Auf Ohrenhöhe 50 Jahre Ehrenamt in der TelefonSeelsorge - Evangelisches Beratungszentrum - Evangelisches Beratungszentrum München
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Impressum Herausgegeben von Evangelische TelefonSeelsorge München im Evangelischen Beratungszentrum München e. V. Landwehrstr. 15/Rgb. 80336 München Tel.: 089-59048 110 Fax: 089-59048 190 E-Mail: ts@ebz-muenchen.de Website: www.ebz-muenchen.de Facebook: www.facebook.com/ebz.muenchen Registergericht: Amtsgericht München Registernummer: VR 7254 Bankverbindung Evangelische Bank e. G. IBAN DE84 5206 0410 0003 4020 29 BIC GENODEF1EK1 Abteilungsleitung TelefonSeelsorge Norbert Ellinger, Pfarrer Vorstand Gerborg Drescher, Pfarrerin Aufsichtsrat Klaus Schmucker, Kirchenrat, Leiter der Evangelischen Dienste München (Vorsitzender) Kurt Braml, Geschäftsführer i.R. (stellvertretender Vorsitzender) Monika Kormann-Lassas, Soziologin Florian Gruber, Pfarrer Reinhold Krämmel, Unternehmer Heinz-Georg Tillmann, Oberstudiendirektor a.D. 2
Inhalt Editorial 4 Meilensteine der Evangelischen TelefonSeelsorge München 5 Grußworte: Susanne Breit-Keßler 6 Dr. Dieter Reiter 8 Klaus Schmucker 10 Rückblick Reflexionen auf ein 50-jähriges Jubiläum 14 Die Anfänge 18 Erinnerungen des Gründungsleiters Wie wir wurden, was wir sind 22 Rückblick auf 40 Jahre als Telefonseelsorgerin München – Dresden 1992 bis 2008 26 Auf den Spuren einer Partnerschaft Einblicke Ehrenamt und Seelsorge 28 Die besondere Wirkung von Ehrenamtlichen in der Seelsorge und deren Ausbildung Drei kraftvolle Helfer 30 Kostbare Ressourcen - nicht nur für Ehrenamtliche Gestalte die Gegenwart so gut wie es dir möglich ist, sie spiegelt als deine künftige Vergangenheit dein Leben… 32 Einzigartig! 35 Warum ich immer noch bei der Evangelischen TelefonSeelsorge bin Die Vertretung der Ehrenamtlichen 36 Der Förderverein der Evangelischen TelefonSeelsorge München e.V. 38 Stiftung Evangelische TelefonSeelsorge in München 39 Danksagung 40 Die Evangelische TelefonSeelsorge wird finanziert durch 43 3
Editorial „Unser Gott kommt und schweigt nicht.“ (Die Bibel, Psalm 50,3) Liebe Leserin, lieber Leser, woran denken Sie, wenn Sie „1968“ hören? Während seit 1968 die Leiter kommen und gehen und die Vermutlich an Gesellschaftskritik und Studentenproteste, jeweils aktuelle psychologische Strömung die bisherige er- Vietnamkrieg und Prager Frühling, Benno Ohnesorg und gänzt, sind es die Ehrenamtlichen, welche die Konstante der Rudi Dutschke, an antiautoritäre Erziehung und sexuelle TelefonSeelsorge bilden und zum Wesen der „TS“ gehören. Selbstbestimmung, an Demokratisierung und Emanzipation. Ihre Beratung und Seelsorge ist von einer eigenen Quali- Es ist viel in Bewegung gekommen in den 68ern. Die Nach- tät und nicht durch Hauptamtliche ersetzbar. Ihre Erfah- kriegsgeneration rebellierte gegen den auch zwei Jahrzehn- rungen, Kompetenzen und ihr Engagement sollen in dieser te nach Ende der Nazidiktatur noch spürbaren autoritären Festschrift zum Vorschein kommen und gewürdigt werden. Geist. Utopisches wurde formuliert und es war Zeit, Neues auszuprobieren. Als für die Leitung der Evangelischen TelefonSeelsorge München Verantwortliche danken wir allen ehrenamtlich Auch die Kirche wurde davon ergriffen. Neue, der Moderne Mitarbeitenden ganz herzlich für ihren gewissenhaften Ein- verpflichtete Konzepte von Theologie, Verkündigung und satz, für die Liebe und Bereitschaft, sich immer wieder neu Seelsorge wurden entwickelt und experimentell erprobt. auf eines der größten Abenteuer des Menschseins einzu- So ist es kein Zufall, dass die Evangelische TelefonSeelsor- lassen: auf die wahre Begegnung mit einem anderen Men- ge München (ETS) im Jahre 1968 ihren Betrieb aufnahm. schen auf „Ohrenhöhe“. Ihre Arbeitsweise und Konzeption waren – zumindest im lutherischen München – etwas völlig Neues: unter Anwen- Norbert Ellinger Martha Eber dung der Erkenntnisse der psychologischen, soziologischen Leiter Stellvertretende Leiterin und anderer Erfahrungswissenschaften sollten Nicht-Theo- log*innen Seelsorge leisten. Und das auch noch über ein Medium, bei dem man sich während des Gesprächs nicht einmal in die Augen sehen konnte! Es waren keine ausgesprochenen „Revoluzzer“, die sich eine neue Art von Seelsorge auf die Fahnen geschrieben hat- ten, sondern Hausfrauen, Pfarrfrauen, Studierende, Theo- log*innen und Angehörige von „weltlichen“ Berufen. Doch der Zuspruch gab der Konzeption Recht: in den Hochpha- sen wurden von den zeitweise 130 Ehrenamtlichen jährlich über 34.000 Seelsorgegespräche am Telefon geführt. Das in München von Haupt- und Ehrenamtlichen entwickelte Ausbildungskonzept setzte für die TelefonSeelsorge bun- desweit Maßstäbe. 4
Meilensteine der Evangelischen TelefonSeelsorge München 1956 Gründung der ersten deutschen TelefonSeelsorge in Berlin 1965 Mit Pfr. Prof. Dr. Helmut Harsch beginnt eine eigenständige Evangelische Erziehungs-, Ehe- und Familienberatung e.V. (EEEFB) 1968 Am 12. Mai: Gottesdienst in St. Matthäus zur Eröffnung der Evange- lischen TelefonSeelsorge München 1968 3000 Anrufe jährlich 1968 1968 bis 1973: Leiter der ETS: Pfr. Heinrich Schmidt 1971 Umzug in die Landwehrstr. 11 1973 „Theorie und Praxis des beratenden Gesprächs“ von Prof. Helmut Harsch findet bundesweite Verbreitung 1973 1973 bis 1983: Leiter der ETS: Pfr. Hans Frör 5
Grußwort Liebe Leserin, lieber Leser, wer Sorgen hat, dem wird es eng um die Brust. Der Puls Wer bei der TelefonSeelsorge anruft, bekommt wieder Luft steigt, die Atmung wird flacher. Der Kummer, die Angst, die zum Atmen. Die Mitarbeitenden hören zu, zeigen Empa- Trauer nehmen dem Menschen die Luft zum Atmen. Wer in thie, weisen Wege auf. Das hilft aufzuatmen, die Weite und der TelefonSeelsorge anruft, ist atemlos in der Nacht oder Freiheit des Lebens wiederzufinden. Manchmal genügt das bei Tag. Durchatmen ist nicht mehr möglich, denn die Welt richtige Wort am Telefon, manchmal ist der Kontakt zur Te- scheint sich verengt zu haben. Freiheit und Weite gibt es lefonSeelsorge einer von vielen Schritten auf einem langen nicht mehr, der eigene Handlungsspielraum erscheint be- Weg. drückend eingegrenzt. Das Alte Testament findet für unsere Existenz ein wunder- bares Bild: Gott haucht uns den Atem des Lebens ein. Da- Für alle Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Sorgen durch wird der Mensch zu einer lebendigen Seele (Gen. 2,7). und Nöten haben die Ehrenamtlichen und die Hauptamt- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der TelefonSeelsorge lichen in der TelefonsSeelsorge ein immer offenes Ohr. Ich leisten Atemhilfe. Sie geben allen, die sich an sie wenden, danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Herzen, eine Hilfestellung, um wieder in den gleichmäßigen Atem- dass Sie beruflich oder in ihrer Freizeit sich derer anneh- rhythmus einzuschwingen, den Gott für uns vorgesehen men, die bei ihnen Rat suchen, sei es am Telefon oder auf hat. digitalem Weg. Ein herzliches „Vergelt`s Gott!