Avantgarde, Zeitgeist, "Mainstream" - Siegfried Däschler-Seiler - Ingenta Connect

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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 607-613
                  © 2021 Siegfried Däschler-Seiler - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0055

                                     Siegfried Däschler-Seiler

            Avantgarde, Zeitgeist, „Mainstream“

1. „Progressiven Neoliberalismus“ nennt                           – was ihre Aufgabe ist – sie treibt
   Nancy Fraser das Modell, das in den                            ihn ohne Mandat voran. Der egalitäre
   USA den Führungsanspruch in der                                Emanzipationsbegriff der sechziger
   politischen Arena beanspruchte und                             und siebziger Jahre wurde abgelöst
   am Ende ganz im Gegensatz dazu Do-                             von einem doktrinären Begriff eines
   nald Trump hervorbrachte.1 Gemeint                             „meritokratischen Aufsteigerinnen-Fe-
   ist damit ein „Bündnis ‚immer neuer                            minismus, der den weiblichen ‚Willen
   sozialer Bewegungen‘ (Feminismus,                              zum Erfolg‘ und den ‚Sturm auf die
   Antirassismus, Multikulturalismus und                          Führungsetagen‘ propagierte.“3 Ge-
   LGBTQ) mit Vertretern hochtechni-                              steigert wird das inzwischen durch
   sierter, ‚symbolischer‘ und dienstleis-                        einen Jakobinismus, der sich „Identi-
   tungsbasierter Wirtschaftssektoren                             tätspolitik“ nennt, und der hinter jeder
   (Wall Street, Silicon Valley, Medien-                          Differenz die Diskriminierung sucht.
   und Kulturindustrie etc.). In dieser                           Was hat das mit der Pädagogik zu
   Allianz verbinden sich echte progres-                          tun? Das von Nancy Fraser vorge-
   sive Kräfte mit einer ‚wissensbasierten                        tragene Modell, das den Prozess der
   Wirtschaft‘ und insbesondere dem Fi-                           wirtschaftlichen Modernisierung mit
   nanzwesen. Wenn auch unbeabsich-                               der kulturellen verknüpft, hat erheb-
   tigt leihen sie Letzteren dabei ihren                          liche Bedeutung für die Pädagogik,
   Charme und ihr Charisma.“2                                     anders gesagt für Schule, Bildung
   Ohne das hier weiter auszuführen,                              und Erziehung generell. Die in dieser
   finden wir mühelos weitere Beispiele                           scheinbar so progressiven Ökonomie
   für das Ergebnis dieses Prozesses                              gängigen Verfahren, stringent und vor-
   in anderen Ländern. Während viele                              rangig mit statistischen Methoden zu
   Beschäftigte um ihre Arbeit bangen                             arbeiten, werden auf das zwischen-
   oder darum, dass sie mit ihren Löhnen                          menschliche Geschehen in einer
   den Alltag nicht mehr bewältigen, und                          Institution übertragen und dort als
   während Familien darum kämpfen, be-                            notwendiges, allein gültiges Verfahren
   zahlbaren Wohnraum zu finden, was                              propagiert. Es entsteht eine unheilige
   durch Corona verschärft wird, echauf-                          Allianz, bei der die wissenschaftliche
   fiert sich die vermeintliche Avantgarde                        Begleitung der ökonomischen Moder-
   über fehlende „Gender-Sternchen“                               nisierung, die paradigmatisch auf das
   und ruft zum Kulturkampf auf. Als Bei-                         empirisch Messbare setzt, nahtlos auf
   spiel diene die Duden-Redaktion, sie                           die kulturelle Modernisierung übertra-
   folgt nicht mehr dem Sprachwandel                              gen wird. Nur so könne Schule besser

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werden, nur so könnten Reformen be-                            entspricht, als „Anekdoten, Ideologie
   gründet werden. Die stringente, zah-                           und Bauchgefühl“5 qualifiziert, ver-
   lengetriebene Empirie versteht sich                            dient besondere Beachtung.
