Der Mensch im Mittelpunkt: Aufbruch in eine Ära des Friedens und der Abrüstung - SGI-D

 
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Daisaku Ikeda

Der Mensch im Mittelpunkt:
Aufbruch in eine Ära des Friedens
und der Abrüstung

Friedensvorschlag 2019
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Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors bzw. des Rechte­
inhabers unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Ein­
speicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© Daisaku Ikeda
Englische Übersetzung © Soka Gakkai
Deutsche Übersetzung © Soka Gakkai International-Deutschland e. V.
Aus dem Englischen übersetzt von Katrin Harlaß und Katja Wagner

Gedruckt auf Recyclingpapier
1. Auflage
Gestaltung: Büro für visuelle Gestaltung, Katrin Pfeil, Mainz
Inhalt

Eine gemeinsame Vision                         7
Menschenzentrierter Multilateralismus         20
Umfassende Einbindung der Jugend              30
Freunde des Atomwaffenverbotsvertrags         40
Eine vierte Sondersitzung der
UN-Generalversammlung45
Verbot von tödlichen autonomen Waffen         54
Ausbau von UN-Initiativen zum
Wasserressourcen-Management61
Universitäten: Zentren für die Förderung der
nachhaltigen Entwicklungsziele                68
Endnoten75
Bibliografie76
Fotonachweis79

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Der Mensch im Mittelpunkt:
   Aufbruch in eine Ära des Friedens
   und der Abrüstung
   von Daisaku Ikeda
   Präsident, Soka Gakkai International
   26. Januar 2019

Inmitten permanent zunehmender globaler Herausforderungen
werden Krisen, die bisher undenkbar waren, jetzt weltweit zur Rea­
lität.

Besonders alarmierend ist das Problem des Klimawandels. Die glo­
bale Durchschnittstemperatur lag während der vergangenen vier
Jahre jeweils höher als die jemals verzeichnete[1], und die Folgen
extremer Wetterphänomene sind überall spürbar. Auch die soge­
nannte Flüchtlingskrise bleibt eine Quelle tiefer Besorgnis. Ende
2017 sahen sich weltweit 68,5 Millionen Menschen aufgrund von
Konflikten und aus anderen Gründen gezwungen, ihre Heimat zu
verlassen.[2] Zusätzlich werfen Handelsstreitigkeiten einen dunklen
Schatten auf die Gesellschaft. Während der Generaldebatte anläss­
lich der Generalversammlung der Vereinten Nationen im letzten
Jahr brachten viele Führungspersönlichkeiten aus der ganzen Welt
angesichts der jüngsten Entwicklungen in den internationalen Han­
delsbeziehungen und deren Folgen für die Weltwirtschaft ihre tiefe
Sorge zum Ausdruck. Neben all diesen Herausforderungen hat die

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UN auch im Zusammenhang mit Abrüstungsfragen dringend zum
    Handeln aufgerufen.

    UN-Generalsekretär António Guterres veröffentlichte im Mai des
    vergangenen Jahres in Form der UN-Abrüstungsagenda einen um­
    fassenden Bericht zu diesem Thema. Er führte die Tatsache an, dass
    die jährlichen weltweiten Militärausgaben den Umfang von 1,7 Bil­
    lionen US-Dollar[3] überschritten und damit das höchste Niveau seit
    dem Fall der Berliner Mauer erreicht hätten[4] und warnte: „Wenn
    jedes Land seine eigenen Sicherheitsinteressen ohne Rücksicht auf
    andere verfolgt, schaffen wir eine globale Unsicherheit, die uns alle
    bedroht.“[5] Er führte aus, dass die Summe der Militärausgaben etwa
    80 Mal höher sei als der Betrag, der nötig wäre, um die humanitären
    Bedürfnisse der Menschen weltweit zu befriedigen. Seine tiefe
    Sorge gilt der zunehmenden Kluft zwischen Ressourcenverteilung
    und der Tatsache, dass dringend notwendige Mittel zur Beendigung
    von Armut, Förderung von Gesundheit und Bildung, Bekämpfung
    des Klimawandels und Einleitung weiterer Maßnahmen zur Ret­
    tung des Planeten nicht eingesetzt würden.

    Sollte sich dieser Trend fortsetzen, besteht das Risiko, dass alle
    Fortschritte, die bereits gemacht wurden, um die Ziele für nachhal­
    tige Entwicklung (SDGs) zu erreichen, die darauf ausgerichtet sind,
    dass niemand zurückgelassen wird, zum Stillstand kommen.

    Abrüstung, seit Gründung der UN eines ihrer wichtigsten Ziele, war
    auch mir stets ein persönliches Anliegen und ist eines der zentralen
    Themen der Friedensvorschläge, die ich seit nunmehr über 35 Jah­
    ren jährlich verfasse. Ich gehöre jener Generation an, die die Gräuel
    des Zweiten Weltkriegs noch selbst erlebt hat, und trage das geistige
    Erbe von Josei Toda (1900–1958), des zweiten Präsidenten der Soka
    Gakkai, weiter. Er war fest entschlossen, die Welt von allem Elend
    und Leid zu befreien und setzte sich permanent dafür ein, um dieses
    Ziel zu erreichen. Mir ist daher überaus bewusst, dass Abrüstung

6
unabdingbar ist, wenn wir Konflikte und Gewalt ausrotten wollen,
welche die Würde und das Leben so vieler Menschen bedrohen.

Die Menschheit besitzt die Kraft der Solidarität, eine Stärke, mit der
wir alle Gegensätze überwinden können. Tatsächlich wurde durch die
Kraft eben dieser Solidarität vor zwei Jahren der Atomwaffenver­
botsvertrag (TPNW) angenommen – eine Unternehmung, deren er­
folgreiche Umsetzung lange Zeit als unmöglich galt – und ist inzwi­
schen auf dem Weg zu seiner Ratifizierung und seinem Inkrafttreten.

Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste. Jetzt ist es an der
Zeit, diese Entwicklung zu beschleunigen und echte Abrüstung zu
erreichen, indem wir die derzeitigen Krisen als Chancen sehen, die
Geschichte neu zu schreiben. Ich möchte zu diesem Zweck drei
Kernthemen vorschlagen, die als eine Art Gerüst bei der Umsetzung
von Anstrengungen dienen könnten, die Abrüstung im 21. Jahr­
hundert zu einem Eckpfeiler der zukünftigen Entwicklung der Welt
zu machen: die Erarbeitung einer gemeinsamen Vision von einer
friedvollen Gesellschaft; die Förderung eines Multilateralismus, der
die Menschen in den Mittelpunkt stellt; und die umfassende Ein­
bindung der Jugend.

   Eine gemeinsame Vision

Das erste Thema, das ich näher beleuchten möchte, ist die Notwen­
digkeit, eine gemeinsame Vision von einer friedvollen Gesellschaft
zu entwickeln.

Die Allgegenwart von Waffen lässt das Bedrohungsrisiko weltweit
steigen. Obwohl der Waffenhandelsvertrag, der den internationa­
len Handel mit konventionellen Waffen – von Handfeuerwaffen bis
hin zu Panzern und Raketen – regelt, 2014 in Kraft trat, sind die
Hauptexportländer von Waffen hierbei auch weiterhin außen vor.

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Dies macht es schwierig, die Verbreitung von Waffen in Konflikt­
    regionen zu unterbinden. Zudem mussten wir immer wieder den
    Einsatz von chemischen und anderen zutiefst inhumanen Waffen
    erleben. Ebenso hat die Modernisierung von Waffentechnologien
    ernste Fragen aufgeworfen: Angesichts militärischer Drohnenan­
    schläge, bei denen die Zivilbevölkerung getroffen wird, verstärkt
    sich die Besorgnis in Bezug auf Fragen im Zusammenhang mit den
    internationalen Menschenrechten.

