Berufskrankheiten - Ausgabe 12 2017 - DGUV Forum
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Ausgabe 12 • 2017 Berufskrankheiten Aus der Forschung Allergene am Arbeitsplatz Azubis im Fokus „Jugend will sich-er-leben“ startet ins neue Schuljahr
Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, genau ein Jahr ist es her, dass die Mitgliederversamm- lung der DGUV das „Weißbuch Berufskrankheiten- recht“ verabschiedet hat. Es enthält unsere Ideen zur Weiterentwicklung dieses komplexen Rechtsbereichs. Zentral sind zum Beispiel der Vorschlag, den Unterlas- sungszwang bei einigen der häufigsten Berufskrank- heiten abzuschaffen und unsere Überlegungen, wie wir die Verfahren noch transparenter gestalten können. Foto: DGUV / Stephan Floss Noch hat die Politik die Vorschläge aus dem Weißbuch nicht aufgegriffen. Das wäre beispielsweise bei der Ausgestaltung der Rückwirkung zur 4. Änderungsver- ordnung teilweise möglich gewesen. Da es der DGUV aber um ein ausgewogenes und komplettes Ände- rungspaket geht, sollten wir uns im Moment in Geduld üben. Das heißt aber nicht, dass wir untätig bleiben. Im Gegenteil. Dort, wo wir ohne Rechtsänderungen tätig sein kön- nen, treiben wir die Arbeit voran. Im Handlungsfeld For- schung zum Beispiel werben wir mit einer neuen Bekanntma- „Mit ihrer groß angelegten Unter- chung zu Forschungsthemen dafür, die Aktivitäten zu den suchung zum hellen Hautkrebs Berufskrankheiten auszubauen. durch Sonneneinstrahlung liefert die DGUV Daten zu einem Thema Die gesetzliche Unfallversicherung ist dazu auch selbst aktiv. Mit ihrer groß angelegten Untersuchung zum hellen Haut- mit gesellschaftlicher Relevanz. krebs durch Sonneneinstrahlung liefert sie Daten zu einem Denn heller Hautkrebs ist eine Thema mit gesellschaftlicher Relevanz. Denn heller Hautkrebs Volkskrankheit und der Schutz vor ist eine Volkskrankheit und der Schutz vor zu starker Sonnen- zu starker Sonneneinstrahlung ist einstrahlung ist nicht nur ein Problem im Beruf, sondern auch nicht nur ein Problem im Beruf, in der Freizeit. Die Studie macht deutlich, wie unterschiedlich die Sonnenexposition beim Arbeiten im Freien ist und wie sondern auch in der Freizeit.“ individuell ein Sonnenschutz sein kann. Zusammen mit Partnern und Partnerinnen lässt sich dabei oft mehr erreichen. So setzt sich die DGUV im „UV-Schutz-Bündnis“ für den UV-Schutz ein und will damit langfristig die Zahl der Neuerkrankungen an Hautkrebs reduzieren. In dem von der EU geförderten Projekt StanDerm wurden Anforderungen an Sonnenschutzpräparate durchdacht, die Menschen speziell bei der Arbeit effizient gegen Sonneneinstrahlung schützen. Das alles sind Bausteine in einer Präventionskette, an deren Anfang die Bewusstseinsbildung steht – sicher der schwierigste Teil der Aufgabe. Mit den besten Grüßen Ihr Dr. Joachim Breuer Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung 2 DGUV Forum 12/2017
Inhalt > Editorial / Inhalt >>> 2–3 > Aktuelles >>> 4–6 > Nachrichten aus Brüssel >>> 7 > Titelthema >>> 8–33 Vierte BKV-Änderungsverordnung Die neuen Berufskrankheiten in der Berufskrankheitenverordnung 8 Patricia Heinisch, Carsten Fritz, Fred-Dieter Zagrodnik Berufskrankheiten Aktuelle Forschungsschwerpunkte veröffentlicht 13 Ulrike Wolf, Stefanie Palfner Stand zur Rechtsprechung Aktuelles zu den Wirbelsäulenerkrankungen 15 Fred-Dieter Zagrodnik DGUV Forschung Alles klar rund um die Sonne? 17 Steffen Krohn Berufsbedingter Hautkrebs und adäquater Sonnenschutz Nicht nur eine nationale Herausforderung 19 Swen Malte John, Christoph Skudlik, Sanja Kezic, Andrea Bauer, Francesca Larese Filon, Claas Ulrich 8 Anerkennung „Wie eine Berufskrankheit“ Hautkrebserkrankungen außerhalb der Berufskrankheiten-Liste 23 Stephan Brandenburg, Stefanie Palfner, Wolfgang Römer, Steffen Krohn, Michael Woltjen Kosten für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Kostenanalyse für Hauterkrankungen 30 Claudia Drechsel-Schlund, Steffen Krohn, Stephanie Schneider Berufskrankheiten Allergene am Arbeitsplatz – Tools für die Expositionserfassung 35 Monika Raulf > Aus der Rechtsprechung >>> 37 > Prävention >>> 38–39 Azubis im Fokus „Jugend will sich-er-leben“ startet ins neue Schuljahr 38 Ulrich Zilz, Christian Pöller > Unfallversicherung >>> 40–41 semper reformanda Das „neue“ Bachelor-Studium an der HGU 40 Axel Weiß > Medien / Impressum >>> 42 23 DGUV Forum 12/2017 3
