Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs - Diözesan-Caritasverband
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I I Heft 2 Jahrgang 33 Herbst 2016 Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs Herausforderung des Hindu Nationalismus · Drei Deutsche in Indien: Interviews · Das Geld der Migranten · Inderinnen in Deutschland: Porträt und Interview · Erzählung · Gedichte · Buchrezensionen · Tagungsbericht etc.
I I N H A LT I Editorial.........................................................................................................................3 Herausgeber Indien als Hindusthan? Die indische Demokratie vor der Diözesan-Caritasverband Herausforderung des Hindunationalismus ...............................................................4 für das Erzbistum Köln e.V. Clemens Jürgenmeyer Abteilung Integration und Migration Georgstr. 7, 50676 Köln Drei Deutsche in Indien Tel. 0221/2010-287 1. Nur wenn der Hinduismus politisiert wird, wird er dynamisch www.caritasnet.de und das heißt agressiv, eng und identitätsversessen ................................................9 Vertreter des Herausgebers: Dr. Martin Kämpchen Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV E-Mail: heinz.mueller@caritasnet.de 2. In den fünf Jahren, die ich hier lebe, habe ich nicht das Gefühl, dass sich hier viel verändert hat, aber das Aufbrechen von alten Redaktion: Strukturen geht sehr langsam überall vonstatten. ................................................12 Jose Punnamparambil (verantwortlich), G. A. Gopal Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224 / 7 53 17 E-Mail: punnam@t-online.de 3. Inder und Deutsche sind in Lebensweise und Denkart grundverschieden.....16 Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln, Rainer Hörig Tel. 02203 / 2 26 54; E-Mail: tchakkiath@yahoo.de Mahasweta Devi ist tot..............................................................................................18 Nisa Punnamparambil, Jose Punnamparambil Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224/9897690; E-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de Zum Tod von Mahasweta Devi ................................................................................19 Dr. Hans-Martin Kunz Georgy Koottummel, Dürener Str. 12, 53332 Bornheim, Email: koottummel@web.de Mahasweta Devi gestorben.......................................................................................20 Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Martin Kämpchen Walter Meister, Öhringen Stiften ist eine runde Sache ..................................................................................... 21 Unterstützung und Beratung: Dr. George Arickal Pater Ignatius Chalissery, Köln; Dr. Urmila Goel, Berlin; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Ich pflege so, wie ich später selbst gerne gepflegt werden möchte.......................24 Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Walter Meister, Öhringen; Annamma Francis Pfarrer Dariusz Glowacki, Königswinter; Das Geld der indischen Migranten ..........................................................................25 Dr. Claudia Warning, Lohmar Irudaya Rajan Gestaltung und Satz: Alexander Schmid, Nohn Das Lied zum Abschied einer Frau .........................................................................27 Mrinal Pande Layout: Jose Punnamparambil; Jose Ukken Indien braucht ein modernes Bildungssystem, das die Kreativität fördert ........34 Herstellung und Vertrieb: Dr. Pappachan Kolattukudy Jose Ukken, Im Rheingarten 21, Gandhis Enkel Kanubhai und seine Frau Shiva Laxmi 53639 Königswinter, Tel. 02223 / 49 49; E-Mail: joseukken@googlemail.com kehrten zurück aus den U.S.A. .................................................................................36 Druck: Religionen eines Welt-Dichters – Rabindranath Tagore.......................................37 Siebengebirgs-Druck, Arnold Köpcke-Duttler Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef Jahrzehnte des Ankommens .....................................................................................39 Erscheinungsweise: dreimal jährlich Antje Stiebitz Eine Spende von mindestens 13 Euro wird von den Lesern erwartet. Jose Punnamparambil feiert seinen 80. Geburtstag .............................................41 IBAN-Nr. : DE 08 370 20500 000106 3205, Dr. Ajit Lokhande BIC: BFSWDE33XXX Diözesan-Caritasverband Köln Gedichte ......................................................................................................................42 Abdul Rahman Rahi, Gulam Mohammed Sheikh, Surjit Patar, Nilim Kumar Literatur der Adivasi .................................................................................................44 Titelbild Reinhold Schein „Der Baum und der Vogel“ von Durga Bai Vyam (Siehe Seite 25) Das gemalte Werk von Rabindranath Tagore.........................................................45 Georg Lechner Rückseite „Auf den Spuren von Gandhi“ – Anja Bohnhof Ein Familienroman voller Spannung ......................................................................47 Rüdiger Sareika 2 MEINE WELT 2/2016
I EDITORIAL I Inder in Deutschland – Deutsche in Indien Ich bin im November 1966 nach gen gründen, auch Indien baute seine Die meisten der Inder/Inderinnen der Deutschland gekommen. Damals Geschäftsbeziehungen mit Deutsch- ersten Generation haben ein eigenes war ich 30 Jahre alt. Es lebten ca. land beträchtlich aus und gründete Haus oder eine Eigentumswohnung. 15000-20000 Inder/Inderinnen in hier Niederlassungen und Vertretun- Sie haben einen Lebensstandard ver- Westdeutschland. Die meisten von gen. Heute beträgt die Zahl dieser gleichbar mit dem der Deutschen, die ihnen waren Studenten, es gab aber Stellen mehr als 120. Es kamen viele zur oberen Mittelschicht gehören. Die auch einige junge Mädchen, die zur Inder/Inderinnen hierher, um bei die- Mehrzahl ihrer Kinder sind Ärzte, Ausbildung als Krankenschwester sen Geschäftsstellen tätig zu werden. Ingenieure oder in führenden Positio- hierher kamen. Mit der Zeit stieg die Um den Fachkräftemangel im Bereich nen in der Industrie, Verwaltung oder Zahl derjenigen, die zur Ausbildung Informationstechnologie zu begegnen, Bildungseinrichtungen tätig. Eine gro- als Krankenschwester kamen auf ca. hat Deutschland viele IT-Fachleute aus ße Zahl von ihnen ist mit Deutschen 5000. Die große Mehrheit von ihnen Indien rekrutiert. Sie kamen für be- verheiratet und führt ein bi-kulturelles heiratete dann Männer aus Kerala und grenzte Zeiten nach Deutschland mit Leben. brachte sie nach Deutschland mit. Sie Familie. Die Zahl solcher indischen In den 1980er und 1990 Jahren führ- gründeten hier Familien und Kinder IT-Fachleute liegt heute schätzungs- ten die Inder/Inderinnen der ersten wurden geboren. Viele der Studenten weise über 4000. Hinzu kommen die Generation ein aktives Vereinsleben. blieben nach Beendigung des Studi- indischen Studenten, deren Zahl in In der letzten Zeit merkt man schon, ums in Deutschland, heirateten und den ersten 10 Jahren des 21. Jahrhun- dass das Interesse an Vereinsaktivi- gründeten Familien. Ihnen wurden derts alarmierend niedrig war. Durch täten nachlässt. Die Mitgliederzahl auch Kinder geboren. So wuchs die Umstrukturierung des universitären rutscht nach unten. Früher war das indische Gemeinschaft hier langsam. Bildungsangebots und durch erfolgrei- Mülheimer