    Und auch beim Thema Atomwaffen herrschen zunehmend Spannun­
    gen. US-Präsident Donald Trump kündigte vergangenen Oktober
    an, dass die Vereinigten Staaten die Absicht hätten, aus dem INF-
    Vertrag (Vertrag über Atomwaffen mittlerer Reichweite) mit Russ­
    land auszusteigen. Da es anhaltende Streitigkeiten über die Einhal­
    tung der in diesem Vertrag niedergelegten Regeln zwischen den
    beiden Ländern gibt, besteht die Gefahr, dass – sollte der INF-Ver­
    trag tatsächlich scheitern – eine neue Atomwaffenaufrüstungsspira­
    le in Gang gesetzt wird, an der auch andere Atommächte beteiligt
    sein werden. Solche Umstände verdeutlichen in der Tat die Feststel­
    lungen von UN-Generalsekretär Guterres im Vorwort zur UN-Ab­
    rüstungsagenda. Dort heißt es: „Die Spannungen des Kalten Krieges
    sind zurückgekehrt in eine Welt, die komplexer geworden ist.“[6]

    Warum scheint sich die Geschichte im 21. Jahrhundert auf diese
    Weise zu wiederholen? Ich fühle mich an dieser Stelle an die beein­
    druckenden Worte des bedeutenden Physikers und Philosophen
    Carl Friedrich von Weizsäcker (1919–2007) erinnert, der sein ge­
    samtes Leben dem Weltfrieden widmete. Dieses Thema war im Üb­
    rigen eines von vielen, die ich später auch im Dialog mit seinem
    Sohn, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Ehrenpräsident des Club of
    Rome, erörtert habe.

    C. F. von Weizsäcker beschrieb die Zeit zwischen 1989, dem Ende
    des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer, und 1990, dem

8
Jahr der deutschen Wiedervereinigung, und stellte fest, dass sich
jedoch, betrachte man die Welt als Ganzes, keine entscheidende
Veränderung feststellen ließe.[7] Für jemanden, der einen Großteil
seines Lebens im geteilten Deutschland verbracht und wiederholt
die historische Bedeutung der Abfolge von Ereignissen betont hatte,
die zum Ende des Kalten Krieges führten, war dies eine überra­
schende Aussage. Sie erinnerte daran, wie Sokrates sich selbst als
„Hebamme der Wahrheit“ beschrieb.

Weizsäcker betrachtete die politische und militärische Situation
dieser Zeit und machte deutlich, dass die Anstrengungen zur Über­
windung der „Institution Krieg“[8] den Punkt noch nicht erreicht
hätten, an dem sie als Bewusstseinswandel bezeichnet werden
könnten. Mit anderen Worten: Er war überzeugt, dass selbst das
Ende des Kalten Krieges noch nicht den Weg zur Erreichung des
Kernzieles eröffnete, nämlich den Krieg als Institution, als wieder­
holten militärischen Kampf um Hegemonie zwischen verschiede­
nen Gruppen, zu überwinden. Und weiter warnte er: „Niemals, noch

   Sokrates als Hebamme
   Sokrates (ca. 470–399 v. Chr.) beschrieb sich selbst als intellektuelle Hebamme,
   die anderen dabei hilft, ihre eigene Weisheit zu gebären und die Wahrheit zu
   definieren, die ihren Überzeugungen zugrunde liegt. Diese Sokratische Metho-
   de, auch bekannt als Mäeutik, wird in Platons Theaitetos das erste Mal einge-
   führt. Sie dient dazu, das kritische Denken anzuregen und mit Hilfe von Dialog
   und dem Stellen von Fragen gemeinhin akzeptierte Überzeugungen in Zweifel
   zu ziehen. In Theaitetos findet Sokrates Ähnlichkeiten zwischen dem Handwerk
   seiner Mutter, einer Hebamme, und dem Prozess der Produktion von Wahrheit,
   die ebenfalls den Schmerz der Geburt einschließt. Während eine Hebamme ent-
   weder die Schmerzen unter der Geburt lindert oder dabei hilft, das Kind zur Welt
   zu bringen, assistiert Sokrates der Seele und hilft seinem Gesprächspartner, eine
   Idee zur Welt zu bringen.

                                                                                       9
nicht einmal heute, ist gewiss, ob diese neuen Arten von Waffen, die
     wir ständig produzieren, nicht am Ende doch zum Ausbruch eines
     Krieges führen könnten.“[9] Ich spüre das Gewicht seiner Worte sehr
     stark, denn sie treffen auch auf die heutige weltweite Situation zu.

     In der Tat sind die Friedens- und die Abrüstungsfrage seit der Ära des
     Kalten Krieges ungelöst geblieben. Obwohl dies auch weiterhin eine
     ernste Herausforderung darstellt – einen im Grunde unauflöslichen
     Widerspruch – würde ich gerne darauf bestehen, dass es immer noch
     ein Fünkchen Hoffnung gibt. Wir können diese Hoffnung aus der
     Tatsache ziehen, dass Abrüstungsgespräche inzwischen nicht mehr
     ausschließlich aus der Perspektive internationaler Politik und Si­
     cherheit geführt werden, sondern zunehmend auch den humanitä­
     ren Blickwinkel einbeziehen. Eine Reihe aufeinander aufbauender
     Verträge zum Verbot zutiefst inhumaner Waffen wie Landminen,
     Streubomben und Atomwaffen wurden verabschiedet. Dieses neue
     historische Momentum müssen wir nutzen und bei der weiteren
     Ausgestaltung internationalen Rechts den humanitären Ansatz ein­
     beziehen. Alle Staaten müssen damit beginnen, einen Prozess der
     Kooperation und Zusammenarbeit einzuleiten, um bedeutende
     Schritte auf dem Weg nach vorn zu machen, hin zu echter Abrüstung.

     Zu diesem Zweck ist es nützlich, einmal die Idee von der Friedlosigkeit
     als seelische Krankheit zu untersuchen, die Weizsäcker als Hindernis
     für Fortschritte im Bereich der Abrüstung benannt hat. Sein Ansatz,
     die Probleme, die Frieden verhindern, mit einer Krankheit zu verglei­
     chen, die uns alle befallen hat, beruht auf der Erkenntnis, dass kein
     Staat und kein Individuum sich als selbstständige, von allen anderen
     abgetrennte Einheit betrachten kann – niemand ist immun. Diese
     Sichtweise wird untermauert von seiner Auffassung, dass Menschen
     unbestimmte Lebensformen sind, ohne festgelegte Natur,[10] die
     weder als dumm noch böse angesprochen werden können.[11] Als sol­
     che, so betonte er, sollten wir Friedlosigkeit nicht als etwas Externes,
     außerhalb unseres Selbst Existierendes betrachten, als Ergebnis von

10
Dummheit oder Bösartigkeit, sondern uns
eher „das Phänomen der Krankheit … vor
Augen stellen“.[12] Er erläuterte, dass weder
Belehrung noch Verdammung die Krank­
heit der Friedlosigkeit erfolgreich überwin­
den könnten: „Sie bedarf eines anderen Pro­
zesses, den man Heilung nennen sollte.“[13]
„Wie sollen wir Kranken helfen, solange wir
nicht das Kranke in uns selbst erkannt und
gelernt haben, die anderen und uns selbst als   Carl Friedrich von Weizsäcker, 1969
Kranke anzunehmen?“[14]