Aktuelles Jetzt für Annedore-Leber-Preis 2018 bewerben Menschen mit einer Behinderung sind von Menschen mit Behinderung in Ausbil- Die eingereichten Vorschläge werden durch eine Bereicherung für die Arbeitswelt. dung und Arbeit beispielhaft hervorgetan eine Jury bewertet. Die Preisverleihung fin- Auch wenn viele Unternehmen dies haben. Gesucht werden innovative, nach- det am 21. März 2018 statt, drei Tage nach mittlerweile erkannt haben – selbstver- haltige und zur Nachahmung anregende dem 114. Geburtstag Annedore Lebers. ständlich ist Inklusion im Arbeitsleben Projekte, die Menschen mit Handicap ei- noch immer nicht. Deshalb verleiht das ne optimale Teilhabe am Arbeitsleben er- Bewerbungen können bis zum 1. Februar Berufsbildungswerk Berlin, Trägerverein möglichen und einen entscheidenden 2018 eingereicht werden. Das Preisgeld des Annedore-Leber Berufsbildungswer- Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung beträgt 1.000 Euro. Der Rechtsweg ist ks (ALBBW), einmal jährlich den Anne- in diesem Themenfeld leisten. ausgeschlossen. dore-Leber-Preis für besonderes Engage- ment bei der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung. Weitere Informationen Bewerben können sich Unternehmen, Hinweise zu den Bewerbungsunterlagen finden Sie unter: Organisationen und Projektträger aus www.albbw.de/annedore-leber-preis Deutschland, die sich bei der Eingliederung Kooperation mit Polen in der Reha-Management-Ausbildung Die DGUV wird Polen in den kommenden chen Unfallversicherung zur Aus- und Zum Auftakt des Projekts besuchte eine drei Jahren beim Aufbau von Bildungs- Fortbildung im Reha-Management 20-köpfige Delegation aus Polen die DGUV. maßnahmen für Reha-Managerinnen und auf Polen zu übertragen. Dabei sollen Die Teilnehmenden kamen aus den Berei- -Manager unterstützen. Ein entsprechen- Inhalte an die polnischen Bedingungen chen Medizin, Psychologie und Recht, sowohl der Vertrag wurde von den deutschen und angepasst und die Verantwortlichen in die Arbeitgebenden als auch Menschen mit polnischen Partnern Anfang November an- den polnischen Institutionen der sozia- Behinderung waren vertreten. Referentin- lässlich des ersten Besuchs einer polni- len Sicherheit vom Wert des neuen Bil- nen und Referenten aus der DGUV und ver- schen Delegation in Berlin unterschrieben. dungsprogramms überzeugt werden. schiedener Unfallversicherungsträger gaben Mittelfristig könnte diese Zusammenar- den Gästen erste Einblicke in das Reha-Ma- Das aus EU-Mitteln geförderte Pro jekt beit auch ein Modell für andere EU- nagement. Die Konsultationen werden sich zielt darauf ab, das Modell der gesetzli- Staaten sein. in regelmäßigen Abständen wiederholen. Foto: Becker/DGUV Eine Delegation aus Polen besuchte für eine Woche die DGUV, um sich über das Reha-Management zu informieren, das auch in Polen aufgebaut werden soll. 4 DGUV Forum 12/2017
Aktuelles Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung: neue Vorsitzende gewählt Die Deutsche Gesetzliche Unfallver- Vertreterinnen und Vertretern der sicherung (DGUV) hat neue Vorsit- Arbeitgebenden und Versicherten zende. Die Mitgliederversammlung gesteuert. Jede Berufsgenossen- des Spitzenverbandes der Berufsge- schaft und Unfallkasse entsendet nossenschaften und Unfallkassen zwei Vertreter oder Vertreterinnen wählte in ihrer Sitzung am 30. No- in die Mitgliederversammlung des vember 2017 Stefan Weis für die Verbandes, je eine Person für die Foto: Wolfgang Bellwinkel / DGUV Versicherten und Helmut Etschen- Versicherten- und eine für die Sei- berg für die Arbeitgebenden zu ih- te der Arbeitgebenden. Foto: Silke Mayer / VBG ren Vorsitzenden. Weis folgt auf Sönke Bock, der nicht mehr zur DGUV-Hauptgeschäftsführer Dr. Jo- Wahl antrat. Der ebenfalls von der achim Breuer bedankte sich bei den Mitgliederversammlung neu ge- Herren Bock und von Leoprechting wählte Vorstand wählte Manfred für die geleistete Arbeit und gratu- Wirsch und Volker Enkerts zu sei- lierte den neugewählten Vorsitzen- nen neuen Vorsitzenden. Wirsch den: „Selbstverwaltung ist gelebte vertrat bereits in der vergangenen Demokratie. Das ehrenamtliche En- Sozialwahlperiode die Versicher- gagement der Arbeitgebenden und tenseite als Vorstandsvorsitzender. Die Wahlen folgten auf die Konstituierung der Mitglieder- Versicherten für die gesetzliche Enkerts folgt auf Seiten der Arbeit- versammlung der DGUV in der neuen Sozialwahlperiode. Unfallversicherung stellt sicher, dass gebenden auf Dr. Rainhardt Frei- Wie die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen wird die dieser Teil der Sozialversicherung herr von Leoprechting. DGUV von einer Selbstverwaltung aus ehrenamtlichen nah an den Menschen ist und bleibt.