Der Mensch im Mittelpunkt: Aufbruch in eine Ära des Friedens und der Abrüstung - SGI-D
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Daisaku Ikeda Der Mensch im Mittelpunkt: Aufbruch in eine Ära des Friedens und der Abrüstung Friedensvorschlag 2019
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors bzw. des Rechte inhabers unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Ein speicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © Daisaku Ikeda Englische Übersetzung © Soka Gakkai Deutsche Übersetzung © Soka Gakkai International-Deutschland e. V. Aus dem Englischen übersetzt von Katrin Harlaß und Katja Wagner Gedruckt auf Recyclingpapier 1. Auflage Gestaltung: Büro für visuelle Gestaltung, Katrin Pfeil, Mainz
Inhalt Eine gemeinsame Vision 7 Menschenzentrierter Multilateralismus 20 Umfassende Einbindung der Jugend 30 Freunde des Atomwaffenverbotsvertrags 40 Eine vierte Sondersitzung der UN-Generalversammlung45 Verbot von tödlichen autonomen Waffen 54 Ausbau von UN-Initiativen zum Wasserressourcen-Management61 Universitäten: Zentren für die Förderung der nachhaltigen Entwicklungsziele 68 Endnoten75 Bibliografie76 Fotonachweis79 3
Der Mensch im Mittelpunkt: Aufbruch in eine Ära des Friedens und der Abrüstung von Daisaku Ikeda Präsident, Soka Gakkai International 26. Januar 2019 Inmitten permanent zunehmender globaler Herausforderungen werden Krisen, die bisher undenkbar waren, jetzt weltweit zur Rea lität. Besonders alarmierend ist das Problem des Klimawandels. Die glo bale Durchschnittstemperatur lag während der vergangenen vier Jahre jeweils höher als die jemals verzeichnete[1], und die Folgen extremer Wetterphänomene sind überall spürbar. Auch die soge nannte Flüchtlingskrise bleibt eine Quelle tiefer Besorgnis. Ende 2017 sahen sich weltweit 68,5 Millionen Menschen aufgrund von Konflikten und aus anderen Gründen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.[2] Zusätzlich werfen Handelsstreitigkeiten einen dunklen Schatten auf die Gesellschaft. Während der Generaldebatte anläss lich der Generalversammlung der Vereinten Nationen im letzten Jahr brachten viele Führungspersönlichkeiten aus der ganzen Welt angesichts der jüngsten Entwicklungen in den internationalen Han delsbeziehungen und deren Folgen für die Weltwirtschaft ihre tiefe Sorge zum Ausdruck. Neben all diesen Herausforderungen hat die 5
UN auch im Zusammenhang mit Abrüstungsfragen dringend zum Handeln aufgerufen. UN-Generalsekretär António Guterres veröffentlichte im Mai des vergangenen Jahres in Form der UN-Abrüstungsagenda einen um fassenden Bericht zu diesem Thema. Er führte die Tatsache an, dass die jährlichen weltweiten Militärausgaben den Umfang von 1,7 Bil lionen US-Dollar[3] überschritten und damit das höchste Niveau seit dem Fall der Berliner Mauer erreicht hätten[4] und warnte: „Wenn jedes Land seine eigenen Sicherheitsinteressen ohne Rücksicht auf andere verfolgt, schaffen wir eine globale Unsicherheit, die uns alle bedroht.“[5] Er führte aus, dass die Summe der Militärausgaben etwa 80 Mal höher sei als der Betrag, der nötig wäre, um die humanitären Bedürfnisse der Menschen weltweit zu befriedigen. Seine tiefe Sorge gilt der zunehmenden Kluft zwischen Ressourcenverteilung und der Tatsache, dass dringend notwendige Mittel zur Beendigung von Armut, Förderung von Gesundheit und Bildung, Bekämpfung des Klimawandels und Einleitung weiterer Maßnahmen zur Ret tung des Planeten nicht eingesetzt würden. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, besteht das Risiko, dass alle Fortschritte, die bereits gemacht wurden, um die Ziele für nachhal tige Entwicklung (SDGs) zu erreichen, die darauf ausgerichtet sind, dass niemand zurückgelassen wird, zum Stillstand kommen. Abrüstung, seit Gründung der UN eines ihrer wichtigsten Ziele, war auch mir stets ein persönliches Anliegen und ist eines der zentralen Themen der Friedensvorschläge, die ich seit nunmehr über 35 Jah ren jährlich verfasse. Ich gehöre jener Generation an, die die Gräuel des Zweiten Weltkriegs noch selbst erlebt hat, und trage das geistige Erbe von Josei Toda (1900–1958), des zweiten Präsidenten der Soka Gakkai, weiter. Er war fest entschlossen, die Welt von allem Elend und Leid zu befreien und setzte sich permanent dafür ein, um dieses Ziel zu erreichen. Mir ist daher überaus bewusst, dass Abrüstung 6
unabdingbar ist, wenn wir Konflikte und Gewalt ausrotten wollen, welche die Würde und das Leben so vieler Menschen bedrohen. Die Menschheit besitzt die Kraft der Solidarität, eine Stärke, mit der wir alle Gegensätze überwinden können. Tatsächlich wurde durch die Kraft eben dieser Solidarität vor zwei Jahren der Atomwaffenver botsvertrag (TPNW) angenommen – eine Unternehmung, deren er folgreiche Umsetzung lange Zeit als unmöglich galt – und ist inzwi schen auf dem Weg zu seiner Ratifizierung und seinem Inkrafttreten. Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste. Jetzt ist es an der Zeit, diese Entwicklung zu beschleunigen und echte Abrüstung zu erreichen, indem wir die derzeitigen Krisen als Chancen sehen, die Geschichte neu zu schreiben. Ich möchte zu diesem Zweck drei Kernthemen vorschlagen, die als eine Art Gerüst bei der Umsetzung von Anstrengungen dienen könnten, die Abrüstung im 21. Jahr hundert zu einem Eckpfeiler der zukünftigen Entwicklung der Welt zu machen: die Erarbeitung einer gemeinsamen Vision von einer friedvollen Gesellschaft; die Förderung eines Multilateralismus, der die Menschen in den Mittelpunkt stellt; und die umfassende Ein bindung der Jugend. Eine gemeinsame Vision Das erste Thema, das ich näher beleuchten möchte, ist die Notwen digkeit, eine gemeinsame Vision von einer friedvollen Gesellschaft zu entwickeln. Die Allgegenwart von Waffen lässt das Bedrohungsrisiko weltweit steigen. Obwohl der Waffenhandelsvertrag, der den internationa len Handel mit konventionellen Waffen – von Handfeuerwaffen bis hin zu Panzern und Raketen – regelt, 2014 in Kraft trat, sind die Hauptexportländer von Waffen hierbei auch weiterhin außen vor. 7
