Berg - Mensch - Raetia Publica

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Raetia Publica | Ausgabe 9, 27. März 2018

Berg – Mensch
Im Sommer jährt sich der Bergsturz von Bondo, im Herbst sind es 400 Jahre her seit dem Bergsturz
von Piuro. Deshalb erscheinen in dieser Ausgabe zwei Artikel. Begleiten Sie den Geologen und
Forscher Florian Amann zu den Messstationen auf den ruhelosen Piz Cengalo und den Historiker
Jon Mathieu in die Bibliothek auf eine kulturgeschichtliche Zeitreise nach Piuro. Wie historische
Naturereignisse reproduziert und verarbeitet werden kommentiert ausserdem Humangeograph
Guglielmo Scaramellini.

Der Piz Cengalo – Ein Berg geht in die Knie
von Florian Amann, Professor für Ingenieurgeologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen
Hochschule in Aachen. Er ist ebenfalls Mitglied der Expertengruppe des Kantons, die den Bergsturz
von Bondo untersucht hat.

Der Weckruf des Piz Cengalo
Am 27.12.2011, am frühen Abend gegen 18.25 Uhr, erschütterte ein Erdbeben der Stärke 2,1 das
Bergell. Den wachsamen Seismologen des Schweizer Erdbebendienstes, deren «Ohren» in Form
eines engen Netzwerks an seismischen Messstationen jegliche Erschütterungen erfassen, war rasch
klar, dass dieses Ereignis nicht vergleichbar mit einem Erdbeben ist, welches uns aus den Tiefen der
Erdkruste ereilt. Trotz der seltsam anmutenden Aufzeichnungen waren der Ursprung und der Ort der
Erschütterungen rasch gefunden. Eine 1,5 Millionen Kubikmeter grosse Granitmasse löste sich
nahezu unbemerkt und beinahe in einem einzigen Paket aus der Nordost-Flanke des 3'125 m hohen
Piz Cengalo. Das Gesteinsvolumen von etwa 1'500 Einfamilienhäusern schlug auf einen kleinen,
namenlosen Gletscher unmittelbar am Hangfuss des Berges auf.
Von dort schoss es als Gesteinslawine mit einer Geschwindigkeit, jenseits der auf Kantonsstrassen
erlaubten Limite, weit in das schneebedeckte Bondascatal hinunter. Nach nur wenigen Sekunden war
der Spuk vorüber und, zum grossen Glück, befand sich in diesen Sekunden niemand in dem von
Berggängern häufig besuchten Tal. Die Nachricht des gewaltigen Felsabbruches verbreitete sich in
Windeseile und schon kurz darauf warfen sich Geologen in die Arbeit auf der Suche nach dem
«Warum», dem «Wieso» und der dringlichen Frage, ob noch mehr oder noch grösseres Unheil vom
Berg drohte. Schon rasch war den Geologen klar, dass noch weitere Stürze folgen könnten und die
mächtigen Ablagerungen der Gesteinslawine im Bondasca Tal eine Bedrohung der Gemeinde Bondo
darstellen. Vermutlich dann, wenn Niederschläge intensiv genug werden um das Geröll erneut in
Bewegung zu setzen. Letztere liessen nicht lange auf sich warten und schon im Sommer 2012
erreichten mit Geröll bepackte Schlammströme die Gemeinde Bondo1. Wiederum ohne die
Gesundheit oder gar das Leben von Menschen zu gefährden. Im Wissen, dass aber Schlimmeres
passieren könnte, haben die Gemeinde und der Kanton zum Schutz vor weiteren Murgängen ein
Auffangbecken und eine Alarmanlage gebaut.
Im selben Sommer machte sich ein kleines Grüppchen von Forschern mit hochmoderner Ausrüstung
ins Gebiet auf, getrieben durch die Beobachtung eines blauen Eispanzers im gesamten Bereich des
Anrisses des Bergsturzes des vergangenen Dezembers. Solch eisverfüllte Risse weisen auf das
Vorhandensein von Permafrost, also dauerhaft gefrorenem Untergrund, hin. In sicherem Abstand,
verschanzt hinter einem komfortablen Moränenwall, hatten sie immer die Frage vor Augen, ob es

1
  Baer, P., Huggel, C.H., McArdell B. W., Frank F. (2017): Changing debris flow activity after sudden sediment input: a case
study from the Swiss Alps. Geology Today, Vol. 33, No. 6, November-December 2017

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einen Zusammenhang zwischen dem Bergsturz und dem Vorhandensein von Permafrost gäbe und
wenn ja, wie dieser wohl aussehen könnte.