“ Vorreiter für Sicherheit am Arbeitsplatz Globalisierung, Digitalisierung, Industrie „In unserer globalisierten Welt wird der 4.0 — diese Trends prägen Unternehmen Konkurrenzdruck immer höher. Gerade des- Weitere Informationen und fordern sie heraus. Damit wird auch halb ist ein umfassender Arbeitsschutz in Der Deutsche Arbeitsschutzpreis der Arbeitsalltag von Beschäftigten an- Unternehmen unverzichtbar — unsere Ge- ist Teil der Gemeinsamen Deut- spruchsvoller. Deshalb ist es wichtig, dass winner sind deshalb tolle Vorbilder für an- schen Arbeitsschutzstrategie Unternehmen für den Arbeitsschutz ihrer dere Firmen, in denen die Sicherheit am Ar- (GDA). Weitere Informationen zum Preis, den Nominierten Angestellten Sorge tragen. Wie das geht, beitsplatz noch ausbaufähig ist“, erklärte sowie Preisträgerinnen und zeigen die vielfältigen Innovationen der Rainhardt Freiherr von Leoprechting, zu Preisträgern gibt es online unter: Gewinnerunternehmen des diesjährigen diesem Zeitpunkt noch Vorstandsvorsitzen- www.deutscher-arbeitsschutz- Arbeitsschutzpreises 2017. Alle zwei Jahre der der DGUV, im Rahmen der öffentlichen preis.de richten das Bundesministerium für Arbeit Preisverleihung auf der Fachmesse A+A. und Soziales (BMAS), der Länderaus- schuss für Arbeitsschutz und Sicherheits- technik (LASI) und die Deutsche Gesetzli- che Unfallversicherung (DGUV) den Wettbewerb aus. Vergeben werden Preis- gelder von insgesamt 40.000 Euro. 2017 gingen die Preise an die RAG Aktien- gesellschaft mit dem Projekt „Unterneh- mensweite Arbeitsschutzkampagne 2016– Foto: Stephan Floss/DGUV 2018“, die Opterra Zement GmbH, unter anderem mit der „Einrichtung einer Si- cherheitszentrale beim Winterstillstand in einem Zementwerk“, die Eurovia Teerbau GmbH mit dem Projekt „Einschlaghilfe für Schurnägel“ und an das Unternehmen Matetec mit dem Projekt „Maschinenge- führte Schneidvorrichtung“. Preisverleihung des Deutschen Arbeitsschutzpreises 2017 DGUV Forum 12/2017 5
Aktuelles Innovative Konzepte zum Schutz vor Asbest gesucht Unter dem Motto „Erfolgreich gegen As- re bei Instandhaltungsarbeiten an und in Beiträge sollen in der DASA Arbeitswelt best“ sucht der 12. Deutsche Gefahrstoff- Gebäuden, die vor 1993 erbaut wurden, Ausstellung vorgestellt werden. schutzpreis der Bundesanstalt für Arbeits- können die gefährlichen Fasern freigesetzt schutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in werden und Beschäftigte, aber auch Nut- Kooperation mit dem Bundesministerium zer gefährden. Die Bewerbungsfrist für Weitere Informationen für Arbeit und Soziales (BMAS) nach inno- den mit insgesamt 10.000 Euro dotierten Die gesamte Ausschreibung sowie vativen Konzepten und praktischen Lö- Gefahrstoffschutzpreis läuft bis zum 15. Beispiele guter Praxis aus den sungen zum Schutz von Beschäftigten. April 2018. Über die Vergabe des Preises vergangenen Wettbewerben gibt es Trotz seines Verbotes im Jahre 1993 gefähr- entscheidet eine unabhängige Jury. Die im Internet unter: www.gefahrstoff- det das einstige „Wundermineral“ Asbest Preisverleihung wird voraussichtlich im schutzpreis.de noch heute die Beschäftigten. Insbesonde- Herbst 2018 stattfinden. Die prämierten Internet-Forum zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement Im neuen Forum der Berufsgenossen- diskutieren, die nicht direkt mit BGM im Zu diesen Themen finden sich auch bereits schaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe Zusammenhang stehen. Beiträge im Forum. Zurzeit wird das Forum (BGN) haben alle, die sich für das Thema in erster Linie von Personalverantwortli- Betriebliches