Dies macht es schwierig, die Verbreitung von Waffen in Konflikt regionen zu unterbinden. Zudem mussten wir immer wieder den Einsatz von chemischen und anderen zutiefst inhumanen Waffen erleben. Ebenso hat die Modernisierung von Waffentechnologien ernste Fragen aufgeworfen: Angesichts militärischer Drohnenan schläge, bei denen die Zivilbevölkerung getroffen wird, verstärkt sich die Besorgnis in Bezug auf Fragen im Zusammenhang mit den internationalen Menschenrechten. Und auch beim Thema Atomwaffen herrschen zunehmend Spannun gen. US-Präsident Donald Trump kündigte vergangenen Oktober an, dass die Vereinigten Staaten die Absicht hätten, aus dem INF- Vertrag (Vertrag über Atomwaffen mittlerer Reichweite) mit Russ land auszusteigen. Da es anhaltende Streitigkeiten über die Einhal tung der in diesem Vertrag niedergelegten Regeln zwischen den beiden Ländern gibt, besteht die Gefahr, dass – sollte der INF-Ver trag tatsächlich scheitern – eine neue Atomwaffenaufrüstungsspira le in Gang gesetzt wird, an der auch andere Atommächte beteiligt sein werden. Solche Umstände verdeutlichen in der Tat die Feststel lungen von UN-Generalsekretär Guterres im Vorwort zur UN-Ab rüstungsagenda. Dort heißt es: „Die Spannungen des Kalten Krieges sind zurückgekehrt in eine Welt, die komplexer geworden ist.“[6] Warum scheint sich die Geschichte im 21. Jahrhundert auf diese Weise zu wiederholen? Ich fühle mich an dieser Stelle an die beein druckenden Worte des bedeutenden Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker (1919–2007) erinnert, der sein ge samtes Leben dem Weltfrieden widmete. Dieses Thema war im Üb rigen eines von vielen, die ich später auch im Dialog mit seinem Sohn, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Ehrenpräsident des Club of Rome, erörtert habe. C. F. von Weizsäcker beschrieb die Zeit zwischen 1989, dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer, und 1990, dem 8
Jahr der deutschen Wiedervereinigung, und stellte fest, dass sich jedoch, betrachte man die Welt als Ganzes, keine entscheidende Veränderung feststellen ließe.[7] Für jemanden, der einen Großteil seines Lebens im geteilten Deutschland verbracht und wiederholt die historische Bedeutung der Abfolge von Ereignissen betont hatte, die zum Ende des Kalten Krieges führten, war dies eine überra schende Aussage. Sie erinnerte daran, wie Sokrates sich selbst als „Hebamme der Wahrheit“ beschrieb. Weizsäcker betrachtete die politische und militärische Situation dieser Zeit und machte deutlich, dass die Anstrengungen zur Über windung der „Institution Krieg“[8] den Punkt noch nicht erreicht hätten, an dem sie als Bewusstseinswandel bezeichnet werden könnten. Mit anderen Worten: Er war überzeugt, dass selbst das Ende des Kalten Krieges noch nicht den Weg zur Erreichung des Kernzieles eröffnete, nämlich den Krieg als Institution, als wieder holten militärischen Kampf um Hegemonie zwischen verschiede nen Gruppen, zu überwinden. Und weiter warnte er: „Niemals, noch Sokrates als Hebamme Sokrates (ca. 470–399 v. Chr.) beschrieb sich selbst als intellektuelle Hebamme, die anderen dabei hilft, ihre eigene Weisheit zu gebären und die Wahrheit zu definieren, die ihren Überzeugungen zugrunde liegt. Diese Sokratische Metho- de, auch bekannt als Mäeutik, wird in Platons Theaitetos das erste Mal einge- führt. Sie dient dazu, das kritische Denken anzuregen und mit Hilfe von Dialog und dem Stellen von Fragen gemeinhin akzeptierte Überzeugungen in Zweifel zu ziehen. In Theaitetos findet Sokrates Ähnlichkeiten zwischen dem Handwerk seiner Mutter, einer Hebamme, und dem Prozess der Produktion von Wahrheit, die ebenfalls den Schmerz der Geburt einschließt. Während eine Hebamme ent- weder die Schmerzen unter der Geburt lindert oder dabei hilft, das Kind zur Welt zu bringen, assistiert Sokrates der Seele und hilft seinem Gesprächspartner, eine Idee zur Welt zu bringen. 9
nicht einmal heute, ist gewiss, ob diese neuen Arten von Waffen, die wir ständig produzieren, nicht am Ende doch zum Ausbruch eines Krieges führen könnten.“[9] Ich spüre das Gewicht seiner Worte sehr stark, denn sie treffen auch auf die heutige weltweite Situation zu. In der Tat sind die Friedens- und die Abrüstungsfrage seit der Ära des Kalten Krieges ungelöst geblieben. Obwohl dies auch weiterhin eine ernste Herausforderung darstellt – einen im Grunde unauflöslichen Widerspruch – würde ich gerne darauf bestehen, dass es immer noch ein Fünkchen Hoffnung gibt. Wir können diese Hoffnung aus der Tatsache ziehen, dass Abrüstungsgespräche inzwischen nicht mehr ausschließlich aus der Perspektive internationaler Politik und Si cherheit geführt werden, sondern zunehmend auch den humanitä ren Blickwinkel einbeziehen. Eine Reihe aufeinander aufbauender Verträge zum Verbot zutiefst inhumaner Waffen wie Landminen, Streubomben und Atomwaffen wurden verabschiedet. Dieses neue historische Momentum müssen wir nutzen und bei der weiteren Ausgestaltung internationalen Rechts den humanitären Ansatz ein beziehen. Alle Staaten müssen damit beginnen, einen Prozess der Kooperation und Zusammenarbeit einzuleiten, um bedeutende Schritte auf dem Weg nach vorn zu machen, hin zu echter Abrüstung. Zu diesem Zweck ist es nützlich, einmal die Idee von der Friedlosigkeit als seelische Krankheit zu untersuchen, die Weizsäcker als Hindernis für Fortschritte im Bereich der Abrüstung benannt hat. Sein Ansatz, die Probleme, die Frieden verhindern, mit einer Krankheit zu verglei chen, die uns alle befallen hat, beruht auf der Erkenntnis, dass kein Staat und kein Individuum sich als selbstständige, von allen anderen abgetrennte Einheit betrachten kann – niemand ist immun. Diese Sichtweise wird untermauert von seiner Auffassung, dass Menschen unbestimmte Lebensformen sind, ohne festgelegte Natur,[10] die weder als dumm noch böse angesprochen werden können.[11] Als sol che, so betonte er, sollten wir Friedlosigkeit nicht als etwas Externes, außerhalb unseres Selbst Existierendes betrachten, als Ergebnis von 10
Dummheit oder Bösartigkeit, sondern uns eher „das Phänomen der Krankheit … vor Augen stellen“.[12] Er erläuterte, dass weder Belehrung noch Verdammung die Krank heit der Friedlosigkeit erfolgreich überwin den könnten: „Sie bedarf eines anderen Pro zesses, den man Heilung nennen sollte.“[13] „Wie sollen wir Kranken helfen, solange wir nicht das Kranke in uns selbst erkannt und gelernt haben, die anderen und uns selbst als Carl Friedrich von Weizsäcker, 1969 Kranke anzunehmen?“[14] Diese Art von Bewusstsein war es, so denke ich, das Weizsäcker in einer Zeit, als Großbritannien sich gerade im Wettlauf um Atom waffen zu den USA und der Sowjetunion gesellt hatte, dazu führte, einen einzigartigen Ansatz zu verfolgen. Das Göttinger Manifest von 1957, bei dessen Ausarbeitung er gemeinsam mit anderen Wissen schaftlern eine zentrale Rolle gespielt hatte, beleuchtet die Stellung Deutschlands in der Welt: „Für ein kleines Land wie die Bundesre publik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es a usdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzich tet.“[15] Diese Worte waren nicht so sehr an die Atommächte gerich tet, die sich in einem hitzigen Rüstungswettlauf befanden, sondern machen vielmehr grundsätzlich deutlich, welchen Standpunkt das Heimatland des Verfassers in der Atomfrage einnehmen sollte. Da rüber hinaus erklären die Verfasser des Manifests, dass sie als Wis senschaftler eine berufliche Verantwortung für die potenziellen Auswirkungen ihrer Arbeit tragen und als solche „nicht zu allen po litischen Fragen schweigen“ können.[16] Das Göttinger Manifest wurde zufällig im selben Jahr verabschiedet, in dem Josei Toda den auf seiner buddhistischen Überzeugung be ruhenden Aufruf zur Abschaffung aller Atomwaffen öffentlich 11