Seminar der jährliche che Werbung hat Deutschland erreicht, Treffpunkt für viele Inder/Inderinnen Anfang der 1960er Jahre kamen vie- dass viele junge indische Studenten/ aller Schattierungen. Heute existiert le junge katholische Mädchen nach Studentinnen heute stark daran inte- das Seminar nicht mehr. Auch die Deutschland, um hier in ein deutsches ressiert sind, in Deutschland ein Stu- Deutsche Kalkutta Gruppe stellte ihre Kloster einzutreten. Etwa 15 deutsche dium zu absolvieren. Die fördernde Aktivität ein, nach fast 40-jähriger Ordensgemeinschaften haben damals Lockerung der Kreditvergabebedin- Arbeit zu Gunsten von Menschen in indische Aspirantinnen aufgenommen, gungen zum Zweck des Studiums im Kalkutta und Umgebung. Auch der um das Problem fehlenden Nach- Ausland seitens der Banken in Indien größte bilaterale Freundschaftsverein wuchses in den Griff zu bekommen. hat auch eine Rolle gespielt, viele jun- in Deutschland, die Deutsch-Indische Später kamen viele fertige, beruflich ge Inder/Inderinnen zu verlocken, in Gesellschaft, befindet sich auf einer ausgebildete Ordensschwestern nach Deutschland ein Studium zu absolvie- Talfahrt. Die Mitgliederzahl rutscht Deutschland, um hier in Kranken- ren. So studieren heute fast 12 Tausend schnell nach unten – von 3700 Mit- häusern und Altenheimen tätig zu Inder/Inderinnen in Deutschland. gliedern bis vor 10 Jahren ist sie heute werden. Heute beträgt die Gesamtzahl So beträgt die indische Gemeinschaft vielleicht auf ca.2500 geschrumpft. Das der indischen Ordensschwestern in in Deutschland heute um 120.000 Per- Interesse der 2. Generation an solchen Deutschland ca. 2000. Auch im seel- sonen, die Hälfte davon mit deutscher Vereinsaktivitäten ist äußerst gering. sorgerischen Bereich der katholischen Staatsbürgerschaft. Fast alle der Inder/ Auch das Interesse der jungen Deut- Kirche herrschte eine Art Notstand we- Inderinnen der ersten Generation, die schen am deutsch-indischen Vereinsle- gen fehlendem Nachwuchs. So kamen nach Deutschland in den 1960er und ben hält sich in Grenzen. Es kommen ausgebildete Priester aus dem Aus- 1970er Jahren kamen, befinden sich aber noch Menschen zu traditionellen land, ihre Zahl heute beträgt ca. 2300. heute im Ruhestand. Die meisten ihrer Festen wie Onam (bei Keralesen) oder Davon sind 30% (ca. 600) indische Kinder haben eine akademische Aus- Durga Puja ( bei Bengalis). Vielleicht Priester, die in Pfarreien und anderen bildung, einige waren aber zufrieden sind die Inder/Inderinnen der zweiten Seelsorgebereichen tätig sind. mit einer Berufsausbildung. Sie sind und dritten Generationen so integriert, Mit der Globalisierung und Liberali- berufstätig, haben Familien gegründet dass sie ein Leben führen wie ein deut- sierung der indischen Wirtschaft wuchs und ihre Kinder wachsen heran. Sie scher Normalbürger. die deutsch-indische Wirtschaftsbezie- leben hier angepasst und integriert, Die Inder/Inderinnen der ersten Ge- hung kräftig. Viele neue deutsche Fir- versuchen aber ihre kulturelle Identität neration haben viel geleistet, um das men konnten in Indien Niederlassun- zu pflegen und zu bewahren. eigene Leben hier aufzubauen und MEINE WELT 2/2016 3
I POLITIK I ihre Geschwister, Verwandte und Freunde in der Heimat unter die Arme Indien als Hindusthan? zu greifen. Sie haben auch einen Teil ihrer Ersparnisse in Indien investiert mit dem Hintergedanken, später mit Eintritt in den Ruhestand nach Indi- Die indische Demokratie vor der Herausforderung en zurückzukehren und dort auf der des Hindunationalismus Basis dieser Investitionen bequem zu leben. Die meisten Ersparnisse sind in CLEMENS JÜRGENMEYER Grundstücken und Häusern investiert. Da die große Mehrzahl der Inder/In- derinnen sich jetzt entschieden hat, den In Indien herrscht seit Mai 2014 eine hin- Gelehrte und Vizekanzler der Karnataka- Abend ihres Lebens hier in Deutsch- dunationale Regierung unter Premiermi- Universität M. M. Kalburgi auf heimtü- land mit Kindern, Enkelkindern und nister Modi, nachdem die Bharatiya Janata ckische Weise in seinem eigenen Haus indischen sowie deutschen Freunden Party (BJP) aus den Parlamentswahlen als erschossen. Ihm wird vorgeworfen, den zu verbringen, werden sie nunmehr überlegener Sieger hervorgegangen war. hinduistischen Glauben in den Dreck ihre Häuser, Grundstücke, Aktien etc, Seither häufen sich die Klagen über die gezogen zu haben. in Indien verkaufen und entsprechen- zunehmende Intoleranz und Aggressivität c An der Jawaharlal-Nehru-Universität de Devisen nach Deutschland brin- hindunationaler Aktivisten, die mitunter in New Delhi wird am 12. Februar 2016 der gen. Die Kinder und die Enkelkinder rabiat gegen Andersdenkende vorgingen Studentenführer Kanhaiya Kumar ohne werden dieses Vermögen erben. Eine und dabei auch nicht vor tödlichen At- Haftbefehl festgenommen und unter dem kleine Anzahl von Indern hat ihr Ver- tacken zurückschreckten. Grundlegende Vorwurf der Aufwiegelei und antinatio- mögen in Stiftungen umgewandelt, um Bürgerrechte wie Meinungs-, Versamm- naler Umtriebe inhaftiert. Die Festnahme mit den Erträgen caritative oder ent- lungs- und Religionsfreiheit seien bedroht. erfolgt auf der Basis eines alten Gesetzes wicklungspolitisch relevante Projekte Die Times of India spricht sogar von einem aus der britischen Kolonialzeit. Immerhin in Indien zu unterstützen. soft fascism, der sich in Indien breit ma- wird Kumar einige Zeit später aufgrund So weit also die Zustandsbeschreibung che. In der Tat haben sich in der jüngeren eines Gerichtsbeschlusses wieder auf frei- der kleinen „Indian Community“ in Vergangenheit beunruhigende Ereignisse en Fuß gesetzt. Deutschland. Es gibt aber auch einige zugetragen, wie die folgenden drei Bei- Indiens säkulare demokratische Verfasst- Deutsche, die lange in Indien leben. spiele zeigen: heit wird ohne Zweifel durch hindunati- Wie verläuft ihr Leben dort, welche Integrationserfahrungen haben sie dort gemacht, welche Einsichten haben Die indische Tradition des argumentativen Austauschs, sie im Laufe der Zeit gewonnen? – der religiösen und kulturellen Vielfalt und somit das diese und ähnliche Fragen haben wir an drei Deutsche, die lange in Indien säkulare und demokratische Indien werden – so meine leben, gestellt. Ihre aufschlussreichen These – Bestand haben und der Herausforderung des Antworten können Sie in diesem Heft lesen. Hindunationalismus gewachsen sein. Ansonsten finden Sie in diesem Heft wie immer viele interessante Beiträge c Am 28. September 2015 lynchen auf- onale Politiker und Aktivisten herausge- zu Themen wie „Literatur“, „Migrati- gebrachte Hindus in dem Dorf Bisara in fordert. Auch die kulturelle Vielfalt des on“ etc. Ihre besondere Aufmerksamkeit Uttar Pradesh einen Muslim und verletzen Landes wird in Frage gestellt. Es erhebt bitten wir für den Beitrag „Stiften ist eine seinen Sohn schwer, weil beide angeblich sich die Frage, ob diese Bedrohung existen- runde Sache“ von George Arickal, der Rindfleisch verzehrt und damit gegen das tieller Natur ist und die hindunationalen über drei Inder in Deutschland berichtet, Verbot des Schlachtens von Kühen ver- Kräfte Indien zu einem Hinduland, zu die ihr Vermögen zur Unterstützung der stoßen hätten. einem Hindusthan, umformen können. „Andheri-Hilfe“ gestiftet haben. c In Dharwad im Bundesstaat Karnata- Warnende Stimmen gibt es zuhauf in der ka wird am 30. August 2015 der bekannte indischen Öffentlichkeit, viele reden sogar Herzlichst Ihr von einem sich ausbreitenden Faschismus. J O S E P U N N A M PA R A M B I L Auch in den letzten Ausgaben von Meine Clemens Jürgenmeyer ist wissenschaftlicher Welt äußerten mehrere Autoren ihre Be- Mitarbeiter des Arnold Bergsträsser Instituts der Uni. Freiburg. Schwerpunkt seiner Forschung: sorgnis über die aktuelle Situation. Indien und Südasien, Entwicklungspolitik. Es gibt jedoch grundlegende Elemente 4 MEINE WELT 2/2016