Gesundheitsmanagement Das BGN-Internet-Forum zum BGM wurde chen, interessierten Beschäftigten und Si- (BGM) interessieren, die Möglichkeit, im Anschluss an eine Bedarfsermittlung cherheitsfachkräften von BGN- Mitglieds- sich rund um das Thema auszutauschen, bei Seminarteilnehmenden und BGN-Mit- betrieben genutzt. Das Forum lebt von den eigene Erfahrungen zu teilen, Fragen zu gliedsbetrieben wurde im Herbst 2016 ge- Teilnehmenden und nicht zuletzt ist auch stellen, zu diskutieren und sich Tipps zur startet. Ein Jahr nach dem Start erfolgte der branchenübergreifende Austausch in- Umsetzung zu holen. nun eine Online-Evaluation, an der 40 teressant und aufschlussreich. Personen teilnahmen. Die Mehrheit der Dabei geht es um Themen wie „Kenn- Befragten möchte das Forum nutzen, um zahlen im BGM“, „Wie starte ich ein in Sachen BGM auf dem neusten Stand BGM?“ und „BGM-Marketing“. Der Aus- zu bleiben. Weitere Informationen tausch findet dabei zwischen BGM- Eingeladen sind alle, die sich für Praktikern und -Praktikerinnen sowie Weiterhin interessieren sich die User und das Thema BGM interessieren, Fachleuten der BGN statt. Zudem gibt es Userinnen für Themen wie die Gefähr- schauen Sie doch mal vorbei! die Möglichkeit, sich in der „Cafeteria“ dungsbeurteilung psychischer Belastun- https://forum.bgn-akademie.de persönlich vorzustellen und Themen zu gen sowie Maßnahmen im BGM. Zahl des Monats: 100 Jahre DIN Ein Hundertjähriges, das Standards setzt: Das Deutsche Institut für Normung (DIN) ist 100 Jahre alt geworden. Es begann 1917 mit einer Norm für Kegelstifte, einem konischen Stift, der als Verbindungselement im Maschinenbau verwendet wird. Aktuell gibt es in Deutschland nahezu 40.000 DIN-Normen. Die be- rühmteste ist die DIN A4 als Papierformat. Aber diese einfachen Normen wurden ergänzt durch immer komplexere Normen, die der höheren Vielschichtigkeit in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft gerecht werden müssen. Denn viele Produkte setzen sich inzwischen aus mehreren Tausend Komponenten zusam- Grafik: Cicero Kommunikation men, die nicht mehr von einem Unternehmen, sondern von Hunderten von Komponenten- und Systemherstellern in globa- len Wertschöpfungsketten hergestellt werden. Normen stellen sicher, dass die verschiedenartigen Komponenten zusammen- passen und unterschiedliche Systeme möglichst nahtlos zusam- menarbeiten können. 6 DGUV Forum 12/2017
Nachrichten aus Brüssel Europäische Säule sozialer Rechte – Schritt zu einem sozialen Europa? Am 17. November 2017 war es so weit: Ob und inwieweit diese Grundsätze und Weitere Schritte – wie zum Beispiel ein Nach langwierigen Konsultationen Rechte tatsächlich zu einem sozialeren Vorschlag zum Zugang zum Sozial- und Verhandlungen haben sich die Europa führen, bleibt abzuwarten. schutz – sind in Vorbereitung. Staats- und Regierungschefs und -che- Verschiedene Grundsätze und Rechte, finnen, das Europäische Parlament die Teil der Europäischen Säule sozialer Klar dürfte jedoch sein, dass es sich bei und die Europäische Kommission in Rechte sind, erfordern weitere legis- den Grundsätzen und Rechten nicht um Göteborg zur feierlichen Proklamation lative und nicht-legislative Initiativen, einklagbare Rechte handelt. Auch wenn der Europäischen Säule sozialer Rechte damit sie wirksam werden. Erste Schrit- der Wortlaut andere Interpretationen getroffen. te in diese Richtung hat die Brüsseler Be- zulässt, handelt es sich bei der Prokla- hörde bereits gemacht durch die Vorlage mation doch um einen atypischen Zwanzig Grundsätze und Rechte, die eines Gesetzesvorschlags zur Vereinbar- Rechtsakt. Dieser begründet keine als eine Art Empfehlung an die Mit- keit von Familie und Beruf für Eltern und rechtsverbindlichen und unmittelbar gliedstaaten gerichtet sind, sollen die pflegende Angehörige. durchsetzbaren Rechte. Europäische Union nun „sozialer“ ma- chen. Hierzu gehören unter anderem die Sicherstellung des Rechts aller Er- werbstätigen auf ein hohes Gesund- heits- und Sicherheitsniveau bei der Arbeit. Aber auch der Zugang zum Sozialschutz soll möglichst allen Er- Foto: Sergii Figurnyi/fotolia.com werbstätigen ermöglicht werden. Außerdem soll Menschen mit Behin- derungen der Bezug von Einkommens- beihilfen