Diese Art von Bewusstsein war es, so denke ich, das Weizsäcker in
einer Zeit, als Großbritannien sich gerade im Wettlauf um Atom­
waffen zu den USA und der Sowjetunion gesellt hatte, dazu führte,
einen einzigartigen Ansatz zu verfolgen. Das Göttinger Manifest von
1957, bei dessen Ausarbeitung er gemeinsam mit anderen Wissen­
schaftlern eine zentrale Rolle gespielt hatte, beleuchtet die Stellung
Deutschlands in der Welt: „Für ein kleines Land wie die Bundesre­
publik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und
den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es a­ usdrücklich
und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzich­
tet.“[15] Diese Worte waren nicht so sehr an die Atommächte gerich­
tet, die sich in einem hitzigen Rüstungswettlauf befanden, sondern
machen vielmehr grundsätzlich deutlich, welchen Standpunkt das
Heimatland des Verfassers in der Atomfrage einnehmen sollte. Da­
rüber hinaus erklären die Verfasser des Manifests, dass sie als Wis­
senschaftler eine berufliche Verantwortung für die potenziellen
Auswirkungen ihrer Arbeit tragen und als solche „nicht zu allen po­
litischen Fragen schweigen“ können.[16]

Das Göttinger Manifest wurde zufällig im selben Jahr verabschiedet,
in dem Josei Toda den auf seiner buddhistischen Überzeugung be­
ruhenden Aufruf zur Abschaffung aller Atomwaffen öffentlich

                                                                                      11
machte. Darin erkannte er zwar die Bedeutung von Initiativen
     gegen Atomwaffentests an, die zur damaligen Zeit aufkamen, stell­
     te aber zugleich klar, dass, um eine grundlegende Lösung des Prob­
     lems zu erreichen, die Denkweisen, die Atomwaffen rechtfertigten
     und damit unser aller Sicherheit bedrohten, mit Stumpf und Stiel
     ausgerottet werden müssten: „Ich möchte die Klauen des Bösen of­
     fenlegen und herausreißen, die in den Tiefen solcher Waffen verbor­
     gen liegen.“[17]

     Toda starb sechs Monate nach diesem Aufruf, mit dem er seinen
     Standpunkt noch einmal ganz deutlich gemacht hatte: Es ist keinem
     Menschen gestattet, das fundamentale Recht auf Leben, das allen
     Menschen weltweit zusteht, zu bedrohen. Die tiefe Bedeutung sei­
     nes Aufrufs liegt darin, dass er die Frage der Atomwaffen, die zur
     Notwendigkeit erhoben wurden, um den Frieden und die Sicherheit
     bestimmter Staaten zu sichern, in den Bereich des intrinsischen
     Selbstwertes des Lebens verwies, und sie somit zu einer drängenden
     Frage für alle Menschen machte.

     In dem Versuch, diesen Geist weiterzutragen, habe ich unablässig
     betont, dass wir, wenn wir die Ära der Atomwaffen wirklich beenden
     wollen, den Kampf gegen den wahren Feind aufnehmen müssen.
     Und dieser Feind sind weder die Atomwaffen selbst noch die Staa­
     ten, die sie besitzen oder entwickeln. Vielmehr sind es die Denkwei­
     sen, die die Existenz solcher Waffen gestatten, die Bereitschaft,
     andere zu vernichten, wenn sie als Bedrohung oder Hindernis für
     die Umsetzung unserer eigenen Ziele wahrgenommen werden.

     Im September 1958, ein Jahr, nachdem Josei Toda seinen Aufruf
     veröffentlicht hatte, verfasste ich einen Text mit dem Titel Ein Weg
     aus dem brennenden Haus. In diesem Beitrag beziehe ich mich auf die
     im Lotos-Sutra enthaltene Parabel von den drei Wagen und dem bren-
     nenden Haus. Dieser Parabel zufolge fängt das Haus eines reichen
     Mannes plötzlich Feuer. Seine Kinder, die sich im Haus aufhalten,

12
empfinden das Haus als ungeheuer groß und nehmen daher die Ge­
fahr nicht wahr, in der sie sich befinden. Sie verspüren weder Über­
raschung noch Furcht. Der Mann überlegt sich deshalb, ihnen etwas
Verlockendes anzubieten, damit sie aus eigenem Antrieb heraus­
kommen, und sorgt auf diese Weise dafür, dass alle das brennende
Haus unbeschadet verlassen können. Ich zitierte diese Parabel, um
zu verdeutlichen, dass jeglicher Einsatz von
Atom- oder Wasserstoffbomben ein Akt des Jeglicher Einsatz von Atom- oder
Selbstmords für die Erde wäre – die kollek­ Wasserstoffbomben wäre ein Akt
tive Selbstzerstörung der Menschheit – und des Selbstmords für die Erde – die
dass wir, weil Atomwaffen ein erhebliches kollektive Selbstzerstörung der
Risiko für Menschen in allen Ländern dar­ Menschheit.
stellen, miteinander kooperieren müssen,
um einen Weg aus dem „brennenden Haus“
zu finden. Denn dieses Haus ist unsere ganze Welt, die in einer nie
dagewesenen Gefahr schwebt.[18] Die Parabel ist ein Symbol dafür,
dass unsere Anstrengungen im Kern darauf ausgerichtet sein müs­
sen, alle Menschen vor dieser Gefahr zu retten.

In diesem Sinne stimme ich zutiefst mit der Sichtweise überein, die
UN-Generalsekretär Guterres in seiner Abrüstungsagenda propa­
giert, wobei er drei neue Perspektiven erörtert, die über die Sicher­
heitsrhetorik, die so lange im Zentrum dieser Debatten stand,
­hinausweisen: Abrüstung zur Rettung der Menschheit, Abrüstung
 zur Rettung von Leben und Abrüstung um künftiger Generationen
 willen.[19]

Was also müssen wir tun, um die Krankheit der Friedlosigkeit zu
überwinden, deren Kern der Wille bildet, jedes Mittel anzuwen­
den, das nötig ist, um die eigenen Ziele zu erreichen, ohne einen
Gedanken an den Schaden zu verschwenden, der damit angerich­
tet wird, und stattdessen die weltweit aufbrechenden Energien zu
nutzen, um einen Abrüstungsprozess in Gang zu setzen und damit
viele Leben zu retten? Ein heilungszentrierter buddhistischer

                                                                                13
­ nsatz könnte einiges zur Erhellung der Frage beitragen, wie wir
     A
     mit dieser Herausforderung umgehen sollten.

     In den buddhistischen Schriften findet sich die Geschichte eines
     Mannes namens Angulimāla.[20] Dieser Zeitgenosse von Shakyamuni
     ist weithin als Massenmörder gefürchtet. Eines Tages entdeckt er
     Shakyamuni und beschließt, ihn zu töten. Doch obwohl er ihn mit
     aller Kraft verfolgt, ist er nicht imstande, ihn einzuholen. Völlig
     frustriert bleibt Angulimāla schließlich stehen und ruft „Bleib ste­
     hen!“ Woraufhin Shakyamuni entgegnet: „Ich stehe schon,
     Angulimāla. Jetzt bleib auch du stehen.“

     Daraufhin fragt ihn der völlig verblüffte Angulimāla, warum
     Shakyamuni ihn bitte, stehenzubleiben, wo er doch bereits aufge­
     hört hätte, sich zu bewegen. Shakyamuni erklärt, dass er damit auf
     seine, Angulimālas, Taten angespielt habe, das gnadenlose Töten
     von Lebewesen und die Bösartigkeit, die dahinter stünde. Von
     Shakyamunis Worten tief bewegt, beschließt Angulimāla, sich die
     Bosheit aus dem Herzen zu reißen und seine schlimmen Taten zu
     beenden. Er wirft an Ort und Stelle seine Waffen hin und bittet
     darum, Shakyamunis Schüler werden zu dürfen. Von dieser Zeit an
     bereut Angulimāla die von ihm begangenen Verbrechen zutiefst
     und verschreibt sich auf der Suche nach Wiedergutmachung voller
     Ernsthaftigkeit dem buddhistischen Glauben.