I POLITIK I der indischen Gesellschaft, die dieser eher das Hindutum, sei die nationale Identität formuliert und von der BJP in dem Slo- pessimistischen Einschätzung der Lage Indiens. Muslime und andere Minoritäten gan „One Nation, One People and One entgegen stehen und sich dem hinduna- seien der indischen Nation fremd. Die in- Culture“ eingängig verdichtet. So wird tionalen Gesellschaftsentwurf wie seiner nere Einheit der Hindus speise sich aus die indische Nation hinduisiert und der Politik weitgehend entziehen. Sie erlauben, der homogenen Hindukultur, die auf Hinduismus nationalisiert. ein optimistisches Bild der Entwicklung der Gemeinsamkeit des Territoriums, Diese Vorstellung einer gemeinsamen zu zeichnen, wie es zum Beispiel Amartya der Abstammung und der Kultur beruhe territorialen, genealogischen und kultu- Sen oder Mark Tully getan haben (s. Mei- und seit ewigen Zeiten bestehe. Ober-stes rellen Basis der Hindunation bildet also ne Welt 1, 2016, S. 6f.). Ich schließe mich Ziel hindunationaler Politik ist die Wie- den Kern der Ideologie und Politik des diesen Einschätzungen an. Die indische dererrichtung einer starken Hindunation, Hindunationalismus. Zunächst in Reak- Tradition des argumentativen Austauschs, des alten, reinen und wahren Hindutums. tion auf den britischen Kolonialismus ent- der religiösen und kulturellen Vielfalt und Diese Hindutva-Ideologie wurde in ihrer standen, gründet er auf dem Gefühl der somit das säkulare und demokratische In- klassischen Form bereits 1923 von dem eigenen Unterlegenheit und in der Angst, dien werden – so meine These – Bestand Brahmanen V. D. Savarkar (1883–1966) nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein haben und der Herausforderung des Hin- dunationalismus gewachsen sein. Geschichte Die Ursprünge des Hindunationalismus Deutschland als Entwicklungsland! reichen bis 1875 zurück, als die neo-hin- duistische Organisation Arya Samaj (Ge- Ashok-Alexander Sridharan sellschaft der Arier) gegründet wurde. Im über Agenda 2030 und ihre Jahr 1915 entstand dann die Hindu Ma- Herausforderung für Deutsch- hasabha (Große Vereinigung der Hindus) land und die UN-Stadt Bonn und 1925 folgte die elitäre Kaderorganisa- tion Rashtriya Svayam-sevak Sangh (RSS, Nationale Freiwilligenunion), die bis auf Seit 21.Oktober 2015 ist Ashok-Alexan- den heutigen Tag das organisatorische und der Sridharan Oberbürgermeister der ideologische Rückgrat des Hindunationa- Stadt Bonn. Er wurde 1965 den Eltern lismus bildet. Die Bharatiya Janata Party Doraiswamy und Margret Shridharan wurde 1951 unter dem Namen Bharatiya in Bonn geboren. Vor seinem Amtsan- Jan Sangh (Indische Volksunion) gegrün- tritt als Oberbürgermeister in Bonn det und im Jahr 1980 umbenannt. Weitere war er Stellvertretender Bürgermeister wichtige hindunationale Organisationen von Königswinter und Dezernent für sind u.a. die Vishva Hindu Parishad (VHP, Finanzen, Personal, Organisation, IT Rat aller Hindus; gegr. 1964) und deren und Controlling. Seine Eltern engagie- Jugendorganisation Bajrang Dal (Truppe ren sich in Indien mit Projekten für Kin- des Gottes Hanuman; gegr. 1984). Diese der und Jugendliche (Deutsch-Indische Organisationen bilden zusammen die RSS- Kinderhilfe e.V.). Ashok-Alexander Sridharan Familie und spielen verschiedene Rollen im Rahmen einer gemeinsamen Strategie, Nachfolgend steht ein Auszug aus einem Frage stellen. Die Art und Weise, wie wir ein hinduistisches Indien zu schaffen. Die Interview mit ihm, das von Herrn Mathias in Deutschland leben und arbeiten, hat meisten der BJP-Politiker sind gleichzeitig Böhning, Vorstandsmitglied der Deutschen immer auch Auswirkungen auf Menschen Mitglieder des RSS. Gesellschaft für die Vereinigten Nationen in anderen Regionen dieser Welt - das gilt (DGVN) geführt wurde. Quelle: Pressenach- es zu bedenken. Für uns als Stadt bedeutet Ideologie richten von DGVN, 30.06.16: das, dass wir Nachhaltigkeit als Quer- Alle hindunationalen Organisationen „Das Grundlegende an der Agenda 2030 schnittsaufgabe in der Verwaltung veran- teilen die nationalistische Ideologie des ist der Perspektivenwechsel: Entwicklung kern und auch die Bürgerinnen und Bürger Hindutums namens Hindutva. Sie zielt findet nicht mehr nur im „globalen Sü- stärker einbeziehen müssen. Die Kommune auf den Zusammenschluss aller Hindus den“ statt, sondern auch wir müssen uns hat viele Möglichkeiten, die Agenda 2030 und die Ausgrenzung der Muslime und ändern! Das erfordert ein Umdenken im umzusetzen – von der nachhaltigen Be- Christen. Indien, so sagen die Hinduna- Kopf. Wir selbst müssen uns als Entwick- schaffung über Soziales, Verkehr und Ener- tionalisten, sei das Land der Hindus, die lungsland verstehen. Wir müssen unsere gieversorgung bis hin zur schulischen und indische Nation eine Hindunation. Inder Lebens- und Konsumgewohnheiten in außerschulischen Bildungsarbeit. zu sein, heiße Hindu zu sein. Hindutva, MEINE WELT 2/2016 5
I POLITIK I und zum Spielball fremder Mächte zu wer- scheinen hier von Bedeutung zu sein. gründige ideologische Zähmung der BJP den. Die tieferen Ursachen hierfür sehen Erstens ist die hindunationale Bewegung hat sich sehr deutlich in den Jahren 1998 die Hindunationalisten in der fehlenden in Indien keineswegs ein monolithisches bis 2004 gezeigt, als die BJP an der Spitze Einheit der Hindus und im Abfall vom Gebilde, sondern inneren Gegensätzen einer heterogenen Koalition mit über zehn alten, wahren Hindutum. Daher müssten und Spannungen ausgesetzt, die sowohl Regionalparteien darauf verzichtete, um sich die Hindus zusammenschließen und auf der ideologischen als auch auf der po- des Macherhalts willen zentrale Elemente stark werden, um sich gegen die ständige litischen Ebene auftreten. Je mehr Anhän- hindunationaler Politik durchzusetzen. Bedrohung durch ihre Feinde, vor allem ger die Hindutva-Bewegung zählen kann, Auch innerhalb der BJP, die ja stets ihre Muslime und Christen, verteidigen zu kön- um so mehr machen sich die Spannungen innere Geschlossenheit gerade im Unter- nen. Die glorreiche Hinduvergangenheit zwischen den auf eine über 90jährige Ge- schied zum Congress und den anderen Par- mit ihrem zeitlosen kulturellen Erbe müsse schichte zurückblickenden RSS und sei- teien betont, gibt es divergierende Strö- wieder zum Leben erweckt werden, um das nen disziplinierten Kadern, den um den mungen. Radikale Hindutva-Anhänger Elend der Gegenwart zu überwinden und Eindruck der Mäßigung bemühten Poli- und moderate Politiker rangeln um Macht der Gefahr entgegenzuwirken, im eigenen tikern der BJP und den bunt zusammen- und Einfluss und versuchen, ihre Positio- Land zur Minderheit zu werden. Es ist gewürfelten, einer straffen Organisation nen durchzudrücken. Dabei spielen auch also die Angst vor der eigenen Schwäche, kaum zugänglichen religiösen Führern und persönliche Ambitionen und Zerwürfnisse die die Hindunationalisten so demonst- Mitläufern der anderen hindunationalen eine Rolle, wie