und Dienstleistungen, die ihnen die Teilhabe am Arbeitsmarkt und gesellschaftlichen Leben ermögli- chen, gesichert werden. Europäische Elektronische Dienstleistungskarte – deutsche Sozialversicherung bezieht Stellung Die Europäische Kommission bemüht keit im Ausland vorgeschrieben sind, Daten ausgesprochen, um unvorher- sich nach wie vor, den Bürgerinnen erleichtern. Die Vorschläge der Europäi- sehbare Auswirkungen für die Sozial- und Bürgern sowie den Unternehmen schen Kommission berühren zum Teil versicherungsträger zu vermeiden. Das die Wahrnehmung ihrer Rechte und auch die gesetzliche Sozialversicherung. Europäische Parlament und der Rat dis- Pflichten im Europäischen Binnen- So soll nach den veröffentlichten Rege- kutieren aktuell die Vorschläge. markt zu vereinfachen. lungen die Karte teilweise auch mit Sozi- alversicherungsdaten verknüpft sein. Im Rat gehen die Diskussionen aller- Dieses Ziel verfolgt auch die Idee, eine dings nur schleppend voran. Zahlrei- Europäische Elektronische Dienstleis- Die Spitzenorganisationen der deutschen che Mitgliedstaaten haben Änderungs- tungskarte einzuführen. Sie soll die Sozialversicherung sehen dies kritisch. bedarf angemeldet, so zum Bei spiel Erfüllung von Verwaltungsformalitä- Sie haben sich mit einer Stellungnahme neben Deutschland auch Luxemburg ten, die für eine Dienstleistungstätig- für die rechtssichere Herausnahme dieser und Frankreich. Weitere Informationen: ilka.woelfle@dsv-europa.de DGUV Forum 12/2017 7
Titelthema Vierte BKV-Änderungsverordnung Die neuen Berufskrankheiten in der Berufskrankheiten- verordnung Die vierte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verord- nung (4. BKV-ÄndV) wurde am 24. Mai 2017 durch die Bundesre- gierung beschlossen und ist nach Zustimmung des Bundesrates am 7. Juli 2017 zum 1. August 2017 in Kraft getreten. Knapp zwei Jahre nach der letzten Verord- • BK-Nummer 2115: „Fokale Dystonie als nung zur Änderung der Berufskrank- Erkrankung des zentralen Nervensystems heitenverordnung (3. BKV-ÄndV) be- bei Instrumentalmusikern durch feinmo- schloss der Verordnungsgeber mit der 4. torische Tätigkeit hoher Intensität“ 5 BKV-ÄndV1 die Aufnahme drei weiterer Berufskrankheiten (BK) in die Berufs- Bei den Berufskrankheiten-Nummern krank heitenliste (Anlage der Berufs - (BK-Nrn.) 4104 6 und 4113 7 sind die Tat- krankheitenverordnung, BKV2) sowie die bes tände durch die Krankheitsbilder Ergänzung zwei bestehender Berufs- „Eier stockkrebs“ 8 (BK-Nr. 4104) und krankheiten. „Kehlkopfkrebs“ 9 (BK-Nr. 4113) ergänzt worden. Bei den neu in die Liste aufgenommenen Berufskrankheiten handelt es sich um Mit der 4. BKV-ÄndV ist der Verordnungs- zwei durch chemische Einwirkungen ver- geber innerhalb kürzester Zeit allen Emp- ursachte Berufskrankheiten sowie eine fehlungen des Ärztlichen Sachverständi- neurologische BK: genbeirats „Berufskrankheiten“ (ÄSVB) • BK-Nummer 1320: „Chronisch-mye- seit der letzten Listenergänzung gefolgt. loische oder chronisch-lymphatische Leukämie durch 1,3-Butadien bei Damit umfasst die Liste der Berufskrank- Nachweis der Einwirkung einer ku- heiten nun seit dem 1. August 2017 insge- mulativen Dosis von mindestens 180 samt 80 Positionen. Butadien-Jahren (ppm x Jahre)“ 3 nengruppen durch ihre versicherte Tätig- • BK-Nummer 1321: „Schleimhautverände- Einführung neuer Berufskrankheiten keit in erheblich höherem Grade als die üb- rungen, Krebs oder andere Neubildun- Berufskrankheiten sind Erkrankungen, die rige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 gen der Harnwege durch polyzyklische versicherte Personen durch ihre versicher- Absatz 1 Sozialgesetzbuch 7 – Gesetzliche aromatische Kohlenwasserstoffe bei te Tätigkeit erleiden und die nach den Er- Unfallversicherung – SGB VII). Sie werden Nachweis der Einwirkung einer kumula- kenntnissen der medizinischen Wissen- in der sogenannten Berufskrankheitenliste tiven Dosis von mindestens 80 Benzo(a) schaft durch besondere Einwirkungen (Anlage 1 der BKV) aufgeführt. Bevor eine pyren-Jahren [(μg/m³) x Jahre]“4 verursacht sind, denen bestimmte Perso- Erkrankung in diese Liste aufgenommen Autorin und Autoren Patricia Heinisch Dr. Carsten Fritz Fred-Dieter Zagrodnik Referat Berufskrankheiten der DGUV Referat Berufskrankheiten der DGUV Referat Berufskrankheiten der DGUV E-Mail: patricia.heinisch@dguv.de E-Mail: carsten.fritz@dguv.de E-Mail: fred-dieter.zagrodnik@dguv.de 8 DGUV Forum 12/2017