“ dafür. Rund um die Uhr, auch an allen Wochenenden und Feier- Ihre tagen stehen sie bereit, um Menschen in ihrer Not aufzu- fangen. Dieser Dienst geschieht geräuschlos, ohne dass die Susanne Breit-Keßler Beteiligten darum viel Aufhebens machen würden. Es ist eine Hilfe, die einfach da ist, wenn sie benötigt wird, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Im Alltag nimmt die Gesellschaft kaum davon Notiz. Und doch ist sie angewiesen darauf, dass Menschen in akuter Not gehalten werden und Hilfestellung finden. Dass sich derzeit rund 110 Ehrenamtliche bereit erklären, in der Te- lefonSeelsorge mitzumachen, ist nicht selbstverständlich, Susanne Breit-Keßler gerade in einer Zeit, in der verbindliches Engagement über Regionalbischöfin im einen längeren Zeitraum aus unterschiedlichen Gründen Kirchenkreis München zurückgeht. und Oberbayern 6
1976 Nachtschicht wird in zwei Schichten geteilt 1978 Aus EEEFB, Schwangerschaftsberatung und TelefonSeelsorge wird das Evange- lische Beratungszentrum München e.V. (ebz) 1981 Die TelefonSeelsorge-Stellen erhalten eine einheitliche Notrufnummer 1982 Umzug in die Landwehrstr. 15/Rgb 1983 1983 bis 1992: Leiter der ETS: Pfr. Gerhard Born 1984 Erstes landesweites Treffen der Ehrenamtlichen; 1. Ausgabe von „Auf Draht“ als Fachzeitschrift der TS 1988 Erstmals Wahl der Ehrenamtlichenvertretung EAV 1988 Gründung der Partnerschaft mit TS Dresden 1993 1993 bis 2003: Leiter der ETS: Pfr. Dr. Hans-Friedrich Stängle 7
Grußwort Rund eine Million Mal hat das Telefon der Evangelischen intensiv vorbereitet werden. Indem sie – neben ihrer beruf- TelefonSeelsorge München bisher geklingelt, seit vor 50 lichen Arbeit – regelmäßig anderen Menschen zuhören und Jahren – in der Nacht vom 12. auf den 13. Mai 1968 – das sich ihrer Not annehmen, leisten sie einen außerordentlich erste Gespräch eines Ratsuchenden mit einem ehrenamtli- wichtigen Beitrag zu einer solidarischen Stadtgesellschaft. chen Mitarbeiter stattgefunden hat. Durchschnittlich wer- Für ihren ebenso anspruchs- und verantwortungsvollen wie den pro Jahr über 20.000 Anrufe entgegengenommen. zutiefst christlichen Dienst am Nächsten wünsche ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Evangelischen Tele- Diese Zahlen zeigen, dass die Evangelische TelefonSeelsorge fonSeelsorge München auch für die Zukunft viel Kraft und München aus dem sozialen Hilfenetz unserer Stadt längst Erfolg und gratuliere sehr herzlich zum 50-jährigen Jubi- nicht mehr wegzudenken ist. Sie ist eine von fünf Abtei- läum! lungen des Evangelischen Beratungszentrums München, dem ich vor kurzem bereits zum 60-jährigen Bestehen gra- Dieter Reiter tulieren konnte. Zusammen mit seinen anderen Diensten leistet sie einen nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag zu den Hilfestellungen und Orientierungsangeboten, die in München in persönlichen Krisen-, Not- und Konfliktsituati- onen verfügbar sind. Konstant rund 110 Ehrenamtliche besetzen im Schicht- dienst rund um die Uhr – auch an Sonn- und Feiertagen – Dr. Dieter Reiter das Telefon und sind auch zur Beratung per Chat und Mail Oberbürgermeister erreichbar. Dies gehört zu den gerade für eine Großstadt der Stadt München unverzichtbaren Angeboten und wird deshalb auch von der Landeshauptstadt München finanziell gefördert. Von unschätzbarem Wert ist dabei besonders das Engage- ment der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter, die die Anrufenden kompetent und verständnisvoll begleiten und darauf in einer neunmonatigen Ausbildung 8
1997 Erster Benefizflohmarkt für die ETS München 1997 Einführung der kostenfreien 0800er Telefonnummern 1999 Patentierung des Namens „TelefonSeelsorge“ 1999 Enorme Zunahme der Handyanrufe 2000 EAV gibt sich erstmals eine Satzung; ETS bekommt eigene Website; Haupt- und Ehrenamtliche erarbeiten gemeinsames Leitbild der ETS 2000 130 Ehrenamtliche, 34.369 Anrufe 2002 Gründung des Freundeskreises des ebz 2003 2003 bis 2008: Leiter der ETS: Klaus Grothe-Bortlik 2003 Gründung des Fördervereins der ETS München 9
Grußwort „Für 20 Pfennig Rat und Hilfe“ überschrieb die Süddeutsche Beratung am Telefon sein sollen. Seelsorger/-innen „auf Zeitung ihren Artikel, der am 12.5.1968 veröffentlicht wur- Augenhöhe“ im Horizont ihrer jeweiligen konkreten Le- de. An diesem Tag wurde in der Thierschstraße in München benserfahrungen können und wollen sie sein. Viele Stunden das erste Mal der Telefonhörer durch einen der damals 57 Lebenszeit bringen sie für Aus- und Fortbildung und den ehrenamtlich Mitarbeitenden der neu gegründeten Tele- fordernden Dienst am Telefon zu Tages- und Nachtzeiten fonSeelsorge abgehoben. Seitdem ist die TelefonSeelsorge und an Sonn- und Feiertagen neben ihren beruflichen und (TS) rund um die Uhr für Menschen zur Verfügung. Rund familiären Verpflichtungen unentgeltlich ein. Das verdient 22.000 Mal im Jahr nehmen heute Mitmenschen mit einem allerhöchste Anerkennung und Dank! Vor allem ihrer Kom- der rund 110 intensiv geschulten und durch Fachleute kon- petenz und vorurteilslosen Zugewandtheit zu jedem und tinuierlich begleiteten Ehrenamtlichen telefonisch Kontakt jeder Ratsuchenden verdankt die TS ihren exzellenten Ruf auf. Nicht selten kommen die Anrufe mitten in der Stil- und das Vertrauen, das Menschen ihr ungebrochen entge- le der Nacht, wenn die Einsamkeit sich besonders fühlen genbringen. Längst und immer vorausblickend stellt sich lässt, wenn die Lebensängste Menschen wach halten, wenn die TS den Entwicklungen heutiger Kommunikationsformen Erfahrungen von Trauer, depressiver Verstimmung oder und ist auch in München multimedial unterwegs: per Chat krankheitsbedingter Sorgen sich besonders laut zu Wort und Mail bietet sie ihre Dienste an, die intensiv in Anspruch melden. Manchmal geht es dabei auch um Tod und Leben. genommen werden. Zu danken ist anlässlich des Jubilä- „Seelsorge als Lebenshilfe“ lautete der Impuls, der aus der umsjahres auch all denen, die das durch ihre Fürsprache, seit 1965 schon bestehenden Arbeit der „Evangelischen Er- Mut-machen und finanzielle Unterstützung ermöglichen. ziehungs-, Ehe- und Familienberatung e.V.