sie bereits Anfang der 90er rativ die Einheit und Stärke der Hindus Organisationen bemerkbar. In den Augen Jahre in Madhya Pradesh deutlich zu Tage betonen lässt. eines gut geschulten RSS-Mitglieds oder getreten sind. Diese gipfelten damals in Die wesentlichen Ursachen für das Erstar- eines BJP-Politikers müssen diese nicht dem Parteiausschluss der prominenten ken des Hindunationalismus sind in den selten mit einem Wickeltuch bekleideten, Hindutva-Aktivistin und BJP-Politikerin sozio-ökonomischen Veränderungen zu lange verfilzte Haare tragenden, zuweilen Uma Bharati, die ihren arrivierten männ- suchen, die sich in einem Prozess der Mo- mit Asche beschmierten Personen gerade- lichen Kollegen mangelnde ideologische dernisierung mit all seinen Widersprüchen zu als Inbegriff undisziplinierten Individu- Standfestigkeit und politisches Versagen herausgebildet haben, dem die indische alismus und fehlender Organisation gelten, vorwarf. Inzwischen ist Uma Bharati wie- Gesellschaft seit längerem unterworfen ist. mit denen auf Dauer keine verlässliche der zur BJP zurückgekehrt und hat in der Die Hindunationalisten versuchen hierauf eine Antwort zu geben. Der Hindunatio- Die wesentlichen Ursachen für das Erstarken des nalismus kann interpretiert werden als ein Versuch, die Moderne neu zu definieren, Hindunationalismus sind in den sozio-ökonomischen indem Tradition und Moderne mitein- Veränderungen zu suchen, die sich in einem Prozess ander versöhnt werden. Ökonomischer Fortschritt und materieller Erfolg wer- der Modernisierung mit all seinen Widersprüchen den in eine traditionelle Interpretation der glorreichen, wieder zu errichtenden herausgebildet haben. Hindukultur eingebunden. Das fremde Neue und das eigene Alte sollen neu zu- Kooperation möglich ist. Das Selbstver- jetzigen Regierung ein Ministeramt inne. sammengefügt werden, um der gefürchte- ständnis des RSS als Kaderorganisation Narendra Modi muss dauernd versuchen, ten kulturellen Entwurzelung Einhalt zu und Hüter der reinen Hindutva-Ideologie zwischen diesen verschiedenen Richtun- gebieten. Der ökonomische Wettbewerb verträgt sich nur bedingt damit, diese Per- gen und Gruppen eine mittlere Position wird aufgehoben in der Vorstellung einer sonen als gleichberechtigte politische Part- einzunehmen. Er darf weder die hart harmonischen Gesellschaft der Gleichen, ner zu akzeptieren. Ebenso wenig kann gesottenen Hindutva-Politiker noch die wo Vertrauen, Solidarität und gegenseiti- die BJP, vor allem dann, wenn sie in der eher pragmatisch orientierten Gefolgs- ge Achtung vorherrschen. In diesem Sinn Regierungsverantwortung steht, blindlings leute vergraulen, die jenseits der Ideolo- ist der Hindunationalismus modern und den Aktionen der hindunationalen Orga- gie Indien in eine moderne, industrielle traditionell zugleich. nisationen folgen, da sie sonst Gefahr läuft, Zukunft führen und zu einer zentralen die politische Kontrolle über die Hindutva- Macht in der Weltpolitik machen wollen. Indien als Hindusthan? Bewegung zu verlieren. Allerdings darf Dieser Balanceakt ist nicht einfach, er er- Trotz des Wahlerfolgs der BJP bei den sie auch nicht den Anschein erwecken, klärt auch, warum Modi selbst nicht in letzten Parlamentswahlen, der der Partei als bremsende Kraft zu wirken, die die hindunationalen Tönen schwelgt, sondern eine absolute Mehrheit in der Lok Sabha Aktionen der Aktivisten hintertreibt. Die- sich eher als weltgewandten Modernisierer beschert hat, gibt es gute Gründe, die ge- ses Dilemma birgt für die BJP stets die gibt und gleichzeitig die Scharfmacher und gen einen Sieg des Hindunationalismus Gefahr, Opfer ihres eigenen politischen Aktivisten gewähren lässt. Die Heteroge- auf breiter Front sprechen. Drei Aspekte Erfolgs zu werden. Die zumindest vorder- nität der eigenen Gefolgschaft erfordert 6 MEINE WELT 2/2016
I POLITIK I diese Art von Politik, die allerdings stets an der Vielfältigkeit der religiösen und und Kulturen zu interagieren, indem er die Gefahr des Misserfolgs in sich birgt, da kulturellen Überlieferung nichts ändert. diese oft in sein eigenes Selbstbild mit auf- sie nicht allen Interessen und Wünschen Ebenso sollte nicht unerwähnt bleiben, nimmt. Die multiple Qualität der Identität gerecht werden kann. dass das Konzept der Kulturnation direkt von Individuen und Gruppen ist also kon- Zum zweiten liegt die Hindutva-Ideo- aus dem Westen übernommen wurde, der textabhängig, sie besitzt eine dynamische logie quer zur indischen Tradition. Der von den Hindunationalisten stets heftig Qualität. Sie ist nicht starr, monolithisch, Hindunationalismus strebt danach, eine kritisiert wird. Mithin handelt es sich beim sondern äußerst flexibel, manchmal auch starke homogene Hindunation zu errich- Hindunationalismus nicht um ein genuin durchaus widersprüchlich. Sie erlaubt vari- ten. Diese behauptete Homogenität der indisches Geschöpf, sondern um eine Form able Grenzziehungen zwischen ich, wir und indischen Kultur, des Hindutums, steht des „geistigen Diebstahls“, wie Benedict den anderen und entzieht sich so einer von oben durchzusetzenden Homogenisierung. Ein Inder ist nicht nur Bürger der indischen Republik Diese Flexibilität und Vielschichtigkeit pri- mordialer Bindungen liegen quer zu einer mit einem gesamtindischen Bewusstsein, sondern modernistischen, objektiv definierten Vor- gleichzeitig Bürger eines in der Regel sprachlich stellung einer kompakten Nation und eines entsprechenden Nationalbewusstseins, wie definierten Bundesstaats, also z.B. Marathe, Bengale, sie den Hindunationalisten eigen ist. Oriya, Tamile, seiner Stadt, seines Wohnviertels oder Die Differenz als konstitutives Merkmal des Hinduismus gilt zum dritten auch für seines Dorfes. das soziale Leben. Hierarchische Werte und institutionelle Ungleichheit bilden jedoch in auffallendem Gegensatz zu der Anderson es treffend auf den Punkt ge- das Kernstück der indischen Kultur und Heterogenität dessen, was allgemein als bracht hat. Gesellschaft. Nicht nur die feinen, sondern Hindukultur bzw. Hinduismus bezeichnet Dieser äußeren Vielfalt des Hinduismus auch die groben Unterschiede prägen den wird. Seine Vielfalt ist sprichwörtlich, es entspricht eine innere auf der Ebene des sozialen Alltag in all seiner Härte. Daher ist gibt weder eine grundlegende Schrift, die Individuums. Wie Ashis Nandy und Peter es ebenso verwunderlich wie verständlich, dem Koran oder der Bibel vergleichbar Gottschalk aufgezeigt haben, zeigt sie sich dass die Hindunationalen die Unberühr- wäre, noch einen verbindlichen Korpus von in einer vielschichtigen und fluiden Identi- barkeit als der Hindutva fremd ansehen Schriften, in dem die Grundüberzeugungen tät, die verschiedene primordiale Bindun- und die Hindugesellschaft als eine große festgelegt wären. Hingegen existiert eine gen und Orientierungen innerhalb eines Familie, als ein organisches Ganzes, apost- fast unübersehbare Masse an mündlichen offenen Selbst aufweist. Sie können je nach rophieren, in der soziale Konflikte, egoisti- und schriftlichen Überlieferungen in vielen Situation mal stärker, mal schwächer zum sches Streben und individuelle Einsamkeit Sprachen, die sich in einer ebenso unüber- Vorschein kommen. Ein Hindu ist eben keinen Platz haben. Die soziale Realität sehbaren Vielzahl der Götter, Göttinnen, nicht nur Mitglied einer bestimmten Glau- Dämonen, Rituale und Zeremonien zeigt. bensgemeinschaft mit ihren je eigenen