihrer Ersparnisse in Indien investiert
mit dem Hintergedanken, später mit
Eintritt in den Ruhestand nach Indi-
                                               Die indische Demokratie vor der Herausforderung
en zurückzukehren und dort auf der             des Hindunationalismus
Basis dieser Investitionen bequem zu
leben. Die meisten Ersparnisse sind in
                                               CLEMENS JÜRGENMEYER
Grundstücken und Häusern investiert.
Da die große Mehrzahl der Inder/In-
derinnen sich jetzt entschieden hat, den       In Indien herrscht seit Mai 2014 eine hin-          Gelehrte und Vizekanzler der Karnataka-
Abend ihres Lebens hier in Deutsch-            dunationale Regierung unter Premiermi-              Universität M. M. Kalburgi auf heimtü-
land mit Kindern, Enkelkindern und             nister Modi, nachdem die Bharatiya Janata           ckische Weise in seinem eigenen Haus
indischen sowie deutschen Freunden             Party (BJP) aus den Parlamentswahlen als            erschossen. Ihm wird vorgeworfen, den
zu verbringen, werden sie nunmehr              überlegener Sieger hervorgegangen war.              hinduistischen Glauben in den Dreck
ihre Häuser, Grundstücke, Aktien etc,          Seither häufen sich die Klagen über die             gezogen zu haben.
in Indien verkaufen und entsprechen-           zunehmende Intoleranz und Aggressivität             c An der Jawaharlal-Nehru-Universität
de Devisen nach Deutschland brin-              hindunationaler Aktivisten, die mitunter            in New Delhi wird am 12. Februar 2016 der
gen. Die Kinder und die Enkelkinder            rabiat gegen Andersdenkende vorgingen               Studentenführer Kanhaiya Kumar ohne
werden dieses Vermögen erben. Eine             und dabei auch nicht vor tödlichen At-              Haftbefehl festgenommen und unter dem
kleine Anzahl von Indern hat ihr Ver-          tacken zurückschreckten. Grundlegende               Vorwurf der Aufwiegelei und antinatio-
mögen in Stiftungen umgewandelt, um            Bürgerrechte wie Meinungs-, Versamm-                naler Umtriebe inhaftiert. Die Festnahme
mit den Erträgen caritative oder ent-          lungs- und Religionsfreiheit seien bedroht.         erfolgt auf der Basis eines alten Gesetzes
wicklungspolitisch relevante Projekte          Die Times of India spricht sogar von einem          aus der britischen Kolonialzeit. Immerhin
in Indien zu unterstützen.                     soft fascism, der sich in Indien breit ma-          wird Kumar einige Zeit später aufgrund
So weit also die Zustandsbeschreibung          che. In der Tat haben sich in der jüngeren          eines Gerichtsbeschlusses wieder auf frei-
der kleinen „Indian Community“ in              Vergangenheit beunruhigende Ereignisse              en Fuß gesetzt.
Deutschland. Es gibt aber auch einige          zugetragen, wie die folgenden drei Bei-             Indiens säkulare demokratische Verfasst-
Deutsche, die lange in Indien leben.           spiele zeigen:                                      heit wird ohne Zweifel durch hindunati-
Wie verläuft ihr Leben dort, welche
Integrationserfahrungen haben sie
dort gemacht, welche Einsichten haben
                                               Die indische Tradition des argumentativen Austauschs,
sie im Laufe der Zeit gewonnen? –              der religiösen und kulturellen Vielfalt und somit das
diese und ähnliche Fragen haben wir
an drei Deutsche, die lange in Indien
                                               säkulare und demokratische Indien werden – so meine
leben, gestellt. Ihre aufschlussreichen        These – Bestand haben und der Herausforderung des
Antworten können Sie in diesem Heft
lesen.                                         Hindunationalismus gewachsen sein.
Ansonsten finden Sie in diesem Heft
wie immer viele interessante Beiträge          c Am 28. September 2015 lynchen auf-                onale Politiker und Aktivisten herausge-
zu Themen wie „Literatur“, „Migrati-           gebrachte Hindus in dem Dorf Bisara in              fordert. Auch die kulturelle Vielfalt des
on“ etc. Ihre besondere Aufmerksamkeit         Uttar Pradesh einen Muslim und verletzen            Landes wird in Frage gestellt. Es erhebt
bitten wir für den Beitrag „Stiften ist eine   seinen Sohn schwer, weil beide angeblich            sich die Frage, ob diese Bedrohung existen-
runde Sache“ von George Arickal, der           Rindfleisch verzehrt und damit gegen das            tieller Natur ist und die hindunationalen
über drei Inder in Deutschland berichtet,      Verbot des Schlachtens von Kühen ver-               Kräfte Indien zu einem Hinduland, zu
die ihr Vermögen zur Unterstützung der         stoßen hätten.                                      einem Hindusthan, umformen können.
„Andheri-Hilfe“ gestiftet haben.               c In Dharwad im Bundesstaat Karnata-                Warnende Stimmen gibt es zuhauf in der
                                               ka wird am 30. August 2015 der bekannte             indischen Öffentlichkeit, viele reden sogar
Herzlichst Ihr                                                                                     von einem sich ausbreitenden Faschismus.
J O S E P U N N A M PA R A M B I L                                                                 Auch in den letzten Ausgaben von Meine
                                               Clemens Jürgenmeyer ist wissenschaftlicher
                                                                                                   Welt äußerten mehrere Autoren ihre Be-
                                               Mitarbeiter des Arnold Bergsträsser Instituts der
                                               Uni. Freiburg. Schwerpunkt seiner Forschung:        sorgnis über die aktuelle Situation.
                                               Indien und Südasien, Entwicklungspolitik.           Es gibt jedoch grundlegende Elemente