“ (EEEFB) heraus Der Dienst der TS ist gelebte Nächstenliebe und deshalb da- zur sorgfältigen Vorbereitung der TS innerhalb der EEEFB mals wie heute ein wesentliches und unverzichtbares Zei- führte. Der damalige Leiter der Gesamtberatungsstelle, chen der Liebe Gottes, der „nicht will, dass jemand verloren Prof. Dr. Helmut Harsch, trieb den Aufbau der TS zielstre- werde“ (2. Petrus 3,9). Es lohnt allen erdenklichen Einsatz big und fachkundig voran, angeregt auch durch die bereits und unser aller Mithilfe, damit die TelefonSeelsorge auch in erfolgreiche Arbeit an anderen Orten. Aus diesem Zusam- Zukunft vielen Menschen Lebenshilfe sein kann! menhang heraus erklärt es sich, dass bis heute die evan- gelische TS in München als Abteilung unter dem Dach des Klaus Schmucker 1978 in „Evangelisches Beratungszentrum München e.V.“ (ebz) umbenannten Vereins beheimatet ist, der eng mit den Kirchengemeinden und anderen Seelsorgeeinrichtungen unserer Kirche zusammenarbeitet. Von Anfang an und bis heute profitieren dadurch die verschiedenen Fachlichkeiten Klaus Schmucker des ebz voneinander. Das macht eine der besonderen Stär- Kirchenrat, Leiter ken des ebz aus. der Evangelischen Dienste Von Anfang an bis heute bewährt hat sich auch die An- im Dekanatsbezirk München fangsüberlegung, dass gut ausgebildete „Laien“ (so damals Vorsitzender des der Sprachgebrauch) das Rückgrat der seelsorgerlichen Aufsichtsrats des ebz e.V. 10
2007 Gründung der Stiftung Evange- lische TelefonSeelsorge in München 2007 TelefonSeelsorge gewinnt für das Projekt „Zeit-schenken-24“ den Fundraisingpreis der ELKB 2010 2008 bis 2015: Leitung der ETS: Pfr. Jürgen Arlt 2010 Beginn der Chat-Beratung in der ETS München 2013 Zukunftswerkstatt „ETS in 10 Jahren“ unter breiter Beteiligung aller Akteure 2013 Verteilung der Anrufe mittels Automatic Call Distribution (ACD) 2015 Regionalisierung des Handynetzes von Vodafone 2015 Seit 2015: Leitung der ETS: Pfr. Norbert Ellinger 2015 Beginn der Mail-Beratung in der ETS München 2015 Engere Zusammenarbeit der TS-Stellen in München und Oberbayern 11
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2016 Nach 34 Jahren bei der ETS geht Bettina Irschl in den Ruhestand 2016 Regionalisierung des Handynetzes von Telefonica 2016 Haupt- und Ehrenamtliche erarbeiten und beschließen neue Gruppenstruktur für Inter- und Supervisionen 2017 Gemeinsames Wochenend-Seminar der TS-Stellen München und Oberbayern 2017 Telefongespräche: 18.687 Chats: 479 Mails: 776 2018 Festgottesdienst und Fachtag zum 60-jährigen Jubiläum des ebz mit ebz-Chor 2018 Vorbereitung einer Krisenhotline bei Großschadenslagen in Kooperation mit Katholischer TS München 2018 Chat-Beratung wird Teil der 2018 Ausbildung zur/m TelefonSeelsorger*in Bundesweite Internetplattform für alle Telefonseelsorge-Stellen (TESI) 13
Rückblick Reflexionen auf ein 50-jähriges Jubiläum München 2018 nicht. Ich erlebe ein stetiges Auf und Ab. „Wir sind keine Eine ganz alltägliche Schicht Retter!“, hieß es in der Supervision – und doch: Es drängt mich immer, gemeinsam mit meiner/m Gesprächspartner*in Es ist Zeit zum Aufbruch. Wie gewohnt packe ich das, was nach einem „richtigen“ Ausweg, nach befriedigenden Lö- ich für den Dienst am Telefon „benötige“, was ich bei mir sungen zu suchen – am besten natürlich sofort! Häufig haben will, zusammen. Dann mache ich mich auf den Weg bleiben wir in einem mehr oder weniger verbindlichem Hin zur Dienststelle – wie immer die Gelegenheit, das Eigene, und Her „hängen“ oder verabschieden uns in hilfloser Be- meine Welt, das, was mich unmittelbar beschäftigt, zurück- troffenheit. Ich muss mich also bescheiden. Frustrierend ist treten zu lassen zugunsten der Welt, die mich in den nächs- dies auf der einen Seite, nämlich nichts bewegt zu haben; ten Stunden erwarten wird. Wenig später öffnet sich die auf der anderen Seite birgt es etwas Tröstliches: Ich brauche sichtbare Pforte dieser anderen Welt, ein herzlicher Einlass keine perfekte Seelsorgerin zu sein. – ich bin am Ziel. Wir, Vorgänger*in und Nachfolger*in, tau- Das Ende der Schicht entlässt mich wie gewohnt wieder in schen uns über Inhaltliches, zumeist auch über Persönliches meine Welt. Ich trete den Heimweg an. Dabei beschäftigen kurz aus. Jetzt kann die „Arbeit am Telefon“ - die Anfangs- mich die Gespräche aus den vergangenen Stunden. Die – im rituale davor nicht zu vergessen! - beginnen. wahrsten Sinne des Wortes – schrittweise größer werden- Für eine „kleine Zeit“ tauche ich nun ab und ein in eine de Distanz ermöglicht mir, dem Gesprächsgeschehen und Welt, in der mir seelische Probleme und seelisches Leiden seiner Dynamik innerhalb der Kommunikation mit den An- in vielfältiger Weise begegnen: Ängste, Trauer, Einsamkeit, rufer*Innen noch einmal nachzugehen. Dabei tut es gut, zu Hoffnungslosigkeit, schwere Krankheiten seelischer und wissen, dass bei größerem Klärungsbedarf gleich welcher auch körperlicher Natur – die Liste der „dunklen Seite“ des Art immer Supervision durch die Hauptamtlichen in An- Lebens ist lang! spruch genommen werden kann. Wie immer, wie gewohnt nehme ich den Hörer ab. Ich gebe mich zu erkennen als anonymes weibliches Individuum, das Dienst am Telefon – TelefonSeelsorge: Was sich heute als im Auftrag der Evangelischen Kirche an diesem Platz sitzt, ehrenamtliche Tätigkeit mit vorausgehender intensiver und das „da ist“ für Menschen in Not, in Krisen und ihren Pro- ausführlicher Schulung von Ehrenamtlichen zu „semipro- blemen Raum gibt. „Ich bin ganz Ohr“, ich stelle mich auf fessionellen“ (Roth) Kräften längst etabliert hat und allein mein Gegenüber ein, so wie es mir beigebracht worden ist, in der Evangelischen TelefonSeelsorge München von mehr versuche in Beziehung zu ihm zu treten. Manchmal gelingt als 100 Mitarbeiter*innen getragen wird, „blickt“ auf einen das, das Gespräch nimmt einen guten Verlauf, sehr oft auch völlig unscheinbaren Anfang „zurück“... 14
London 1953 (Roth) eingeschränkten Kontakt über das Telefon. Doch “Before you commit suicide, ring me up. genau danach war aus verschiedenen Gründen, wie es Telephone Mansion House 9000.