Ri- Hierarchische Werte Hier eine Gemeinsamkeit der Werte und tualen, Festen, Göttern, heiligen Stätten Handlungen zu konstruieren, ist schlech- und Tempeln, sondern gleichzeitig auch und institutionelle terdings unmöglich und läuft dem eigent- ein Mitglied seiner Familie, seines Clans, Ungleichheit bilden das lichen Wesensmerkmal des Hinduismus, seiner Kaste und Klasse in einem bestimm- seiner Heterogenität, zuwider. Das einzi- ten geographischen Raum. Ein Inder ist Kernstück der indischen ge, negativ bestimmte Definitionsmerk- nicht nur Bürger der indischen Republik Kultur und Gesellschaft. mal der Hindukultur ist ihre fehlende mit einem gesamtindischen Bewusstsein, Uniformität. Nicht umsonst bleiben die sondern gleichzeitig Bürger eines in der Indiens wird jedoch nicht dadurch gleicher, Hindutva-Ideologen die Antwort auf die Regel sprachlich definierten Bundesstaats, indem die Gleichheit herbeigeredet wird. Frage weitgehend schuldig, wie denn die also z.B. Marathe, Bengale, Oriya, Tamile, Die harte Lebensrealität verleiht solchen postulierte gemeinsame Kultur der Hin- seiner Stadt, seines Wohnviertels oder sei- Gesellschaftsentwürfen wenig Glaubwür- dus aussehe. So erweist sich der Vorstoß nes Dorfes. Das differenzierte und flexible digkeit. Kurzfristig ist es zwar möglich, mit der Außenministerin Sushma Swaraj im Arrangement verschiedener primordialer hinduistischer Symbolik und nationalisti- Dezember 2014, die Bhagavadgita zur Bindungen und Gruppenzugehörigkeiten scher Demagogie eine beachtliche Zahl ‚nationalen Schrift‘ (rashtriya granth) zu einer multiplen Identität erlaubt es dem von Menschen zu mobilisieren, langfris- zu erheben, als ein Akt der Hilflosigkeit einzelnen, im weiten Feld der gelebten tig kann eine solche Politik jedoch keine und schlichten Unkenntnis der hinduis- kulturellen und sozialen Heterogenität In- allgemein akzeptierte Antwort auf die tischen Tradition, der zwar die anderen diens immer wieder seinen Platz zu finden drängende soziale Frage in Indien liefern, Religionsgemeinschaften düpiert, aber und mit anderen Volksgruppen, Religionen wo die Mehrheit der Bevölkerung kaum MEINE WELT 2/2016 7
I POLITIK I über das Nötigste zum Leben verfügt. Das ein politisches Identitätskonstrukt, eine Bislang zumindest konnten die Hindu- Versprechen nationaler Größe und Ein- Art moderner Mythos, der auf religiös- nationalen bei den zahlreichen gesamt- zigartigkeit allein macht den Hungrigen kulturelle Inhalte und Symbole selektiv indischen Wahlen in den letzten 25 Jahren nicht satt. Aufmerksamkeit erheischende zurückgreift und von oben her einen Wer- die Mehrheit der Wähler nicht von ihrem Aktionen sind kein Ersatz für die Dinge tekonsens erschaffen möchte. Er bietet für Programm überzeugen. Es war, von 2014 des täglichen Lebens, die zu liefern die die drängenden Probleme Indiens keine abgesehen, stets eine Minderheit von ma- indischen Wähler von den Hindunatio- angemessene Lösung und liegt quer zur ximal 25% der Wähler, die ihre Stimme nalisten ebenso einfordern wie von allen pluralistischen Verfassung der indischen hindunationalen Parteien und Politikern anderen Parteien. Gesellschaft. Ein nachhaltiger Erfolg der gegeben haben. Bei den letzten Parla- Alle Versuche, die nicht vorhandene Ein- nach Uniformität strebenden Hindutva- mentswahlen im Mai 2014 hat die BJP heit zu postulieren und mit Inhalt auszu- Bewegung wäre nur dann zu erwarten, im Vergleich zu 2009 ihren Stimmenan- füllen, wirken daher wenig überzeugend. wenn es ihr gelänge, die vielfältigen teil deutlich von 18,8 auf 31 Prozent der Der gelebte Alltag des Hinduismus lässt Lebensformen und religiös-kulturellen abgegebenen Stimmen steigern können, sich nicht mit dem Postulat eines unifor- Identitäten der indischen Bevölkerung der sich dann dank des herrschenden men Hindutums in Einklang bringen. Die zu homogenisieren – ein unrealistisches Mehrheitswahlrechts in eine absolute Idee eines homogenen Hindutums in einer Vorhaben, das einer Art Kulturrevolution Mehrheit in der Lok Sabha umgesetzt hat. ebenso homogenen Hindunation – one in der auf Jahrtausende zurückreichenden Mithin haben trotz des äußerlich fulmi- nation, one people and one culture – ist Hindutradition gleichkäme. nanten Wahlsiegs der BJP bei den letzten Wahlen zwei Drittel der Wähler nicht für NACHRUF hindunationale Parteien und Politiker ge- stimmt. Dies lässt für die nächsten Wahlen im Jahr 2019 hoffen, denn viele Wähler, Dr. Ronald Sequiera das haben zahlreiche Umfragen vor und nach der Wahl gezeigt, haben die BJP und lebt nicht mehr Modi nicht wegen der Hindutva-Ideologie gewählt, sondern wegen der Erwartung, dass nach der langen Phase der politischen Einer der bedeutenden Persönlichkei- Stagnation unter der Congress-Regierung ten des Deutsch-Indischen Dialogs, die Wirtschaft wieder in Schwung kom- Dr. Ronald Sequira, verstarb am 7.Juni men, notwendige Reformen durchgesetzt 2016 in Geilenkirchen. Er war ein profi- und der allgemeine Lebensstandard sich lierter Interpret der indischen Philoso- verbessern werden – allesamt sehr prag- phie und Kultur und bemühte sich jahr- matische und handfeste Gründe jenseits zehntelang den geistigen Reichtum einer reinen Hindutva-Ideologie. Und Indiens hierzulande zu vermitteln. vielfältigen indischen Philosophie und die sollte die Regierung Modi nicht das lie- Förderung des Deutsch-Indischen inter- fern, was sie in Aussicht gestellt hat, kann Dr. Sequiera kam 1966 nach Deutschland kulturellen Dialogs. Die Teilnehmer der sich das Pendel sehr schnell in die andere und promovierte 1970 in Religionsphilo- Gesellschaft sind vornehmlich Gasthörer/ Richtung bewegen und die BIP aus dem sophie bei Professor Dr. Karl Rahner an innen und Seniorenstudierenden der Uni. Amt fegen. Diese Erfahrung musste sie der Münchner Universität. Danach war er Köln Jeder kann an den Veranstaltungen, schon einmal im Jahr 2004 machen. einige Jahre als Kultur- und Religionshis- die meistens am dritten Mittwoch eines Kurzum: Es ist noch nicht aller Tage toriker in Maastricht tätig. Von 1998 bis jeden Monats in Köln stattfinden, teil- Abend. Es gibt gute Gründe anzunehmen, 2007 hat Dr. Sequiera-Prabhu (so wurde nehmen. dass die indische Demokratie auch vor der er später genannt) Vorlesungen zum The- Als ein engagierter Förderer des Deutsch- Herausforderung des Hindunationalismus ma „Indische Philosophie“ im Institut für Indischen Dialogs, war Dr. Sequiera auch bestehen wird. Sie verfügt über genügend Indologie und Tamilistik der Universität ein großer Unterstützer der Zeitschrift Flexibilität und Widerstandskraft, um Köln gehalten. Zu seinen wichtigsten Pu- „Meine Welt“. Seine kultur-interpretie- extremen politischen Bewegungen und blikationen zählen: „Gandhi für Christen“ renden Beiträge haben unsere Zeitschrift Parteien gegenzusteuern und in die zen- Freiburg 1987 und „Die Philosophien In- bereichert. Hierfür sind wir ihm sehr dank- tristische Grundströmung der indischen diens“ Aachen 1996. bar. Uns wird bestimmt sein freundliches Politik einzubinden. Die sprichwörtliche 2003 gründete er die Satyakama (Liebe Lachen und bereitwillige Zusammenarbeit multikulturelle Verfassung des Landes und zur Wahrheit) Gesellschaft. Die Ziele die- in der Zukunft fehlen. die gesunde Skepsis der Wähler gegenüber ser Gesellschaft sind die Vermittlung der J O S E P U N N A M PA R A M B I L ihren Politikern bieten hierfür die beste Gewähr. j 8 MEINE WELT 2/2016