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der indischen Gesellschaft, die dieser eher   das Hindutum, sei die nationale Identität   formuliert und von der BJP in dem Slo-
pessimistischen Einschätzung der Lage         Indiens. Muslime und andere Minoritäten     gan „One Nation, One People and One
entgegen stehen und sich dem hinduna-         seien der indischen Nation fremd. Die in-   Culture“ eingängig verdichtet. So wird
tionalen Gesellschaftsentwurf wie seiner      nere Einheit der Hindus speise sich aus     die indische Nation hinduisiert und der
Politik weitgehend entziehen. Sie erlauben,   der homogenen Hindukultur, die auf          Hinduismus nationalisiert.
ein optimistisches Bild der Entwicklung       der Gemeinsamkeit des Territoriums,         Diese Vorstellung einer gemeinsamen
zu zeichnen, wie es zum Beispiel Amartya      der Abstammung und der Kultur beruhe        territorialen, genealogischen und kultu-
Sen oder Mark Tully getan haben (s. Mei-      und seit ewigen Zeiten bestehe. Ober-stes   rellen Basis der Hindunation bildet also
ne Welt 1, 2016, S. 6f.). Ich schließe mich   Ziel hindunationaler Politik ist die Wie-   den Kern der Ideologie und Politik des
diesen Einschätzungen an. Die indische        dererrichtung einer starken Hindunation,    Hindunationalismus. Zunächst in Reak-
Tradition des argumentativen Austauschs,      des alten, reinen und wahren Hindutums.     tion auf den britischen Kolonialismus ent-
der religiösen und kulturellen Vielfalt und   Diese Hindutva-Ideologie wurde in ihrer     standen, gründet er auf dem Gefühl der
somit das säkulare und demokratische In-      klassischen Form bereits 1923 von dem       eigenen Unterlegenheit und in der Angst,
dien werden – so meine These – Bestand        Brahmanen V. D. Savarkar (1883–1966)        nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein
haben und der Herausforderung des Hin-
dunationalismus gewachsen sein.
Geschichte
Die Ursprünge des Hindunationalismus          Deutschland als Entwicklungsland!
reichen bis 1875 zurück, als die neo-hin-
duistische Organisation Arya Samaj (Ge-
                                              Ashok-Alexander Sridharan
sellschaft der Arier) gegründet wurde. Im
                                              über Agenda 2030 und ihre
Jahr 1915 entstand dann die Hindu Ma-
                                              Herausforderung für Deutsch-
hasabha (Große Vereinigung der Hindus)
                                              land und die UN-Stadt Bonn
und 1925 folgte die elitäre Kaderorganisa-
tion Rashtriya Svayam-sevak Sangh (RSS,
Nationale Freiwilligenunion), die bis auf     Seit 21.Oktober 2015 ist Ashok-Alexan-
den heutigen Tag das organisatorische und     der Sridharan Oberbürgermeister der
ideologische Rückgrat des Hindunationa-       Stadt Bonn. Er wurde 1965 den Eltern
lismus bildet. Die Bharatiya Janata Party     Doraiswamy und Margret Shridharan
wurde 1951 unter dem Namen Bharatiya          in Bonn geboren. Vor seinem Amtsan-
Jan Sangh (Indische Volksunion) gegrün-       tritt als Oberbürgermeister in Bonn
det und im Jahr 1980 umbenannt. Weitere       war er Stellvertretender Bürgermeister
wichtige hindunationale Organisationen        von Königswinter und Dezernent für
sind u.a. die Vishva Hindu Parishad (VHP,     Finanzen, Personal, Organisation, IT
Rat aller Hindus; gegr. 1964) und deren       und Controlling. Seine Eltern engagie-
Jugendorganisation Bajrang Dal (Truppe        ren sich in Indien mit Projekten für Kin-
des Gottes Hanuman; gegr. 1984). Diese        der und Jugendliche (Deutsch-Indische
Organisationen bilden zusammen die RSS-       Kinderhilfe e.V.).                          Ashok-Alexander Sridharan

Familie und spielen verschiedene Rollen
im Rahmen einer gemeinsamen Strategie,        Nachfolgend steht ein Auszug aus einem      Frage stellen. Die Art und Weise, wie wir
ein hinduistisches Indien zu schaffen. Die    Interview mit ihm, das von Herrn Mathias    in Deutschland leben und arbeiten, hat
meisten der BJP-Politiker sind gleichzeitig   Böhning, Vorstandsmitglied der Deutschen    immer auch Auswirkungen auf Menschen
Mitglieder des RSS.                           Gesellschaft für die Vereinigten Nationen   in anderen Regionen dieser Welt - das gilt
                                              (DGVN) geführt wurde. Quelle: Pressenach-   es zu bedenken. Für uns als Stadt bedeutet
Ideologie                                     richten von DGVN, 30.06.16:                 das, dass wir Nachhaltigkeit als Quer-
Alle hindunationalen Organisationen           „Das Grundlegende an der Agenda 2030        schnittsaufgabe in der Verwaltung veran-
teilen die nationalistische Ideologie des     ist der Perspektivenwechsel: Entwicklung    kern und auch die Bürgerinnen und Bürger
Hindutums namens Hindutva. Sie zielt          findet nicht mehr nur im „globalen Sü-      stärker einbeziehen müssen. Die Kommune
auf den Zusammenschluss aller Hindus          den“ statt, sondern auch wir müssen uns     hat viele Möglichkeiten, die Agenda 2030
und die Ausgrenzung der Muslime und           ändern! Das erfordert ein Umdenken im       umzusetzen – von der nachhaltigen Be-
Christen. Indien, so sagen die Hinduna-       Kopf. Wir selbst müssen uns als Entwick-    schaffung über Soziales, Verkehr und Ener-
tionalisten, sei das Land der Hindus, die     lungsland verstehen. Wir müssen unsere      gieversorgung bis hin zur schulischen und
indische Nation eine Hindunation. Inder       Lebens- und Konsumgewohnheiten in           außerschulischen Bildungsarbeit.
zu sein, heiße Hindu zu sein. Hindutva,