“ sich zeigte, die Nachfrage sehr groß. So ist es nicht ver- wunderlich, dass sich im Schatten klassischer Seelsorge- Diese kleine Anzeige, am 2. November 1953 von dem Geist- praxis über das Angebot des Krisentelefons ein ganz ei- lichen Chad Varah in der Times veröffentlicht, zeitigte gro- genständiges Handlungsfeld von Seelsorge zu entwickeln ße Wirkung. In wenigen Jahren breitete sich die Idee eines begann: Christliche Seelsorge und Beratung sollten keinen Notfall- bzw. Krisentelefons in Europa und weltweit aus: Gegensatz mehr darstellen, sollten sich wegen des in der Ein Krisendienst zur Suizidprävention – das traf Beratung (vermeintlich) fehlenden Propriums nicht mehr offensichtlich auf eine Leerstelle in der bisher üblichen, ausschließen. Während bisher seelsorgerliches Handeln im traditionellen Seelsorgepraxis. Diese sah fast ausschließ- theologisch-christologischen Begründungszusammenhang lich die unmittelbare Begegnung im Vieraugengespräch, als ein Geschehen von Schuld und Vergebung betrachtet face-to-face, vor und keineswegs einen „verbal-auditiv“ wurde, dessen Thematisierung sich eben im „Gespräch un- ter vier Augen“ „ereignete“, rückte am Krisentelefon nun der Mensch in seiner unmittelbaren, in seiner suizidalen Befindlichkeit, in der er abgeholt und aufgefangen werden musste, in den Vordergrund. Zuhören, Wahrnehmen, Annehmen, Sicheinfühlen, Selbst- wahrnehmung im Gespräch, Beziehung und Begleitung, ge- meinsame Suche nach Lösungen etc. wurden zu Schlüsselbe- griffen in der Reflexion seelsorgerlicher Praxis. Eine Wende war eingeleitet, nämlich „dass die vom Reden und Fixiertsein auf Texte fast völlig taub gewordene Kirche das Gehör nicht ganz verloren, sondern das Hören sogar als ihre eigene Sache wiederentdeckt hat“ (Jörns, 46). Damit gingen Öffnung und Hinwendung zu den Humanwissenschaften, insbesondere zur Psychologie einher. Der Weg einer Neubestimmung und Neu- verortung von Seelsorge überhaupt begann. München 1967 Das Hören zur „eigenen Sache machen“ Genau da setzte man auch in München an und ein, als es im Jahre 1967 darum ging, eine Evangelische TelefonSeel- sorge aufzubauen. Das evangelische München leistete Pio- nierarbeit: Erstmals wurde eine Fachberatungsstelle damit befasst, eine Telefonseelsorge als selbständige Abteilung innerhalb eines Beratungsverbundes, nämlich der Erzie- hungs-, Ehe- und Familienberatung, des heutigen Evan- 15
gelischen Beratungszentrums München (ebz), aufzubauen. München 1973 Am 12. Mai 1968 gingen erstmals Telefonseelsorger*innen, Das „München Modell“ die zuvor eine achtmonatige Ausbildung durchlaufen hat- ten, ans Telefon. Diese bildete Grundlage und Orientierung Primäre Grundlage des erarbeiteten Konzepts bildet die Tä- für ein umfassendes Ausbildungskonzept, das in den fol- tigkeit am Medium Telefon mit seinen genden Jahren unter Beteiligung der mitarbeitenden Fach- „spezifischen Eigenschaften einer verbal - auditiven Kom- kräfte und Ehrenamtlichen entwickelt wurde. Im Zentrum munikation“ (Roth). Telefonischer Kontakt zeichnet sich stand die Beratungspraxis: Welche Anforderungen stellen durch die „charakteristische Ambivalenz von Nähe und Di- sich für die Beratenden? Wie lernen, mit den Ratsuchenden stanz, Vertrautheit und Fremdheit, von Intimität und Ano- und mit sich selbst im gemeinsamen Kontakt umzugehen? nymität, von Offenheit und Unverbindlichkeit“ (Roth) aus. Dabei sollten weder „Minipsychologen“ noch zu „Hilfstrup- Die vordergründig wahrgenommene Einschränkung – kein pen der Fachleute Degradierte“ (Harsch) produziert werden. Gespräch unter vier Augen – entpuppt sich auf den zweiten Gefragt war eine „Gesprächsmethodik“, die der speziellen Blick als große Chance, jene ambivalente Struktur bewusst Art des Kontakts Rechnung trug und den Menschen in ihrer aufzunehmen und konstruktiv einzusetzen. jeweiligen Krisensituation adäquat begegnen konnte (Frör). München experimentierte und erprobte. Fünf Jahre später Dazu bedarf es einer großen Anzahl geschulter Mitarbei- lag das Ergebnis auf dem ter*innen. Das Ehrenamt wird zum konstitutiven Element Tisch: „Theorie und Pra- seelsorgerlicher Praxis. Denn es sind keine „psychothe- xis des beratenden Ge- rapeutischen Fachdienste“ gefragt (Roth), sehr wohl aber sprächs“ (Harsch). ausgebildete „Nichtprofis“ oder „Semiprofessionelle“, die im Modellhaft ist hier zu niederschwelligen Kontakt Anrufenden jederzeit auf Au- Papier gebracht worden, genhöhe begegnen können – das zum einen. Zum anderen wie unter Rezeption hu- steht auf diese Weise ein breites Spektrum an Persönlich- manwissenschaftlicher keiten, die aus den unterschiedlichsten Lebenskontexten Erkenntnisse und em- mit vielfältiger Lebenserfahrung stammen, zur Verfügung. pirischer Methoden ein Auf diese Weise lässt sich der auf der Seite der Anrufenden eigenständiges Profil von gleichermaßen vorherrschenden Vielfalt adäquat begeg- Seelsorgearbeit – übri- nen. Der Einsatz von Ehrenamtlichen bedeutet also alles an- gens dere als eine Notlösung, vielmehr eine bewusste Entschei- nicht nur für das Telefon dung im Sinne des vorgestellten Konzepts. Im Blick auf eine – aussehen und vor allem theologische Rückbindung treten neben das Bild des guten realisiert werden kann. Es Hirten aus der traditionellen Seelsorgetheorie erweiternd war eine andere biblische (Vor-)Bilder, die den Traditionen ur- und anspruchsvolle und zu- frühchristlicher Gemeindepraxis zugerechnet werden kön- gleich praktikable Kon- nen (Roth, Jörns). zeption entstanden, die über den engeren Bereich Die konzeptbedingte Entscheidung zugunsten des Eh- Münchens hinaus eine renamts führt dazu, dass die zukünftigen Telefonseelsor- breite Wirkung entfaltet ger*innen für die niederschwellige Beratung qualifiziert hat. werden. Das geschieht in einer ca. einjährigen, intensiven 16
Ausbildung. Drei große Themenkomplexe, nämlich Selbst- Herr aber, das ist der Geist; wo der Geist des Herrn ist, da erfahrung, Gesprächsführung und Sachthemen haben hier ist Freiheit“ (2 Korinther 3,17). Ich darf „meine eigene Of- ihren Platz und werden in gegenseitiger enger Bezogenheit fenheit leben“ und stelle mich mit ihr im seelsorgerlichen aufeinander ausführlich behandelt. Ziel ist es, die Fähigkeit, Kontakt zur Verfügung. ein beratendes Gespräch zu führen, zu entwickeln und zu Über die Ausbildung wird meine eigene Offenheit reflek- verbessern (Harsch, 13). tiert und eine Spezialkompetenz entwickelt. Sie befähigt mich, unvoreingenommen und frei, eben authentisch, den Viertes und letztes Merkmal eines eigenständigen Seelsor- Anrufenden auf Augenhöhe zu begegnen. So erfahre ich geformats: Der religiöse Bezug – das christliche Proprium. das immer wieder. Ehrenamt, nichtgeistlicher Rahmen und die damit verbun- dene Offenheit für Probleme und Schwierigkeiten jedweder Dienst am Telefon bedeutet nicht nur gelebte, individuelle Art machen den religiösen Bezug, da er nur mehr in den Offenheit, sondern ebenso gelebte Gemeinschaft – „die Ge- seltensten Fällen explizit hergestellt wird, zur „Randerschei- meinde der unsichtbaren Seelsorger“ (Frör). Beide bedingen nung“. Dafür drückt er sich hier in anderen Formen aus: Bei- sich gegenseitig. Erst die Verankerung in der Gemeinde der de Seiten, Beratende wie Anrufende, sehen in der kirchli- Mitarbeitenden gibt meinen Gesprächen einen inneren Halt. chen Trägerschaft von TelefonSeelsorge christliche Inhalte Erst der breite, gegenseitige Austausch in vielerlei Hinsicht, repräsentiert. Eben eher selten explizit thematisiert, gehen gefördert und fachlich ergänzt über die Begleitung durch die jeweiligen Gesprächspartner meist von einer „klaren Hauptamtliche, macht TS-Praxis für mich zu dem, was sie Verankerung“ (Harsch) telefonseelsorgerlichen Dienstes in ist, nämlich Da-Sein für andere in der Nachfolge dessen, der „geistlicher Dimension“ aus: Von Gott, „der zu all dem Pla- gesagt hat: „Kommt her zu mir alle, die ihr euch abarbeitet nen und Vorhaben in allen Unwägbarkeiten das Gelingen und belastet seid, ich will euch zur Ruhe kommen lassen.