machte. Darin erkannte er zwar die Bedeutung von Initiativen gegen Atomwaffentests an, die zur damaligen Zeit aufkamen, stell te aber zugleich klar, dass, um eine grundlegende Lösung des Prob lems zu erreichen, die Denkweisen, die Atomwaffen rechtfertigten und damit unser aller Sicherheit bedrohten, mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müssten: „Ich möchte die Klauen des Bösen of fenlegen und herausreißen, die in den Tiefen solcher Waffen verbor gen liegen.“[17] Toda starb sechs Monate nach diesem Aufruf, mit dem er seinen Standpunkt noch einmal ganz deutlich gemacht hatte: Es ist keinem Menschen gestattet, das fundamentale Recht auf Leben, das allen Menschen weltweit zusteht, zu bedrohen. Die tiefe Bedeutung sei nes Aufrufs liegt darin, dass er die Frage der Atomwaffen, die zur Notwendigkeit erhoben wurden, um den Frieden und die Sicherheit bestimmter Staaten zu sichern, in den Bereich des intrinsischen Selbstwertes des Lebens verwies, und sie somit zu einer drängenden Frage für alle Menschen machte. In dem Versuch, diesen Geist weiterzutragen, habe ich unablässig betont, dass wir, wenn wir die Ära der Atomwaffen wirklich beenden wollen, den Kampf gegen den wahren Feind aufnehmen müssen. Und dieser Feind sind weder die Atomwaffen selbst noch die Staa ten, die sie besitzen oder entwickeln. Vielmehr sind es die Denkwei sen, die die Existenz solcher Waffen gestatten, die Bereitschaft, andere zu vernichten, wenn sie als Bedrohung oder Hindernis für die Umsetzung unserer eigenen Ziele wahrgenommen werden. Im September 1958, ein Jahr, nachdem Josei Toda seinen Aufruf veröffentlicht hatte, verfasste ich einen Text mit dem Titel Ein Weg aus dem brennenden Haus. In diesem Beitrag beziehe ich mich auf die im Lotos-Sutra enthaltene Parabel von den drei Wagen und dem bren- nenden Haus. Dieser Parabel zufolge fängt das Haus eines reichen Mannes plötzlich Feuer. Seine Kinder, die sich im Haus aufhalten, 12
empfinden das Haus als ungeheuer groß und nehmen daher die Ge fahr nicht wahr, in der sie sich befinden. Sie verspüren weder Über raschung noch Furcht. Der Mann überlegt sich deshalb, ihnen etwas Verlockendes anzubieten, damit sie aus eigenem Antrieb heraus kommen, und sorgt auf diese Weise dafür, dass alle das brennende Haus unbeschadet verlassen können. Ich zitierte diese Parabel, um zu verdeutlichen, dass jeglicher Einsatz von Atom- oder Wasserstoffbomben ein Akt des Jeglicher Einsatz von Atom- oder Selbstmords für die Erde wäre – die kollek Wasserstoffbomben wäre ein Akt tive Selbstzerstörung der Menschheit – und des Selbstmords für die Erde – die dass wir, weil Atomwaffen ein erhebliches kollektive Selbstzerstörung der Risiko für Menschen in allen Ländern dar Menschheit. stellen, miteinander kooperieren müssen, um einen Weg aus dem „brennenden Haus“ zu finden. Denn dieses Haus ist unsere ganze Welt, die in einer nie dagewesenen Gefahr schwebt.[18] Die Parabel ist ein Symbol dafür, dass unsere Anstrengungen im Kern darauf ausgerichtet sein müs sen, alle Menschen vor dieser Gefahr zu retten. In diesem Sinne stimme ich zutiefst mit der Sichtweise überein, die UN-Generalsekretär Guterres in seiner Abrüstungsagenda propa giert, wobei er drei neue Perspektiven erörtert, die über die Sicher heitsrhetorik, die so lange im Zentrum dieser Debatten stand, hinausweisen: Abrüstung zur Rettung der Menschheit, Abrüstung zur Rettung von Leben und Abrüstung um künftiger Generationen willen.[19] Was also müssen wir tun, um die Krankheit der Friedlosigkeit zu überwinden, deren Kern der Wille bildet, jedes Mittel anzuwen den, das nötig ist, um die eigenen Ziele zu erreichen, ohne einen Gedanken an den Schaden zu verschwenden, der damit angerich tet wird, und stattdessen die weltweit aufbrechenden Energien zu nutzen, um einen Abrüstungsprozess in Gang zu setzen und damit viele Leben zu retten? Ein heilungszentrierter buddhistischer 13
nsatz könnte einiges zur Erhellung der Frage beitragen, wie wir A mit dieser Herausforderung umgehen sollten. In den buddhistischen Schriften findet sich die Geschichte eines Mannes namens Angulimāla.[20] Dieser Zeitgenosse von Shakyamuni ist weithin als Massenmörder gefürchtet. Eines Tages entdeckt er Shakyamuni und beschließt, ihn zu töten. Doch obwohl er ihn mit aller Kraft verfolgt, ist er nicht imstande, ihn einzuholen. Völlig frustriert bleibt Angulimāla schließlich stehen und ruft „Bleib ste hen!“ Woraufhin Shakyamuni entgegnet: „Ich stehe schon, Angulimāla. Jetzt bleib auch du stehen.“ Daraufhin fragt ihn der völlig verblüffte Angulimāla, warum Shakyamuni ihn bitte, stehenzubleiben, wo er doch bereits aufge hört hätte, sich zu bewegen. Shakyamuni erklärt, dass er damit auf seine, Angulimālas, Taten angespielt habe, das gnadenlose Töten von Lebewesen und die Bösartigkeit, die dahinter stünde. Von Shakyamunis Worten tief bewegt, beschließt Angulimāla, sich die Bosheit aus dem Herzen zu reißen und seine schlimmen Taten zu beenden. Er wirft an Ort und Stelle seine Waffen hin und bittet darum, Shakyamunis Schüler werden zu dürfen. Von dieser Zeit an bereut Angulimāla die von ihm begangenen Verbrechen zutiefst und verschreibt sich auf der Suche nach Wiedergutmachung voller Ernsthaftigkeit dem buddhistischen Glauben. Es gibt in Angulimālas Geschichte noch einen zweiten Wendepunkt. Eines Tages, wie er so in der Stadt umhergeht und um Almosen bet telt, sieht er eine Frau, die unter den Schmerzen der Geburt leidet. Niemand ist da, um ihr beizustehen, und auch er fühlt sich zutiefst hilflos und geht von dannen. Allerdings kann er nicht aufhören, daran zu denken. Also geht er zu Shakyamuni und berichtet ihm, was er gesehen hat. Shakyamuni drängt ihn, sofort zu der Frau zu rückzukehren und die folgenden Worte zu sagen: „Schwester, seit meiner Geburt habe ich kein lebendes Wesen wissentlich vernich 14