I DEUTSCHE IN INDIEN I Drei Deutsche in Indien Erfahrungen … Beobachtungen … Einsichten Meine Welt hat immer wieder Beiträge von hier lebenden Indern/Inderinnen über ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Einsichten im Bezug auf das Leben in Deutschland abgedruckt. Nachfolgend drucken wir drei Interviews mit Deutschen, die lange Jahre in Indien leben und zu Indien ein sehr enges Verhältnis haben. DIE REDAKTION INTERVIEW MIT DR. MARTIN KÄMPCHEN „Nur wenn der Hinduismus politisiert wird, wird er dynamisch und das heißt aggressiv, eng und identitätsversessen.“ Meine Welt: Sie leben in Indien als deut- lie schwer möglich gewesen wären. Als scher Kulturjournalist und Buchautor seit Einzelgänger habe ich es erreicht, ohne über 40 Jahren. Was war Ihre anfängliche Anstellung, freischaffend zu überleben Hauptmotivation, für längere Zeit nach und frei zu wählen. Indien zu gehen? Der Nachteil ist jedoch, dass man als Ein- zelner in Indien nie ganz integriert ist. In- Dr. Kämpchen: Als ich nach meinem Stu- der sind Familien-orientierte Menschen Martin Kämpchen. Geboren 1946, zog er 1973 dium nach Indien ging, wollte ich etwas und vor allem als Familie und in Familien als Deutschlektor nach Kalkutta und wohnt Neues erleben, etwas, das mir Europa kann man integriert werden. seit 1980 in Santiniketan (Westbengalen). Dort nicht bieten kann. Schon als Student in Jahrzehntelang schaute man mich mit Arg- studierte er Religionswissenschaft und übersetzt Rabindranath Tagore und Ramakrishna aus Wien hatte ich drei Monate lang Indien wohn an, weil man nicht wusste, warum ich dem Bengalischen. Als Essayist und Wissen- bereist und war überrascht und bewegt so lange in Indien wohne. Meine deutschen schaftler, als Herausgeber und durch Vorträge über meine Erlebnisse. Bücher und Artikel verstand man nicht, vermittelt er zwischen der indischen und der deutschen Kultur, zwischen ihren Religionen meine Sozialarbeit in den Dörfern erschien und Literaturen. Kämpchen schreibt regelmäßig c Haben Sie heute, nach 40 Jahren, das den Menschen ohne Motiv („Was hat er für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Gefühl, dass Sie von den Einheimischen davon?“) Erst als meine Übersetzungen Zeitung. voll akzeptiert werden? Oder fühlen Sie von Tagore und Ramakrishna auch in In- sich heute noch als Fremder in Indien? dien bekannter wurden, als ich begann, auf unintegriert bleiben. Es ist wichtig, krea- Englisch zu publizieren, zeigte man mir tiver Einzelgänger zu sein und als solcher Ich habe aus verschiedenen Gründen nicht mehr Verständnis, man lud mich überall einen gerechten Lebensstil zu suchen. geheiratet, vor allem darum, weil ich mit in Indien zu Vorträgen ein und integrierte Familie niemals das hätte tun können, was mich akademisch und als „public intel- c Kann sich ein Deutscher nach Ihrer Mei- ich anstrebte: erstens, als Schriftsteller lectual“. nung in das indische Leben integrieren? selbstbestimmt zu existieren und zweitens Andererseits muss ich gestehen, dass ich Welches wären die Hauptschwierigkeiten? ein soziales Werk unter den Menschen auch in Deutschland früher und während zu beginnen. Beides sind unsichere und meiner Besuche nie voll integriert war und Wie gesagt, mit Familie kann man sich als experimentelle Tätigkeiten, die mit Fami- bin. Kehrte ich zurück, würde ich weiterhin Deutscher leichter integrieren. Vollständi- MEINE WELT 2/2016 9
I DEUTSCHE IN INDIEN I Wegen der Überbevölkerung wird weniger Gewicht auf Umweltschutz und Menschen- rechte gelegt als notwendig ist. Die Ver- sorgung der Bevölkerung und der soziale Friede gelten als vorrangig. c Als Journalist waren Sie besonders an kulturellen Themen interessiert. Befindet sich Indien heute in einer Identitätskrise? Wie erklären Sie den wachsenden Natio- nalismus und die zunehmende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden im heutigen Indien? Die indische Bevölkerung hat dank der modernen Medien immer mehr Vergleichs- möglichkeiten bekommen. Dadurch ent- steht Neid und Gier: „Was die anderen Martin Kämpchen arbeitet auf seiner Schreibma- bekommen, will auch ich haben.“ Ich ge Integration sollte man nicht anstreben, schine auf der Veranda seines Lehmhauses in dem glaube, der Nationalismus ist wesentlich Stammesdorf Ghosaldanga in der Nähe von Santi- denn das hieße, auch die Schwächen und aus diesem Neid geboren; er ist also kein niketan ( Ende der 1980er Jahre) Nachteile des indischen sozialen Lebens echter Nationalismus, der sagt „My country anzunehmen. right or wrong!“, sondern er nährt sich im Gegenteil aus einer inneren Abwehr c Indien hat sich in den letzten 40 Jahren schen und elektronischen Gebiet ist dage- gegen die eigene Heimat. Vor die Wahl gewaltig verändert. Wie beurteilen Sie die gen atemberaubend und durchaus positiv. gestellt, möchten viele lieber im Westen Veränderungen wie zum Beispiel im gesell- Ohne Fernsehen, Handy und Smartphone, leben, anstatt sich in den indischen Met- schaftlichen Leben, in der Demokratiepra- Internet und Computer ist Indien nicht ropolen abzukämpfen. xis, bei der wirtschaftlichen Entwicklung mehr denkbar. Das Internet dringt bis in Der Nationalismus ist nicht zu verwech- und bei der Haltungen zu Umweltschutz den letzten Winkel des Landes vor. Keine seln mit dem religiösen Fundamentalismus. und Menschenrechten? andere Infrastruktur konnte sich so rasch Der Hinduismus ist, so glaube ich, eine durchsetzen. Diese Modernisierung ist zutiefst friedfertige Religion, eben auch Die sozialen Spannun- auch notwendig, um die Menschenmas- weil der Hinduismus durch das Kasten- sen zu „kontrollieren“ und den sozialen wesen gesellschaftlich statisch angelegt ist gen und die soziale Frieden zu sichern. und dieses Gefühl: „Jeder hat seinen Platz Ungerechtigkeit haben sich verschärft. Das ist ein gewaltiges Thema. Die sicht- barsten und einschneidensten Verände- rungen sind Folge des Bevölkerungszu- wachses, der Veränderungen auf allen Ebenen des sozialen Lebens verursacht. Die erbitterten Kämpfe um Agrarland, um Wasser, um mehr und bessere Straßen und insgesamt um eine bessere Infrastruktur, um mehr und bessere Jobs, um ein besseres und umfangreicheres Bildungs- und Ge- sundheitssystem hängen mit der ausufern- den Bevölkerung zusammen. Die sozialen Deutscher Generalkonsul Plischka steckt Herrn Spannungen und die soziale Ungerechtig- Kämpchen das Bundesverdienstkreuz ans Hemd keit haben sich verschärft. (1999) Die Modernisierung auf dem technologi- 10 MEINE WELT 2/2016