“ gegeben hat.“(Harsch, in: Grothe-Bortlik, 9) – ein implizites (Matthäus 11,28). Proprium. A. Sch. Ehrenamtliche Telefonseelsorgerin seit 1982 München 2018 Das persönliche Fazit 50 Jahre liegen zwischen den Anfängen der Evangelischen TelefonSeelsorge München und heute. Als Ehrenamtliche Literatur: „bewege ich mich“ wie alle anderen auch in diesem in- Frör, Hans: Die Gemeinde der unsichtbaren Seelsorger, zwischen erprobten und bewährten und selbstverständlich in: Nachrichten Evang.-Luth. Kirche 22/1983, S. 427-429 inhaltlich vielfach modifizierten Konzeptionsrahmen in und Grothe-Bortlik, Klaus: 1968-2003 Rückblick auf 35 Jahre - mit jeder Schicht, die ich übernehme. Versuch einer Chronik, München 2003 Harsch, Helmut: Theorie und Praxis des beratenden Gesprächs, Dienst am Telefon bedeutet für mich die Form von Seelsor- München 1973 ge, die meinen Vorstellungen und Erwartungen bezüglich Jörns, Klaus-Peter: Telefonseelsorge – Nachtgesicht der Kirche, des Dienstes am Nächsten am meisten entspricht. Die dem Neukirchen-Vluyn 1995 (2.Aufl.) Charakter des Ehrenamts gemäße Offenheit ermöglicht mir Roth, Ursula: 0800 111 0 111 - Telefonseelsorge und ihre Bedeu- individuelle Gestaltung, selbstverantwortet und begründet tung für die Seelsorgelehre, in: in der Offenheit und Freiheit der biblischen Botschaft: „Der Pastoraltheologie 101/2012, S. 247-258 17
Die Anfänge Erinnerungen des Gründungsleiters Ich bin Jahrgang 1929, habe evangelische Theologie stu- Tübingen, um meine Promotion abzuschließen. Im Herbst diert und machte danach am Institut für Psychotherapie 1964 erhielt ich dort einen Anruf der Leiterin des Evange- und Tiefenpsychologie in Stuttgart eine zweite Ausbildung lischen Frauenbundes München, Frau Zeiske, ob ich bereit zum Psychologischen Psychotherapeuten. 1962 ging ich wäre, die Leitung einer neu zu gründenden psychologischen als Assistent für Praktische Theologie an die Universität Beratungsstelle in München zu übernehmen. Ich sagte zu 18
und kurz vor Weihnachten kam es zu einem ersten Kontakt, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich in ei- zusammen mit Frau Zeiske und dem neuen Dekan von Mün- ner raschen Veränderung befinden.“ Dann verabschiedeten chen, Georg Lanzenstiel. Es war ein kurzes, aber für alle Be- wir uns. Danach fragte ich mich verwundert, was da gerade teiligten sehr bewegendes Gespräch: Wir stellten fest, dass passiert ist. Ich war mir sicher, dass dies nicht nur meine wir sowohl in München wie auch in Tübingen am gleichen Geistesgegenwart war, sondern noch eine andere, die mir Thema arbeiteten, an einer Neubestimmung dessen, was half, unseren Seelsorgeauftrag heute so kurz und präzise evangelische Seelsorge ist. Das damals herrschende Para- zu beschreiben. digma war: „Seelsorge als Verkündigung“. Zur Emeritierung meines Doktorvaters Walter Uhsadel stellte ich gerade eine Der eigentliche Tiefpunkt für mich kam aber in der Grün- Festschrift zusammen unter dem neuen Paradigma: „Seel- dungsversammlung des neuen Trägervereins der „Evan- sorge als Lebenshilfe“. gelischen Erziehungs-, Ehe- und Familienberatung e. V.“ (EEEFB) im evangelischen Dekanat, als der Leiter der Ge- In München hatte man den Plan entwickelt, die bereits samtkirchenverwaltung München, welcher auch Geschäfts- bei der Inneren Mission München bestehende Erziehungs- führer des neuen Vereins werden sollte, zu Beginn sagte, beratung und die vom Evangelischen Frauenbund mit eh- dass er es rechtlich nicht für zulässig halte, Kirchensteuer- renamtlichen Beratern angefangene Ehe-, Familien- und gelder für eine psychologische Beratung auszugeben. Wenn Lebensberatung in einer neuen Organisation zusammenzu- der Dekan es befehle, wolle er es jedoch tun. Es war nicht fassen und als einen Zweig kirchlicher Seelsorge der Ge- nur der Inhalt, sondern der Ton dieses Statements, der mir samtkirchengemeinde München zuzuordnen. Was ihnen deutlich machte, dass wir Psychologen gar keine Chance noch fehlte, war ein fachlicher Leiter, der die Gesamtstelle hatten, daran etwas zu ändern. Und wo das Geld ist, da ist leiten und die neue Abteilung Eheberatung in professionale auch die Macht! Bahnen lenken sollte. Das war für mich eine unglaubliche Chance, die an der Universität entwickelte Idee in einer re- Mit diesen trüben Gedanken bin ich Anfang November alen Situation umsetzen und erproben zu können. Deshalb nach Düsseldorf gefahren, um mir dort Informationen sagte ich gerne zu und freute mich darauf, am 1. Oktober zu holen über die Organisation einer Beratungsstelle. Ich 1965 meine neue Arbeit in München beginnen zu können. wollte eine ganze Woche bleiben, musste aber schon am Eine „Telefonseelsorge“ München lag zu diesem Zeitpunkt Donnerstagmorgen abreisen, da mein Vater überraschend noch völlig außerhalb meines Horizontes. Aber das sollte gestorben war. Beim Abschied hörte ich rechts hinter mir sich innerhalb der nächsten acht Wochen ändern! eine Mitarbeiterin sagen: „An diesem Wochenende sind wir in Koblenz, um bei der Einrichtung der dortigen Tele- Sie brachten für mich eine harte Landung auf dem Bo- fonseelsorge zu helfen.“ Dieser Satz blieb bei mir haften den der Realität, als ich merkte, wie stark die theologische und hat mich auf der ganzen Rückfahrt nach München Landschaft in München noch vom alten Seelsorgeparadig- beschäftigt: Könnte die Einrichtung einer Telefonseelsorge ma her bestimmt war. Das fing schon an mit dem Besuch im Rahmen der EEEFB nicht die Lösung unserer Probleme bei Landesbischof Dietzfelbinger, der mich ganz unvermit- sein? Ehrenamtliche Mitarbeiter sind Laien und ohne die- telt beim Abschied mit der Frage konfrontierte: „Und ver- se theologischen Vorurteile wahrnehmungsfähiger für das, kündigen Sie auch Jesus Christus?“ Ohne eine Sekunde zu was wir tun. Wir könnten Ihnen mit unseren Möglichkeiten zögern kam aus mir die Antwort: „Nicht direkt, aber wir tun auch eine vorbereitende Ausbildung geben und sie wären das, was Jesus getan hat: Wir wenden uns den Menschen damit ein lebendiges Zeugnis für das, was wir tun. Und in ihren Nöten zu und das sind heute vor allem Probleme Laien würden in der Kirche sicher mehr gehört als wir. Am 19