Der Berg gibt keine Ruhe
Die Forschergruppe hatte so einiges an Ausrüstung an den Berg gebracht, die es ihnen ermöglichte,
aus sicherer Entfernung und mit grösster Genauigkeit die Vorgänge am Berg zu dokumentieren.
Unter den Gerätschaften befand sich eine militärisch anmutende, bodengestützte Radaranlage zur
zuverlässigen Erfassung kleinster Verschiebungen des Berges. Der Plan war, ein- bis zweimal jährlich
die Messung zu wiederholen, um Felspartien zu entlarven, die nach dem Sturz im Dezember 2011
weiterhin in Bewegung sind. Diese Felspartien sollten dann gezielt auf die Frage der Wirkung von
Permafrost hin erforscht werden, was auch das Ziel des vom Amt für Wald und Naturgefahren
geleiteten Projekts war.
Und so mussten die Forscher bis zum Sommer 2013 warten, um ein vollständiges Bild der Situation
zu erhalten. Das Ergebnis war gleichermassen beeindruckend wie aufregend. Der Berg gab keine
Ruhe, das war zu erwarten. Grossflächig erschienen die Bewegungen auf den Radaraufnahmen, mit
Bewegungsraten bis zu 40 Millimeter in einem Jahr. Eine rasch anberaumte Messung im Herbst 2013
sollte die Resultate bestätigen. Dazu kam es in diesem Jahr nicht. Der Berg war im Sommer ruhig,
bewegungslos, trotzte jedem Gewitter und jedem Sturm und war standhaft, wie man es von einem
Granit erwarten darf.
So aufregend die ersten Ergebnisse auch waren, so unaufregend waren die Resultate der Folgejahre.
Der Berg war in Bewegung. Zumindest über die Wintermonate, das war nun klar. Aber er bewegte
sich gleichmässig und stetig.

Granit geht in die Knie
In den Jahren 2013 bis 2015 änderte sich nichts an dieser Situation. Gleichmässig und stetig schritt
der Berg voran. Vom Sommer 2015 zum Sommer 2016 erschienen die Verschiebungen etwas erhöht,
aber nicht aussergewöhnlich beschleunigt. Trotzdem lag eine bedrückende Stimmung im
Bondascatal, die durch dumpfe, knallartige Geräusche aus der Nordostflanke im Sommer 2015 und
2016 angeheizt wurde. Das mittlerweile vertraute aber furchteinflössende Geräusch war über viele
hundert Meter zu vernehmen und belegte mit erschreckender Gewissheit, dass der sonst so
standhafte Granit langsam unter der Last der Gesteinsmassen zerbrach. Und der Zerfall schien nun
auch im Sommer voranzuschreiten.
Die Folgemessung im Sommer 2017 genoss die volle Aufmerksamkeit der Forscher und
verantwortlichen Geologen. Und die Ergebnisse waren alarmierend. Die Verschiebungen der
Gesteinsmassen hatten sich über die Wintermonate nahezu verdreifacht. Es gab keinen Zweifel. Der
Berg wird kommen. Aber wann?
Warnhinweise ergingen und der Berg stand von nun an unter ständiger Beobachtung. Jeder einzelne
Felsbrocken, der aus der Wand stürzte, wurde akribisch genau registriert. Es wurden immer mehr
Felsbrocken und am 21.08.2017 gingen etwa 150`000 m3 Gesteinsmassen in die Tiefe. Wie sich im
Nachhinein herausstellte, ein Vorbote. Ein Vorbote für etwas viel Gewaltigeres. Am 23.08.2017, um
9.31 Uhr, vor den Augen des Hüttenwartes der Sciora-Hütte, brach der Berg unter seiner eigenen
Last zusammen. 3,15 Millionen Kubikmeter Fels schlug am Fuss des Piz Cengalo auf, riss 600´000 m3
Eis aus dem namenlosen Gletscher und liess die Erde erzittern. Die Gesteinslawine schoss mit bis zu
250 km/h das Bondasca Tal hinab und riss acht Bergwanderer in den Tod. Erst weit unten im Tal kam
sie zum Stillstand.

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Etwa einhundert Sekunden lang war das Signal des Bergsturzes in den Aufzeichnungen der
nächstgelegenen Messstation des Schweizer Erdbebendienstes, 26 km entfernt im Valle di Lei in
Graubünden, zu sehen. Das Ereignis entsprach einem Erdbeben mit einer Magnitude von 3,1 und war
damit etwa dreissigmal stärker als im Dezember 2011. Bergsteiger befanden sich zu dieser Zeit in der
Nordostwand des Piz Badile und waren wohl von den Erschütterungen und der massiven Staubwolke,
die sich über das gesamte ober Bondasca Tal ausbreitete, zu tiefst beeindruckt.