   – im Gleichklang mit der ausschließ-                           Otto Friedrich Bollnow, ein Tübinger
   lich betriebswirtschaftlichen Sicht auf                        Philosoph und Pädagoge der sech-
   das ökonomische Feld, bei der nur                              ziger und siebziger Jahre, forderte
   das Messbare zählt – als Speerspitze                           schon Ende der sechziger Jahre einen
   der kulturellen Modernisierung.                                respektvollen Umgang und eine auf-
   Die „Pisa-Studie“ und ihre erhebli-                            merksame Kooperation empirischer
   chen Folgen oder die „Hattie-Studie“                           und hermeneutischer Wissenschaft
   übernehmen dabei nur die Funktion                              in der Pädagogik.6 Sehr ausgewo-
   einer Brustwehr. Verbunden mit der                             gen arbeitet Bollnow die Unterschie-
   angedeuteten kulturellen Modernisie-                           de zwischen empirischer Forschung
   rung sieht sich diese Variante eines                           und hermeneutischer heraus. Beide
   „progressiven Neoliberalismus“ als                             Richtungen berufen sich auf Erfah-
   Avantgarde: politisch, wissenschaft-                           rung, aber es sind jeweils eigene
   lich, kulturell. Sie entspricht dem Zeit-                      Vorstellungen, was das sei. Während
   geist, usurpiert mit Hilfe der Medien                          Trautwein immer mehr Daten im Sinne
   den „Mainstream“ und sucht bei kri-                            statistischen Materials fordert, um
   tischen Rückfragen nicht mehr nach                             seine Kenntnisse des pädagogischen
   dem Argument, sondern danach: wer                              Geschehens auszuweiten und Inter-
   spricht? Um dann Einwände leichtfer-                           ventionen abzuleiten, arbeitet Bollnow
   tig mit der diskriminierenden Bemer-                           schon 1968 klar heraus, dass es
   kung „alter weißer Mann“ abzutun.                              Begriffe gibt, die unwissenschaftlich
2. Nochmals: Was bedeutet das für die                             erscheinen, wie zum Beispiel der Be-
   Pädagogik? Positionen werden be-                               griff der Begegnung, zum Verständnis
   setzt von Wissenschaftlern, die sich                           des Erziehungsgeschehens aber un-
   vor allem dadurch auszeichnen, dass                            verzichtbar sind. Ginge man nur wie
   sie das Handwerk der empirischen                               die stringenten Empiriker vor, werden
   Forschung beherrschen. Der Spre-                               damit viele Facetten des Lernens, der
   cher der OECD-Studien zur Bildung                              Erziehung und der Bildung einfach
   etwa, Andreas Schleicher, ist ein Phy-                         ausgeblendet. Überprüfen kann man
   siker. Ein anderer, Ulrich Trautwein, ist                      die Argumente des hermeneutischen
   als Psychologe Professor der Erzie-                            Verfahrens nur, indem man Zeugnisse
   hungswissenschaft mit eigenem Insti-                           anderer Autoren hinzuzieht, also die
   tut an der Universität Tübingen. Nun                           historische und die systematische Di-
   war die Pädagogik immer dem Zeit-                              mension nicht ausgrenzt. Bestimmte
   geist ausgeliefert und „der Politik ko-                        Erfahrungen lassen sich nicht in die
   ordiniert“4, und Wissenschaftlichkeit                          empirische Form der Erkenntnisge-
   bestand gerade darin, kritisch Distanz                         winnung überführen. „Die Pädagogik
   zu wahren oder herzustellen. Gleich-                           würde also vor der Aufgabe versagen,
   zeitig muss eine wissenschaftliche                             die wissenschaftliche Behandlung der
   Disziplin anschlussfähig bleiben. Dass                         gesamten für die Erziehung wichtigen
   nun aber ein prononcierter Vertreter                           Lebensvorgänge zu sein, d. h. sie
   dieser „Avantgarde“ die Erziehungs-                            würde den Anspruch, Wissenschaft
   wissenschaft nicht kennt und alles,                            von der Erziehung zu sein, zu unrecht
   was nicht seiner Art der Forschung                             erheben.“7

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                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Die Aufforderung zum Austausch zwi-                       Facetten der Verständigung zwischen
     schen den verschiedenen Zugängen                          Menschen über Sachen, die wir Un-
     weist Trautwein zurück. Offensichtlich                    terricht nennen, bleibt in seinen Aus-
     verweist er hermeneutische Verfahren                      führungen gleichsam blutleer.