                                                                                                                 MEINE WELT 2/2016   5
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und zum Spielball fremder Mächte zu wer-      scheinen hier von Bedeutung zu sein.            gründige ideologische Zähmung der BJP
den. Die tieferen Ursachen hierfür sehen      Erstens ist die hindunationale Bewegung         hat sich sehr deutlich in den Jahren 1998
die Hindunationalisten in der fehlenden       in Indien keineswegs ein monolithisches         bis 2004 gezeigt, als die BJP an der Spitze
Einheit der Hindus und im Abfall vom          Gebilde, sondern inneren Gegensätzen            einer heterogenen Koalition mit über zehn
alten, wahren Hindutum. Daher müssten         und Spannungen ausgesetzt, die sowohl           Regionalparteien darauf verzichtete, um
sich die Hindus zusammenschließen und         auf der ideologischen als auch auf der po-      des Macherhalts willen zentrale Elemente
stark werden, um sich gegen die ständige      litischen Ebene auftreten. Je mehr Anhän-       hindunationaler Politik durchzusetzen.
Bedrohung durch ihre Feinde, vor allem        ger die Hindutva-Bewegung zählen kann,          Auch innerhalb der BJP, die ja stets ihre
Muslime und Christen, verteidigen zu kön-     um so mehr machen sich die Spannungen           innere Geschlossenheit gerade im Unter-
nen. Die glorreiche Hinduvergangenheit        zwischen den auf eine über 90jährige Ge-        schied zum Congress und den anderen Par-
mit ihrem zeitlosen kulturellen Erbe müsse    schichte zurückblickenden RSS und sei-          teien betont, gibt es divergierende Strö-
wieder zum Leben erweckt werden, um das       nen disziplinierten Kadern, den um den          mungen. Radikale Hindutva-Anhänger
Elend der Gegenwart zu überwinden und         Eindruck der Mäßigung bemühten Poli-            und moderate Politiker rangeln um Macht
der Gefahr entgegenzuwirken, im eigenen       tikern der BJP und den bunt zusammen-           und Einfluss und versuchen, ihre Positio-
Land zur Minderheit zu werden. Es ist         gewürfelten, einer straffen Organisation        nen durchzudrücken. Dabei spielen auch
also die Angst vor der eigenen Schwäche,      kaum zugänglichen religiösen Führern und        persönliche Ambitionen und Zerwürfnisse
die die Hindunationalisten so demonst-        Mitläufern der anderen hindunationalen          eine Rolle, wie sie bereits Anfang der 90er
rativ die Einheit und Stärke der Hindus       Organisationen bemerkbar. In den Augen          Jahre in Madhya Pradesh deutlich zu Tage
betonen lässt.                                eines gut geschulten RSS-Mitglieds oder         getreten sind. Diese gipfelten damals in
Die wesentlichen Ursachen für das Erstar-     eines BJP-Politikers müssen diese nicht         dem Parteiausschluss der prominenten
ken des Hindunationalismus sind in den        selten mit einem Wickeltuch bekleideten,        Hindutva-Aktivistin und BJP-Politikerin
sozio-ökonomischen Veränderungen zu           lange verfilzte Haare tragenden, zuweilen       Uma Bharati, die ihren arrivierten männ-
suchen, die sich in einem Prozess der Mo-     mit Asche beschmierten Personen gerade-         lichen Kollegen mangelnde ideologische
dernisierung mit all seinen Widersprüchen     zu als Inbegriff undisziplinierten Individu-    Standfestigkeit und politisches Versagen
herausgebildet haben, dem die indische        alismus und fehlender Organisation gelten,      vorwarf. Inzwischen ist Uma Bharati wie-
Gesellschaft seit längerem unterworfen ist.   mit denen auf Dauer keine verlässliche          der zur BJP zurückgekehrt und hat in der
Die Hindunationalisten versuchen hierauf
eine Antwort zu geben. Der Hindunatio-        Die wesentlichen Ursachen für das Erstarken des
nalismus kann interpretiert werden als ein
Versuch, die Moderne neu zu definieren,       Hindunationalismus sind in den sozio-ökonomischen
indem Tradition und Moderne mitein-
                                              Veränderungen zu suchen, die sich in einem Prozess
ander versöhnt werden. Ökonomischer
Fortschritt und materieller Erfolg wer-       der Modernisierung mit all seinen Widersprüchen
den in eine traditionelle Interpretation
der glorreichen, wieder zu errichtenden
                                              herausgebildet haben.
Hindukultur eingebunden. Das fremde
Neue und das eigene Alte sollen neu zu-       Kooperation möglich ist. Das Selbstver-         jetzigen Regierung ein Ministeramt inne.
sammengefügt werden, um der gefürchte-        ständnis des RSS als Kaderorganisation          Narendra Modi muss dauernd versuchen,
ten kulturellen Entwurzelung Einhalt zu       und Hüter der reinen Hindutva-Ideologie         zwischen diesen verschiedenen Richtun-
gebieten. Der ökonomische Wettbewerb          verträgt sich nur bedingt damit, diese Per-     gen und Gruppen eine mittlere Position
wird aufgehoben in der Vorstellung einer      sonen als gleichberechtigte politische Part-    einzunehmen. Er darf weder die hart
harmonischen Gesellschaft der Gleichen,       ner zu akzeptieren. Ebenso wenig kann           gesottenen Hindutva-Politiker noch die
wo Vertrauen, Solidarität und gegenseiti-     die BJP, vor allem dann, wenn sie in der        eher pragmatisch orientierten Gefolgs-
ge Achtung vorherrschen. In diesem Sinn       Regierungsverantwortung steht, blindlings       leute vergraulen, die jenseits der Ideolo-
ist der Hindunationalismus modern und         den Aktionen der hindunationalen Orga-          gie Indien in eine moderne, industrielle
traditionell zugleich.                        nisationen folgen, da sie sonst Gefahr läuft,   Zukunft führen und zu einer zentralen
                                              die politische Kontrolle über die Hindutva-     Macht in der Weltpolitik machen wollen.
Indien als Hindusthan?                        Bewegung zu verlieren. Allerdings darf          Dieser Balanceakt ist nicht einfach, er er-
Trotz des Wahlerfolgs der BJP bei den         sie auch nicht den Anschein erwecken,           klärt auch, warum Modi selbst nicht in
letzten Parlamentswahlen, der der Partei      als bremsende Kraft zu wirken, die die          hindunationalen Tönen schwelgt, sondern
eine absolute Mehrheit in der Lok Sabha       Aktionen der Aktivisten hintertreibt. Die-      sich eher als weltgewandten Modernisierer
beschert hat, gibt es gute Gründe, die ge-    ses Dilemma birgt für die BJP stets die         gibt und gleichzeitig die Scharfmacher und
gen einen Sieg des Hindunationalismus         Gefahr, Opfer ihres eigenen politischen         Aktivisten gewähren lässt. Die Heteroge-
auf breiter Front sprechen. Drei Aspekte      Erfolgs zu werden. Die zumindest vorder-        nität der eigenen Gefolgschaft erfordert

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diese Art von Politik, die allerdings stets    an der Vielfältigkeit der religiösen und       und Kulturen zu interagieren, indem er
die Gefahr des Misserfolgs in sich birgt, da   kulturellen Überlieferung nichts ändert.       diese oft in sein eigenes Selbstbild mit auf-
sie nicht allen Interessen und Wünschen        Ebenso sollte nicht unerwähnt bleiben,         nimmt. Die multiple Qualität der Identität
gerecht werden kann.                           dass das Konzept der Kulturnation direkt       von Individuen und Gruppen ist also kon-
Zum zweiten liegt die Hindutva-Ideo-           aus dem Westen übernommen wurde, der           textabhängig, sie besitzt eine dynamische
logie quer zur indischen Tradition. Der        von den Hindunationalisten stets heftig        Qualität. Sie ist nicht starr, monolithisch,
Hindunationalismus strebt danach, eine         kritisiert wird. Mithin handelt es sich beim   sondern äußerst flexibel, manchmal auch
starke homogene Hindunation zu errich-         Hindunationalismus nicht um ein genuin         durchaus widersprüchlich. Sie erlaubt vari-
ten. Diese behauptete Homogenität der          indisches Geschöpf, sondern um eine Form       able Grenzziehungen zwischen ich, wir und
indischen Kultur, des Hindutums, steht         des „geistigen Diebstahls“, wie Benedict       den anderen und entzieht sich so einer von
                                                                                              oben durchzusetzenden Homogenisierung.
Ein Inder ist nicht nur Bürger der indischen Republik                                         Diese Flexibilität und Vielschichtigkeit pri-
                                                                                              mordialer Bindungen liegen quer zu einer
mit einem gesamtindischen Bewusstsein, sondern                                                modernistischen, objektiv definierten Vor-
gleichzeitig Bürger eines in der Regel sprachlich                                             stellung einer kompakten Nation und eines
                                                                                              entsprechenden Nationalbewusstseins, wie
definierten Bundesstaats, also z.B. Marathe, Bengale,                                         sie den Hindunationalisten eigen ist.
Oriya, Tamile, seiner Stadt, seines Wohnviertels oder                                         Die Differenz als konstitutives Merkmal
                                                                                              des Hinduismus gilt zum dritten auch für
seines Dorfes.                                                                                das soziale Leben. Hierarchische Werte
                                                                                              und institutionelle Ungleichheit bilden
jedoch in auffallendem Gegensatz zu der        Anderson es treffend auf den Punkt ge-         das Kernstück der indischen Kultur und
Heterogenität dessen, was allgemein als        bracht hat.                                    Gesellschaft. Nicht nur die feinen, sondern
Hindukultur bzw. Hinduismus bezeichnet         Dieser äußeren Vielfalt des Hinduismus         auch die groben Unterschiede prägen den
wird. Seine Vielfalt ist sprichwörtlich, es    entspricht eine innere auf der Ebene des       sozialen Alltag in all seiner Härte. Daher ist
gibt weder eine grundlegende Schrift, die      Individuums. Wie Ashis Nandy und Peter         es ebenso verwunderlich wie verständlich,
dem Koran oder der Bibel vergleichbar          Gottschalk aufgezeigt haben, zeigt sie sich    dass die Hindunationalen die Unberühr-
wäre, noch einen verbindlichen Korpus von      in einer vielschichtigen und fluiden Identi-   barkeit als der Hindutva fremd ansehen
Schriften, in dem die Grundüberzeugungen       tät, die verschiedene primordiale Bindun-      und die Hindugesellschaft als eine große
festgelegt wären. Hingegen existiert eine      gen und Orientierungen innerhalb eines         Familie, als ein organisches Ganzes, apost-
fast unübersehbare Masse an mündlichen         offenen Selbst aufweist. Sie können je nach    rophieren, in der soziale Konflikte, egoisti-
und schriftlichen Überlieferungen in vielen    Situation mal stärker, mal schwächer zum       sches Streben und individuelle Einsamkeit
Sprachen, die sich in einer ebenso unüber-     Vorschein kommen. Ein Hindu ist eben           keinen Platz haben. Die soziale Realität
sehbaren Vielzahl der Götter, Göttinnen,       nicht nur Mitglied einer bestimmten Glau-
Dämonen, Rituale und Zeremonien zeigt.         bensgemeinschaft mit ihren je eigenen Ri-      Hierarchische Werte
Hier eine Gemeinsamkeit der Werte und          tualen, Festen, Göttern, heiligen Stätten
Handlungen zu konstruieren, ist schlech-       und Tempeln, sondern gleichzeitig auch
                                                                                              und institutionelle
terdings unmöglich und läuft dem eigent-       ein Mitglied seiner Familie, seines Clans,     Ungleichheit bilden das
lichen Wesensmerkmal des Hinduismus,           seiner Kaste und Klasse in einem bestimm-
seiner Heterogenität, zuwider. Das einzi-      ten geographischen Raum. Ein Inder ist
                                                                                              Kernstück der indischen
ge, negativ bestimmte Definitionsmerk-         nicht nur Bürger der indischen Republik        Kultur und Gesellschaft.
mal der Hindukultur ist ihre fehlende          mit einem gesamtindischen Bewusstsein,
Uniformität. Nicht umsonst bleiben die         sondern gleichzeitig Bürger eines in der       Indiens wird jedoch nicht dadurch gleicher,
Hindutva-Ideologen die Antwort auf die         Regel sprachlich definierten Bundesstaats,     indem die Gleichheit herbeigeredet wird.
Frage weitgehend schuldig, wie denn die        also z.B. Marathe, Bengale, Oriya, Tamile,     Die harte Lebensrealität verleiht solchen
postulierte gemeinsame Kultur der Hin-         seiner Stadt, seines Wohnviertels oder sei-    Gesellschaftsentwürfen wenig Glaubwür-
dus aussehe. So erweist sich der Vorstoß       nes Dorfes. Das differenzierte und flexible    digkeit. Kurzfristig ist es zwar möglich, mit
der Außenministerin Sushma Swaraj im           Arrangement verschiedener primordialer         hinduistischer Symbolik und nationalisti-
Dezember 2014, die Bhagavadgita zur            Bindungen und Gruppenzugehörigkeiten           scher Demagogie eine beachtliche Zahl
‚nationalen Schrift‘ (rashtriya granth)        zu einer multiplen Identität erlaubt es dem    von Menschen zu mobilisieren, langfris-
zu erheben, als ein Akt der Hilflosigkeit      einzelnen, im weiten Feld der gelebten         tig kann eine solche Politik jedoch keine
und schlichten Unkenntnis der hinduis-         kulturellen und sozialen Heterogenität In-     allgemein akzeptierte Antwort auf die
tischen Tradition, der zwar die anderen        diens immer wieder seinen Platz zu finden      drängende soziale Frage in Indien liefern,
Religionsgemeinschaften düpiert, aber          und mit anderen Volksgruppen, Religionen       wo die Mehrheit der Bevölkerung kaum