Genfer Konventionen Bei den Genfer Konventionen handelt es sich um ein Bündel internationaler Ver- träge, die die Basis des internationalen Menschenrechts bilden. Ihre Ursprünge liegen im Jahr 1864, und sie gehen auf eine Initiative des Sozialaktivisten Henri Dunant (1828–1910) zurück. Die erste Genfer Konvention definierte die grundle- genden Rechte von Kriegsgefangenen und den Schutz von Verwundeten und Zivilpersonen. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wurden von einer diplomatischen Konferenz in Genf am 12. August 1949 vier Abkommen ange- nommen: (1) Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde; (2) Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See; (3) Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen; und (4) Ab- kommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Im Jahr 1977 wurden Zusatzprotokolle verabschiedet. tet. Durch dieses Wissen möge es dir wohl ergehen und auch dem einen, das geboren werden soll.“ Doch Angulimāla, der sich seiner bösen Taten vollständig bewusst ist, gelingt es nicht, Shakyamunis wahre Absicht zu begreifen. Dar aufhin stellt dieser klar, dass es Angulimāla ganz aus eigener Kraft bereits gelungen sei, das Böse, das hinter seinen Taten lauerte, zu vertreiben, denn er bereue ja zutiefst und widme sich mit großer Ernsthaftigkeit der Glaubensausübung. Wie, um ihn daran noch einmal zu erinnern, drängt Shakyamuni Angulimāla erneut, zu der schwangeren Frau zurückzugehen und ihr die folgenden Worte zu sagen: „Schwester, seitdem ich wiedergeboren bin als einer, der den edlen Weg sucht, habe ich keine Erinnerung daran, bewusst einem lebenden Wesen das Leben genommen zu haben. Durch dieses Wis sen möge es dir wohl ergehen und auch dem einen, das geboren werden soll.“ Angulimāla, der sehr wohl um Shakyamunis tiefgrei fendes Mitgefühl weiß, eilt also zu der Frau zurück und sagt diese 15
Worte zu ihr. Die leidende Frau ist beruhigt und bringt ihr Kind wohlbehalten zur Welt. Diese beiden Ereignisse verdeutlichen den Wandel, den Shakyamuni in Angulimāla zu bewirken hoffte. Zuerst versuchte er, dessen Auf merksamkeit auf das Böse zu lenken, auf die Absicht, anderen Scha den zuzufügen, die seine Handlungen so lange Zeit bestimmt hatte. Dann wies er ihm einen Weg, wie er das Leben von Mutter und Kind retten konnte, und lenkte ihn so zu der persönlichen Verpflichtung hin, jemand zu werden, der andere rettet. Es versteht sich von selbst, dass diese Parabel den inneren Wandel eines einzelnen Individuums beschreibt und in einer völlig anderen Zeit und einem völlig anderen kulturellen Kontext verortet ist. Dennoch ist sie auch für uns heute noch immer relevant, davon bin ich überzeugt, denn sie beschränkt sich nicht auf die Beendigung feindseliger Akte, sondern orientiert sich hin zur Rettung von Leben. Dies, so mein Vorschlag, könnte als nützliches Fundament für ein Heilmittel dienen, das imstande ist, die Gesellschaft im Kern zu verändern. Die Genfer Konventionen, die vor 70 Jahren angenommen wurden und in denen die grundlegenden Prinzipien der internationalen Menschenrechte niedergelegt sind, wurden 1949 mit der Absicht ausgearbeitet, die auch in der Geschichte Angulimālas ihren Wi derhall findet. Die Vorbereitungsarbeiten für die Konventionen, darunter das Ziel, Sicherheitszonen nicht nur für schwangere Frauen einzurichten, sondern für alle Frauen und Kinder sowie Alte und Kranke, leistete eine Konferenz des Internationalen Roten Kreuzes in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs. Zum Zeitpunkt der Annahme der Konventionen nach dem Krieg erklär ten die Staaten, die an der diplomatischen Konferenz teilgenom men hatten, das Folgende: 16
„[Die Konferenz] hofft ernsthaft, dass die Regierungen die Genfer Konventionen zum Schutz von Kriegsopfern zukünf tig niemals werden anwenden müssen … Es ist ihr größter Wunsch, dass alle Mächte, große und kleine, stets auf der Grundlage von Kooperation und Verständnis zwischen den Nationen einen Weg zur friedlichen Beilegung ihrer Differen zen finden mögen.“[21] Den Verfassern ging es nicht nur darum, vor einer Verletzung dieser Konventionen zu warnen. Ihr tiefster Wunsch bestand darin zu ver hindern, dass überhaupt Bedingungen eintraten, die großes Leid und den Verlust von Menschenleben nach sich ziehen und die Anwendung der Konventionen erfordern würden. In den Konventi onen – die das Fundament für die nachfolgende internationale Menschenrechtsgesetzgebung legten – manifestierte sich diese kraftvolle Entschlossenheit gerade deshalb, weil den Verhandlungs teilnehmenden die Grausamkeit und Tragik des Krieges noch immer vor Augen stand. Führen wir uns nicht unablässig die Ursprünge der Genfer Konven tionen vor Augen, werden wir in jener Art von Argumentation gefangen bleiben, die jede Handlung rechtfertigt, solange sie nicht explizit die Buchstaben des Gesetzes verletzt. Ganz besonders wichtig ist, dass wir dies in Anbetracht der rasanten Fortschritte bei der Entwicklung tödlicher, autonom agierender Waffensysteme (LAWS) unter Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) im Kopf behalten, denn hier tun sich Möglichkeiten auf, Kriege künftig ohne direkte Kontrolle durch den Menschen führen zu kön nen. Ein Scheitern des Versuchs, uns diesen Problemen zu stellen, birgt die Gefahr, dass der Geist der internationalen Menschenrech te, wie er in den Genfer Konventionen niederlegt ist, einem hohen Risiko ausgesetzt wird. 17