nächsten Tag schon telefonierte ich mit Pfarrer Egger, von und zu einer Hilfstruppe von Minipsychologen werden. Ich der katholischen Telefonseelsorge. Er meinte, in München habe seine Bedenken ernstgenommen und versucht, ihnen sei genügend Platz und Bedarf für eine weitere Stelle. Auf in unserem Ausbildungskonzept Rechnung zu tragen. Das meinen Antrag hin beschloss der Vorstand deshalb bereits Ergebnis ist der Band „Theorie und Praxis des beratenden Ende November 1965, eine Evangelische Telefonseelsorge Gesprächs“, den ich in Zusammenarbeit mit den damaligen als 3. Abteilung der EEEFB einzurichten. Mitarbeitern der Telefonseelsorge herausgegeben habe und der eine weite Verbreitung gefunden hat. Im Dezember besuchte ich Pfarrer Kehr in Stuttgart, den Leiter der „Evangelischen Konferenz für Telefonseelsorge“, Mit Vorträgen in allen möglichen Kreisen, Vereinen und Ge- um ihm meine Pläne vorzustellen. Im Blick auf den Vorberei- meinden machte ich unsere Pläne bekannt und warb um tungskurs hatte er große Bedenken, da er meinte, die Leute Interessenten für eine erste Ausbildungsgruppe. Ein „Freun- würden dadurch ihre Unmittelbarkeit im Kontakt verlieren deskreis der Evangelischen Telefonseelsorge München“ un- 20
terstützte mich dabei. Ab Januar 1967 gab es jeden Mo- Nach einem Jahr entließ ich die Abteilung Evangelische Te- nat einmal eine offene Informationsveranstaltung, und ab lefonseelsorge in ihre Selbständigkeit, ab jetzt waren sie die Herbst 1967 formierte sich daraus eine erste Ausbildungs- Fachleute für ihr spezifisches Arbeitsfeld. Das vierteljährlich gruppe, die sich regelmäßig zu Gesprächsübungen traf, um stattfindende Große Team hielt die Verbindung unter den zu lernen, diese Theorien dann auch in der Praxis eines Ge- Abteilungen aufrecht und brachte auch fruchtbaren ge- sprächs umzusetzen. genseitigen Austausch. So wurde die EEEFB/ebz zu der „synergistischen Singularität“ in unserm Land, da sie bis Unter dem Eindruck dieser Entwicklung suchte der Ge- heute meines Wissens die einzige TS ist, die aus einer Bera- schäftsführer der EEEFB/ebz aus eigener Initiative (!) eine tungsstelle entstand und ihr auch weiterhin verbunden blieb. neue Bleibe für uns in der Thierschstraße, in der die Tele- fonseelsorge dann neben der Eheberatung auch ihre Räume Prof. em. Dr. Helmut Harsch haben sollte. Im Januar 1968 erfolgte der Umzug. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem das kommende Leitungsteam der Evangelischen Telefonseelsorge, Pfr. Heinrich Schmidt als Leiter und Hannelore Hedler als Sozialarbeiterin, ihre Ar- beit aufnahm. Zusammen entwickelten wir ein Auswahlver- fahren, mit dem wir das erste ETS-Team mit ca. 40 Mitar- beiterinnen und Mitarbeitern zusammenstellten. Mit einem Gottesdienst eröffnete die Evangelische Telefonseelsorge München am Abend des 12. Mai 1968 ihre Tätigkeit, Tag Helmut Harsch hat „aus Respekt vor der und Nacht ein offenes Ohr für die Menschen zu sein. Noch Eigenart der TS“ selbst nie am Telefon gesessen. ein Jahr lang begleitete ich die Arbeit der TS: Jeden Mor- gen trafen wir uns für eine Stunde zur Supervision, um alle Anrufe durchzugehen und Strategien zu ihrer Bearbeitung und Auswertung zu entwickeln. Ein besonderes Problem des Anfangs bildeten die „Daueranrufer“. 21
Wie wir wurden, was wir sind Rückblick auf 40 Jahre als Telefonseelsorgerin 22
1978 – die Wogen der Achtundsechziger hatten den bür- darunter, auch mehr Männer als heute. Es gab noch kein gerlichen Strand erreicht. Mich erwischten sie auf der Su- flächendeckendes Netz von TS-Stellen in Deutschland. Für che nach einem Inhalt für die dritte Lebensphase. Vieles bis die Anrufenden fiel die übliche Telefongebühr an. Das war dahin Festgefügte bröckelte. Von meinen Kindern lernte ich bitter, wenn jemand, der von außerhalb der Ortsverbindung das Wort „hinterfragen“. Von ihnen erfuhr ich auch, dass die anrief, ein mühsam in Gang gebrachtes Gespräch aus Angst Ausbildung für die Evangelische TelefonSeelsorge über eine vor der Telefonrechnung beenden musste. Da hätte ich knallharte Selbsterfahrungsphase lief. Ich bewarb mich, ob- manchmal gerne die Kosten übernommen. gleich katholischen Bekenntnisses, und wurde zum Auswahl- gespräch gebeten. Das führten zwei Hauptamtliche, der Lei- Die Themen waren in manchem anders als heute. Ich erinne- ter Pfarrer Hans Frör und sein Stellvertreter Klaus Köhler. Sie re mich an verzweifelte Ehefrauen, deren Gatte seit kurzem waren ein eingespieltes Team – „der gute und der böse Cop“. pensioniert war. Nun brachte er seine ganze Erfahrung in den Als ich das Haus verließ war ich überzeugt davon, durchge- Haushalt ein, den sie seit Jahrzehnten erfolgreich geführt fallen zu sein. Zwei Tage später kam die Zusage. hatte. „Er weiß alles besser ... ich halte das nicht mehr aus!“ Viel Überredung kostete es auch, jemanden, der offensicht- Die Evangelische TelefonSeelsorge residierte damals noch lich fachliche Hilfe brauchte, zu einer Therapie zu bewegen. als Gast im Evangelischen Beratungszentrum in der Land- „Ich gehe doch nicht in die Klapsmühle!“ Da hatte ich mir wehrstraße 11 im Zöcklerhaus (das Rückgebäude gab es noch eine kluge Replik zurechtgelegt: „Aber wenn Sie Zahnweh nicht). Die Zimmer waren klein, meine Ausbildungsgruppe haben, gehen Sie doch auch zum Zahnarzt!“ nutzte am Abend den Raum der Ehe- und Erziehungsbera- Ich erinnere mich an bewegende Gespräche mit Homose- tung, was uns einen Schrank voll Kissen und Filzblöcken be- xuellen. Der „Paragraph“ war zwar abgeschafft, aber in den scherte, auf denen wir entspannt sitzen und liegen konnten. Köpfen galt er noch. Einmal rief ein verzweifelter junger Damals gab es noch eine dritte Hauptamtliche, Ursel Weid. Schwuler an, der gerade mit seiner Ausbildung zum Arzt Zur Ausbildung kam Pfarrer Gerhard Born hinzu, der evange- fertig war und nun die Praxis seines Vaters übernehmen lische Leiter der „Insel unter dem Marienplatz“. Diese vier be- sollte – aus dem relativ liberalen München nach Passau. treuten erst drei, dann zwei Ausbildungsgruppen umschich- Das Handy war noch nicht geboren. Der Telefonapparat stand tig. An Gastdozenten kann ich mich nicht erinnern, auch an in den Wohnungen in der Diele oder hing an der Wand, un- keine Auswärtstermine. Bei jedem Ausbildungsabend stand verrückbar. Für ein vertrauliches Gespräch blieb oft nur die ein Aufnahmegerät in der Mitte des Kreises, ich vermute, Telefonzelle. Die befahl in großen Lettern: Fasse dich kurz! die vier haben sich das Band zusammen noch mal angehört und ausgewertet. Grundlage der Ausbildung war „thematisch Wir konnten bei Suizidgefahr einen Anrufer ausmachen orientierte Selbsterfahrung“. Mit der Telefonpraxis sind wir lassen. Voraussetzung war, dass bei uns zwei Telefone be- erst spät in Berührung gekommen. Wir „spielten“ Telefo- setzt waren. Dann musste eine Mitarbeiterin das Gespräch nate und waren, als wir dann endlich hospitieren durften, in Gang halten, während die andere die Bundespost be- überrascht, dass die Wirklichkeit oft viel weniger dramatisch nachrichtigte. Die verfolgte die Leitung und wir konnten, war. Zur „Halbzeit“ gab es ein gemeinsames Wochenende. Da wenn gewünscht, Hilfe besorgen. Im Dienstzimmer lag der trennte sich nochmal die Spreu vom Weizen. Übrig sind zwei Bereitschaftsplan von Notfallseelsorgern. TS-Gruppen geblieben. Meine hieß „Rosengarten“. Mit der Polizei hatten wir guten Kontakt. Einmal habe ich Damals waren die Ehrenamtlichen im Schnitt älter als einen jungen Mann, der drohte, sich umzubringen, von heute. Viele Pfarrfrauen und Studierende der Sozialberufe Polizisten aus einer Telefonzelle holen lassen. Er hat am 23