                                                                                                                        MEINE WELT 2/2016   7
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über das Nötigste zum Leben verfügt. Das     ein politisches Identitätskonstrukt, eine     Bislang zumindest konnten die Hindu-
Versprechen nationaler Größe und Ein-        Art moderner Mythos, der auf religiös-        nationalen bei den zahlreichen gesamt-
zigartigkeit allein macht den Hungrigen      kulturelle Inhalte und Symbole selektiv       indischen Wahlen in den letzten 25 Jahren
nicht satt. Aufmerksamkeit erheischende      zurückgreift und von oben her einen Wer-      die Mehrheit der Wähler nicht von ihrem
Aktionen sind kein Ersatz für die Dinge      tekonsens erschaffen möchte. Er bietet für    Programm überzeugen. Es war, von 2014
des täglichen Lebens, die zu liefern die     die drängenden Probleme Indiens keine         abgesehen, stets eine Minderheit von ma-
indischen Wähler von den Hindunatio-         angemessene Lösung und liegt quer zur         ximal 25% der Wähler, die ihre Stimme
nalisten ebenso einfordern wie von allen     pluralistischen Verfassung der indischen      hindunationalen Parteien und Politikern
anderen Parteien.                            Gesellschaft. Ein nachhaltiger Erfolg der     gegeben haben. Bei den letzten Parla-
Alle Versuche, die nicht vorhandene Ein-     nach Uniformität strebenden Hindutva-         mentswahlen im Mai 2014 hat die BJP
heit zu postulieren und mit Inhalt auszu-    Bewegung wäre nur dann zu erwarten,           im Vergleich zu 2009 ihren Stimmenan-
füllen, wirken daher wenig überzeugend.      wenn es ihr gelänge, die vielfältigen         teil deutlich von 18,8 auf 31 Prozent der
Der gelebte Alltag des Hinduismus lässt      Lebensformen und religiös-kulturellen         abgegebenen Stimmen steigern können,
sich nicht mit dem Postulat eines unifor-    Identitäten der indischen Bevölkerung         der sich dann dank des herrschenden
men Hindutums in Einklang bringen. Die       zu homogenisieren – ein unrealistisches       Mehrheitswahlrechts in eine absolute
Idee eines homogenen Hindutums in einer      Vorhaben, das einer Art Kulturrevolution      Mehrheit in der Lok Sabha umgesetzt hat.
ebenso homogenen Hindunation – one           in der auf Jahrtausende zurückreichenden      Mithin haben trotz des äußerlich fulmi-
nation, one people and one culture – ist     Hindutradition gleichkäme.                    nanten Wahlsiegs der BJP bei den letzten
                                                                                           Wahlen zwei Drittel der Wähler nicht für
    NACHRUF                                                                                hindunationale Parteien und Politiker ge-
                                                                                           stimmt. Dies lässt für die nächsten Wahlen
                                                                                           im Jahr 2019 hoffen, denn viele Wähler,

Dr. Ronald Sequiera                                                                        das haben zahlreiche Umfragen vor und
                                                                                           nach der Wahl gezeigt, haben die BJP und