     in den Bereich des Nicht-Wissen-                          Um ein Beispiel für Effektivität im Un-
     schaftlichen. Darüber hinaus findet                       terricht anzuführen: Die effektivsten
     er Gehör und Unterstützung in den                         Stunden an einer Grundschule sind
     hohen Rängen der Politik. Nur zum                         die der Zahnprophylaxe. Angelernte
     weiteren Verständnis: Die Psycholo-                       Helferinnen, die das gut machen, üben
     gie ist eine wichtige und notwendige                      mit den Kindern und sind sehr erfolg-
     Wissenschaft, die für das Verständ-                       reich dabei. Die Stunden wurden über
     nis von Bildung und Erziehung ge-                         Jahre evaluiert und verfeinert. Die Kin-
     braucht wird. Mit den dominierenden                       der verstehen das Problem, sie kön-
     Methoden dieser Wissenschaft, die                         nen entsprechend handeln, und sie
     naturwissenschaftlichen      Verfahren                    erinnern sich auch noch lange daran.
     entstammen, kann aber nicht eine                          Aber jedem ist klar: eine vielseitige,
     ganze andere Fachdisziplin für un-                        am individuellen Lernprozess orien-
     tauglich erklärt werden. Um es zuzu-                      tierte Einführung in die Schriftkultur
     spitzen, sei ein Vergleich gestattet:                     als Aufgabe der Grundschule9 kann
     Stellen wir uns einen Biologen vor,                       so nicht geschehen; es sei denn, man
     der vielleicht physiologisch oder ana-                    träumt von einer zentral gesteuerten
     tomisch detailliert versteht, um was                      Instruktion wie in der DDR.
     es geht, wenn es um eine Operation                     3. Ausgerechnet aus den Nachbardis-
     geht, aber nicht Medizin studiert hat                     ziplinen der Erziehungswissenschaft
     und noch nie ein Messer in der Hand                       kommen nun Hinweise, um nicht zu
     hatte: Wollen sie von einem solchen                       sagen Ermahnungen, dass sich die
     „Experten“ operiert werden? Das ist                       Pädagogik auf ihre eigene Tradition,
     das „Modell Trautwein“. Er kommt aus                      auf ihre einheimischen Begriffe zu
     einem benachbarten Fach der Erzie-                        besinnen habe, um dem realen Ge-
     hungswissenschaft und beansprucht                         schäft, das mit ihrer Disziplin verbun-
     dort wie selbstverständlich die Kom-                      den ist, gerecht zu werden.