I DEUTSCHE IN INDIEN I im Gesellschaftsgefüge“, internalisiert ist. Wie lange ich mehrzeitlich in Indien ver- Nur wenn der Hinduismus politisiert wird, bringe, kommt auch darauf an, wie schnell wird er dynamisch und das heißt aggressiv, ich meine Mitarbeiter in den Dörfern in eng, identitätsversessen. Die Politik inst- die vollkommene Eigenverantwortung rumentalisiert die Religion zu gunsten des entlassen kann. Viel war möglich in den Gewinnstrebens der Politiker. Das einfa- 30 Jahren meiner Dorfarbeit, doch spüre che Wahlvolk wird emotonal ausgebeutet. ich auch deutlich, und zwar ohne Eitelkeit, wie stark ich noch nötig bin, damit neue c Schätzungsweise leben heute ca. 300 Impulse gegeben und umgesetzt werden, Millionen Inder/Inderinnen unter der damit Disziplin und Engagement einen Armutsgrenze – etwa viermal so viele hohen Standard behalten. wie die Bevölkerung der Bundesrepublik Mein persönliches Hauptproblem in Indi- Deutschland. Was, nach Ihrer Meinung, ist en ist, dass ich seit 1973 auf ein indisches die Hauptursache dieser weitverbreiteten Visum angewiesen bin. Immer wieder muss Armut in Indien? Haben Sie Ideen zur ich meinen Aufenthalt neu rechtfertigen, Lösung dieses Problems? mir Fürsprecher suchen und Anträge stel- len – obwohl ich so viel für dieses Land Die Armut ist, wie die Soziologen wissen, getan habe, auf kulturellem und sozialem ein Verteilungsproblem, also ein Problem Martin Kämpchen mit Amartya Sen in Santinike- Gebiet. Es ist demütigend. Positiv gewen- tan (2016). In der Hand von Amartya Sen ist das mangelnder Gerechtigkeit. Das Land det: es ist eine gute existentielle Übung, Buch „Rabindranath Tagore: One hundred years könnte seine Bevölkerung ausreichend of Global Reception“ (Herausgegeben von Martin immer nur „Gast auf (indischer) Erde“ ernähren. Es ist aber auch ein Problem fal- Kämpchen und Imre Bangha) zu sein. j scher Prioritäten. Wie der Wirtschaftswis- senschaftler Amartya Sen immer wieder betont, wird für das Bildungswesen und die Gesundheitsvorsorge zu wenig investiert. Man hat auf Industrie und Technologie Was hatte der Vater von Albano-Müller gesetzt und die Urbedürfnisse Nahrung, Gesundheit und Bildung vernachlässigt. mit Einstein und Gandhi zu tun? Hier muss unbedingt eine andere Priori- tätenliste entstehen. Der Vater der in Schwelm lebenden Brief kennen heute auch viele Kinder und indischen Kulturvermittlerin Albano- Jugendliche aus Schwelm und den Nach- c Herr Kämpchen, Sie leben in Indien Müller hieß V. A. Sundaram. Nachfol- barstädten. Denn eine Kopie des Briefs alleine, teilweise in Santiniketan und teil- gend steht ein Auszug aus dem Beitrag hängt gerahmt im Hausflur von Hauptstra- weise in dem Santaldorf Ghosaldenga. Wo wollen Sie Ihren Lebensabend verbringen, „Als Ehrengast zur Filmpremiere in ße 16 in Schwelm, wo Saraswati Albano- in Indien oder in Deutschland? Warum? Israel“, der in der Westfalenpost von Müller seit 50 Jahren lebt. In dieses Haus 27.05.2016 erschien, in dem über eine hat sie über Jahrzehnte junge Menschen Im Augenblick wohne ich etwa neun Mo- Begegnung von Sundaram mit Einstein aus Stadt und Region eingeladen, um sie nate des Jahres in Indien. Ich möchte so berichtet wird mit indischer Kultur vertraut zu machen lange wie möglich mindestens das halbe und ihnen die Scheu vor dem Fremden zu Jahr in Santiniketan verbringen. Die Hitze Sundaram war von Gandhi nach Europa nehmen. Ganze Schulklassen haben im und die Luftfeuchtigkeit machen mir zu geschickt worden, um hier die Ideen des Flur der alten Schwelmer Villa vor dem schaffen, doch bisher ist meine Gesundheit indischen Freiheitskampfes bekannt zu Brief Einsteins gestanden und sich von recht stabil geblieben. Wenn ich einmal machen. Einstein ließ sich von ihm zwei der gebürtigen Inderin über Mahatma mehr gesundheitliche Versorgung und Stunden lang berichten, griff dann zu Pa- Gandhi, Einstein und ihrem Vater V. A. ein „leichteres“ Leben brauche, ohne pier und Stift und formulierte einen Brief Sundnaram erzählen lassen. „Junge Men- die ständigen Alltagsprobleme in Indien, der Anerkennung an Gandhi: „Sie haben schen brauchen Vorbilder“, erklärt sie ihre dann werde ich mich in Boppard, meinem Heimatort in Deutschland, zurückziehen; durch Ihr Wirken gezeigt, dass man ohne Motivation. „Gandhi, Einstein und auch dort habe ich eine kleine Mietwohnung Gewalt Großes (……) durchsetzen kann.“ mein Vater praktizierten die gleichen Wer- in meinem (verkauften) Elternhaus. Ich Den Brief übergab er Sundaram, der ihn te von Achtung und Gemeinsamkeit aller werde mit einer schmalen Rente hoffent- zurück zu Gandhi brachte. Gerade diesen Menschen und Religionen untereinander“. lich auskommen. MEINE WELT 2/2016 11
I DEUTSCHE IN INDIEN I INTERVIEW MIT G. A. GOPAL „In den fünf Jahren, die ich hier lebe, habe ich nicht das Gefühl, dass sich hier viel verändert hat, aber das Aufbrechen von alten Strukturen geht überall sehr langsam vonstatten.“ Meine Welt: Sie leben in Indien seit über In England dann hatte 5 Jahren mit Ihrem indischen Mann und ich nach und nach immer einem Sohn. Was hat Sie dazu getrieben, für mehr indische Freunde, längere Zeit nach Indien zu gehen? was nicht ausbleibt, da so viele Inder in London Frau Gopal: Indien war für mich, in meinen leben. Das bewog mich Gedanken und Plänen, schon seit meiner dazu, in einem indischen Jugend präsent. Es war ein Ort, den ich Kulturzentrum, dem Bha- Frau G. A. Gopal wuchs in Deutschland auf und ging gerne irgendwann einmal sehen und ken- ratya Vidya Bhavan, klassischen indischen dort zur Schule. Studium als Übersetzerin und Dol- nenlernen wollte. Tanz und schließlich Hindi zu lernen. Somit metscherin. Arbeitete in Mexiko, Italien, der Schweiz und zuletzt in Großbritannien. Vor 5 Jahren zog sie Meine Eltern sind viel mit uns, mit mir nahm die Idee, endlich einmal Indien zu nach Indien, heiratete einen Inder und lebt dort mit und meinem jüngeren Bruder, gereist, aber besuchen, Formen an. Mann und einem Sohn. Sie eröffnete eine Sprachschule immer nur in Europa. Sie haben uns aber Das habe ich dann in die Tat umgesetzt und unterrichtet dort Fremdsprachen. Sie gibt auch Firmenkurse, bietet Übersetzungs- und Dolmetscher- so den Horizont enorm erweitert und das mit vielen Adressen von Freunden meiner dienste an und ist als Prüferin am Goethe Institut tätig. Interesse an anderen Orten, Kulturen und Freunde, die ich in Indien besucht habe, Sie spricht viele europäische Sprachen wie Italienisch, Sprachen geweckt. Ich habe natürlich in und daraus ergaben sich wieder neue Französisch, Spanisch, Portugiesisch etc. und hat der Schule Englisch gelernt, aber dann Freundschaften. auch einige indische Sprachen wie Hindi, Kannada, Tamil und Malayalam inzwischen gelernt. auch recht früh in Eigeninitiative Fran- Als ich das erste Mal den Fuß auf indischen zösisch, Italienisch und Spanisch. Boden setzte, hatte ich das Gefühl, dass In der Schule hatte ich dann eine indische alles sehr vertraut war, kein Kulturschock, Zeit in Indien verbringen wollte, bin ich Freundin, und ich war manchmal bei ihr kein Entsetzen, ich fühlte mich ein bisschen gar nicht mehr nach Hause zurückgefah- zu Hause. Ihre Mutter trug oft einen Sari so, als komme ich nach Hause, ein Ort, an ren, sondern gleich in Indien geblieben. und es gab indisches Essen, und ihr Va- dem ich mich einfach und mit einem Ge- Seitdem lebe ich hier. ter kam einmal zu uns in die Schule und fühl großer Sympathie integrieren konnte. berichtete über Indien. Nach diesem ersten Besuch habe ich alle c Fühlen Sie sich von den Einheimischen Allerdings nahm mein Leben dann eine meine Urlaube in Indien verbracht, drei- Indern/Inderinnen akzeptiert? Wie verlief andere Wendung und ich ging nach Italien, mal im Jahr, und verschiedene Regionen Ihre Integration in die indische Gesell- um zu studieren, und danach folgte ich bereist. Damals formte sich der Gedanke, schaft? einfach dem, was sich mir auf meinem Weg vielleicht in Indien, wenigstens erst ein- präsentierte, Rückkehr nach Deutschland, mal für eine Zeit lang, leben zu können. Da ich Indien immer sehr mochte, ob- einen festen Job, dann durch den Job die Ich habe dann daraufhin versucht, in In- wohl es natürlich auch zwischenzeitlich Möglichkeit in Mexiko zu arbeiten, wie- dien einen Job zu bekommen in meinem sehr schwierig war, denn es ist