Foto: Dobrovizcki/Shutterstock.com Arbeitsbedingte Exposition bei der Herstellung und Weiterverarbeitung von Butadien. Weitere Informationen Einen Überblick über die aktuellen Beratungsthemen des ÄSVB bietet dessen Internetauftritt unter: www. bmas.de/DE/Themen/Soziale- Sicherung/Gesetzliche-Unfallversi- „Bevor eine Erkrankung in diese Liste aufgenommen wird, cherung/der-aerztliche-sachversta- endigenbeirat-berufskrankheiten. müssen ausreichende gesicherte medizinisch-wissen- html. Dort können sich Interessierte schaftliche Erkenntnisse über einen Ursachenzusammen- auch über die Aufgaben und die konkrete Zusammensetzung des hang zwischen einer bestimmten Einwirkung und einer ÄSVB informieren. Die Arbeitsweise bestimmten Erkrankung existieren.“ des ÄSVB ist hierdurch insgesamt transparenter gestaltet worden – ein Wunsch, der auch in den Diskus- sionen zur Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts vielfach geäußert wurde.27 ▸ DGUV Forum 12/2017 9
Titelthema wird, müssen ausreichende gesicherte tenliste im Einzelfall wie eine Berufskrank- sorten sowie in der Kunststoffindustrie auf- medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis- heit nach § 9 Absatz 2 SGB VII anerkannt treten.12 Damit können verschiedenste se über einen Ursachenzusammenhang werden, wenn die erforderlichen neuen Gewerbezweige von einer arbeitsbedingten zwischen einer bestimmten Einwirkung und Erkenntnisse der medizinischen Wis- Exposition durch 1,3-Butadien betroffen einer bestimmten Erkrankung existieren. senschaft vorliegen. Dies ist spätestens sein, wie etwa die Automobilindustrie auf- Hinweise auf diesen Ursachenzusammen- ab der Veröffentlichung der jeweiligen grund der Verwendung von Gummimateri- hang können zum Beispiel von Ärztinnen wissenschaftlichen Begründung des ÄSVB alien in der Herstellung von Autoreifen, und Ärzten, Krankenkassen oder auch Prä- der Fall. Dichtmaterial, Antriebsriemen und Kabel- ventionsdiensten stammen, denen eine auf- ummantelungen. Kunstkautschuk findet fällige Häufung von Krankheitsfällen bei Die Berufskrankheiten im Einzelnen aber auch in der Produktion von Haus- Beschäftigten bekannt geworden ist, aber Für vier der neu formulierten oder ergänz- halts- und Konsumgütern, beispielsweise auch unter Umständen aus Diskussionen ten BK-Tatbestände (BK-Nrn. 1320, 1321, für Gehäuse von Elektrogeräten und internationaler Studien und Fachtagungen. 4104, 4113) sind konkrete Dosis-Grenzwer- Gummihandschuhen, sowie der Beklei- te anhand der ausgewerteten Studienlage dungsindustrie etwa für Schuhsohlen und Der ÄSVB, ein unabhängiges, weisungs- abgeleitet worden. Bei der fokalen Dysto- Taucheranzüge Verwendung. In deren Her- freies Beratungsgremium der Bun des- nie (BK-Nr. 2115) reichten die medizinisch- stellungsprozessen kann ebenfalls eine ar- regierung, trägt die medizinisch-wissen- wissenschaftlichen Erkenntnisse für die beitsbedingte Exposition durch Butadien schaftlichen Erkenntnisse aus verschie - Ableitung einer konkreten Dosis hingegen auftreten. Ein weiterer gefährdeter und zu- denen Bereichen wie etwa der Toxikolo- nicht aus. Jedoch konnte die betroffene nehmend wachsender Bereich betrifft die gie, Pathologie, Biomechanik und Epide- Personengruppe der Instrumentalmusiker Fertigung von Kunststoffbauteilen mittels miologie zusammen und bewertet diese. und -musikerinnen sehr konkret umschrie- 3D-Druckverfahren. Dagegen hat 1,3-Buta- Er prüft, ob eine bestimmte Einwirkung ben werden. dien in Endprodukten keine Relevanz, da grundsätzlich geeignet ist, eine bestimm- das Butadien fest vernetzt im Produkt vor- te Erkrankung zu verursachen. Besteht Nachfolgend werden die neuen Berufs- liegt und nicht weiter austreten kann. darüber hinaus für eine bestimmte Perso- krankheiten mit Bezug auf die Inhalte der nengruppe durch ihre Arbeitstätigkeit in wissenschaftlichen Begründungen kurz Für die Anerkennung als BK wird vom Ver- einem wesentlich höheren Maße als bei dargestellt. ordnungsgeber im Berufskrankheiten-Tat- bestand (BK-Tatbestand) ein kumulatives Dosismaß von mindestens 180 (ppm x Jah- re) festgelegt.13 „Die Berufskrankheitenliste wird stetig fortgeführt, sodass auch in Zukunft mit der Aufnahme weiterer BK in die Liste BK-Nummer 1321 gerechnet werden kann.