Die Natur ist unberechenbar
Aus den Erdbebenaufzeichnungen weiss man heute, dass die Gesteinslawine etwa 100 Sekunden
nach dem Absturz zum Stillstand kam. Aber bereits 4 Minuten nach dem Ereignis riss die Reissleine
der Murgangswarnanlage im Bondascatal. Nur 15 Minuten später erreichte eine gewaltige, mit Geröll
bepackte Schlammlawine, das Auffangbecken im Dorf Bondo. Wieviel Sekunden zwischen dem
Stillstand der Gesteinslawine und dem Abgang der Mure verstrichen, weiss man nicht genau. Es
geschah wohl unmittelbar. Damit nicht genug. In den Minuten und Stunden nach dem Bergsturz
gingen elf Murgänge unter den Augen der vielen Helfer und Beobachter ins Tal, erreichten das
evakuierte Dorf Bondo und verwüsteten ganze Dorfteile.
Aber wieso? Es war unpassend sonnig für eine solche Katastrophe. Keine Niederschläge wie im
Sommer 2012, welche die Schlammströme hätten begründen können. Geologen und Glaziologen aus
der ganzen Schweiz folgten dem Ruf des Kantons und befassten sich mit dem Thema. Woher kam das
Wasser? Wie kam es zu einer unmittelbaren Reaktivierung des abgelagerten Bergsturzmaterials? Die
Quellen waren rasch entlarvt. Nahezu das gesamte untere Drittel des namenlosen Gletschers,
insgesamt 600´000 Kubikmeter, wurde beim Aufprall der Gesteinsmassen abgesprengt und nie
wiedergesehen. Das Tal war stellenweise dick überlagert mit verbliebenem Bergsturzmaterial vom
Dezember 2011. Am Ende des Sommers war dieses Geröll zumindest teilweise mit Wasser gesättigt.
Die schlagartige Erschütterung durch das aufprallende Bergsturzmaterial vermag das Wasser aus
dem Geröll zu drücken oder lässt den Boden verflüssigen. Und zuletzt legte sich das
Bergsturzmaterial in den Weg des abfliessenden Schmelzwassers vom mächtigen Bondasca
Gletscher, der im August 2017 unter der Hitze litt. Eine Verkettung, über die zu jener Zeit weltweit
wenig Erfahrung bestand. Bis zum 23.08.2017.
Einige Fragen, welche zur Katastrophe am Piz Cengalo und in Bondo geführt haben, sind heute
geklärt. Andere Fragen verbleiben und werden noch lange die Forschung beschäftigen. Darunter
auch Fragen zur Klimaerwärmung und den Folgen für das hochalpine, über Jahrtausende dauerhaft
gefrorene Gebirge. Was ebenso verbleibt, ist die Tatsache, dass uns bei solch gewaltigen
Naturkatastrophen nur das Beobachten, das Warnen, das richtige Planen, das Regulieren und
schlussendlich das Davonlaufen bleibt. Aufhalten können wir sie nicht.

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Bergsturz 1618 – Im Bann der Erinnerung
von Jon Mathieu, Historiker und Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Neuzeit an der Universität
Luzern. Er ist insbesondere bekannt als Gebirgsforscher und Historiker der Alpen.

Am 4. September 2018 werden es genau 400 Jahre her sein, seit ein Bergsturz den stolzen Flecken
Piuro im Bergell fast ganz zerstörte und gegen 1'000 Menschenleben auslöschte. Sehr schnell wurde
der Bergsturz damals in weiten Teilen Europas bekannt, und bis heute hat sich die Erinnerung nicht
verloren. Es ist anzunehmen, dass die Jahrhundertfeier mit einigem Aufwand begangen wird. Piuro
liegt wenige Kilometer westlich von Bondo, wo im letzten Spätsommer Felsabbrüche am Piz Cengalo
zusammen mit Murgängen mutmasslich mehrere Berggänger in den Tod rissen und grossen
Sachschaden verursachten. Das gibt der historischen Feier eine unheimliche Aktualität.