     petenz wie gehandelt werden soll.                         Der Soziologe Steffen Mau schildert
     Nimmt man einen Text von ihm zur                          in erschütternder Weise, wie wir ver-
     Hand, der vom Kultusministerium in                        messen und daraus folgend zuge-
     Baden-Württemberg in einer Hand-                          richtet werden.10 Über die Frage der
     reichung an die Schulen gegeben                           „Benennungsmacht“ wird eine hege-
     wurde, so muss man eine Sprache                           moniale Stellung einer bestimmten
     zur Kenntnis nehmen, die Erziehung                        Form von Wissenschaft erzeugt: „Jede
     als einen Prozess der Produktion,                         Benennung ist der Versuch, eine spe-
     letztlich als Dressur versteht. Es                        zifische Lesart sozialer Phänomene
     geht im Wesentlichen nur um Effek-                        zu etablieren.“11 In besonderer Weise
     tivität, also darum „Lernprozesse von                     bezieht er sich auf die „Pisa-Studie“,
     Schülerinnen und Schülern optimal                         die „eine grundlegende Verschiebung
     zu organisieren und zu steuern“.8 Mit                     der Definitionsmacht darüber mit sich
     seiner Sprache entleibt Trautwein die                     gebracht hat, was gute Bildung aus-
     Verständigung zwischen Menschen                           macht. Die Pisa-Studie hat etablierte
     im Gespräch. Die vielschichtigen                          und national sehr unterschiedliche

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Bildungstraditionen, mitunter gegen                        Bildungspolitik wird heute trotz hehrer
      den heftigen Widerstand zentraler                          Motive durch Teststrategien an einen
      Repräsentanten, über den Haufen ge-                        immer weiter verschärften globalen
      worfen. Sie hat sich dabei einem Bil-                      Kapitalismus17 gebunden, der viele
      dungsbegriff verschrieben, der auf die                     erstrebenswerte Ziele von Schule und
      Messung und Vergleichbarkeit (manche                       Erziehung ausblendet und getrieben
      würden sagen: die Vergleichbarkeits­                       ist von der Vorstellung Indizes zu er-
      illusion) von Kompetenzen zielt. Die                       reichen, die sich auf wenige kogniti-
      Gütebewertung von Bildungssystemen                         ve Fähigkeiten beziehen, soziale und
      und Schulen ist nun dem standardisier-                     kulturelle Faktoren aber einfach über-
      ten Messregime von Pisa unterworfen.                       geht. Diesen Gedanken verfolgt der
      Was als pädagogischer Erfolg gilt,                         Soziologe Richard Münch.18 Darüber
      wird dabei durch die Experten eines                        hinaus sind die kritischen Beiträge
      internationalen Konsortiums festgelegt,                    des Wiener Philosophen Konrad Paul
      wodurch nach und nach alternative Kri-                     Liessmann seit längerem in der Dis-
      terien verdrängt werden und ‚kulturfreie                   kussion,19 der die Rhetorik einer „Wis-
      generelle Grundkompetenzen‘ (…)                            sensgesellschaft“ scharf kritisiert und
      einen zentralen Stellenwert erhalten,                      damit das Regime der Kompetenzen.
      die nur das einschließen, was messbar                      „Weil das Wissen von den individuel-
      und vergleichbar ist. Die OECD wurde                       len und sozialen Bildungsprozessen
      so zusammen mit den Erhebungsex-                           entkoppelt ist, kann es nun als ein
      perten zum ‚Oberhirten der nationalen                      Stoff behandelt werden, der allein
      Bildungspolitik in vielen Ländern.‘“12                     nach den Kriterien der Verwertbarkeit
      Hartmut Rosa, ebenfalls ein Sozio-                         in Umlauf gehalten oder entsorgt wer-
      loge, der das empirische Handwerk                          den kann.“20
      beherrscht, betont über sein Konzept                       Natürlich findet man auch in der Erzie-
      der Resonanz, was heute im wissen-                         hungswissenschaft selbst seit langem
      schaftlichen Diskurs der Pädagogik                         kritische Hinweise, die sich auf diese
      zu kurz kommt.13 Dabei spielen Ter-                        Entwicklung beziehen. 2009 fragt
      mini wie „Vertrauen“, „aufschließende                      Hermann Giesecke nach: „Haben
      Weltbeziehung“ oder „leibliche Di-                         Neurolinguistik, Systemtheorie, Kon­
      mension“ eine entscheidende Rolle.14                       struktivismus – um nur einige Beispie-
      Zudem stellt er in seinem Essay „Un-                       le zu nennen – für das, was ein Lehrer
      verfügbarkeit“ noch radikaler unseren                      tut, wirklich einen Erkenntniszuwachs
      modernen, okzidentalen wissenschaft-                       gebracht, den man nicht auch unter