     Es gibt in Angulimālas Geschichte noch einen zweiten Wendepunkt.
     Eines Tages, wie er so in der Stadt umhergeht und um Almosen bet­
     telt, sieht er eine Frau, die unter den Schmerzen der Geburt leidet.
     Niemand ist da, um ihr beizustehen, und auch er fühlt sich zutiefst
     hilflos und geht von dannen. Allerdings kann er nicht aufhören,
     daran zu denken. Also geht er zu Shakyamuni und berichtet ihm,
     was er gesehen hat. Shakyamuni drängt ihn, sofort zu der Frau zu­
     rückzukehren und die folgenden Worte zu sagen: „Schwester, seit
     meiner Geburt habe ich kein lebendes Wesen wissentlich vernich­

14
Genfer Konventionen
   Bei den Genfer Konventionen handelt es sich um ein Bündel internationaler Ver-
   träge, die die Basis des internationalen Menschenrechts bilden. Ihre Ursprünge
   liegen im Jahr 1864, und sie gehen auf eine Initiative des Sozialaktivisten Henri
   Dunant (1828–1910) zurück. Die erste Genfer Konvention definierte die grundle-
   genden Rechte von Kriegsgefangenen und den Schutz von Verwundeten und
   Zivilpersonen. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wurden von einer
   diplomatischen Konferenz in Genf am 12. August 1949 vier Abkommen ange-
   nommen: (1) Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und
   Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde; (2) Abkommen zur Verbesserung des
   Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte
   zur See; (3) Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen; und (4) Ab-
   kommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Im Jahr 1977 wurden
   Zusatzprotokolle verabschiedet.

tet. Durch dieses Wissen möge es dir wohl ergehen und auch dem
einen, das geboren werden soll.“

Doch Angulimāla, der sich seiner bösen Taten vollständig bewusst
ist, gelingt es nicht, Shakyamunis wahre Absicht zu begreifen. Dar­
aufhin stellt dieser klar, dass es Angulimāla ganz aus eigener Kraft
bereits gelungen sei, das Böse, das hinter seinen Taten lauerte, zu
vertreiben, denn er bereue ja zutiefst und widme sich mit großer
Ernsthaftigkeit der Glaubensausübung. Wie, um ihn daran noch
einmal zu erinnern, drängt Shakyamuni Angulimāla erneut, zu der
schwangeren Frau zurückzugehen und ihr die folgenden Worte zu
sagen: „Schwester, seitdem ich wiedergeboren bin als einer, der den
edlen Weg sucht, habe ich keine Erinnerung daran, bewusst einem
lebenden Wesen das Leben genommen zu haben. Durch dieses Wis­
sen möge es dir wohl ergehen und auch dem einen, das geboren
werden soll.“ Angulimāla, der sehr wohl um Shakyamunis tiefgrei­
fendes Mitgefühl weiß, eilt also zu der Frau zurück und sagt diese

                                                                                       15
Worte zu ihr. Die leidende Frau ist beruhigt und bringt ihr Kind
     wohlbehalten zur Welt.

     Diese beiden Ereignisse verdeutlichen den Wandel, den Shakyamuni
     in Angulimāla zu bewirken hoffte. Zuerst versuchte er, dessen Auf­
     merksamkeit auf das Böse zu lenken, auf die Absicht, anderen Scha­
     den zuzufügen, die seine Handlungen so lange Zeit bestimmt hatte.
     Dann wies er ihm einen Weg, wie er das Leben von Mutter und Kind
     retten konnte, und lenkte ihn so zu der persönlichen Verpflichtung
     hin, jemand zu werden, der andere rettet.

     Es versteht sich von selbst, dass diese Parabel den inneren Wandel
     eines einzelnen Individuums beschreibt und in einer völlig anderen
     Zeit und einem völlig anderen kulturellen Kontext verortet ist.
     Dennoch ist sie auch für uns heute noch immer relevant, davon bin
     ich überzeugt, denn sie beschränkt sich nicht auf die Beendigung
     feindseliger Akte, sondern orientiert sich hin zur Rettung von
     Leben. Dies, so mein Vorschlag, könnte als nützliches Fundament
     für ein Heilmittel dienen, das imstande ist, die Gesellschaft im
     Kern zu verändern.

     Die Genfer Konventionen, die vor 70 Jahren angenommen wurden
     und in denen die grundlegenden Prinzipien der internationalen
     Menschenrechte niedergelegt sind, wurden 1949 mit der Absicht
     ausgearbeitet, die auch in der Geschichte Angulimālas ihren Wi­
     derhall findet. Die Vorbereitungsarbeiten für die Konventionen,
     darunter das Ziel, Sicherheitszonen nicht nur für schwangere
     Frauen einzurichten, sondern für alle Frauen und Kinder sowie
     Alte und Kranke, leistete eine Konferenz des Internationalen
     Roten Kreuzes in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs. Zum
     Zeitpunkt der Annahme der Konventionen nach dem Krieg erklär­
     ten die Staaten, die an der diplomatischen Konferenz teilgenom­
     men hatten, das Folgende:

16
„[Die Konferenz] hofft ernsthaft, dass die Regierungen die
   Genfer Konventionen zum Schutz von Kriegsopfern zukünf­
   tig niemals werden anwenden müssen … Es ist ihr größter
   Wunsch, dass alle Mächte, große und kleine, stets auf der
   Grundlage von Kooperation und Verständnis zwischen den
   Nationen einen Weg zur friedlichen Beilegung ihrer Differen­
   zen finden mögen.“[21]

Den Verfassern ging es nicht nur darum, vor einer Verletzung dieser
Konventionen zu warnen. Ihr tiefster Wunsch bestand darin zu ver­
hindern, dass überhaupt Bedingungen eintraten, die großes Leid
und den Verlust von Menschenleben nach sich ziehen und die
­Anwendung der Konventionen erfordern würden. In den Konventi­
 onen – die das Fundament für die nachfolgende internationale
 Menschenrechtsgesetzgebung legten – manifestierte sich diese
 kraftvolle Entschlossenheit gerade deshalb, weil den Verhandlungs­
 teilnehmenden die Grausamkeit und Tragik des Krieges noch immer
 vor Augen stand.

Führen wir uns nicht unablässig die Ursprünge der Genfer Konven­
tionen vor Augen, werden wir in jener Art von Argumentation
­gefangen bleiben, die jede Handlung rechtfertigt, solange sie nicht
 explizit die Buchstaben des Gesetzes verletzt.

Ganz besonders wichtig ist, dass wir dies in Anbetracht der rasanten
Fortschritte bei der Entwicklung tödlicher, autonom agierender
Waffensysteme (LAWS) unter Nutzung künstlicher Intelligenz (KI)
im Kopf behalten, denn hier tun sich Möglichkeiten auf, Kriege
künftig ohne direkte Kontrolle durch den Menschen führen zu kön­
nen. Ein Scheitern des Versuchs, uns diesen Problemen zu stellen,
birgt die Gefahr, dass der Geist der internationalen Menschenrech­
te, wie er in den Genfer Konventionen niederlegt ist, einem hohen
Risiko ausgesetzt wird.

                                                                       17
Heute mehr als je zuvor müssen wir unsere Anstrengungen verdop­
     peln, um die Krankheit der Friedlosigkeit zu überwinden. Um dieses
     Ziel zu erreichen, ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir gegen­
     seitig diese Krankheit in uns anerkennen und unsere Kräfte verei­
     nen, um ein Heilmittel dafür zu finden. Mit anderen Worten: Wir
     müssen eine gemeinsame Vision für eine friedvolle Gesellschaft
     entwickeln. Ich bin davon überzeugt, dass der Atomwaffenverbots­
     vertrag (TPNW) Vorreiter jener Art von internationaler Abrüs­
     tungsgesetzgebung ist, die dazu beitragen kann, eine solche Vision
     Gestalt annehmen zu lassen.