Heute mehr als je zuvor müssen wir unsere Anstrengungen verdop peln, um die Krankheit der Friedlosigkeit zu überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir gegen seitig diese Krankheit in uns anerkennen und unsere Kräfte verei nen, um ein Heilmittel dafür zu finden. Mit anderen Worten: Wir müssen eine gemeinsame Vision für eine friedvolle Gesellschaft entwickeln. Ich bin davon überzeugt, dass der Atomwaffenverbots vertrag (TPNW) Vorreiter jener Art von internationaler Abrüs tungsgesetzgebung ist, die dazu beitragen kann, eine solche Vision Gestalt annehmen zu lassen. Der TPNW ist eine Form internationaler Gesetzgebung, die weit über die Beschränkungen hinausgeht, mit der Vereinbarungen zur Abrüstung oder zum Schutz menschlichen Lebens traditionell be haftet sind. Jean Pictet (1914–2002), ehemaliger Generaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und be rühmt für seine Prägung des Begriffs „Humanitäres Völkerrecht“, betonte, dieses sei nichts anderes als „eine Umsetzung moralischer Grundsätze, oder, als deren Spezialfall, humanitärer Belange, in internationales Recht.“[22] Der TPNW ist der Kristallisationspunkt einer Lösung, wie sie sich die Hibakusha (Jap.: Explosionsopfer; Überlebende der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki) und viele andere wünschen, damit eine solche nukleare Tragödie sich niemals wiederholt. Dies steht exakt in der Genealo gie internationalen Rechts. Zudem weist der TPNW Charakteristika internationalen Hybrid rechts auf, eines neuen Standards, der in letzter Zeit immer mehr Aufmerksamkeit bekommt. Als rechtlicher Ansatz, der ursprüng lich vorgeschlagen wurde, um den Herausforderungen des Klima wandels in Zusammenhang mit Zwangsvertreibung zu begegnen. Das internationale Hybridrecht fördert einen Wandel in der Art und Weise, wie traditionell über die Klassifizierung von Gesetzen nach gedacht wird. In diesem Kontext ist der TPNW ein Rechtsinstru 18
Internationales Hybridrecht Beim internationalen Hybridrecht betrachtet man Probleme durch eine interdis- ziplinäre Linse und bezieht wechselseitige Zusammenhänge mit ein, die sich von einem einzelnen Rechtsgebiet aus nicht adäquat regeln lassen. Es hat sich seit 2007 in Reaktion auf den Klimawandel entwickelt und beleuchtet diesen aus drei Perspektiven: Umweltrecht, Menschenrechte und Flüchtlings- bzw. Migra- tionsrecht. Das Hybridrecht demonstriert die wechselseitigen Zusammenhänge dieser verschiedenen Perspektiven, denn ein Umweltproblem wie der Klima- wandel, hat einen beträchtlichen direkten Einfluss oder indirekte Auswirkungen auf Menschenrechte oder Migration. Das Hybridrecht erkennt die miteinander verwobenen Beziehungen rund um den Klimawandel an und definiert die Ver- antwortung von Staaten, darauf auf umfassende Weise zu reagieren, neu. ment, das den vernetzten Charakter der globalen Herausforderun gen, denen wir heute gegenüberstehen, anerkennt, und sie unter dem breitest denkbaren Dach zusammenbringt. Selbst Sicherheitsfragen, die zutiefst mit Fragen staatlicher Souve ränität verwoben sind, müssen zugleich Faktoren wie Umwelt, sozioökonomische Entwicklung, Weltwirtschaft, Nahrungsmittel sicherheit, Gesundheit und Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlech ter in Betracht ziehen – dies ist die Ausrichtung, die im TPNW ihren klaren Ausdruck gefunden hat. Der Diskurs zur atomaren Abrüs tung muss auf der gemeinsamen Erkenntnis und dem gemeinsamen Bewusstsein fußen, dass wir keine echte Sicherheit gewinnen kön nen, solange nicht jedes einzelne dieser miteinander verwobenen Probleme angegangen wird. Ansonsten werden Verhandlungen auch in Zukunft immer nur darauf abzielen, die Anzahl der Waffen auszubalancieren, die jede Seite besitzt, und es wird immer schwie riger werden, über den Kontext der bloßen Waffenkontrolle hinaus zugehen. 19
In diesem Sinne kann der TPNW genau den Anstoß geben, der nötig ist, um den langanhaltenden Stillstand in Fragen der nuklearen Ab rüstung zu durchbrechen. Indem wir das Unterstützernetzwerk für den Vertrag erweitern, können wir zudem große Schritte zur Erlan gung folgender Ziele unternehmen: Öffnung eines Weges hin zu einer Welt der Menschenrechte, die auf gegenseitigem Respekt und der Achtung der Würde aller Menschen basieren; Erschaffung einer Welt der Menschlichkeit, in der das Glück und die Sicherheit aller Menschen im Mittelpunkt stehen, Erschaffung einer Welt der Ko existenz, die auf der gemeinsamen Verantwortung für die Umwelt und künftige Generationen beruht. Dies, so denke ich, kann der größte Beitrag des TPNW zur Menschheitsgeschichte sein. Menschenzentrierter Multilateralismus Das nächste Thema in Bezug auf Abrüstung, das ich erörtern möch te, ist die Zusammenarbeit für einen Multilateralismus, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Dieser Ansatz fand zum ersten Mal im Abschlussdokument der Konferenz der UN-Hauptabteilung für Presse und Information (UN DPI)[23] und von Nichtregierungsorga nisationen (NGOs) im vergangenen August (DPI/NGO-Konferenz) Erwähnung. Er ist darauf ausgerichtet, jene zu schützen, die den schlimmsten Bedrohungen ausgesetzt sind und sich den größten Herausforderungen stellen müssen. Zwar kam die Idee eines menschenzentrierten Multilateralismus ursprünglich im Kontext der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeits ziele (SGDs) zur Sprache, ich habe jedoch das Gefühl, dass sie auch einen bedeutenden Beitrag dazu leisten kann, den Strom der Welt ereignisse in Richtung Abrüstung zu lenken. Genauso, wie UN- Generalsekretär Guterres anlässlich der Verabschiedung der UN- Abrüstungsagenda gewarnt hatte, nehmen die weltweiten Militärausgaben stetig zu, während die Ressourcen, die zur Verfü 20
gung stehen, um auf humanitäre Krisen zu reagieren, weiterhin un zureichend sind. Jährlich sind im Durchschnitt mehr als 200 Milli onen Menschen von Naturkatastrophen betroffen.[24] Mit dem Hungerproblem ist es ganz ähnlich. Im Jahr 2017 litten 821 Millio nen Menschen Hunger, und knapp 151 Millionen Kinder im Alter unter fünf Jahren litten an Wachstumsstörungen als Folge von Mangelernährung.[25] Solche Fakten zwingen uns, die Bedeutung und die Ziele von existierenden nationalen Sicherheitskonzepten zu hinterfragen. An dieser Stelle lohnt es sich, so denke ich, die Ansichten von Hans van Ginkel, dem ehemaligen Rektor der Universität der Vereinten Nationen, zum Wesen und zu den Zielen menschlicher Sicherheit zu zitieren. Ginkel erkennt zwar an, dass die Sicherheitsfrage eine sehr komplexe Materie ist, stellt aber zugleich fest, dass es, wenn wir die Welt aus der Perspektive jedes einzelnen Individuums betrachten, sehr klar wird, was genau Menschen als Bedrohung oder Quelle von Unsicherheit erleben: „Dennoch ist klar, dass traditionelle Sicherheitsstrategien darin gescheitert sind, einer bedeutenden Anzahl von Men schen weltweit echte Sicherheit auf individueller Ebene zu bieten … Nach wie vor sind in internationale Beziehungen und politische Entscheidungsprozesse Haltungen und Insti tutionen eingebettet, die der ‚hohen Politik‘ Priorität einräu men vor Krankheit, Hunger oder Analphabetismus. Tatsäch lich haben wir uns so an diesen Ansatz gewöhnt, dass für viele ‚Sicherheit‘ gleichbedeutend ist mit ‚staatlicher Sicherheit‘.“[26] Ginkel verweist hier auf die Tatsache, dass, verglichen mit Fragen nationaler Sicherheit, die Reaktion auf Bedrohungen des Lebens und der Lebensgrundlagen von Individuen offenbar als nicht so dringend wahrgenommen werden. Im Ergebnis wird für eine große Zahl von Menschen jede sinnvolle Bedeutung von Sicherheit ad ab surdum geführt. 21