Der Zorn Gottes
Piuro gehörte zu den Bündner Untertanenlanden. Amtsträger in der benachbarten Stadt Chiavenna
war seit 1617 der gelehrte Fortunat Sprecher. Am 4. September 1618, bei Anbruch der Nacht, hörte
er ein Getöse wie von Kanonendonner.
Dann stieg eine riesige Staubwolke auf, und der Fluss Mera trocknete plötzlich aus. Die
Schreckensnachricht verbreitete sich in Windeseile. Am nächsten Tag begab sich der Amtsträger an
den Ort der Katastrophe und schrieb den Vorgesetzten in Chur: «Mit höchstem Kummer und Herzleid
berichte ich die Herren des kläglichen jämmerlichen Untergangs des hübschen Fleckens Plurs
mitsamt dem Dorf Scilano, welcher sich (leider Gott erbarmt) folgender Gestalt begeben.» Anzeichen
seien schon früher wahrgenommen worden. Jetzt habe die «Rüfe» ein grosses Gebiet bedeckt, es
gebe nur wenige Überlebende. «O des grossen Jammers und Elends, da so viele hundert Personen
untergegangen: O lasset uns beten, doch ganz inbrünstig, dass Gott seinen grossen Zorn stille und
uns nicht mehr nach unserem Verdienst abstrafe, sondern mit den Augen seiner Barmherzigkeit
ansehe und vor weiterem Unfall gnädig behüte, Amen.»2
Am gleichen Tag schrieben andere Augenzeugen Briefe in mehrere Städte Europas. Von
Buchdruckern wurden diese Meldungen zu «wahrhaftigen, schrecklichen, neuen Zeitungen»
verarbeitet, und schon bald wusste man vielerorts Bescheid über das traurige Schicksal von Piuro.
Illustrationen sollten die kleinen Schriften attraktiv machen. Besonders genau wurde der frühere Ort
in einem Zürcher Druck von 1618 abgebildet. Man nimmt an, dass damit die Besitzansprüche in der
entstellten Landschaft markiert werden sollten. Über eine veränderte Frankfurter Version dieses
Bildes von 1619 und eine Version von Merian 1635 fand die Illustration 1756 Eingang in David
Herrlibergers Topographie der Eydgnoßschaft. Man sieht darauf – stark stilisiert – Piuro vor und nach
dem Bergsturz.3
Wie Sprecher nahmen im 17. Jahrhundert die meisten an, dass es sich um eine Strafe Gottes
handelte. Nur waren sich Protestanten und Katholiken nicht einig über den Grund des göttlichen
Zorns. Während die eine Seite die Drangsalierung der protestantischen Minderheit nannte, verband
die andere den Bergsturz mit der Hinrichtung von Nicolò Rusca am Thusner Strafgericht.
Der Erzpriester war am gleichen 4. September den konfessionellen und parteipolitischen
Leidenschaften der «Bündner Wirren» zum Opfer gefallen.4

2
  G. Scaramellini u.a.: La frana di Piuro del 1618. Storia e immagini di una rovina, Piuro 1995, S. 109f.
3
  Idem, S. 55-58, 84.
4
  Rätoromanische Chrestomathie, hg. von C. Decurtins, Chur 1982-86, Bd. I, S. 101, Bd. VI, S. 164ff.

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Neue Medien, alte Erinnerung
Bis ins 18. Jahrhundert zirkulierte die Geschichte des Bergsturzes von Piuro bereits in einer ganzen
Anzahl von Quellengattungen, vom Einblattdruck bis zur Landesbeschreibung. Nachher vergrösserte
sich das Spektrum weiter, zuerst mit der aufstrebenden Gattung des historischen Romans.
So kam Conrad Ferdinand Meyer nicht darum herum, Piuro in seinem «Georg Jenatsch» zu
erwähnen, der 1876 erstmals erschien und bis heute neu aufgelegt wird. In einer «alten
Bündnergeschichte» (so der Untertitel des Romans) durfte der legendär gewordene Bergsturz nicht
fehlen.5 Zwei Jahre nach diesem Best- und Longseller erschien «Donna Ottavia» des Historikers
Johann Andreas von Sprecher, wo die Katastrophe ein ganzes Kapitel füllt. Der im Bergell
vorbeiziehende Säumer Peter Gruber, ein Bündner von altem Schrot und Korn, hat im Roman das
«zweite Gesicht» und sieht das Unglück voraus. Er ringt dabei «mit einem schweren Seelenleiden»
und «einer unsagbaren Angst».6
In der gleichen Periode wuchs das Bedürfnis, die Geschichte mit Händen zu greifen. 1877 wurde für
kurze Zeit eine Kommission aktiv, die eine Ausgrabung der verschütteten Siedlung mittels
Aktienverkauf finanzieren wollte. Eine nachhaltige wissenschaftliche Tätigkeit erforderte jedoch
öffentliche Mittel, die erst später zugänglich waren. 1961 konstituierte sich die «Associazione italo-
svizzera per gli scavi di Piuro» mit Sitz in Bern. Sie betrieb systematische Grabungen und eröffnete
1972 ein Lokalmuseum. Nach der Jahrtausendwende wurde die Associazione vermehrt Bestandteil
der italienischen Kulturpolitik und publizierte die Zeitschrift «Plurium».7 In neuster Zeit gibt es ein
Interreg-Projekt zum Thema Bergsturz, das auch Touristen anlocken soll. Ferner können wir seit 2015
auf Youtube den Video-Trailer «La frana di Piuro» betrachten. Wie auf dem Vorher-Nachher-Bild von
Herrliberger beginnt er mit dem stolzen Renaissance-Städtchen vor der Zerstörung. Dann bricht ein
gefährliches rot markiertes Stück Berg ab und verbreitet sich wie eine Springflut über den Talgrund
aus.8 Sehr speziell ist die Musik. Das Drama wird im Video mit den Top Tens der Klassik unterlegt.
Sollen Bach, Mozart und Beethoven für Wohlgefühl sorgen und uns die Angst vor dem Berg nehmen?