     Der TPNW ist eine Form internationaler Gesetzgebung, die weit
     über die Beschränkungen hinausgeht, mit der Vereinbarungen zur
     Abrüstung oder zum Schutz menschlichen Lebens traditionell be­
     haftet sind. Jean Pictet (1914–2002), ehemaliger Generaldirektor
     des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und be­
     rühmt für seine Prägung des Begriffs „Humanitäres Völkerrecht“,
     betonte, dieses sei nichts anderes als „eine Umsetzung moralischer
     Grundsätze, oder, als deren Spezialfall, humanitärer Belange, in
     internationales Recht.“[22] Der TPNW ist der Kristallisationspunkt
     einer Lösung, wie sie sich die Hibakusha (Jap.: Explosionsopfer;
     Überlebende der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und
     ­Nagasaki) und viele andere wünschen, damit eine solche nukleare
      Tragödie sich niemals wiederholt. Dies steht exakt in der Genealo­
     gie internationalen Rechts.

     Zudem weist der TPNW Charakteristika internationalen Hybrid­
     rechts auf, eines neuen Standards, der in letzter Zeit immer mehr
     Aufmerksamkeit bekommt. Als rechtlicher Ansatz, der ursprüng­
     lich vorgeschlagen wurde, um den Herausforderungen des Klima­
     wandels in Zusammenhang mit Zwangsvertreibung zu begegnen.
     Das internationale Hybridrecht fördert einen Wandel in der Art und
     Weise, wie traditionell über die Klassifizierung von Gesetzen nach­
     gedacht wird. In diesem Kontext ist der TPNW ein Rechtsinstru­

18
Internationales Hybridrecht
   Beim internationalen Hybridrecht betrachtet man Probleme durch eine interdis-
   ziplinäre Linse und bezieht wechselseitige Zusammenhänge mit ein, die sich von
   einem einzelnen Rechtsgebiet aus nicht adäquat regeln lassen. Es hat sich seit
   2007 in Reaktion auf den Klimawandel entwickelt und beleuchtet diesen aus
   drei Perspektiven: Umweltrecht, Menschenrechte und Flüchtlings- bzw. Migra-
   tionsrecht. Das Hybridrecht demonstriert die wechselseitigen Zusammenhänge
   dieser verschiedenen Perspektiven, denn ein Umweltproblem wie der Klima-
   wandel, hat einen beträchtlichen direkten Einfluss oder indirekte Auswirkungen
   auf Menschenrechte oder Migration. Das Hybridrecht erkennt die miteinander
   verwobenen Beziehungen rund um den Klimawandel an und definiert die Ver-
   antwortung von Staaten, darauf auf umfassende Weise zu reagieren, neu.

ment, das den vernetzten Charakter der globalen Herausforderun­
gen, denen wir heute gegenüberstehen, anerkennt, und sie unter
dem breitest denkbaren Dach zusammenbringt.

Selbst Sicherheitsfragen, die zutiefst mit Fragen staatlicher Souve­
ränität verwoben sind, müssen zugleich Faktoren wie Umwelt,
­sozioökonomische Entwicklung, Weltwirtschaft, Nahrungsmittel­
 sicherheit, Gesundheit und Wohlergehen heutiger und künftiger
 Generationen, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlech­
 ter in Betracht ziehen – dies ist die Ausrichtung, die im TPNW ihren
 klaren Ausdruck gefunden hat. Der Diskurs zur atomaren Abrüs­
 tung muss auf der gemeinsamen Erkenntnis und dem gemeinsamen
 Bewusstsein fußen, dass wir keine echte Sicherheit gewinnen kön­
 nen, solange nicht jedes einzelne dieser miteinander verwobenen
 Probleme angegangen wird. Ansonsten werden Verhandlungen
 auch in Zukunft immer nur darauf abzielen, die Anzahl der Waffen
 auszubalancieren, die jede Seite besitzt, und es wird immer schwie­
 riger werden, über den Kontext der bloßen Waffenkontrolle hinaus­
 zugehen.

                                                                                    19
In diesem Sinne kann der TPNW genau den Anstoß geben, der nötig
     ist, um den langanhaltenden Stillstand in Fragen der nuklearen Ab­
     rüstung zu durchbrechen. Indem wir das Unterstützernetzwerk für
     den Vertrag erweitern, können wir zudem große Schritte zur Erlan­
     gung folgender Ziele unternehmen: Öffnung eines Weges hin zu
     einer Welt der Menschenrechte, die auf gegenseitigem Respekt und
     der Achtung der Würde aller Menschen basieren; Erschaffung einer
     Welt der Menschlichkeit, in der das Glück und die Sicherheit aller
     Menschen im Mittelpunkt stehen, Erschaffung einer Welt der Ko­
     existenz, die auf der gemeinsamen Verantwortung für die Umwelt
     und künftige Generationen beruht. Dies, so denke ich, kann der
     größte Beitrag des TPNW zur Menschheitsgeschichte sein.

        Menschenzentrierter Multilateralismus

     Das nächste Thema in Bezug auf Abrüstung, das ich erörtern möch­
     te, ist die Zusammenarbeit für einen Multilateralismus, bei dem der
     Mensch im Mittelpunkt steht. Dieser Ansatz fand zum ersten Mal
     im Abschlussdokument der Konferenz der UN-Hauptabteilung für
     Presse und Information (UN DPI)[23] und von Nichtregierungsorga­
     nisationen (NGOs) im vergangenen August (DPI/NGO-Konferenz)
     Erwähnung. Er ist darauf ausgerichtet, jene zu schützen, die den
     schlimmsten Bedrohungen ausgesetzt sind und sich den größten
     Herausforderungen stellen müssen.

     Zwar kam die Idee eines menschenzentrierten Multilateralismus
     ursprünglich im Kontext der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeits­
     ziele (SGDs) zur Sprache, ich habe jedoch das Gefühl, dass sie auch
     einen bedeutenden Beitrag dazu leisten kann, den Strom der Welt­
     ereignisse in Richtung Abrüstung zu lenken. Genauso, wie UN-­
     Generalsekretär Guterres anlässlich der Verabschiedung der UN-
     Abrüstungsagenda gewarnt hatte, nehmen die weltweiten
     Militärausgaben stetig zu, während die Ressourcen, die zur Verfü­

20
gung stehen, um auf humanitäre Krisen zu reagieren, weiterhin un­
zureichend sind. Jährlich sind im Durchschnitt mehr als 200 Milli­
onen Menschen von Naturkatastrophen betroffen.[24] Mit dem
Hungerproblem ist es ganz ähnlich. Im Jahr 2017 litten 821 Millio­
nen Menschen Hunger, und knapp 151 Millionen Kinder im Alter
unter fünf Jahren litten an Wachstumsstörungen als Folge von
Mangelernährung.[25] Solche Fakten zwingen uns, die Bedeutung
und die Ziele von existierenden nationalen Sicherheitskonzepten zu
hinterfragen.

An dieser Stelle lohnt es sich, so denke ich, die Ansichten von Hans
van Ginkel, dem ehemaligen Rektor der Universität der Vereinten
Nationen, zum Wesen und zu den Zielen menschlicher Sicherheit zu
zitieren. Ginkel erkennt zwar an, dass die Sicherheitsfrage eine sehr
komplexe Materie ist, stellt aber zugleich fest, dass es, wenn wir die
Welt aus der Perspektive jedes einzelnen Individuums betrachten,
sehr klar wird, was genau Menschen als Bedrohung oder Quelle von
Unsicherheit erleben:
    „Dennoch ist klar, dass traditionelle Sicherheitsstrategien
    darin gescheitert sind, einer bedeutenden Anzahl von Men­
    schen weltweit echte Sicherheit auf individueller Ebene zu
    bieten … Nach wie vor sind in internationale Beziehungen
    und politische Entscheidungsprozesse Haltungen und Insti­
    tutionen eingebettet, die der ‚hohen Politik‘ Priorität einräu­
    men vor Krankheit, Hunger oder Analphabetismus. Tatsäch­
    lich haben wir uns so an diesen Ansatz gewöhnt, dass für viele
    ‚Sicherheit‘ gleichbedeutend ist mit ‚staatlicher Sicherheit‘.“[26]

Ginkel verweist hier auf die Tatsache, dass, verglichen mit Fragen
nationaler Sicherheit, die Reaktion auf Bedrohungen des Lebens
und der Lebensgrundlagen von Individuen offenbar als nicht so
dringend wahrgenommen werden. Im Ergebnis wird für eine große
Zahl von Menschen jede sinnvolle Bedeutung von Sicherheit ad ab­
surdum geführt.