In einer anderen Rede beschreibt Ginkel die Misere von Menschen, die in extremer Armut leben: „Wie soll man denn die Freuden genießen und die Bedeutung erfahren, die dem menschlichen Leben innewohnen, wie ein menschenwürdiges Leben führen, wenn noch nicht einmal das Überleben von Tag zu Tag – ja, von Tag zu Tag, häufig sogar von Stunde zu Stunde – garantiert ist? Wie soll man sich eine Zukunft ausmalen und Bindungen mit anderen ein gehen, wenn die eigentliche Herausforderung darin besteht, den nächsten Tag zu erleben?“[27] Diese Worte verdeutlichen auf eindrucksvolle Weise, wie tief das Leid jener ist, deren Interessen im Kontext traditioneller Denkmus ter zum Thema Sicherheit bisher übersehen worden sind. Und dies betrifft nicht nur Menschen, die von Armut oder Ungleichheit be troffen sind, sondern auch jene, die aus ihrem Zuhause vertrieben werden und gezwungen sind, vor bewaffneten Konflikten oder Na turkatastrophen zu fliehen. Die Grundlage für einen Multilateralismus, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht, müssen Anstrengungen bilden, eine Welt zu er schaffen, in der alle Menschen ein Gefühl echter Sicherheit empfin den und gemeinsam Hoffnungen für die Zukunft nähren können. Von Grund auf neu muss dieser Ansatz allerdings nicht gedacht werden, denn er steht bereits im Mittelpunkt ambitionierter Vorha ben in Afrika, wo er eines der Elemente bildet, um auf die vielen ernsten Herausforderungen zu reagieren, denen sich der Kontinent gegenübersieht. Die Gründung der Afrikanischen Union 2002 war in dieser Hinsicht ein Wendepunkt. Vor dem Hintergrund der Anstrengungen zur Entwicklung effizien terer kooperativer Ansätze zum Umgang mit humanitären Krisen trat 2012 die Konvention zu Schutz und Hilfe von Binnenvertriebe nen in Afrika (Kampala-Konvention) in Kraft. Es handelt sich um 22
ein bahnbrechendes Abkommen, das völlig neue Aspekte enthält und darauf abzielt, regional übergreifende Anstrengungen zu un ternehmen, um Binnenflüchtlinge zu schützen. Und es gibt auch andere bemerkenswerte Beispiele für Flüchtlings hilfe in afrikanischen Ländern. So hat etwa Uganda circa 1,1 Millio nen Menschen aufgenommen, die vor Konflikten im Südsudan und anderswo auf der Flucht sind.[28] Zusätzlich zu dem Recht, sich frei zu bewegen und eine Arbeit aufnehmen zu können, wird Geflüchte ten Land zugewiesen, das sie bebauen können, und sie werden in das lokale Bildungs- und Gesundheitssystem integriert. Viele Men schen in Uganda haben das Elend bewaffneter Konflikte und Ver treibung als Geflüchtete selbst erlebt, und diese Erinnerungen scheinen die Grundlage für die Unterstützung einer solchen Politik zu bilden. In Tansania gibt es ein ähnlich herausragendes Beispiel. Das Land bietet derzeit mehr als 300.000 Geflüchteten aus Nach barstaaten Zuflucht.[29] In Kooperation mit der lokalen Bevölkerung werden einige dieser Geflüchteten in Aktivitäten einbezogen, um in Baumschulen neue Pflanzen heranzuziehen. Dieses Projekt wurde als Reaktion auf die vorangetriebene Entwaldung und Auslaugung der Böden initiiert, verursacht durch die Notwendigkeit, Feuerholz zu beschaffen. Es hat bis heute zur Anpflanzung von etwa zwei Mil lionen neuer Bäume in Flüchtlingslagern und umgebenden Gebie ten geführt. Das Bild so vieler grüner Bäume, die in der großartigen Erde Afrikas gepflanzt werden, ruft mir auf krafttvolle Weise die Überzeugung meiner verstorbenen Freundin Wangari Maathai (1940–2011) ins Gedächtnis: Das Pflanzen von Bäumen kann hel fen, das Land zu heilen und den Kreislauf der Armut zu durchbre chen. „Bäume“, so schrieb sie, „sind ein lebendes Symbol für Frieden und Hoffnung.“[30] Für Geflüchtete, die darum ringen, sich ein neues Leben aufzubauen, sind die Bäume, die sie selbst herangezogen haben, zweifellos ein Symbol der Hoffnung, ein Versprechen auf Si cherheit, die diesen Namen verdient. 23
Seit mehr als fünf Jahrzehnten vertrete ich nun schon die Auffas sung, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Afrikas sein wird. Dies beruht auf meiner unerschütterlichen Überzeugung, dass jene, die am meisten leiden, das größte Recht darauf haben, glücklich zu sein. In Afrika können wir den Beginn eines neuen, menschenzen trierten Multilateralismus sehen, ein Ansatz, der für die ganze Welt sehr vielversprechend ist. Dem Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) zufol ge leben derzeit etwa 30 Prozent der Geflüchteten in Afrika.[31] Im Dezember vergangenen Jahres verabschiedeten die Vereinten Nati onen den Globalen Flüchtlingspakt (Global Compact on Refugees) und erkannten damit die Schwierigkeiten an, denen sich Länder ge genübersehen, die eine große Anzahl von Geflüchteten aufnehmen und keinerlei Unterstützung dafür erhalten. Die internationale Ge meinschaft muss zusammenkommen und ihre gemeinsamen An strengungen intensivieren, um nicht nur den Geflüchteten selbst zu helfen, sondern auch den Ländern, die sie aufnehmen. Unter den Menschen, die in Ländern leben, welche nicht direkt von der so genannten Flüchtlingskrise oder dem Armutsproblem be troffen sind, gibt es eine bedauerliche Neigung, sich diesen Heraus forderungen und der Verantwortung, sie zu lösen, zu entziehen. Das Ziel eines menschenzentrierten Multilateralismus besteht darin, die Unterschiede in den nationalen Sichtweisen zu überwin den und Wege zu finden, um das Leid der Menschen, die sich erns ten Bedrohungen oder Krisen ausgesetzt sehen, zu lindern. Die Geschichte von den vier Begegnungen Shakyamunis beschreibt den Ausganspunkt der Lehren des Buddhismus, und sie ist ein guter Hinweis auf den Bewusstseinswandel, der heute notwendig ist. Ge boren als Sohn einer Königsfamilie im alten Indien, genoss Shakyamuni einen hohen politischen Status und lebte in materiel lem Überfluss. Seine Jugendjahre verbrachte er in einer Umgebung, 24