nächsten Tag aus der Psychiatrie bei der TS angerufen und sich bedankt. Der Kontakt mit den Anrufenden war, dank der Beschrän- kung auf den Münchner Raum, persönlicher als heute. Im- mer mal wieder stand in der Küche ein Kuchen, den eine Anruferin gebacken hatte oder auf dem Schreibtisch ein Blu- menstrauß mit Dankadresse. Es gab „Spezialkontakte“ unter Supervision von Hauptamtlichen. Einmal, nach der Selbsttö- tung eines uns allen bekannten Anrufers, haben wir seiner in einem Gottesdienst gedacht. Da waren wir schon im neuen Haus, im „Rückgebäude“, in das wir 1982 gezogen sind. Da hatten wir das ganze erste Stockwerk für uns, zwei große Dienstzimmer, ausreichend Arbeitszimmer für die Hauptamt- lichen und einen „Salon“ mit überdimensionalem Tisch. Hier zelebrierte Pfarrer Born einmal im Monat einen Gottesdienst mit anschließendem „Stammtisch“. Beides war gut besucht. Highlights waren auch die Jahrestagungen im Frühjahr und im Herbst in Grafrath. Dort hatten wir das Evangelische Freizeitenheim, inmitten von Wald und Wiesen gelegen, ganz für uns. Die Ansprüche an Komfort waren noch nicht so hoch – es gab wenige Einzelzimmer, Duschen im Keller, einen Jugendtrakt mit Stockbetten der auch mit Erwachse- nen belegt wurde – dafür konnten die Familien, von denen es mehrere unter den Haupt- und Ehrenamtlichen gab, ihre Kinder mitbringen, es gab eine extra Kinderfrau. Die Grup- pen suchten sich, wenn es das Wetter erlaubte, ihren Platz in der freien Natur, am Abend brannten die Lagerfeuer, im Haus wurde ausgelassen getanzt (als ich dazu kam, war ge- rade Sirtaki-Zeit), um Mitternacht spielte Pfarrer Born auf dem Klavier die Bayernhymne. Am Sonntagmittag endete die Tagung mit einem gemeinsa- men festlichen Gottesdienst: Gehet, ihr seid gesandt! G. A. Ehrenamtliche Telefonseelsorgerin seit 1978 24
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München – Dresden 1992 bis 2008 Auf den Spuren einer Partnerschaft „Wie Sie sicher wissen, gab es lange Jahre eine Partner- Wie aktuell ist es auch heute noch. „Mir hat auch gut getan, schaft zwischen unseren beiden Stellen. Wenn die Partner- dass wir Dresdner uns in unserer Gruppe mit unserer gan- schaft auch nicht mehr aktuell gepflegt wird, ist sie doch zen gegenwärtigen Situation einbringen konnten.“ Dieses ein wichtiger Teil unserer Geschichte …“ Mit diesen Worten Statement spiegelt viel Verständnis und Wertschätzung von wurde ich gebeten, die Partnerschaft zwischen den beiden bzw. durch die Gastgeber der TS München wider. TS-Stellen Dresden und München Evangelisch zu würdigen. Der Auftrag ehrt mich, darf ich doch damit ein Stück deut- Als letztes und somit jüngstes Dokument befindet sich scher Geschichte im Kleinen erinnern. Gleichzeitig berüh- eine Einladung zur Herbsttagung der Evangelischen Tele- ren mich diese Sätze. Da ist von Partnerschaft als wichti- fonSeelsorge München, am 08.11.2008, in Eckart Königs gem Teil der Geschichte der TS die Rede. Das macht mich Sammlung. „Träume sind Rufe aus der Tiefe“, so lautete das als Nachfolger, der diese Zusammenarbeit nicht persönlich Thema der Herbsttagung mit der Psychotherapeutin Ortrud erlebt hat, neugierig. Engagierte Menschen mit verschiede- Grön. ner Sozialisation, aber gemeinsamer Intention und Haltung Einen besonderen Stellenwert aber haben die Treffen in haben sich auf den Weg zueinander gemacht, um mitein- Warmensteinach/Fichtelgebirge. Im Jahr 1996 trafen sich ander Lernerfahrungen zu teilen und zu vertiefen. TS-ler aus München und Dresden zum dritten Mal, um In den sehr sorgfältig gepflegten Archivunterlagen meines ihre Erfahrungen aus der TS-Arbeit miteinander auszutau- Vorgängers Eckart König werde ich fündig. Ein Aktenordner schen. Eine Teilnehmerin aus Dresden schrieb dazu: „Die mit der Aufschrift „Archiv München“ beinhaltet persönli- Ost-West-Problematik wurde gerade noch als Randproblem che Briefwechsel, Einladungen zu Jahrestagungen, Ausga- in unserem Kreis angesprochen, obwohl die allgemeine po- ben der Münchner TS Information „TSI-intern“, Skripte zur litische Situation als äußerst bedrohlich von beiden Seiten Vorbereitung gemeinsamer Fortbildungsveranstaltungen in empfunden wird.“ Eine große Rolle spielten bei diesem Tref- Grafrath und Warmensteinach. fen die Erfahrungen beim Aufbau des 24-Stunden-Dienstes. Der Erfahrungsaustausch hat dazu beigetragen, dass die Erste Kontakte muss es schon vor 1992 gegeben haben. In Struktur der TS Dresden bis in die Gegenwart von dem Aus- einer Ausgabe von TSI-intern Nr. 101, Juni 1992, berichtet tausch mit der TS-München geprägt ist. Ursula U. zog 1996 Edith S. aus der TS Dresden von der Teilnahme einer Dresd- – nach dem Treffen in Warmensteinach – das Fazit: „Mün- ner Abordnung an der Frühjahrstagung der ETS München in chen und Dresden ist zusammengewachsen und es geht uns Grafrath. „Der Reiz des Fremden“ lautete das Thema damals. gut miteinander.“ 26
Auch wenn diese Partnerschaft als besonderer Teil unserer die gemeinsame Zeit in den zurückliegenden Jahren und für beider Geschichte schon annähernd zehn Jahre zurück liegt, die Bereitschaft, Ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. hat sie doch nachhaltig Spuren hinterlassen: institutionel- Ich grüße zum Abschluss mit einem Text von Christian Mä- le Spuren angesichts der gemeinsamen Grundstandards in gerle, den ich in einem Beitrag unseres ehemaligen Mitar- unseren TS-Stellen und insbesondere persönliche Spuren in beiters Günter H. in TSI-intern, Nr. 120, Januar 1994 fand: den Begegnungen, Kontakten, bis hin zu anhaltend engen Freundschaften, die in der Zeit von vor 1992 bis 2008 ent- Lass uns dann und wann standen sind und die weiter tragen. die Spur im Schnee erneuern, die Spur von mir zu dir, Zu Ihrem 50-jährigen Jubiläum wünschen wir Ihnen Gottes von deiner Tür zu meiner Tür. Segen in Form von immer ausreichend vielen und gut mo- In der Zwischenzeit tivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, in Form von mag es schneien. Hauptamtlichen, die die Geschicke der TS mit Augenmaß und der nötigen Weitsicht leiten und in Form von Men- In herzlicher Verbundenheit Ihr schen, die als Anrufende persönlichen Halt im Gespräch am Telefon erfahren und diese Erfahrung dankbar weiter tra- Michael Heinisch gen. Zu Ihrem 50-jährigen Jubiläum danken wir Ihnen für Leiter der Ökumenischen TelefonSeelsorge Dresden 27