lebt nicht mehr                                                                            Modi nicht wegen der Hindutva-Ideologie
                                                                                           gewählt, sondern wegen der Erwartung,
                                                                                           dass nach der langen Phase der politischen
Einer der bedeutenden Persönlichkei-                                                       Stagnation unter der Congress-Regierung
ten des Deutsch-Indischen Dialogs,                                                         die Wirtschaft wieder in Schwung kom-
Dr. Ronald Sequira, verstarb am 7.Juni                                                     men, notwendige Reformen durchgesetzt
2016 in Geilenkirchen. Er war ein profi-                                                   und der allgemeine Lebensstandard sich
lierter Interpret der indischen Philoso-                                                   verbessern werden – allesamt sehr prag-
phie und Kultur und bemühte sich jahr-                                                     matische und handfeste Gründe jenseits
zehntelang den geistigen Reichtum                                                          einer reinen Hindutva-Ideologie. Und
Indiens hierzulande zu vermitteln.           vielfältigen indischen Philosophie und die    sollte die Regierung Modi nicht das lie-
                                             Förderung des Deutsch-Indischen inter-        fern, was sie in Aussicht gestellt hat, kann
Dr. Sequiera kam 1966 nach Deutschland       kulturellen Dialogs. Die Teilnehmer der       sich das Pendel sehr schnell in die andere
und promovierte 1970 in Religionsphilo-      Gesellschaft sind vornehmlich Gasthörer/      Richtung bewegen und die BIP aus dem
sophie bei Professor Dr. Karl Rahner an      innen und Seniorenstudierenden der Uni.       Amt fegen. Diese Erfahrung musste sie
der Münchner Universität. Danach war er      Köln Jeder kann an den Veranstaltungen,       schon einmal im Jahr 2004 machen.
einige Jahre als Kultur- und Religionshis-   die meistens am dritten Mittwoch eines        Kurzum: Es ist noch nicht aller Tage
toriker in Maastricht tätig. Von 1998 bis    jeden Monats in Köln stattfinden, teil-       Abend. Es gibt gute Gründe anzunehmen,
2007 hat Dr. Sequiera-Prabhu (so wurde       nehmen.                                       dass die indische Demokratie auch vor der
er später genannt) Vorlesungen zum The-      Als ein engagierter Förderer des Deutsch-     Herausforderung des Hindunationalismus
ma „Indische Philosophie“ im Institut für    Indischen Dialogs, war Dr. Sequiera auch      bestehen wird. Sie verfügt über genügend
Indologie und Tamilistik der Universität     ein großer Unterstützer der Zeitschrift       Flexibilität und Widerstandskraft, um
Köln gehalten. Zu seinen wichtigsten Pu-     „Meine Welt“. Seine kultur-interpretie-       extremen politischen Bewegungen und
blikationen zählen: „Gandhi für Christen“    renden Beiträge haben unsere Zeitschrift      Parteien gegenzusteuern und in die zen-
Freiburg 1987 und „Die Philosophien In-      bereichert. Hierfür sind wir ihm sehr dank-   tristische Grundströmung der indischen
diens“ Aachen 1996.                          bar. Uns wird bestimmt sein freundliches      Politik einzubinden. Die sprichwörtliche
2003 gründete er die Satyakama (Liebe        Lachen und bereitwillige Zusammenarbeit       multikulturelle Verfassung des Landes und
zur Wahrheit) Gesellschaft. Die Ziele die-   in der Zukunft fehlen.                        die gesunde Skepsis der Wähler gegenüber
ser Gesellschaft sind die Vermittlung der    J O S E P U N N A M PA R A M B I L            ihren Politikern bieten hierfür die beste
                                                                                           Gewähr.                                  j

8   MEINE WELT 2/2016
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband
I   DEUTSCHE IN INDIEN                     I

Drei Deutsche in Indien
Erfahrungen … Beobachtungen … Einsichten
Meine Welt hat immer wieder Beiträge von hier lebenden
Indern/Inderinnen über ihre Erfahrungen, Beobachtungen und
Einsichten im Bezug auf das Leben in Deutschland abgedruckt.
Nachfolgend drucken wir drei Interviews mit Deutschen,
die lange Jahre in Indien leben und zu Indien ein sehr enges
Verhältnis haben.
DIE REDAKTION

  INTERVIEW MIT DR. MARTIN KÄMPCHEN

„Nur wenn der Hinduismus politisiert wird, wird
er dynamisch und das heißt aggressiv, eng und
identitätsversessen.“

Meine Welt: Sie leben in Indien als deut-    lie schwer möglich gewesen wären. Als
scher Kulturjournalist und Buchautor seit    Einzelgänger habe ich es erreicht, ohne
über 40 Jahren. Was war Ihre anfängliche     Anstellung, freischaffend zu überleben
Hauptmotivation, für längere Zeit nach       und frei zu wählen.
Indien zu gehen?                             Der Nachteil ist jedoch, dass man als Ein-
                                             zelner in Indien nie ganz integriert ist. In-
Dr. Kämpchen: Als ich nach meinem Stu-       der sind Familien-orientierte Menschen
                                                                                             Martin Kämpchen. Geboren 1946, zog er 1973
dium nach Indien ging, wollte ich etwas      und vor allem als Familie und in Familien       als Deutschlektor nach Kalkutta und wohnt
Neues erleben, etwas, das mir Europa         kann man integriert werden.                     seit 1980 in Santiniketan (Westbengalen). Dort
nicht bieten kann. Schon als Student in      Jahrzehntelang schaute man mich mit Arg-        studierte er Religionswissenschaft und übersetzt
                                                                                             Rabindranath Tagore und Ramakrishna aus
Wien hatte ich drei Monate lang Indien       wohn an, weil man nicht wusste, warum ich       dem Bengalischen. Als Essayist und Wissen-
bereist und war überrascht und bewegt        so lange in Indien wohne. Meine deutschen       schaftler, als Herausgeber und durch Vorträge
über meine Erlebnisse.                       Bücher und Artikel verstand man nicht,          vermittelt er zwischen der indischen und der
                                                                                             deutschen Kultur, zwischen ihren Religionen
                                             meine Sozialarbeit in den Dörfern erschien
                                                                                             und Literaturen. Kämpchen schreibt regelmäßig
c Haben Sie heute, nach 40 Jahren, das       den Menschen ohne Motiv („Was hat er            für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen
Gefühl, dass Sie von den Einheimischen       davon?“) Erst als meine Übersetzungen           Zeitung.
voll akzeptiert werden? Oder fühlen Sie      von Tagore und Ramakrishna auch in In-
sich heute noch als Fremder in Indien?       dien bekannter wurden, als ich begann, auf      unintegriert bleiben. Es ist wichtig, krea-
                                             Englisch zu publizieren, zeigte man mir         tiver Einzelgänger zu sein und als solcher
Ich habe aus verschiedenen Gründen nicht     mehr Verständnis, man lud mich überall          einen gerechten Lebensstil zu suchen.
geheiratet, vor allem darum, weil ich mit    in Indien zu Vorträgen ein und integrierte
Familie niemals das hätte tun können, was    mich akademisch und als „public intel-          c Kann sich ein Deutscher nach Ihrer Mei-
ich anstrebte: erstens, als Schriftsteller   lectual“.                                       nung in das indische Leben integrieren?
selbstbestimmt zu existieren und zweitens    Andererseits muss ich gestehen, dass ich        Welches wären die Hauptschwierigkeiten?
ein soziales Werk unter den Menschen         auch in Deutschland früher und während
zu beginnen. Beides sind unsichere und       meiner Besuche nie voll integriert war und      Wie gesagt, mit Familie kann man sich als
experimentelle Tätigkeiten, die mit Fami-    bin. Kehrte ich zurück, würde ich weiterhin     Deutscher leichter integrieren. Vollständi-

                                                                                                                        MEINE WELT 2/2016   9
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband
I   DEUTSCHE IN INDIEN                       I

                                                                                               Wegen der Überbevölkerung wird weniger
                                                                                               Gewicht auf Umweltschutz und Menschen-
                                                                                               rechte gelegt als notwendig ist. Die Ver-
                                                                                               sorgung der Bevölkerung und der soziale
                                                                                               Friede gelten als vorrangig.

                                                                                               c Als Journalist waren Sie besonders an
                                                                                               kulturellen Themen interessiert. Befindet
                                                                                               sich Indien heute in einer Identitätskrise?
                                                                                               Wie erklären Sie den wachsenden Natio-
                                                                                               nalismus und die zunehmende Intoleranz
                                                                                               gegenüber Andersdenkenden im heutigen
                                                                                               Indien?