“ Die BK-Nr. 1321 umfasst Schleimhautverän- derungen, Krebs oder andere Neubildun- gen der Harnwege durch polyzyklische aro- matische Kohlenwasserstoffe (PAK). PAK der Allgemeinbevölkerung die Gefahr, der BK-Nummer 1320 entstehen bei der unvollständigen Verbren- Erkrankung, empfiehlt er der Bundesregie- Unter die BK-Nr. 1320 fallen die chronisch- nung von organischem Material wie Holz, rung die Aufnahme der Erkrankung in die myeloische und chronisch-lymphatische Kohle oder Öl, also auch bei Waldbränden, Berufskrankheitenliste. Leukämie.10 Die akuten Formen der zuvor Vulkanausbrüchen, der Ölförderung und genannten Leukämien sind dagegen nicht beim Rauchen von Tabak. Daher ist jeder Seine Erkenntnisse fasst der ÄSVB in einer Gegenstand dieser Berufskrankheit. Mensch grundsätzlich einer umweltbe- wissenschaftlichen Begründung zusam- dingten individuellen PAK-Belastung men. Anschließend prüft die Bundesregie- Die Krankheitsbilder dieser BK entstehen ausgesetzt. Beschäftigte können in der rung die Aufnahme der Erkrankung in die durch eine Einwirkung von 1,3-Butadien Arbeitswelt durch eine Vielzahl zusätzli- Berufskrankheitenliste auch unter sozial- über die Atemwege.11 Eine solche Exposi- cher PAK-Quellen gefährdet sein. Dabei politischen Überlegungen. tion kann arbeitsbedingt nicht nur bei der stehen unter anderem die Herstellung von Herstellung von Butadien, sondern auch Koks und die Weiterverarbeitung des in Erkrankungen können aber auch schon bei dessen Weiterverarbeitung bei der Her- den Kokereien anfallenden Steinkohlen- vor der Aufnahme in die Berufskrankhei- stellung verschiedener Kunstkautschuk- teers im Mittelpunkt. Steinkohlenteer fin- 10 DGUV Forum 12/2017
Berufskrankheitenverordnung det Verwendung in Teerraffinerien, in der betroffen.21 Sie äußert sich durch einen (orofaciale Muskulatur) oder einer Extre- Eisen- und Stahlerzeugung, in der Alumi- zunächst schmerzlosen Verlust der Koor- mität wie etwa der Hand. Im fortgeschrit- nium- und Elektrographitindustrie, im dinationsfähigkeit der Muskulatur des tenen Stadium können die Symptome Straßenbau sowie im Dachdeckerhand- Mundes, der Lippen und des Gesichts sogar auch bei ähnlichen Bewegungsab- ▸ werk. Des Weiteren sind Schornsteinfege- rinnen und -feger gefährdet, die beim Rei- nigen von Haus- und Industriekaminen sowie beim Auffegen des Kaminrußes ei- Fußnoten ner Exposition durch PAK ausgesetzt sind. [1] Vierte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung, Bek. des BMAS Der Kaminruß weist in Abhängigkeit von vom 12.07.2017, BGBl. I 10.07.2017, S. 2299 der Art des verwendeten Brennstoffs un- [2] Berufskrankheitenverordnung, abrufbar unter: www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/ terschiedliche Konzentrationen von PAK berufskrankheiten-verordnung.html auf.14 Als Leitkomponente für die Bestim- [3] Wissenschaftliche Begründung, Bek. des BMAS vom 01.07.2016 – IVa4-45222 – mung der PAK-Belastung am Arbeitsplatz GMBl. 26.08.2016, S. 659–665, abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/ dient Benzo(a)pyren (BaP).15 Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Berufskrankheiten/Merkblaetter.html [4] Wissenschaftliche Begründung, Bek. des BMAS vom 01.07.2016 – IVa4-45222 – Die Aufnahme von PAK erfolgt über die GMBl. 26.08.2016, S. 650–653, abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/ Atemwege und die Haut.16 In den der wis- Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Berufskrankheiten/Merkblaetter.html senschaftlichen Begründung zugrunde [5] Wissenschaftliche Begründung, Bek. des BMAS vom 01.07.2016 – IVa4-45222 – liegenden Studien lag neben der Aufnah- GMBl. 26.08.2016, S. 666–687, abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/ me von PAK über die Atemwege regelmä- Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Berufskrankheiten/Merkblaetter.html ßig auch eine gewisse Hautresorption vor, [6] Neue Formulierung der BK-Nr. 4104: Lungenkrebs, Kehlkopfkrebs oder Eierstock- ohne dass diese in den Studien gesondert krebs ausgeführt und berechnet wurde. „Als • in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) konkurrierender Faktor für die Entwick- • in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder lung von bösartigen Tumoren der Harnwe- • bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am ge ist insbesondere Aktivrauchen von Ta- Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren {25 x 106 [(Fasern/m³) x Jahre]} bakprodukten anzusehen.