                                                                          21
In einer anderen Rede beschreibt Ginkel die Misere von Menschen,
     die in extremer Armut leben:
         „Wie soll man denn die Freuden genießen und die Bedeutung
         erfahren, die dem menschlichen Leben innewohnen, wie ein
         menschenwürdiges Leben führen, wenn noch nicht einmal
         das Überleben von Tag zu Tag – ja, von Tag zu Tag, häufig
         sogar von Stunde zu Stunde – garantiert ist? Wie soll man
         sich eine Zukunft ausmalen und Bindungen mit anderen ein­
         gehen, wenn die eigentliche Herausforderung darin besteht,
         den nächsten Tag zu erleben?“[27]

     Diese Worte verdeutlichen auf eindrucksvolle Weise, wie tief das
     Leid jener ist, deren Interessen im Kontext traditioneller Denkmus­
     ter zum Thema Sicherheit bisher übersehen worden sind. Und dies
     betrifft nicht nur Menschen, die von Armut oder Ungleichheit be­
     troffen sind, sondern auch jene, die aus ihrem Zuhause vertrieben
     werden und gezwungen sind, vor bewaffneten Konflikten oder Na­
     turkatastrophen zu fliehen.

     Die Grundlage für einen Multilateralismus, bei dem der Mensch im
     Mittelpunkt steht, müssen Anstrengungen bilden, eine Welt zu er­
     schaffen, in der alle Menschen ein Gefühl echter Sicherheit empfin­
     den und gemeinsam Hoffnungen für die Zukunft nähren können.
     Von Grund auf neu muss dieser Ansatz allerdings nicht gedacht
     werden, denn er steht bereits im Mittelpunkt ambitionierter Vorha­
     ben in Afrika, wo er eines der Elemente bildet, um auf die vielen
     ernsten Herausforderungen zu reagieren, denen sich der Kontinent
     gegenübersieht. Die Gründung der Afrikanischen Union 2002 war
     in dieser Hinsicht ein Wendepunkt.

     Vor dem Hintergrund der Anstrengungen zur Entwicklung effizien­
     terer kooperativer Ansätze zum Umgang mit humanitären Krisen
     trat 2012 die Konvention zu Schutz und Hilfe von Binnenvertriebe­
     nen in Afrika (Kampala-Konvention) in Kraft. Es handelt sich um

22
ein bahnbrechendes Abkommen, das völlig neue Aspekte enthält
und darauf abzielt, regional übergreifende Anstrengungen zu un­
ternehmen, um Binnenflüchtlinge zu schützen.

Und es gibt auch andere bemerkenswerte Beispiele für Flüchtlings­
hilfe in afrikanischen Ländern. So hat etwa Uganda circa 1,1 Millio­
nen Menschen aufgenommen, die vor Konflikten im Südsudan und
anderswo auf der Flucht sind.[28] Zusätzlich zu dem Recht, sich frei
zu bewegen und eine Arbeit aufnehmen zu können, wird Geflüchte­
ten Land zugewiesen, das sie bebauen können, und sie werden in
das lokale Bildungs- und Gesundheitssystem integriert. Viele Men­
schen in Uganda haben das Elend bewaffneter Konflikte und Ver­
treibung als Geflüchtete selbst erlebt, und diese Erinnerungen
scheinen die Grundlage für die Unterstützung einer solchen Politik
zu bilden. In Tansania gibt es ein ähnlich herausragendes Beispiel.
Das Land bietet derzeit mehr als 300.000 Geflüchteten aus Nach­
barstaaten Zuflucht.[29] In Kooperation mit der lokalen Bevölkerung
werden einige dieser Geflüchteten in Aktivitäten einbezogen, um in
Baumschulen neue Pflanzen heranzuziehen. Dieses Projekt wurde
als Reaktion auf die vorangetriebene Entwaldung und Auslaugung
der Böden initiiert, verursacht durch die Notwendigkeit, Feuerholz
zu beschaffen. Es hat bis heute zur Anpflanzung von etwa zwei Mil­
lionen neuer Bäume in Flüchtlingslagern und umgebenden Gebie­
ten geführt. Das Bild so vieler grüner Bäume, die in der großartigen
Erde Afrikas gepflanzt werden, ruft mir auf krafttvolle Weise die
Überzeugung meiner verstorbenen Freundin Wangari Maathai
(1940–2011) ins Gedächtnis: Das Pflanzen von Bäumen kann hel­
fen, das Land zu heilen und den Kreislauf der Armut zu durchbre­
chen. „Bäume“, so schrieb sie, „sind ein lebendes Symbol für Frieden
und Hoffnung.“[30] Für Geflüchtete, die darum ringen, sich ein neues
Leben aufzubauen, sind die Bäume, die sie selbst herangezogen
haben, zweifellos ein Symbol der Hoffnung, ein Versprechen auf Si­
cherheit, die diesen Namen verdient.

                                                                       23
Seit mehr als fünf Jahrzehnten vertrete ich nun schon die Auffas­
     sung, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Afrikas sein wird.
     Dies beruht auf meiner unerschütterlichen Überzeugung, dass jene,
     die am meisten leiden, das größte Recht darauf haben, glücklich zu
     sein. In Afrika können wir den Beginn eines neuen, menschenzen­
     trierten Multilateralismus sehen, ein Ansatz, der für die ganze Welt
     sehr vielversprechend ist.

     Dem Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) zufol­
     ge leben derzeit etwa 30 Prozent der Geflüchteten in Afrika.[31] Im
     Dezember vergangenen Jahres verabschiedeten die Vereinten Nati­
     onen den Globalen Flüchtlingspakt (Global Compact on Refugees)
     und erkannten damit die Schwierigkeiten an, denen sich Länder ge­
     genübersehen, die eine große Anzahl von Geflüchteten aufnehmen
     und keinerlei Unterstützung dafür erhalten. Die internationale Ge­
     meinschaft muss zusammenkommen und ihre gemeinsamen An­
     strengungen intensivieren, um nicht nur den Geflüchteten selbst zu
     helfen, sondern auch den Ländern, die sie aufnehmen.

     Unter den Menschen, die in Ländern leben, welche nicht direkt von
     der so genannten Flüchtlingskrise oder dem Armutsproblem be­
     troffen sind, gibt es eine bedauerliche Neigung, sich diesen Heraus­
     forderungen und der Verantwortung, sie zu lösen, zu entziehen.
     Das Ziel eines menschenzentrierten Multilateralismus besteht
     darin, die Unterschiede in den nationalen Sichtweisen zu überwin­
     den und Wege zu finden, um das Leid der Menschen, die sich erns­
     ten Bedrohungen oder Krisen ausgesetzt sehen, zu lindern.