                                                                                               Die indische Bevölkerung hat dank der
                                                                                               modernen Medien immer mehr Vergleichs-
                                                                                               möglichkeiten bekommen. Dadurch ent-
                                                                                               steht Neid und Gier: „Was die anderen
                                             Martin Kämpchen arbeitet auf seiner Schreibma-    bekommen, will auch ich haben.“ Ich
ge Integration sollte man nicht anstreben,   schine auf der Veranda seines Lehmhauses in dem   glaube, der Nationalismus ist wesentlich
                                             Stammesdorf Ghosaldanga in der Nähe von Santi-
denn das hieße, auch die Schwächen und                                                         aus diesem Neid geboren; er ist also kein
                                             niketan ( Ende der 1980er Jahre)
Nachteile des indischen sozialen Lebens                                                        echter Nationalismus, der sagt „My country
anzunehmen.                                                                                    right or wrong!“, sondern er nährt sich
                                                                                               im Gegenteil aus einer inneren Abwehr
c Indien hat sich in den letzten 40 Jahren   schen und elektronischen Gebiet ist dage-         gegen die eigene Heimat. Vor die Wahl
gewaltig verändert. Wie beurteilen Sie die   gen atemberaubend und durchaus positiv.           gestellt, möchten viele lieber im Westen
Veränderungen wie zum Beispiel im gesell-    Ohne Fernsehen, Handy und Smartphone,             leben, anstatt sich in den indischen Met-
schaftlichen Leben, in der Demokratiepra-    Internet und Computer ist Indien nicht            ropolen abzukämpfen.
xis, bei der wirtschaftlichen Entwicklung    mehr denkbar. Das Internet dringt bis in          Der Nationalismus ist nicht zu verwech-
und bei der Haltungen zu Umweltschutz        den letzten Winkel des Landes vor. Keine          seln mit dem religiösen Fundamentalismus.
und Menschenrechten?                         andere Infrastruktur konnte sich so rasch         Der Hinduismus ist, so glaube ich, eine
                                             durchsetzen. Diese Modernisierung ist             zutiefst friedfertige Religion, eben auch
Die sozialen Spannun-                        auch notwendig, um die Menschenmas-               weil der Hinduismus durch das Kasten-
                                             sen zu „kontrollieren“ und den sozialen           wesen gesellschaftlich statisch angelegt ist
gen und die soziale                          Frieden zu sichern.                               und dieses Gefühl: „Jeder hat seinen Platz
Ungerechtigkeit haben
sich verschärft.
Das ist ein gewaltiges Thema. Die sicht-
barsten und einschneidensten Verände-
rungen sind Folge des Bevölkerungszu-
wachses, der Veränderungen auf allen
Ebenen des sozialen Lebens verursacht.
Die erbitterten Kämpfe um Agrarland, um
Wasser, um mehr und bessere Straßen und
insgesamt um eine bessere Infrastruktur,
um mehr und bessere Jobs, um ein besseres
und umfangreicheres Bildungs- und Ge-
sundheitssystem hängen mit der ausufern-
den Bevölkerung zusammen. Die sozialen
                                                                                               Deutscher Generalkonsul Plischka steckt Herrn
Spannungen und die soziale Ungerechtig-
                                                                                               Kämpchen das Bundesverdienstkreuz ans Hemd
keit haben sich verschärft.                                                                    (1999)
Die Modernisierung auf dem technologi-

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I    DEUTSCHE IN INDIEN                       I

im Gesellschaftsgefüge“, internalisiert ist.                                                     Wie lange ich mehrzeitlich in Indien ver-
Nur wenn der Hinduismus politisiert wird,                                                        bringe, kommt auch darauf an, wie schnell
wird er dynamisch und das heißt aggressiv,                                                       ich meine Mitarbeiter in den Dörfern in
eng, identitätsversessen. Die Politik inst-                                                      die vollkommene Eigenverantwortung
rumentalisiert die Religion zu gunsten des                                                       entlassen kann. Viel war möglich in den
Gewinnstrebens der Politiker. Das einfa-                                                         30 Jahren meiner Dorfarbeit, doch spüre
che Wahlvolk wird emotonal ausgebeutet.                                                          ich auch deutlich, und zwar ohne Eitelkeit,
                                                                                                 wie stark ich noch nötig bin, damit neue
c Schätzungsweise leben heute ca. 300                                                            Impulse gegeben und umgesetzt werden,
Millionen Inder/Inderinnen unter der                                                             damit Disziplin und Engagement einen
Armutsgrenze – etwa viermal so viele                                                             hohen Standard behalten.
wie die Bevölkerung der Bundesrepublik                                                           Mein persönliches Hauptproblem in Indi-
Deutschland. Was, nach Ihrer Meinung, ist                                                        en ist, dass ich seit 1973 auf ein indisches
die Hauptursache dieser weitverbreiteten                                                         Visum angewiesen bin. Immer wieder muss
Armut in Indien? Haben Sie Ideen zur                                                             ich meinen Aufenthalt neu rechtfertigen,
Lösung dieses Problems?                                                                          mir Fürsprecher suchen und Anträge stel-
                                                                                                 len – obwohl ich so viel für dieses Land
Die Armut ist, wie die Soziologen wissen,                                                        getan habe, auf kulturellem und sozialem
ein Verteilungsproblem, also ein Problem       Martin Kämpchen mit Amartya Sen in Santinike-     Gebiet. Es ist demütigend. Positiv gewen-
                                               tan (2016). In der Hand von Amartya Sen ist das
mangelnder Gerechtigkeit. Das Land                                                               det: es ist eine gute existentielle Übung,
                                               Buch „Rabindranath Tagore: One hundred years
könnte seine Bevölkerung ausreichend           of Global Reception“ (Herausgegeben von Martin    immer nur „Gast auf (indischer) Erde“
ernähren. Es ist aber auch ein Problem fal-    Kämpchen und Imre Bangha)                         zu sein.                                 j
scher Prioritäten. Wie der Wirtschaftswis-
senschaftler Amartya Sen immer wieder
betont, wird für das Bildungswesen und die
Gesundheitsvorsorge zu wenig investiert.
Man hat auf Industrie und Technologie          Was hatte der Vater von Albano-Müller
gesetzt und die Urbedürfnisse Nahrung,
Gesundheit und Bildung vernachlässigt.         mit Einstein und Gandhi zu tun?
Hier muss unbedingt eine andere Priori-
tätenliste entstehen.
                                               Der Vater der in Schwelm lebenden                 Brief kennen heute auch viele Kinder und
                                               indischen Kulturvermittlerin Albano-              Jugendliche aus Schwelm und den Nach-
c Herr Kämpchen, Sie leben in Indien
                                               Müller hieß V. A. Sundaram. Nachfol-              barstädten. Denn eine Kopie des Briefs
alleine, teilweise in Santiniketan und teil-
                                               gend steht ein Auszug aus dem Beitrag             hängt gerahmt im Hausflur von Hauptstra-
weise in dem Santaldorf Ghosaldenga. Wo
wollen Sie Ihren Lebensabend verbringen,       „Als Ehrengast zur Filmpremiere in                ße 16 in Schwelm, wo Saraswati Albano-
in Indien oder in Deutschland? Warum?          Israel“, der in der Westfalenpost von             Müller seit 50 Jahren lebt. In dieses Haus
                                               27.05.2016 erschien, in dem über eine             hat sie über Jahrzehnte junge Menschen
Im Augenblick wohne ich etwa neun Mo-          Begegnung von Sundaram mit Einstein               aus Stadt und Region eingeladen, um sie
nate des Jahres in Indien. Ich möchte so       berichtet wird                                    mit indischer Kultur vertraut zu machen
lange wie möglich mindestens das halbe                                                           und ihnen die Scheu vor dem Fremden zu
Jahr in Santiniketan verbringen. Die Hitze     Sundaram war von Gandhi nach Europa               nehmen. Ganze Schulklassen haben im
und die Luftfeuchtigkeit machen mir zu         geschickt worden, um hier die Ideen des           Flur der alten Schwelmer Villa vor dem
schaffen, doch bisher ist meine Gesundheit     indischen Freiheitskampfes bekannt zu             Brief Einsteins gestanden und sich von
recht stabil geblieben. Wenn ich einmal
                                               machen. Einstein ließ sich von ihm zwei           der gebürtigen Inderin über Mahatma
mehr gesundheitliche Versorgung und
                                               Stunden lang berichten, griff dann zu Pa-         Gandhi, Einstein und ihrem Vater V. A.
ein „leichteres“ Leben brauche, ohne
                                               pier und Stift und formulierte einen Brief        Sundnaram erzählen lassen. „Junge Men-
die ständigen Alltagsprobleme in Indien,
                                               der Anerkennung an Gandhi: „Sie haben             schen brauchen Vorbilder“, erklärt sie ihre
dann werde ich mich in Boppard, meinem
Heimatort in Deutschland, zurückziehen;        durch Ihr Wirken gezeigt, dass man ohne           Motivation. „Gandhi, Einstein und auch
dort habe ich eine kleine Mietwohnung          Gewalt Großes (……) durchsetzen kann.“             mein Vater praktizierten die gleichen Wer-
in meinem (verkauften) Elternhaus. Ich         Den Brief übergab er Sundaram, der ihn            te von Achtung und Gemeinsamkeit aller
werde mit einer schmalen Rente hoffent-        zurück zu Gandhi brachte. Gerade diesen           Menschen und Religionen untereinander“.
lich auskommen.