ja immer der Rückkehr nach Deutschland und neue Arbeitsbereich, was auch durchaus eine anders in einem Land zu reisen und in Jobangebote in der Schweiz, Italien und machbare Möglichkeit gewesen wäre.Aber einem Land dann endgültig zu leben, habe schließlich in England. Indien war also et- während einer meiner Reisen besuchte ich mich relativ mühelos an lokale Ge- was von meinem Radar verschwunden, und ich ein NGO-Projekt, das ich finanziell gebenheiten anpassen können, zumindest ich war damit beschäftigt, meine Karriere unterstützt hatte, und lernte dort meinen an das, was augenscheinlich ist. Ich trage aufzubauen. In der Zeit hatte ich aber an- indischen Mann kennen. Wir beschlossen indische Kleidung, was ich seit meinem gefangen, mich mit Yoga zu beschäftigen, relativ schnell, dass wir unser Leben mit- ersten Aufenthalt tue, da sie nicht nur gut und in Folge dessen mit indischen Schriften einander verbringen wollten, und haben aussieht, sondern auch sehr bequem ist, be- und Philosophie. Somit war Indien langsam dann geheiratet. Da ich zu der Zeit sechs sonders bei dem meistens warmen Wetter. wieder interessant geworden. Monate freigestellt war und eine längere Ich esse indisches Essen, ich gehe gerne in 12 MEINE WELT 2/2016
I DEUTSCHE IN INDIEN I den Tempel, da ich die Atmosphäre dort her Bescheid zu sagen, und dann erwar- se, mit Konflikten umzugehen, in Indien sehr inspirierend finde, und, was sehr wich- tet, dass der Gastgeber sich um einen werden Konflikte bestmöglich ignoriert, tig ist, ich habe mir die Mühe gemacht, kümmert, egal wie beschäftigt dieser ist. in Europa werden sie ausdiskutiert. vier indische Sprachen zu lernen. Hindi Viele verstehen auch unsere Situation als Manchmal ist es sehr frustrierend in Indien konnte ich ja schon ein bisschen, Tamil Kleinfamilie und meine als arbeitende zu leben, wenn nichts funktioniert oder die hatte ich auch in London schon angefangen Mutter und Geschäftsfrau ohne jegliche Menschen so unflexibel oder unsensibel zu lernen, hinzu kam dann Malayalam, Familienunterstützung oder mehr Unter- oder von ihrer begrenzten Weltsicht so die Muttersprache meines Mannes, und stützung im Haushalt nicht (ich habe nur überzeugt sind, und deshalb vermeidbare Kannada, da wir in Karnataka wohnen. eine Putzfrau). Hier leben doch die meisten Kleinigkeiten zu großen Schwierigkeiten Das hat mir große Akzeptanz und Bewun- in einer größeren Familienstruktur. Oder werden, oder wenn man nicht verstanden derung eingebracht. zumindest ist ein Teil der Familie in der wird. Aber Probleme mit der Außenwelt Natürlich waren meine Schwiegereltern, im Alltag gibt es in jedem Land. oder besser meine Schwiegermutter, zu- Freundschaften, wie wir nächst nicht begeistert, dass ihr Sohn eine c Hat Indien sich verändert in den Jahren Ausländerin heiraten wollte, was in Indien sie kennen, sind nicht Ihres Aufenthaltes dort? Wenn ja, wie? immer noch nicht gängig ist, selbst Ehen so gängig und Privates zwischen verschiedenen Kasten werden Ich finde die Frage danach, wie ¸Indien’ weitläufig nicht akzeptiert. Aber generell wird meistens nur in der ist, immer falsch. Denn Indien gibt es ei- sind meine Schwiegereltern sehr tolerant, Familie besprochen. gentlich nicht. Es gibt so viele Regionen, und wir haben ein sehr herzliches Verhält- Menschengruppen, Ethnien, Religionen, nis. Wir werden auch immer noch manch- Sprachen, Klassen, Lebensumstände (kom- mal gefragt, wie es denn komme, dass wir Nähe, um sich gegenseitig zu unterstützen, plett unterschiedlich in der Stadt und auf geheiratet haben, aber wenn die Leute oft haben sie auch eine oder mehrere fest dem Land und auch oft in Nord- und Süd- sehen, dass ich in der lokalen Sprache ant- angestellte Haushaltshilfen (die natürlich indien), und natürlich auch Menschen als worten kann, hören die Fragen schnell auf. nicht besonders gut bezahlt werden). Unser Individuen, dass die Frage nach Indien Vieles hat sich auch geändert, seit wir ein Familienmodell ist doch sehr westlich oder falsch gestellt scheint. Kind haben. Anfänglich dachten die Leute besser gesagt unindisch, das hat etwas mit Was man nicht vergessen darf, Indien ist oft, mein Mann sei mein Touristenführer. Privatsphäre zu tun und auch damit, dass ein sehr altes und traditionelles Land, und Als Familie ist die Akzeptanz größer. Eine ich gerne ein angemessenes Gehalt bezah- Dinge ändern sich sehr langsam. Viele große Rolle hat aber die Sprache gespielt len möchte. Privatsphäre ist grundsätzlich Menschen haben ihren Heimatort noch und wie ich mich präsentiere, nämlich in- unbekannt, was anders ist als in anderen nie verlassen. Wenn man sie z. B. nach disch, nur mit anderer Hautfarbe. asiatischen Ländern. Und der Kontakt einem bekannten Ort irgendwo anders Heutzutage schaut mich auch meistens zu anderen Menschen definiert sich oft in Indien fragt, wissen sie nicht, wo das niemand mehr schief an. Viele halten mich über ein Bedürfnis, einen Gefallen, den ist, geschweige denn im Ausland, auch für eine Nordinderin. Es kommt aber hier man vom anderen möchte, ein Geschäft junge Leute, die die Universität besucht und da vor, vor allem in ländlichen Ge- sozusagen. Schwierig war es auch Freunde haben. Die meisten meiner Schüler (um genden oder in der Gegenwart von Leu- zu finden. Freundschaften, wie wir sie ken- die zwanzig Jahre alt und mehr) waren ten, die nicht weit aus ihrem begrenzten nen, sind nicht so gängig und Privates wird noch nie im Ausland oder in einer anderen Lebensraum herausgekommen sind, dass meistens nur in der Familie besprochen. Region, d. h. die Perspektive des Großteils ich angestarrt werde. Und wieder, wenn Leute haben Freunde wohl meistens aus der Menschen ist sehr begrenzt. ich dann in der lokalen Sprache antworten der Schule oder der Uni, danach spielt Teilweise leben die Menschen auf dem kann, ist die Reaktion meistens sehr positiv. sich das Leben mehr in der Familie ab. Land noch wie vor hunderten von Jahren, Da ich arbeite, ich habe eine Sprachschule Freizeitaktivitäten gibt es auch nicht vie- ohne Elektrizität, ohne landwirtschaftli- und gebe Firmenkurse, bin ich auch zu- le. Ich habe mich manchmal sehr einsam che Maschinen, in festen gesellschaftlichen mindest in meiner Stadt sehr bekannt, und gefühlt, vor allem in Krisensituationen. Strukturen. die Leute wissen es zu schätzen, dass ich Auch der Humor ist ganz anders. Ironie Es gibt auch einen großen Unterschied zwi- indischen Schülern die Möglichkeit ge- und Sarkasmus werden gemeinhin nicht schen dem Stadtleben und dem Landleben. ben kann, etwas zu lernen und beruflich verstanden. Aber mein Mann hat meine In der Stadt vollziehen sich Veränderun- weiterzukommen. Schwierigkeiten schließlich verstanden gen wesentlich schneller, die Großstädte Natürlich habe ich auch Schwierigkeiten, und bemüht sich, für mich unangenehme werden kosmopolitischer, es gibt dort wie z. B. fehlende Zeitplanung oder die Situationen nicht aufkommen zu lassen. auch viele Ausländer, die hier arbeiten Vorstellung, dass man jederzeit mit einer Natürlich hatten wir auch viele Missver- oder mit Indern verheiratete sind. Und unbegrenzten Personenzahl bei anderen ständnisse, die kulturell bedingt waren, oft natürlich internationale Firmen, die die Leuten vorbeikommen kann, ohne vor- auch aufgrund einer anderen Art und Wei- Globalisierung beschleunigen. MEINE WELT 2/2016 13
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