Einblicke Ehrenamt und Seelsorge Die besondere Wirkung von Ehrenamtlichen in der Seelsorge und deren Ausbildung Es war 2016 während eines Vortrags vor 1.600 Telefonseel- Ergebnisse. Seinen eigenen Forschungen nach sind Empathie sorger*innen, als zuerst ein ungläubiges Raunen durch die und Respekt essenziell. Ließe sich mit ihrer Hilfe innerhalb Menge ging und dann Applaus aufbrandete. Der kanadi- der ersten drei Minuten eines Gesprächs ein guter Kontakt zu sche Psychologieprofessor Brian Mishara, Leiter des „Zen- einem Hilfesuchenden herstellen, sei die Chance am größten, trums für Forschung und Intervention bei Selbstmord und dass das Gespräch als hilfreich empfunden würde. Euthanasie“ in Quebec, Kanada, stellte dem Internationa- len TelefonSeelsorgekongresses in Aachen ein erstaunliches Zu dem Ergebnis, dass Empathie, Respekt und Erfahrung Forschungsergebnis vor: „Jede bisherige Studie hat ergeben, wichtiger für das Gelingen eines helfenden Gesprächs sind dass Ehrenamtliche besser sind als Profis, wenn es darum als die korrekte Anwendung bestimmter Methoden oder das geht, Menschen zu helfen, die selbstmordgefährdet sind.“ Einbringen von Expertenwissen, kommt auch die neuere Dieses Fazit ist nicht nur erstaunlich, sondern sensationell. Psychotherapieforschung. Nach einem 2014/2015 durch- Wenn das stimmt, würde es die übliche Denkweise auf den geführten empirischen Forschungsprojekt in der Telefon- Kopf stellen, nach dem Fachleute den Laien im Ergebnis Seelsorge bestätigen Ulrike Dinger und Isabelle Rek deren immer überlegen seien. Es würde auch die Haltung gegen- Ergebnis, wonach es „entscheidender ist, bei welcher The- über Ehrenamtlichen in der Seelsorge verändern. Selbst in rapeut*in die Behandlung stattfindet und weniger, welche der vom „allgemeinen Priestertum aller Gläubigen“ über- Therapieform angewendet wird.“ Nicht auf die perfekte zeugten evangelischen Kirche hebt die traditionelle Seel- Anwendung spezifischer Methoden komme es an, sondern sorgelehre in erster Linie auf Fachleute wie Pfarrer*innen, auf die Qualität der Beziehung. Und diese Qualität sei umso Diakon*innen und Religionspädagog*innen ab. Die eigene höher, je besser es jemandem gelänge, sich in sein Gegen- Qualität von Ehrenamtlichen in der Seelsorge kommt dabei über hineinzuversetzen (Empathie) und dies zu artikulieren bisher nur vereinzelt in den Blick. („Mentalisierung“) . Brian Mishara hebt zwei Ursachen für sein Forschungser- gebnis hervor: Empathie und Erfahrung. Er stellte fest, dass Die spannende Frage ist, ob diese Ergebnisse auf Beratung „volunteers“ in den Studien einfühlsamer waren als Profis. und Seelsorge insgesamt übertragbar sind. Meiner Erfah- Und je mehr Erfahrung sie hatten, desto besser waren ihre rung nach treffen sie auf die Seelsorge in ganz besonderer 28
Weise zu. Denn die Seele, um die es in der Seel-Sorge geht, und wertschätzend wahr. Sie geben deren Wirkung auf sich sehe ich als das „Beziehungsorgan“ des Menschen an. Sie selbst wieder und erleben die Wirkung ihres eigenen Ver- ist der Ort, an dem die Begegnung von Mensch zu Mensch haltens auf andere. Das sind wertvolle Erfahrungen, die sich und, wie die Mystiker hervorheben, auch zwischen Gott und positiv auf die Beziehungsfähigkeit auswirken. Mensch stattfindet. Freilich genügt ein großes offenes Herz nicht, eine gute Be- Wer sich nicht scheut, sich der Seele durch die achtsame, raterin zu sein. Deshalb wird Selbsterfahrung ergänzt durch unmittelbare, direkt spürbare Erfahrung auf phänomenolo- das Einüben von praktischen Methoden der Gesprächsfüh- gischem Wege zu nähern, kann feststellen, dass sie ihre ei- rung, durch Diskussion von Sachthemen und Informationen gene Art der Empfindung hat. Sie kann auf vielfältige Weise zu psychischen Krankheitsbildern sowie den Umgang mit berührt werden, durch Sprache, Musik oder Kunst, durch Krisen, Traumata und Suizidalität. Naturerleben oder wohltuenden körperlichen Kontakt. Dann öffnet sie sich, fließt und dehnt sich aus, wird spürbar Von Beginn an machte die TelefonSeelsorge die Erfahrung, und transparent. Sie kann sich aber auch zusammenziehen dass die Qualität der Beziehung nicht darunter leiden muss, durch verletzende, respektlose Worte, ungute Stimmungen, wenn sich Menschen eines Mediums wie des Telefons bedie- traumatisierende Erfahrungen wie Gewalt und Missbrauch, nen, um ihrer Seele Luft zu verschaffen. Seit wir 2010 die On- kann eng, zäh und taub werden. line-Seelsorge begonnen haben, wissen wir, dass auch durch Mit welchen Bildern man auch immer die Bewegungen der den noch sinnesreduzierteren Kanal des Chat sehr intensive Seele beschreiben mag: Die Erfahrung zeigt, dass besonders Begegnungen stattfinden können. Auch hier erweisen sich diese verletzten Seelen es sind, die bei der TelefonSeelsor- Ehrenamtliche mit ihrer Kompetenz als hilfreiche Berater*in- ge ihre Zuflucht suchen – manche mehrmals täglich. Sie nen und Seelsorger*innen. Von deren Erfahrungen zu lernen, lechzen nach einer Begegnung, die es ihnen erlaubt, sich könnte eine spannende Erfahrung für die Fachleute, deren zu öffnen, sich zu zeigen und gesehen, verstanden und ge- Ausbildung und die Seelsorgelehre werden. würdigt zu werden. Und gleichzeitig sind sie bisweilen so durchängstigt, dass schon das leiseste Zuviel an Berührung Norbert Ellinger sie dazu verleitet, sich wieder in sich selbst zu verschließen Pfarrer und Supervisor oder ihrerseits die Seele der/des Seelsorger*in zu verletzen. Leiter der Evangelischen TelefonSeelsorge München seit 2015 Seelsorger*innen verstehe ich in erster Linie als Beziehungs- handwerker*innen. Weil es dazu eine fundierte Grundlage braucht, hat die TelefonSeelsorge als erste Organisation innerhalb der Kirche ihren Ehrenamtlichen eine intensive Ausbildung verordnet. Hier hat Helmut Harsch mit seinem weit verbreiteten Schulungsbuch „Theorie und Praxis des beratenden Gesprächs“ (1973) Pionierarbeit geleistet (s. S. 16ff). Bis heute spielt die Selbsterfahrung im geschützten Begegnungsraum der Gruppe eine elementare Rolle. Die werdenden Seelsorger*innen erzählen einander Ausschnit- te ihrer Lebensgeschichte, werden sich ihrer Krisen und der Ressourcen, die aus deren Bewältigung erwachsen sind, be- wusst. Sie nehmen die Geschichten der anderen empathisch 29
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