Die grosse Angst vor dem Berg?
Im 19. Jahrhundert war die Angst vor dem Gebirge ein wichtiges Thema. Mitglieder der europäischen
Eliten, die seit einiger Zeit der Alpenromantik verfallen waren, bemerkten im Rückblick, dass diese
Leidenschaft von ihren Vorfahren nicht geteilt wurde. So begannen sie einen scharfen Gegensatz zu
machen zwischen der «alten» und der «modernen» Bergwahrnehmung. Bald fand ihre Meinung den
Weg in die Massenmedien. Etwa in die deutsche «Gartenlaube», die 1889 zu drastischen Worten
griff: «Schneegebirge fand man unschön und abschreckend; man bewunderte sie nicht, sie erfreuten
auch nicht – man staunte sie nur als etwas Ungeheuerliches mit Entsetzen an.»9
Dieses Schwarz-Weiss-Bild schmeichelte dem Selbstwertgefühl des fortschrittsgläubigen
Jahrhunderts und wird bis heute von der populären Literatur tradiert. Die Geschichtsforschung hat
sich aber davon abgewandt. Es gibt zu viele Hinweise auf entspannte, positive Haltungen gegenüber
dem Gebirge auch in älteren Texten. Man kann auch darauf hinweisen, dass der Alpenraum seit
langem einen grossen, relativ bevölkerten Kulturraum bildete. Wie würde sich dies mit einem
allgemeinen Entsetzen der Menschen verbinden lassen?

5
  C. F. Meyer: Georg Jenatsch. Eine alte Bündnergeschichte, Leipzig 1876, S. 81f.
6
  J. A. v. Sprecher: Donna Ottavia. Historischer Roman aus dem ersten Drittel des siebzehnten Jahrhu nderts, 3. Auf-
lage, Basel 1901, S. 79 (zuerst 1878).
7
  Scaramellini: La frana, wie Anm. 1, S. 39ff.
8
  https://www.youtube.com/watch?v=c54igxAeg10&t=10s.
9
  J. Mathieu: Die Alpen. Raum – Kultur – Geschichte, Stuttgart 2015, S. 138.

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Mit Blick auf Bergstürze hat Albert Heim, der Pionier der Alpengeologie, 1932 die Ansicht vertreten,
die Leute verspürten nicht zu viel, sondern zu wenig Angst. Er hatte noch den tragischen Elmer
Bergsturz von 1881 vor Augen und befürchtete, dass sich am Glarner Kilchenstock Ähnliches
wiederholen könnte. Nach seinen Beobachtungen stopften sich die Einwohner bei Gefahr lieber ein
Pfeifchen anstatt rechtzeitig die Flucht zu ergreifen. Und wenn sie dann flohen, so oft in die falsche
Richtung. Aus diesem Grund schrieb Heim mit über achtzig Jahren sein letztes Werk: «Bergsturz und
Menschenleben.»10