     Die Geschichte von den vier Begegnungen Shakyamunis beschreibt
     den Ausganspunkt der Lehren des Buddhismus, und sie ist ein guter
     Hinweis auf den Bewusstseinswandel, der heute notwendig ist. Ge­
     boren als Sohn einer Königsfamilie im alten Indien, genoss
     Shakyamuni einen hohen politischen Status und lebte in materiel­
     lem Überfluss. Seine Jugendjahre verbrachte er in einer Umgebung,

24
Globaler Pakt für Flüchtlinge
   Der im Dezember 2018 von der UN-Vollversammlung verabschiedete globale
   Pakt für Flüchtlinge (Global Compact on Refugees) setzt ein Rahmenwerk für
   besser vorhersagbare und angemessenere Reaktionen der internationalen Ge-
   meinschaft auf die massenhafte Bewegung von Geflüchteten. Der globale Pakt
   zielt darauf ab, Druck von den Gastländern zu nehmen, Geflüchteten die Mög-
   lichkeit einzuräumen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre Integration in
   die nationale Entwicklungsplanung der Gastländer zu unterstützen und Bedin-
   gungen zu fördern, die sie in die Lage versetzen, freiwillig in ihre Heimatländer
   zurückzukehren. Durch Investitionen in den Dienstleistungssektor und die Infra­
   struktur der Gastländer will der Pakt sicherstellen, dass ein Ansatz verfolgt wird,
   der die Menschen in den Mittelpunkt stellt und dafür sorgt, dass Orts­ansässige
   wie Geflüchtete direkt davon profitieren.

in der ihm und seiner Familie eine riesige Zahl von Menschen als
Bedienstete unmittelbar zur Verfügung stand. So brauchte er sich
niemals Sorgen zu machen wegen der Kälte des Winters oder der
Hitze des Sommers oder darum, dass seine Kleidung jemals von
Staub, Spreu oder dem Tau der Nacht verschmutzt sein würde.[32]

Eines Tages aber trat Shakyamuni vor die Tore des Palastes, wo er
auf Menschen traf, die an Krankheiten oder Altersschwäche litten.
Auch stieß er auf die Leiche eines Mannes, der direkt neben der
Straße gestorben war. Von diesen Begegnungen zutiefst erschüt­
tert, spürte er sehr intensiv, dass niemand, er selbst eingeschlossen,
den Leiden von Geburt, Alter, Krankheit und Tod entgehen konnte.
Was ihm jenseits dieser Leiden den größten Schmerz bereitete, war
die Tatsache, dass so viele Leute glaubten, gegen diese Leiden
immun zu sein, und als Ergebnis davon diejenigen, die litten, ver­
achteten und sich von ihnen distanzierten. Später, als er sich diese
Ereignisse wieder ins Gedächtnis rief, beschrieb er die menschliche
Psyche wie folgt:

                                                                                         25
„Gemeine Sterbliche – obwohl sie selbst altern werden und
        den Verfall nicht verhindern können – grübeln, wenn sie an­
        dere altern und vergehen sehen, in ihrer Torheit darüber
        nach, verzweifeln, verspüren darüber Scham und Hass, ohne
        das alles jemals als ihr eigenes Problem anzunehmen.“[33]

     Seine Worte treffen nicht nur auf die Leiden des Alterns zu, sondern
     auch auf das Leid, krank zu werden und zu sterben. Unser Gefühl,
     in keinerlei Beziehung zu den Leiden anderer zu stehen, der Wider­
     wille, den wir sogar verspüren mögen, wurde von Shakyamuni als
     die Arroganz der Jungen gebrandmarkt, die Arroganz der Gesun­
     den, die Arroganz der Lebenden. Betrachten wir diese Arroganz
     noch einmal neu, unter dem Aspekt zwischenmenschlicher Bezie­
     hungen, so können wir klar erkennen, wie die Apathie und der Man­
     gel an Mitgefühl, die aus dieser Arroganz erwachsen, das Leiden
     anderer tatsächlich vertieft und intensiviert.

     In jeder Epoche können sich solche Einstellungen verfestigen –
     jener Fatalismus etwa, der Armut oder schreckliche Lebensbedin­
     gungen dem vorbestimmten Schicksal einer einzelnen Person zu­
     schreibt oder als Ergebnis persönlichen Versagens ansieht, oder die
     Negation jeglicher Moral, die die Verantwortung für allen Schaden
     oder Schmerz, den man jemand anderem zugefügt hat, verneint.
     Shakyamunis Reaktion auf solche Einstellungen bestand in seiner
     Lehre, dass es ungeachtet der verschiedenen, unvermeidbaren Lei­
     den, die das Leben mit sich bringt, möglich ist, das eigene Leben
     durch die volle Entfaltung unseres inneren Potenzials zu transfor­
     mieren. Zudem tragen unsere Anstrengungen, Mitgefühl mit jenen
     zu empfinden, die mit Schwierigkeiten kämpfen, und sie zu unter­
     stützen, dazu bei, Netzwerke gegenseitiger Ermutigung zu knüpfen
     und so die Möglichkeit zu schaffen, dass ein Gefühl der Sicherheit
     und Hoffnung aufkeimen und wachsen kann.

26
Der Buddhismus beschränkt seinen Fokus nicht auf die unvermeid­
lich mit dem Leben verbundenen Leiden, sondern bezieht auch die
Realität von Menschen mit ein, die sich innerhalb der Gesellschaft
diversen Schwierigkeiten gegenübersehen. Daher finden wir im
Mahayana-Buddhismus (im Sutra zu den
Upāsaka-Regeln) die Ermutigung, Brunnen Es gibt kein Glück, das nur uns allein
zu bauen, Obstbäume zu pflanzen und Be­ gehört, kein Leid, dass in Gänze auf
wässerungskanäle zu graben, den Alten, andere beschränkt bleibt.
Jungen und Schwachen zu helfen, Flüsse
zu überqueren, und jene zu trösten, die ihr
Land verloren haben.[34] Dies drängt uns dazu, anzuerkennen, dass
wir womöglich an irgendeinem Punkt in unserem Leben auch die
Leiden erfahren, von denen andere betroffen sind – dass es kein
Glück gibt, das nur uns allein gehört, kein Leid, dass in Gänze auf
andere beschränkt bleibt – und nach Wohlergehen für uns selbst
und andere zu streben. Darin drückt sich der essenzielle Geist des
Buddhismus aus.

Den Schmerz und die Leiden anderer als eigenen Schmerz und ei­
gene Leiden anzunehmen, genau darin liegt die philosophische
Quelle für die Aktivitäten der SGI als glaubensbasierte Organisati­
on (FBO). Wir arbeiten daran, Antworten auf globale Herausforde­
rungen wie Frieden und Menschenrechte, Umwelt und humanitäre
Belange zu finden.

Mir scheint es klar zu sein, dass es eine tiefe Kontinuität gibt zwi­
schen der menschlichen Psyche, wie Shakyamuni sie beobachtet hat
– dem Wegschieben von Alter oder Krankheit als irrelevant und die
daraus resultierende Kälte, die unseren Kontakt mit Menschen be­
stimmt, die solches erleiden – und dem Phänomen, das heute zu
beobachten ist, dass Menschen die Armut, den Hunger oder die
Konflikte, von denen andere betroffen sind, als irrelevant für ihr
eigenes Leben empfinden und daher am liebsten ignorieren.

                                                                           27
Dies ruft mir die folgende Passage aus dem Abschlussdokument der
     DPI/NGO-Konferenz wieder ins Gedächtnis, von der ich oben ge­
     sprochen habe: „Wir, die Völker, lehnen die falsche Wahl zwischen
     Nationalismus und Globalismus ab.“[35] In der Tat verstärkt Natio­
     nalismus – die Einstellung „mein Land zuerst“ – die Tendenz zur
     Fremdenfeindlichkeit und das Voranschreiten eines Globalismus,
     der sich einzig und allein an Profit orientiert und so eine Welt er­
     schafft, in der die Schwachen zur Beute der Starken werden. Aus
     diesem Grunde stimme ich der Auffassung zu, dass die heutige Zeit
     erfordert, dass alle Länder zusammenarbeiten, um einem men­
     schenzentrierten multilateralen Ansatz, der sich darauf konzent­
     riert, jene zu schützen, die sich ernsten Bedrohungen oder Heraus­
     forderungen gegenübersehen, zum Durchbruch zu verhelfen.