      lichen Zugriff auf die Welt in Frage.15                    Verzicht auf eine gespreizte Begriffs-
      Die evidenzbasierte Forschung erzeu-                       dogmatik aus der pädagogischen
      ge nur scheinbar Klarheit. „Bildung…                       Tradition – etwa durch Lektüre der
      ist ein bestenfalls halbverfügbarer                        Klassiker – oder aus überlieferter
      Prozess.“16 Die Sehnsucht, über                            Berufserfahrung hätte gewinnen kön-
      strenge empirische Forschung Hand-                         nen?“21 Und am Ende seines Essays
      lungssicherheit zu gewinnen, ist ein                       stellt er fest: „ Bisher ist vorwiegend
      weiterer Versuch wie in anderen Le-                        vom Bankrott der Banken die öffent-
      bensbereichen die Reichweite unse-                         liche Rede, es gibt im übertragenen
      res Handelns zu vergrößern, was sich                       Sinne aber auch einen geistigen
      jedoch als Fehlschlag entpuppt. Das                        Bankrott kultureller Institutionen, in-
      Unverfügbare soll verfügbar werden.                        sofern und insoweit sie ideell vom

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psycho-ökonomischen Zeitgeist befal-                           Gedächtnis… Mit der Reduktion von
   len sind oder sich gar in hohem Maße                           Kultur aufs Marktgängige gehen le-
   darauf gründen.“22 Um aus der Kritik                           benswichtige kulturelle Optionen,
   an den Entwicklungen konstruktiv eine                          kreative Denk-Spielräume und Fremd-
   Perspektive zu gewinnen, betont da-                            heitserfahrungen verloren.“27 Mit den
   gegen Ludwig Duncker die Bedeu-                                Begriffen stoßen wir gleichzeitig in das
   tung der ästhetischen Erziehung für                            Zentrum der professionellen Tätigkeit
   eine Theorie der Schule.23                                     von Lehrerinnen und Lehrern vor.
4. Was nun? Man kann zunächst einmal                              Heinz-Elmar Tenorth wird in der Wo-
   bei versierten Empirikern nachlesen,                           chenzeitung „Die Zeit“ als „bedeutend­
   dass man auf den hermeneutischen                               ster Bildungshistoriker“ Deutsch­  lands
   Zugang nicht verzichten kann. Bei                              präsentiert.28 Er fordert unverblümt,
   Hattie24 ist es ganz klar: am effektivs-                       dass die Schulen zuallererst besser
   ten ist das Lehrerverhalten, wenn ein                          ausgestattet werden müssten, per-
   differenziertes Feedback erfolgt und                           sonell und materiell, dass es zu viel
   die Lehrerinnen und Lehrer über ein                            Reformrhetorik und zu wenig Praxis
   reiches methodisches Repertoire ver-                           gäbe. Und: „Steuerungsphantasien
   fügen. Die Pädagogen müssen von                                führen einfach zu nichts“. Weil der Bil-
   der Position der Kinder und Jugendli-                          dungsprozess ein „anarchischer, indi-
   chen aus denken können, das Lernen                             vidueller Prozess“ sei, fordert Tenorth:
   aus der Sicht der Schüler sehen kön-                           „Lasst die Schulen in Ruhe!“ Vielleicht
   nen. Interessanterweise bezieht sich                           kann man sagen: nur durch pädago-
   Hattie beim Feedback unter anderem                             gische Freiheit und eine ausgewie-
   auf das Hauptwerk von Hans-Georg                               sene, sensible Lehrkunst können sie
   Gadamer „Wahrheit und Methode“,                                „Werkstätten der Menschlichkeit“29
   wo es um das Fragen geht.25 Helmut                             sein und bleiben. Es geht auch darum,
   Fend spricht in seiner überarbeiteten                          dem Beruf seine Würde zu geben,
   „Theorie der Schule“ ausdrücklich                              das heißt der Arbeit derer, die unter-
   davon, es gehe ihm darum, „Bildungs-                           richten. Lehrerinnen und Lehrer brin-
   systeme zu verstehen und zu sehen,                             gen das kulturelle Gedächtnis eines
   wie sie in einem Wechselspiel von                              sprachlichen Raumes in der Form
   institutionellen Regelungen und Hand-                          von Zeichen und ihrer Grammatik, die
   lungen von Akteuren funktionieren.“26                          in elaborierter Form abgelagert sind,
   Gleichwohl verliert er die Frage nach                          also in der Struktur von Schulfächern
   den Wirkungen nicht aus dem Blick.                             vor die Kinder und Jugendlichen und
5. Und damit sind wir beim Thema „Lehr-                           regen den Umgang damit an, damit
   kunst und pädagogische Freiheit“ an-                           sich die Zöglinge in einem bestimmten
   gelangt. Wir positionieren uns gegen                           kulturellen Raum zurechtfinden und
   einen Traditionsabbruch, wie er in vie-                        ihn kreativ weiterbestimmen können.