Bergsturz und Menschenleben
Den Anlass bildete eine Kontroverse zwischen Geologen über die drohenden Gefahren am
Kilchenstock, die auch die Politik und die Bevölkerung stark beschäftigten. Heim stellte fest, dass
Bergstürze allgemein nur wenig untersucht seien, nicht zuletzt mit Bezug auf die menschlichen
Verhaltensweisen. Laut seiner Schätzung hatte es in den schweizerischen Alpen seit vorhistorischer
Zeit etwa 1'500 Bergstürze gegeben. Für die historische Periode zwischen dem 6. und frühen 20.
Jahrhundert könne man von 150 ausgehen.11
Von diesen Bergstürzen fanden nur wenige Eingang in die öffentliche Erinnerungskultur, und
insgesamt wohl keiner wie derjenige von Piuro. Aufgrund seiner Erfahrungen nahm Heim an, dass
hier die lokale Lavezindustrie, die ihr Rohmaterial aus dem Berg gewann, für dessen Sturz
verantwortlich war: «Alles was man davon weiss, spricht dafür, nichts dagegen.»
Ähnliche Vermutungen waren schon 1618 geäussert worden, als noch der «Zorn Gottes» im Zentrum
stand.12 Doch das letzte Wort zu dieser These ist bisher nicht gesprochen. Neuere Untersuchungen
halten sie für wenig überzeugend und weisen auf die ausserordentlich starken Regenfälle hin, die
den Berg destabilisiert hätten.
Vorläufig macht die Gemeinde Piur keine Angaben zur Veranstaltung vom kommenden 4.
September, wenn sich die «frana» zum vierhundertsten Mal jährt. Ihre Website bietet nur den Zugriff
auf das Video.13 Man kann aber davon ausgehen, dass die tief verankerte Erinnerung neu belebt und
an eine junge Generation weitergegeben wird. Wie soll man produktiv mit Erinnerung umgehen?
Wäre es besser, wenn wir die Geschichte ad acta legen würden, um uns frischen und heiteren Dingen
zuzuwenden? Oder sind es gerade die tragischen Momente, die uns weiter helfen?

10
   A. Heim: Bergsturz und Menschenleben, Zürich 1932.
11
   Idem, S. 12ff.; für die moderne historische Forschung vgl. Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewält igung
von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Bern 2002.
12
   Idem, S. 180.
13
   http://www.comune.piuro.so.it/c014050/hh/index.php (Zugriff 26.1.18).

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Piuro 1618: storia, memoria, oblio
von Guglielmo Scaramellini. Er hat Geografie an den Universitäten in Turin, Modena und Milano un-
terrichtet. Nachdem er sich mit Gletschern und Gletschermorphologie beschäftigt hatte wechselte er
in die Humangeographie und untersuchte unter anderem auch Berggesellschaften.

La «frana di Piuro» del 1618 (in realtà una colata di detriti, un debris flow, che, prima di travolgere il
borgo di Piuro e il villaggio di Scilano trascinò con sé fango, massi e depositi morenici, alberi, edifici
rustici, animali selvatici e domestici) fu un evento la cui fama corse rapidissima in tutta Europa,
dando vita a una vasta pubblicistica: gazzette, monofogli, relazioni storiche, libelli morali, immagini,
leggende. Peraltro, quando avvenne, nel clima dei contrasti confessionali, l’evento si prestava a
interpretazioni moralistiche, come l’accusa agli scomparsi di avere meritato il «castigo di Dio» per la
loro presunta depravazione (ma perché proprio i Piuraschi e non altri?).
Per molto tempo i viaggiatori si premurarono di visitare il luogo del disastro o di menzionarlo nei loro
resoconti, poi la materia rimase appannaggio di storici ed eruditi, che, spesso, la ricordavano
ripetendosi l’un l’altro. La storiografia locale non poteva, naturalmente, ignorare un fatto di tale
portata, ma lo ricordava anch’essa in maniera stanca e ripetitiva.
Ad esempio Francesco Saverio Quadrio, il maggiore storico valtellinese del Settecento e
corrispondente di Ludovico Antonio Muratori14, lasciò una narrazione abbastanza dettagliata
(peraltro ripresa dalle opere di Fortunat von Sprecher, che, da Commissario di Chiavenna, aveva
gestito l’evento, stilato la prima relazione ufficiale e trattato nei suoi libri). Nonostante la
dimestichezza con la nuova storiografia dell’epoca, il Quadrio non si emancipa del tutto da una
visione teologica della storia umana: ricordando che proprio in quei giorni del 1618 si compiva la
vicenda drammatica dell’arciprete di Sondrio Nicolò Rusca, scrive: «Mentre così quel Tribunale [lo
Strafgericht di Thusis] infieriva, Iddio si fece anch’egli sentire colla Distruzione di Piuro, e del Borgo
Schillano, che a’ 4. di settembre del medesimo anno 1618. Addivenne»15. Non un esplicito
collegamento causale tra i due eventi, ma certo un rimando non privo di suggestione. La «frana di
Piuro» rimaneva, dunque, un fatto lontano nel tempo, importante e drammatico, certo, ma che non
toccava quanti vivevano nei momenti storici successivi.
Una novità nell’informazione portò la Storia del Contado di Chiavenna di Giovanni Battista
Crollalanza16, in cui, oltre alla consueta ricostruzione del dramma e dell’identità di molti caduti e dei
pochi sopravvissuti, è pubblicato anche un elenco nominativo (pur con lacune) delle vittime, fuoco
per fuoco, famiglia per famiglia. In questo modo la drammaticità dell’evento diveniva più reale, ma,
certo, soltanto una piccola parte dei suoi contemporanei lo conosceva, peraltro in modo molto vago
e condito da leggende e racconti fantasiosi.
Leggende che sono giunte fino agli anni ’50-’60 del Novecento, e che abbiamo sentito narrare da
bambini: il racconto che i palazzi di Piuro, appartenenti a mercanti straricchi, contenessero sale
pavimentate da monete d’oro poste di costa; la storia della ragazza che, già in fuga con la famiglia,