     Wenn wir uns die Geschichte der Anstrengungen ansehen, die un­
     ternommen wurden, um Sicherheit zu erschaffen, begegnen wir
     häufig der Vorstellung, dass wir sicher sein werden, wenn die
     Mauern unserer Burg nur stark genug sind. Heute nimmt diese
     Vorstellung die Form des Konzeptes an, dass unsere Sicherheit
     garantiert sein wird, solange wir innerhalb unserer nationalen,
     von einem starken Militär geschützten Grenzen leben. Tatsächlich
     erzeugen aber globale Probleme wie der Klimawandel Schäden und
     Leid, die nicht an Staatsgrenzen halt machen. Es braucht einen
     neuen Ansatz.

     Als ein Beispiel hierfür möchte ich das Abkommen von Escazú an­
     führen, ein bahnbrechendes Rahmenwerk, das im März vergange­
     nen Jahres von den Ländern Lateinamerikas und der Karibik ange­
     nommen wurde, um Rechte in Zusammenhang mit Umweltfragen
     zu schützen. Die Region leidet immer wieder unter den Folgen tro­
     pischer Wirbelstürme und der Übersäuerung der Ozeane. Zusätz­
     lich zu Vereinbarungen über eine Stärkung der regionalen Zusam­
     menarbeit enthält das Abkommen auch menschenzentrierte
     politische Ziele wie den Schutz von Umweltaktivistinnen und -akti­

28
visten sowie die Einbeziehung einer ganzen Reihe verschiedener
Standpunkte, wenn wichtige Entscheidungen anstehen.

Außerdem werden viele bemerkenswerte Anstrengungen im globa­
len Maßstab unternommen. Vor zwei Jahren initiierte das UN-
Umweltprogramm die Kampagne für saubere Meere, die darauf
abzielt, Plastik als eine Hauptquelle der Meeresverschmutzung
deutlich zu reduzieren. Gegenwärtig beteiligen sich daran mehr als
50 Staaten, deren Küstenlinien zusammengenommen mehr als
60 Prozent der gesamten weltweiten Küstenlinien ausmachen.[36]
Traditionell bedeutete der Schutz der Küsten, dass sie vor allem im
Fokus militärischer Verteidigungsaktivitäten standen, doch jetzt
nimmt das Ganze allmählich eine vollkommen neue Bedeutung an:
über nationale Differenzen hinwegsehen, um die Ozeane zu schüt­
zen, und miteinander kooperieren, um die ökologische Integrität
zu erhalten.

Blicken wir zurück in die Geschichte, dann stellen wir fest, dass so­
wohl ein ausländerfeindlicher Nationalismus als auch eine Globali­
sierung, deren oberste Priorität die Erzielung von Profit ist, in dem
Imperialismus wurzeln, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­
derts aufkam und schnell zu einer gewaltigen Triebkraft wurde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die destruktiven Folgen
des Imperialismus weltweit sichtbar. Tsunesaburo Makiguchi
(1871–1944), der Gründungspräsident der Soka Gakkai, forderte
1903 eine Beendigung jener Art von konkurrenzgeprägtem Überle­
benskampf, in dem Länder ihre Sicherheitsinteressen und ihren
Wohlstand auf Kosten der Einwohnerinnen und Einwohner anderer
Länder wahren. An seine Stelle, so forderte er, müssten wahrhaft
humane Wettbewerbsbedingungen treten. Die Quintessenz defi­
nierte er als „eine bewusste Teilnahme am kollektiven Leben“, wobei
man sich entschließt, „Dinge zum Wohle anderer zu tun, denn
indem wir dafür sorgen, dass andere profitieren, profitieren wir

                                                                        29
selbst“.[37] Unsere heutige Welt hat diese Art der Neuorientierung
     dringend nötig.

     Durch die fortschreitende Anhäufung von Erfahrungen gegenseiti­
     ger Unterstützung und Zusammenarbeit in Reaktion auf humanitä­
     re Krisen und Umweltprobleme können wir Vertrauen und ein Ge­
     fühl der Sicherheit nähren, um die Spannungen und Konflikte zu
     entschärfen, die aus der Krankheit der Friedlosigkeit erwachsen.
     Von dort aus sollten wir in der Lage sein, einen Ausweg aus dem
     Wettrüsten zu finden, in dem wir derzeit gefangen sind.

     Diesen September wird im UN-Hauptquartier ein Klimagipfel abge­
     halten – eine ausgezeichnete Gelegenheit, einen Multilateralismus,
     bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht, auf globaler Ebene vor­
     anzubringen. Ich fordere eindringlich dazu auf, diese Chance zu
     nutzen und wichtige Gebiete für Kooperation und Zusammenarbeit
     zu benennen, um das Leben und die Würde unserer Mitmenschen
     zu schützen, mit denen wir diesen Planeten teilen, effizientere poli­
     tische Strategien zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu ent­
     wickeln und den Wandel in unserem Sicherheitsverständnis weiter
     voranzutreiben.

        Umfassende Einbindung der Jugend

     Das dritte und letzte Abrüstungsthema, das ich diskutieren möchte,
     ist die umfassende Einbindung der Jugend.

     Bei der UN ist „Jugend“ mittlerweile auf vielen Gebieten zu einem
     Schlüsselbegriff geworden. Den Kern dieser Entwicklung bildet die
     Jugend2030-Strategie, die letzten September gestartet wurde. Ihr
     Ziel besteht darin, die weltweit 1,8 Milliarden jungen Menschen zu
     befähigen und die Grundlagen dafür zu schaffen, dass sie in einem
     intensiveren Engagement zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige

30
Entwicklung (SDGs) die Führung übernehmen. Ähnliche Entwick­
lungen sind auch auf dem Gebiet der Menschenrechte zu beobach­
ten. Hier hat die UN die Jugend als Ziel und Kernpunkt der vierten
Phase des Weltprogramms Menschenrechtsbildung und -training
ausgerufen. In meinem Friedensvorschlag aus dem vergangenen
Jahr habe ich solch eine Ausrichtung befürwortet und hoffe, dass
alle notwendigen Anstrengungen unternommen werden, um si­
cherzustellen, dass diese vierte Phase ein Erfolg wird.

Die Bedeutung der Jugend im Kampf für Abrüstung ist klar. Auch
UN-Generalsekretär Guterres hat dies in der Abrüstungsagenda aus­
drücklich betont. Die Tatsache, dass er der Universität Genf den Vor­
zug vor dem UN-Hauptquartier oder einem anderen diplomatischen
Veranstaltungsort gab, um die Agenda zu verkünden, spricht für sich.
   „Und junge Menschen, wie die heute hier anwesenden Studie­
   renden, sind die wichtigste Kraft für den Wandel in unserer
   Welt … Ich hoffe, Sie werden Ihre Kraft und Ihre Verbindungen
   nutzen, um für eine friedliche Welt einzutreten. Eine Welt, die
   frei ist von Atomwaffen; eine Welt, in der der Besitz anderer
   Waffen kontrolliert und reglementiert ist; eine Welt, in der die
   vorhandenen Ressourcen dazu genutzt werden, allen Men­
   schen Chancen zu bieten und Wohlstand zu sichern.“[38]

Damit sprach er neben dem seit langem schwelenden Problem der
Atomwaffen auch die Konfliktrisiken an, die von der Entwicklung
neuer Technologien ausgehen, und stellte beides als ernsthafte Be­
drohung für die Zukunft seiner jungen Zuhörerinnen und Zuhörer
dar. Insbesondere erwähnte er Cyberattacken als Quelle ganz spe­
zieller Sorge. Cyberwaffen könnten nicht nur benutzt werden, um
militärische Ziele zu treffen, sondern auch, um kritische Infra­
strukturen zu unterwandern und ganze Gesellschaften lahmzule­
gen. Sie bergen das Risiko, eine große Anzahl von Zivilistinnen und
Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen und gravierende Schäden zu
verursachen.

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