                                                                                                                        MEINE WELT 2/2016   11
I   DEUTSCHE IN INDIEN                    I

     INTERVIEW MIT G. A. GOPAL

„In den fünf Jahren, die ich hier lebe, habe
ich nicht das Gefühl, dass sich hier viel
verändert hat, aber das Aufbrechen von
alten Strukturen geht überall sehr langsam
vonstatten.“

Meine Welt: Sie leben in Indien seit über     In England dann hatte
5 Jahren mit Ihrem indischen Mann und         ich nach und nach immer
einem Sohn. Was hat Sie dazu getrieben, für   mehr indische Freunde,
längere Zeit nach Indien zu gehen?            was nicht ausbleibt, da
                                              so viele Inder in London
Frau Gopal: Indien war für mich, in meinen    leben. Das bewog mich
Gedanken und Plänen, schon seit meiner        dazu, in einem indischen
Jugend präsent. Es war ein Ort, den ich       Kulturzentrum, dem Bha-                        Frau G. A. Gopal wuchs in Deutschland auf und ging
gerne irgendwann einmal sehen und ken-        ratya Vidya Bhavan, klassischen indischen      dort zur Schule. Studium als Übersetzerin und Dol-
nenlernen wollte.                             Tanz und schließlich Hindi zu lernen. Somit    metscherin. Arbeitete in Mexiko, Italien, der Schweiz
                                                                                             und zuletzt in Großbritannien. Vor 5 Jahren zog sie
Meine Eltern sind viel mit uns, mit mir       nahm die Idee, endlich einmal Indien zu        nach Indien, heiratete einen Inder und lebt dort mit
und meinem jüngeren Bruder, gereist, aber     besuchen, Formen an.                           Mann und einem Sohn. Sie eröffnete eine Sprachschule
immer nur in Europa. Sie haben uns aber       Das habe ich dann in die Tat umgesetzt         und unterrichtet dort Fremdsprachen. Sie gibt auch
                                                                                             Firmenkurse, bietet Übersetzungs- und Dolmetscher-
so den Horizont enorm erweitert und das       mit vielen Adressen von Freunden meiner
                                                                                             dienste an und ist als Prüferin am Goethe Institut tätig.
Interesse an anderen Orten, Kulturen und      Freunde, die ich in Indien besucht habe,       Sie spricht viele europäische Sprachen wie Italienisch,
Sprachen geweckt. Ich habe natürlich in       und daraus ergaben sich wieder neue            Französisch, Spanisch, Portugiesisch etc. und hat
der Schule Englisch gelernt, aber dann        Freundschaften.                                auch einige indische Sprachen wie Hindi, Kannada,
                                                                                             Tamil und Malayalam inzwischen gelernt.
auch recht früh in Eigeninitiative Fran-      Als ich das erste Mal den Fuß auf indischen
zösisch, Italienisch und Spanisch.            Boden setzte, hatte ich das Gefühl, dass
In der Schule hatte ich dann eine indische    alles sehr vertraut war, kein Kulturschock,    Zeit in Indien verbringen wollte, bin ich
Freundin, und ich war manchmal bei ihr        kein Entsetzen, ich fühlte mich ein bisschen   gar nicht mehr nach Hause zurückgefah-
zu Hause. Ihre Mutter trug oft einen Sari     so, als komme ich nach Hause, ein Ort, an      ren, sondern gleich in Indien geblieben.
und es gab indisches Essen, und ihr Va-       dem ich mich einfach und mit einem Ge-         Seitdem lebe ich hier.
ter kam einmal zu uns in die Schule und       fühl großer Sympathie integrieren konnte.
berichtete über Indien.                       Nach diesem ersten Besuch habe ich alle        c Fühlen Sie sich von den Einheimischen
Allerdings nahm mein Leben dann eine          meine Urlaube in Indien verbracht, drei-       Indern/Inderinnen akzeptiert? Wie verlief
andere Wendung und ich ging nach Italien,     mal im Jahr, und verschiedene Regionen         Ihre Integration in die indische Gesell-
um zu studieren, und danach folgte ich        bereist. Damals formte sich der Gedanke,       schaft?
einfach dem, was sich mir auf meinem Weg      vielleicht in Indien, wenigstens erst ein-
präsentierte, Rückkehr nach Deutschland,      mal für eine Zeit lang, leben zu können.       Da ich Indien immer sehr mochte, ob-
einen festen Job, dann durch den Job die      Ich habe dann daraufhin versucht, in In-       wohl es natürlich auch zwischenzeitlich
Möglichkeit in Mexiko zu arbeiten, wie-       dien einen Job zu bekommen in meinem           sehr schwierig war, denn es ist ja immer
der Rückkehr nach Deutschland und neue        Arbeitsbereich, was auch durchaus eine         anders in einem Land zu reisen und in
Jobangebote in der Schweiz, Italien und       machbare Möglichkeit gewesen wäre.Aber         einem Land dann endgültig zu leben, habe
schließlich in England. Indien war also et-   während einer meiner Reisen besuchte           ich mich relativ mühelos an lokale Ge-
was von meinem Radar verschwunden, und        ich ein NGO-Projekt, das ich finanziell        gebenheiten anpassen können, zumindest
ich war damit beschäftigt, meine Karriere     unterstützt hatte, und lernte dort meinen      an das, was augenscheinlich ist. Ich trage
aufzubauen. In der Zeit hatte ich aber an-    indischen Mann kennen. Wir beschlossen         indische Kleidung, was ich seit meinem
gefangen, mich mit Yoga zu beschäftigen,      relativ schnell, dass wir unser Leben mit-     ersten Aufenthalt tue, da sie nicht nur gut
und in Folge dessen mit indischen Schriften   einander verbringen wollten, und haben         aussieht, sondern auch sehr bequem ist, be-
und Philosophie. Somit war Indien langsam     dann geheiratet. Da ich zu der Zeit sechs      sonders bei dem meistens warmen Wetter.
wieder interessant geworden.                  Monate freigestellt war und eine längere       Ich esse indisches Essen, ich gehe gerne in