14
   Bonfatti R., «Un cruciverba a schema libero: Muratori e Quadrio tra poesia e critica», in La figura e l’opera di
Francesco Saverio Quadrio, a cura di C. Berra, Biblioteca Comunale «Libero Della Briotta», Ponte in Valtellina, So n-
drio, Bettini, 2010, pp. 197-241. Ludovico Antonio Muratori (1672-1750), sacerdote, archivista e bibliotecario a
Modena, fu uno dei fondatori della moderna storiografia scientifica, basata sull’analisi critica dei documenti.
15
   Quadrio F.S., Dissertazioni critico-storiche intorno alla Rezia di qua delle Alpi, oggi detta Valtellina, Milano, Giuf-
frè, 1960, vol. II, pp. 95-8 (edizione originaria, Milano, 1755-6). Francesco Saverio Quadrio (1695-1756), sacerdote,
fu critico letterario, storico della poesia e poeta egli stesso, oltre che storico.
16
   Crollalanza G.B., Storia del Contado di Chiavenna, Milano, Serafino Maggioni e Compagni, 1867, pp. 238-266;
seconda edizione ampliata, Chiavenna, Giovanni Ogna, 1898, pp. 274-301.

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sarebbe tornata sui suoi passi per chiudere la porta di casa, venendo travolta dalla frana. Le diverse
versioni del fatto avvaloravano l’ipotesi che fosse una leggenda (un calco del racconto biblico di
Sodoma e Gomorra), ma documenti rinvenuti di recente, hanno dimostrato che il fatto (già narrato
da Sprecher, Quadrio, Crollalanza) era realmente avvenuto: «un caso in cui la realtà ha eguagliato
l’immaginazione»17.
Poi, negli anni, anche questi racconti sono stati dimenticati: la famiglia, la scuola hanno smesso di
tramandare le storie di un tempo; la televisione ha proposto nuovi immaginari collettivi che hanno
cancellato i vecchi, fra i quali anche le memorie locali della catastrofe di Piuro.
Bisogna rilevare, inoltre, che neppure la bibliografia scientifica, in Italia, ha contribuito a preservare la
memoria dell’evento, al contrario di quanto fa quella di lingua tedesca; men che meno lo fa la
letteratura di finzione, che invece in Svizzera e Germania ha lasciato narrazioni (del tutto fantasiose,
e comunque suggestive) che hanno mantenuto la memoria della catastrofe e talora spinto delle
persone a informarsi e a visitare i luoghi dov’era avvenuta (fatti di cui si occupa qui Jon Mathieu).
A dimostrazione di questa realtà, un’effettiva ripresa d’interesse si ebbe nei primi anni ’60 del ‘900,
quando Helmut Presser, facendo leva sull’immagine di Piuro «Pompei delle Alpi»18, assieme a Hans
Steiner, agli italiani prof. Luigi Festorazzi e Guglielmo De Pedrini, ai grigioni Giacomo Maurizio e
Romerio Zala e ad altri, promosse l’Associazione italo-svizzera per gli scavi di Piuro (Berna, 1961).
L’avvio dei primi scavi (1963, 1966) aveva riacceso l’interesse anche locale, ma la povertà dei risultati,
dovuta alla quantità e alla qualità del materiale che aveva sepolto il borgo, nonché la poca attenzione
alla storia locale da parte dei cittadini ha fatto sì che buona parte della popolazione non si
interessasse (se non addirittura ignorasse) l’evento e la sua portata storica.
Nondimeno, nel 1972 fu aperto, a cura dell’Associazione italo-svizzera per gli scavi di Piuro, il primo
Museo, nel quale furono raccolti ed esposti i reperti degli scavi; nel 1977 fu trasportato nella
chiesetta di Sant’Abbondio di Piuro e riallestito nel 1994. Nel 2017 è stato aperto, a Borgonuovo, in
località Vigna Nuova, il Museo digitale di Piuro, che presenta materiali e vicende dell’antica realtà di
Piuro, e in particolare una ricostruzione virtuale dell’evento idrogeologico dell’estate del 1618. Il
fortunato ritrovamento di un «tesoretto» di monete medievali e moderne durante lavori nell’alveo
del fiume Mera (1988) riaccese l’interesse, ravvivato, nello stesso anno, dalla pubblicazione di un
volume di Guido Scaramellini, Günther Kahl e Gian Primo Falappi che fece il punto sullo stato degli
studi e pubblicò tutte le fonti storiche conosciute (manoscritte, a stampa, iconografiche)19.
Nuovo slancio ebbe l’Associazione italo-svizzera per gli scavi di Piuro sotto la presidenza di Gianni
Lisignoli, con l’inizio, nel 2005, dei lavori di recupero dell’area cosiddetta di Belfòrt, sulla destra
idrografica del fiume Mera, dove esistono i ruderi di edifici risalenti a prima della frana, gli unici resti
edilizi del borgo sopravvissute alla frana (la villa Vertemate Franchi, infatti, ubicata a Roncaglia,
frazione alquanto lontana dal borgo, non fu coinvolta nel disastro). Inoltre, nel 2008, fu avviata la