Globaler Pakt für Flüchtlinge Der im Dezember 2018 von der UN-Vollversammlung verabschiedete globale Pakt für Flüchtlinge (Global Compact on Refugees) setzt ein Rahmenwerk für besser vorhersagbare und angemessenere Reaktionen der internationalen Ge- meinschaft auf die massenhafte Bewegung von Geflüchteten. Der globale Pakt zielt darauf ab, Druck von den Gastländern zu nehmen, Geflüchteten die Mög- lichkeit einzuräumen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre Integration in die nationale Entwicklungsplanung der Gastländer zu unterstützen und Bedin- gungen zu fördern, die sie in die Lage versetzen, freiwillig in ihre Heimatländer zurückzukehren. Durch Investitionen in den Dienstleistungssektor und die Infra struktur der Gastländer will der Pakt sicherstellen, dass ein Ansatz verfolgt wird, der die Menschen in den Mittelpunkt stellt und dafür sorgt, dass Ortsansässige wie Geflüchtete direkt davon profitieren. in der ihm und seiner Familie eine riesige Zahl von Menschen als Bedienstete unmittelbar zur Verfügung stand. So brauchte er sich niemals Sorgen zu machen wegen der Kälte des Winters oder der Hitze des Sommers oder darum, dass seine Kleidung jemals von Staub, Spreu oder dem Tau der Nacht verschmutzt sein würde.[32] Eines Tages aber trat Shakyamuni vor die Tore des Palastes, wo er auf Menschen traf, die an Krankheiten oder Altersschwäche litten. Auch stieß er auf die Leiche eines Mannes, der direkt neben der Straße gestorben war. Von diesen Begegnungen zutiefst erschüt tert, spürte er sehr intensiv, dass niemand, er selbst eingeschlossen, den Leiden von Geburt, Alter, Krankheit und Tod entgehen konnte. Was ihm jenseits dieser Leiden den größten Schmerz bereitete, war die Tatsache, dass so viele Leute glaubten, gegen diese Leiden immun zu sein, und als Ergebnis davon diejenigen, die litten, ver achteten und sich von ihnen distanzierten. Später, als er sich diese Ereignisse wieder ins Gedächtnis rief, beschrieb er die menschliche Psyche wie folgt: 25
„Gemeine Sterbliche – obwohl sie selbst altern werden und den Verfall nicht verhindern können – grübeln, wenn sie an dere altern und vergehen sehen, in ihrer Torheit darüber nach, verzweifeln, verspüren darüber Scham und Hass, ohne das alles jemals als ihr eigenes Problem anzunehmen.“[33] Seine Worte treffen nicht nur auf die Leiden des Alterns zu, sondern auch auf das Leid, krank zu werden und zu sterben. Unser Gefühl, in keinerlei Beziehung zu den Leiden anderer zu stehen, der Wider wille, den wir sogar verspüren mögen, wurde von Shakyamuni als die Arroganz der Jungen gebrandmarkt, die Arroganz der Gesun den, die Arroganz der Lebenden. Betrachten wir diese Arroganz noch einmal neu, unter dem Aspekt zwischenmenschlicher Bezie hungen, so können wir klar erkennen, wie die Apathie und der Man gel an Mitgefühl, die aus dieser Arroganz erwachsen, das Leiden anderer tatsächlich vertieft und intensiviert. In jeder Epoche können sich solche Einstellungen verfestigen – jener Fatalismus etwa, der Armut oder schreckliche Lebensbedin gungen dem vorbestimmten Schicksal einer einzelnen Person zu schreibt oder als Ergebnis persönlichen Versagens ansieht, oder die Negation jeglicher Moral, die die Verantwortung für allen Schaden oder Schmerz, den man jemand anderem zugefügt hat, verneint. Shakyamunis Reaktion auf solche Einstellungen bestand in seiner Lehre, dass es ungeachtet der verschiedenen, unvermeidbaren Lei den, die das Leben mit sich bringt, möglich ist, das eigene Leben durch die volle Entfaltung unseres inneren Potenzials zu transfor mieren. Zudem tragen unsere Anstrengungen, Mitgefühl mit jenen zu empfinden, die mit Schwierigkeiten kämpfen, und sie zu unter stützen, dazu bei, Netzwerke gegenseitiger Ermutigung zu knüpfen und so die Möglichkeit zu schaffen, dass ein Gefühl der Sicherheit und Hoffnung aufkeimen und wachsen kann. 26
Der Buddhismus beschränkt seinen Fokus nicht auf die unvermeid lich mit dem Leben verbundenen Leiden, sondern bezieht auch die Realität von Menschen mit ein, die sich innerhalb der Gesellschaft diversen Schwierigkeiten gegenübersehen. Daher finden wir im Mahayana-Buddhismus (im Sutra zu den Upāsaka-Regeln) die Ermutigung, Brunnen Es gibt kein Glück, das nur uns allein zu bauen, Obstbäume zu pflanzen und Be gehört, kein Leid, dass in Gänze auf wässerungskanäle zu graben, den Alten, andere beschränkt bleibt. Jungen und Schwachen zu helfen, Flüsse zu überqueren, und jene zu trösten, die ihr Land verloren haben.[34] Dies drängt uns dazu, anzuerkennen, dass wir womöglich an irgendeinem Punkt in unserem Leben auch die Leiden erfahren, von denen andere betroffen sind – dass es kein Glück gibt, das nur uns allein gehört, kein Leid, dass in Gänze auf andere beschränkt bleibt – und nach Wohlergehen für uns selbst und andere zu streben. Darin drückt sich der essenzielle Geist des Buddhismus aus. Den Schmerz und die Leiden anderer als eigenen Schmerz und ei gene Leiden anzunehmen, genau darin liegt die philosophische Quelle für die Aktivitäten der SGI als glaubensbasierte Organisati on (FBO). Wir arbeiten daran, Antworten auf globale Herausforde rungen wie Frieden und Menschenrechte, Umwelt und humanitäre Belange zu finden. Mir scheint es klar zu sein, dass es eine tiefe Kontinuität gibt zwi schen der menschlichen Psyche, wie Shakyamuni sie beobachtet hat – dem Wegschieben von Alter oder Krankheit als irrelevant und die daraus resultierende Kälte, die unseren Kontakt mit Menschen be stimmt, die solches erleiden – und dem Phänomen, das heute zu beobachten ist, dass Menschen die Armut, den Hunger oder die Konflikte, von denen andere betroffen sind, als irrelevant für ihr eigenes Leben empfinden und daher am liebsten ignorieren. 27
Dies ruft mir die folgende Passage aus dem Abschlussdokument der DPI/NGO-Konferenz wieder ins Gedächtnis, von der ich oben ge sprochen habe: „Wir, die Völker, lehnen die falsche Wahl zwischen Nationalismus und Globalismus ab.“[35] In der Tat verstärkt Natio nalismus – die Einstellung „mein Land zuerst“ – die Tendenz zur Fremdenfeindlichkeit und das Voranschreiten eines Globalismus, der sich einzig und allein an Profit orientiert und so eine Welt er schafft, in der die Schwachen zur Beute der Starken werden. Aus diesem Grunde stimme ich der Auffassung zu, dass die heutige Zeit erfordert, dass alle Länder zusammenarbeiten, um einem men schenzentrierten multilateralen Ansatz, der sich darauf konzent riert, jene zu schützen, die sich ernsten Bedrohungen oder Heraus forderungen gegenübersehen, zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn wir uns die Geschichte der Anstrengungen ansehen, die un ternommen wurden, um Sicherheit zu erschaffen, begegnen wir häufig der Vorstellung, dass wir sicher sein werden, wenn die Mauern unserer Burg nur stark genug sind. Heute nimmt diese Vorstellung die Form des Konzeptes an, dass unsere Sicherheit garantiert sein wird, solange wir innerhalb unserer nationalen, von einem starken Militär geschützten Grenzen leben. Tatsächlich erzeugen aber globale Probleme wie der Klimawandel Schäden und Leid, die nicht an Staatsgrenzen halt machen. Es braucht einen neuen Ansatz. Als ein Beispiel hierfür möchte ich das Abkommen von Escazú an führen, ein bahnbrechendes Rahmenwerk, das im März vergange nen Jahres von den Ländern Lateinamerikas und der Karibik ange nommen wurde, um Rechte in Zusammenhang mit Umweltfragen zu schützen. Die Region leidet immer wieder unter den Folgen tro pischer Wirbelstürme und der Übersäuerung der Ozeane. Zusätz lich zu Vereinbarungen über eine Stärkung der regionalen Zusam menarbeit enthält das Abkommen auch menschenzentrierte politische Ziele wie den Schutz von Umweltaktivistinnen und -akti 28