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I   DEUTSCHE IN INDIEN                    I

den Tempel, da ich die Atmosphäre dort          her Bescheid zu sagen, und dann erwar-         se, mit Konflikten umzugehen, in Indien
sehr inspirierend finde, und, was sehr wich-    tet, dass der Gastgeber sich um einen          werden Konflikte bestmöglich ignoriert,
tig ist, ich habe mir die Mühe gemacht,         kümmert, egal wie beschäftigt dieser ist.      in Europa werden sie ausdiskutiert.
vier indische Sprachen zu lernen. Hindi         Viele verstehen auch unsere Situation als      Manchmal ist es sehr frustrierend in Indien
konnte ich ja schon ein bisschen, Tamil         Kleinfamilie und meine als arbeitende          zu leben, wenn nichts funktioniert oder die
hatte ich auch in London schon angefangen       Mutter und Geschäftsfrau ohne jegliche         Menschen so unflexibel oder unsensibel
zu lernen, hinzu kam dann Malayalam,            Familienunterstützung oder mehr Unter-         oder von ihrer begrenzten Weltsicht so
die Muttersprache meines Mannes, und            stützung im Haushalt nicht (ich habe nur       überzeugt sind, und deshalb vermeidbare
Kannada, da wir in Karnataka wohnen.            eine Putzfrau). Hier leben doch die meisten    Kleinigkeiten zu großen Schwierigkeiten
Das hat mir große Akzeptanz und Bewun-          in einer größeren Familienstruktur. Oder       werden, oder wenn man nicht verstanden
derung eingebracht.                             zumindest ist ein Teil der Familie in der      wird. Aber Probleme mit der Außenwelt
Natürlich waren meine Schwiegereltern,                                                         im Alltag gibt es in jedem Land.
oder besser meine Schwiegermutter, zu-          Freundschaften, wie wir
nächst nicht begeistert, dass ihr Sohn eine                                                    c Hat Indien sich verändert in den Jahren
Ausländerin heiraten wollte, was in Indien
                                                sie kennen, sind nicht                         Ihres Aufenthaltes dort? Wenn ja, wie?
immer noch nicht gängig ist, selbst Ehen        so gängig und Privates
zwischen verschiedenen Kasten werden                                                           Ich finde die Frage danach, wie ¸Indien’
weitläufig nicht akzeptiert. Aber generell
                                                wird meistens nur in der                       ist, immer falsch. Denn Indien gibt es ei-
sind meine Schwiegereltern sehr tolerant,       Familie besprochen.                            gentlich nicht. Es gibt so viele Regionen,
und wir haben ein sehr herzliches Verhält-                                                     Menschengruppen, Ethnien, Religionen,
nis. Wir werden auch immer noch manch-                                                         Sprachen, Klassen, Lebensumstände (kom-
mal gefragt, wie es denn komme, dass wir        Nähe, um sich gegenseitig zu unterstützen,     plett unterschiedlich in der Stadt und auf
geheiratet haben, aber wenn die Leute           oft haben sie auch eine oder mehrere fest      dem Land und auch oft in Nord- und Süd-
sehen, dass ich in der lokalen Sprache ant-     angestellte Haushaltshilfen (die natürlich     indien), und natürlich auch Menschen als
worten kann, hören die Fragen schnell auf.      nicht besonders gut bezahlt werden). Unser     Individuen, dass die Frage nach Indien
Vieles hat sich auch geändert, seit wir ein     Familienmodell ist doch sehr westlich oder     falsch gestellt scheint.
Kind haben. Anfänglich dachten die Leute        besser gesagt unindisch, das hat etwas mit     Was man nicht vergessen darf, Indien ist
oft, mein Mann sei mein Touristenführer.        Privatsphäre zu tun und auch damit, dass       ein sehr altes und traditionelles Land, und
Als Familie ist die Akzeptanz größer. Eine      ich gerne ein angemessenes Gehalt bezah-       Dinge ändern sich sehr langsam. Viele
große Rolle hat aber die Sprache gespielt       len möchte. Privatsphäre ist grundsätzlich     Menschen haben ihren Heimatort noch
und wie ich mich präsentiere, nämlich in-       unbekannt, was anders ist als in anderen       nie verlassen. Wenn man sie z. B. nach
disch, nur mit anderer Hautfarbe.               asiatischen Ländern. Und der Kontakt           einem bekannten Ort irgendwo anders
Heutzutage schaut mich auch meistens            zu anderen Menschen definiert sich oft         in Indien fragt, wissen sie nicht, wo das
niemand mehr schief an. Viele halten mich       über ein Bedürfnis, einen Gefallen, den        ist, geschweige denn im Ausland, auch
für eine Nordinderin. Es kommt aber hier        man vom anderen möchte, ein Geschäft           junge Leute, die die Universität besucht
und da vor, vor allem in ländlichen Ge-         sozusagen. Schwierig war es auch Freunde       haben. Die meisten meiner Schüler (um
genden oder in der Gegenwart von Leu-           zu finden. Freundschaften, wie wir sie ken-    die zwanzig Jahre alt und mehr) waren
ten, die nicht weit aus ihrem begrenzten        nen, sind nicht so gängig und Privates wird    noch nie im Ausland oder in einer anderen
Lebensraum herausgekommen sind, dass            meistens nur in der Familie besprochen.        Region, d. h. die Perspektive des Großteils
ich angestarrt werde. Und wieder, wenn          Leute haben Freunde wohl meistens aus          der Menschen ist sehr begrenzt.
ich dann in der lokalen Sprache antworten       der Schule oder der Uni, danach spielt         Teilweise leben die Menschen auf dem
kann, ist die Reaktion meistens sehr positiv.   sich das Leben mehr in der Familie ab.         Land noch wie vor hunderten von Jahren,
Da ich arbeite, ich habe eine Sprachschule      Freizeitaktivitäten gibt es auch nicht vie-    ohne Elektrizität, ohne landwirtschaftli-
und gebe Firmenkurse, bin ich auch zu-          le. Ich habe mich manchmal sehr einsam         che Maschinen, in festen gesellschaftlichen
mindest in meiner Stadt sehr bekannt, und       gefühlt, vor allem in Krisensituationen.       Strukturen.
die Leute wissen es zu schätzen, dass ich       Auch der Humor ist ganz anders. Ironie         Es gibt auch einen großen Unterschied zwi-
indischen Schülern die Möglichkeit ge-          und Sarkasmus werden gemeinhin nicht           schen dem Stadtleben und dem Landleben.
ben kann, etwas zu lernen und beruflich         verstanden. Aber mein Mann hat meine           In der Stadt vollziehen sich Veränderun-
weiterzukommen.                                 Schwierigkeiten schließlich verstanden         gen wesentlich schneller, die Großstädte
Natürlich habe ich auch Schwierigkeiten,        und bemüht sich, für mich unangenehme          werden kosmopolitischer, es gibt dort
wie z. B. fehlende Zeitplanung oder die         Situationen nicht aufkommen zu lassen.         auch viele Ausländer, die hier arbeiten
Vorstellung, dass man jederzeit mit einer       Natürlich hatten wir auch viele Missver-       oder mit Indern verheiratete sind. Und
unbegrenzten Personenzahl bei anderen           ständnisse, die kulturell bedingt waren, oft   natürlich internationale Firmen, die die
Leuten vorbeikommen kann, ohne vor-             auch aufgrund einer anderen Art und Wei-       Globalisierung beschleunigen.

                                                                                                                      MEINE WELT 2/2016   13
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