17
   Scaramellini Guglielmo, «Coelo tonante Ruente monte Plurium decessit. Cronache di un disastro annunciato
nell’anno di grazia 1618», in G. BOTTA (curatore), Prodigi paure ragione. Eventi naturali oggi, Milano, Guerini e
associati, 1991, pp. 188-9; Idem, «Leggende sulla fine di Piuro tra storia, invenzione e narrazione biblica», Plurium,
Bollettino - Jahresbericht IV (2011), Associazione italo-svizzera per gli scavi di Piuro - Italienisch-schweizerische
Vereinigung für die Ausgrabungen in Plurs, pp. 23-27.
18
   Presser H., Sepolta dalla montagna rivive nei libri. Piuro, una Pompei del XVII° secolo nella Val Breg aglia, trad. di
Luigi Festorazzi, Berna, Edizione del Museo Svizzero Gutenberg, 1957.
19
   Scaramellini Guido, Kahl G., Falappi G.P., La frana di Piuro del 1618. Storia e immagini di una rovina , Piuro, Asso-
ciazione italo-svizzera per gli scavi di Piuro, Sondrio, Mevio W. e figlio, 1988 (ristampato nel 1995).

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Raetia Publica | Ausgabe 9, 27. März 2018

pubblicazione di un bollettino annuale Plurium, e di altre opere20; dal 2009, ebbe luogo la prima
manifestazione «Dieci giorni di Piuro», ripetuta ogni anno, nella quale si tengono iniziative culturali
(incontri, conferenze, escursioni, esecuzioni musicali e teatrali)21 e gastronomiche. Si è anche avviato
un lavoro di informazione e formazione nelle scuole primarie di Piuro, in collaborazione con quelle
della Val Bregaglia svizzera, rendendo così consapevoli scolari e famiglie dell’importanza storica del
borgo di Piuro e della catastrofe che l’ha colpito.
Le manifestazioni programmate per il 400° anniversario dell’evento inizieranno entro il mese di
marzo, e interesseranno diversi ambiti culturali (scolastico, musicale, teatrale, storico, bibliografico,
gastronomico), con l’intento di promuovere una maggiore e più diffusa conoscenza di un evento,
come la catastrofe del 1618, che ebbe enorme risonanza europea. Si spera che l’impegno e
l’attivismo dei promotori locali riescano a consolidare l’interesse di un pubblico, italiano e straniero,
più vasto e partecipe dell’attuale, che pure mostra evidenti segni di attenzione. La sfida (sia per
impegno che per costi) è grande, ma l’importanza del tema giustifica pienamente che la si affronti.

20
   L. Bovolato, L’arte dei luganegheri di Venezia tra Seicento e Settecento, Piuro 2011; A. Scilironi, Bibliografia di
Piuro, Sondrio 2011; E. Pasqué, Le campane di Piuro, tr. di G.P. Falappi, Sondrio 2012; A. Richli, Vittoria de Bastinelli,
tr. di G.P. Falappi, Sondrio 2013.
21
   Dal 2009 la compagnia «I guitti» produce annualmente, sotto la guida di Luca Micheletti, uno spettac olo teatrale
ispirato alle vicende e ai personaggi di Piuro; cinque di questi testi sono ra ccolti in Micheletti L., Scenari di Belfort,
Milano, Diego Dejaco Editore, 2017. Nel 2010, presso le rovine di Belfòrt, fu pr esentata, in forma di concerto, con
cori e voci soliste, l’opera lirica di Ernst H. Seyffardt «Die Glocken von Plurs», libretto di Maidy Koch (prima a Kr e-
feld, 1912), sotto la direzione del maestro Antonello Puglia di Chiavenna.

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