visten sowie die Einbeziehung einer ganzen Reihe verschiedener Standpunkte, wenn wichtige Entscheidungen anstehen. Außerdem werden viele bemerkenswerte Anstrengungen im globa len Maßstab unternommen. Vor zwei Jahren initiierte das UN- Umweltprogramm die Kampagne für saubere Meere, die darauf abzielt, Plastik als eine Hauptquelle der Meeresverschmutzung deutlich zu reduzieren. Gegenwärtig beteiligen sich daran mehr als 50 Staaten, deren Küstenlinien zusammengenommen mehr als 60 Prozent der gesamten weltweiten Küstenlinien ausmachen.[36] Traditionell bedeutete der Schutz der Küsten, dass sie vor allem im Fokus militärischer Verteidigungsaktivitäten standen, doch jetzt nimmt das Ganze allmählich eine vollkommen neue Bedeutung an: über nationale Differenzen hinwegsehen, um die Ozeane zu schüt zen, und miteinander kooperieren, um die ökologische Integrität zu erhalten. Blicken wir zurück in die Geschichte, dann stellen wir fest, dass so wohl ein ausländerfeindlicher Nationalismus als auch eine Globali sierung, deren oberste Priorität die Erzielung von Profit ist, in dem Imperialismus wurzeln, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun derts aufkam und schnell zu einer gewaltigen Triebkraft wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die destruktiven Folgen des Imperialismus weltweit sichtbar. Tsunesaburo Makiguchi (1871–1944), der Gründungspräsident der Soka Gakkai, forderte 1903 eine Beendigung jener Art von konkurrenzgeprägtem Überle benskampf, in dem Länder ihre Sicherheitsinteressen und ihren Wohlstand auf Kosten der Einwohnerinnen und Einwohner anderer Länder wahren. An seine Stelle, so forderte er, müssten wahrhaft humane Wettbewerbsbedingungen treten. Die Quintessenz defi nierte er als „eine bewusste Teilnahme am kollektiven Leben“, wobei man sich entschließt, „Dinge zum Wohle anderer zu tun, denn indem wir dafür sorgen, dass andere profitieren, profitieren wir 29
selbst“.[37] Unsere heutige Welt hat diese Art der Neuorientierung dringend nötig. Durch die fortschreitende Anhäufung von Erfahrungen gegenseiti ger Unterstützung und Zusammenarbeit in Reaktion auf humanitä re Krisen und Umweltprobleme können wir Vertrauen und ein Ge fühl der Sicherheit nähren, um die Spannungen und Konflikte zu entschärfen, die aus der Krankheit der Friedlosigkeit erwachsen. Von dort aus sollten wir in der Lage sein, einen Ausweg aus dem Wettrüsten zu finden, in dem wir derzeit gefangen sind. Diesen September wird im UN-Hauptquartier ein Klimagipfel abge halten – eine ausgezeichnete Gelegenheit, einen Multilateralismus, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht, auf globaler Ebene vor anzubringen. Ich fordere eindringlich dazu auf, diese Chance zu nutzen und wichtige Gebiete für Kooperation und Zusammenarbeit zu benennen, um das Leben und die Würde unserer Mitmenschen zu schützen, mit denen wir diesen Planeten teilen, effizientere poli tische Strategien zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu ent wickeln und den Wandel in unserem Sicherheitsverständnis weiter voranzutreiben. Umfassende Einbindung der Jugend Das dritte und letzte Abrüstungsthema, das ich diskutieren möchte, ist die umfassende Einbindung der Jugend. Bei der UN ist „Jugend“ mittlerweile auf vielen Gebieten zu einem Schlüsselbegriff geworden. Den Kern dieser Entwicklung bildet die Jugend2030-Strategie, die letzten September gestartet wurde. Ihr Ziel besteht darin, die weltweit 1,8 Milliarden jungen Menschen zu befähigen und die Grundlagen dafür zu schaffen, dass sie in einem intensiveren Engagement zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige 30
Entwicklung (SDGs) die Führung übernehmen. Ähnliche Entwick lungen sind auch auf dem Gebiet der Menschenrechte zu beobach ten. Hier hat die UN die Jugend als Ziel und Kernpunkt der vierten Phase des Weltprogramms Menschenrechtsbildung und -training ausgerufen. In meinem Friedensvorschlag aus dem vergangenen Jahr habe ich solch eine Ausrichtung befürwortet und hoffe, dass alle notwendigen Anstrengungen unternommen werden, um si cherzustellen, dass diese vierte Phase ein Erfolg wird. Die Bedeutung der Jugend im Kampf für Abrüstung ist klar. Auch UN-Generalsekretär Guterres hat dies in der Abrüstungsagenda aus drücklich betont. Die Tatsache, dass er der Universität Genf den Vor zug vor dem UN-Hauptquartier oder einem anderen diplomatischen Veranstaltungsort gab, um die Agenda zu verkünden, spricht für sich. „Und junge Menschen, wie die heute hier anwesenden Studie renden, sind die wichtigste Kraft für den Wandel in unserer Welt … Ich hoffe, Sie werden Ihre Kraft und Ihre Verbindungen nutzen, um für eine friedliche Welt einzutreten. Eine Welt, die frei ist von Atomwaffen; eine Welt, in der der Besitz anderer Waffen kontrolliert und reglementiert ist; eine Welt, in der die vorhandenen Ressourcen dazu genutzt werden, allen Men schen Chancen zu bieten und Wohlstand zu sichern.“[38] Damit sprach er neben dem seit langem schwelenden Problem der Atomwaffen auch die Konfliktrisiken an, die von der Entwicklung neuer Technologien ausgehen, und stellte beides als ernsthafte Be drohung für die Zukunft seiner jungen Zuhörerinnen und Zuhörer dar. Insbesondere erwähnte er Cyberattacken als Quelle ganz spe zieller Sorge. Cyberwaffen könnten nicht nur benutzt werden, um militärische Ziele zu treffen, sondern auch, um kritische Infra strukturen zu unterwandern und ganze Gesellschaften lahmzule gen. Sie bergen das Risiko, eine große Anzahl von Zivilistinnen und Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen und gravierende Schäden zu verursachen. 31
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