   len Teilbereichen unserer Kultur seit                          Sie wiederholen Elemente aus dem
   langem beklagt wird. Wir rekurrieren                           kulturellen Bestand. „Das Curriculum
   auf zwei (einheimische) Begriffe der                           ist ein wiederholendes Beginnen…
   Pädagogik, und wir knüpfen an das                              Das Faktum des Geborenseins wird
   „kulturelle Gedächtnis“ an, sowohl der                         durch das Curriculum in die Seinsver-
   Disziplin als auch darüber hinaus. Oder                        fassung des Menschen integriert, die
   wie es Aleida Assmann sagt: „Bildung                           als Natalität verstanden wurde… Die
   ist individuelle Teilhabe am kulturellen                       Natalität ist die Erscheinungsweise der

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Freiheit im menschlichen Dasein.“30 In               13    Rosa, Hartmut/Endres, Wolfgang: Resonanz-
      diesem Sinne kann die Erziehungs-                          pädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knis-
                                                                 tert. Beltz, Weinheim und Basel 2016.
      wissenschaft auf eine hermeneutische
                                                           14    Ebd., S. 88, S. 95, S. 103.
      und das heißt philosophische Reflexi-                15    Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit. Suhrkamp,
      on nicht verzichten.                                       Berlin 2020/Residenz, Wien 2018.
                                                           16    Ebd., S. 79.
                                                           17    Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit. Die ver-
                                                                 tagte Krise des demokratischen Kapitalis-
                                                                 mus. Suhrkamp, Berlin, 3. Auflage 2013.
Anmerkungen                                                18    Münch, Richard: Der bildungsindustrielle
                                                                 Komplex. Schule und Unterricht im Wett-
1     Fraser, Nancy: Vom Regen des progressiven                  bewerbsstaat. Beltz, Weinheim und Basel
      Neoliberalismus in die Traufe des reaktionä-               2018.
      ren Populismus. In: Die große Regression.            19    Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbil-
      Eine internationale Debatte über die geistige              dung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft.
      Situation der Zeit. Herausgegeben von Hein-                Paul Zsolnay, Wien 2006. Ders.: Geis-
      rich Geiselberger. Suhrkamp Berlin, 2. Aufl.               terstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine
      2017, S. 77 – 91.                                          Streitschrift. Paul Zsolnay, Wien 2014/Piper,
2     Ebd., S. 78 f.                                             München und Berlin 2016. Ders.: Bildung als
3     Ebd., S. 81.                                               Provokation. Paul Zsolnay, Wien 2017.
4     Schleiermacher, Friedrich: Grundzüge der             20    Liessmann 2006, S. 148.
      Erziehungskunst (Vorlesungen 1826). In:              21    Giesecke, Hermann: Pädagogik – quo vadis?
      ders.: Texte zur Pädagogik. Kommentierte                   Ein Essay über Bildung im Kapitalismus. Ju-
      Studienausgabe, Band 2. Herausgegeben                      venta, Weinheim und München 2009, S. 165.
      von Michael Winkler und Jens Brachmann.              22    Ebd., S. 194.
      Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, S. 13.             23    Duncker, Ludwig: Die Bedeutung ästheti-
5     Siehe: Allgöwer, Renate: „Mehr Daten und                   scher Bildung in einer Schule des Denkens.
      weniger Bauchgefühl“. Interview mit Ulrich                 In: Theorie der Schule aus philosophischer
      Trautwein. In: Stuttgarter Zeitung Nr. 201,                und pädagogischer Sicht. Zum Verständnis
      31.08.2017, S. 6.                                          der Bildung in einer veränderten Welt. Her-
6     Bollnow, Otto Friedrich: Der Erfahrungs-                   ausgegeben von Renate Breuninger. Hum-
      begriff in der Pädagogik (1968). In: ders.:                boldt Studienzentrum, Ulm 2018, S. 39 – 62.
      Schriften, Band VIII. Königshausen & Neu-            24    Hattie, John A. C.: Lernen sichtbar machen.
      mann, Würzburg 2014, S. 297 – 326.                         Schneider Verlag Hohengehren, Baltmanns-
7     Ebd., S. 322.                                              weiler 2013.
8     Trautwein, Ulrich et al.: Wirksame Klassen-          25    Ebd., S. 216. Siehe dazu: Gadamer,
      führung: Grundlage für erfolgreiches Leh-                  Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grund-
      ren und Lernen. In: Klassenführung. Eine                   züge einer philosophischen Hermeneutik.
      Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer in                 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 4.
      Baden-Württemberg. Ministerium für Kultus,                 Auflage 1975, S. 344 ff. Siehe auch: Bräuer,
      Jugend und Sport, Stuttgart 2018, S. 9 – 15,               Gottfried: Kinder lernen fragen – Zu einem
      hier: S. 9.                                                Kapitel der pädagogischen Anthropologie.
9     Giel, Klaus: Elementarunterricht (1983). In:               Pädagogische Hochschule, Ludwigsburg
      Lenzen, Dieter (Hg.): Pädagogische Grund-                  1995.
      begriffe. Zwei Bände. Rowohlt, Reinbek, 7.           26    Fend, Helmut: Neue Theorie der Schule.
      Auflage 2004/2005, hier: Band 1, S. 349 –                  Einführung in das Verstehen von Bildungs-
      375.                                                       systemen. Verlag für Sozialwissenschaften,
10    Mau, Steffen: Das metrische Wir. Über die                  Wiesbaden, 2. Auflage 2008, S. 13 (Hervor-
      Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp,                    hebung im Original).
      Berlin, 3. Aufl. 2018.                               27    Assmann, Aleida: Sprache, Kultur, Bildung.
11    Ebd., S. 187.                                              In: Bildung und Erziehung. Herausgegeben
12    Ebd., S. 202 f.                                            von Annette Schavan. Suhrkamp, Frankfurt

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                            wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
am Main 2004, S. 186 – 199, hier: S. 195.              30    Giel, Klaus: Philosophie der Schule. In: The-
28   „Lasst die Schulen in Ruhe!“ Interview mit                   orie der Schule aus philosophischer und
     Heinz-Elmar Tenorth. In: Die Zeit Nr. 12,                    pädagogischer Sicht. Zum Verständnis der
     18.03.2021, S. 32 f.                                         Bildung in einer veränderten Welt. Heraus-
29   Comenius: Johann Amos: Große Didak-                          gegeben von Renate Breuninger. Humboldt
     tik. Herausgegeben von Andreas Flitner.                      Studienzentrum, Ulm 2018, S. S. 27 – 38,
     Klett-Cotta, Stuttgart, 5. Auflage 1982, 10.                 hier: S. 32 f.
     Kap., S. 59.

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