“ 17 [7] Neue Formulierung der BK-Nr. 4113: Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs durch polyzy- klische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis der Einwirkung einer kumula- Für die Anerkennung einer BK-Nr. 1321 tiven Dosis von mindestens 100 Benzo(a)pyren-Jahren [(μg/m³) x Jahre] formulierte der Verordnungsgeber im [8] Wissenschaftliche Begründung, Bek. des BMAS vom 01.12.2016 – IVa4-45222 – Tatbestand anhand der Leitkomponente GMBl. 31.01.2017, S. 15–28, abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/ Benz(a)pyren einen Dosis-Grenzwert Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Berufskrankheiten/Merkblaetter.html von einer kumulativen Benz(a)pyren- [9] Wissenschaftliche Begründung, Bek. des BMAS vom 01.07.2016 – IVa4-45222-4113 Dosis von mindestens 80 [(μg BaP/m³) x –GMBl. 26.8.2016, S. 653–659, abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/ Jahre].18 Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Berufskrankheiten/Merkblaetter.html [10] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1320, Abschnitt 3, S. 6 BK-Nummer 2115 [11] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1320, Abschnitt 2.1, S. 3 Die BK-Nr. 2115 bezeichnet die fokale [12] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1320, Abschnitt 1.1, S. 1-2 Dystonie als Erkrankung des zentralen [13] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1320, Abschnitt 4, S. 6 Nervensystems durch feinmotorische Tätigkeiten mit hoher Intensität bei Inst- [14] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1321, Abschnitt 2.1, S. 1-3 rumentalmusikern und -musikerinnen. [15] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1321, Abschnitt 1, S. 1 [16] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1321, Abschnitt 2.1, S. 1 Fokale Dystonien gehören weder zu den [17] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1321, Abschnitt 4, S. 10 peripher-neurologischen Erkrankungen [18] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 1321, Abschnitt 5, S. 10 (BK-Nrn. 2106 und 2113) noch zu den me- [19] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 2115, Abschnitt 8.6, S. 43-44 chanisch bedingten Erkrankungen (zum Beispiel BK-Nr. 2101). Sie stellen ein eigen- [20] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 2115, Abschnitt 8.5.3, S. 42-43 ständiges Krankheitsbild der Basalgang- [21] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 2115, Abschnitt 8.1, S. 29-30 lien dar.19 Die fokale Dystonie drückt sich [22] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 2115, Abschnitt 8.4, S. 39 primär durch den – in der Regel schmerz- [23] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 2115, Abschnitt 8.4, S. 34 losen – Verlust der Koordinationsfähigkeit [24] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 2115, Abschnitt 8.4, S. 33 eines Körperteils aus.20 [25] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 2115, Abschnitt 8.4, S. 34 Eine Dystonie ist durch länger anhalten- [26] Wissenschaftliche Begründung zur BK-Nr. 4104, Abschnitt 4, S. 14–15 de unwillkürliche Verkrampfung der Mus- [27] Berufskrankheitenrecht 2016 – Probleme – Herausforderungen – Lösungen, DGUV, kulatur gekennzeichnet. Bei der fokalen 2016, http://publikationen.dguv.de/dguv/?XLINKID=26625 Dystonie sind nur einzelne Körperteile DGUV Forum 12/2017 11
Ergänzung der BK-Nummer 4113 Lun- genkrebs durch polyzyklische aroma- tische Kohlenwasserstoffe Nachdem inzwischen auch für das Krank- heitsbild „Kehlkopfkrebs“ ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, wurde die BK-Nr. 4113 entsprechend ergänzt. Foto: Africa Studio / fotolia.com Zu den arbeitsbedingten Einwirkungen durch PAK wird auf die obigen Ausführun- gen zur BK-Nr. 1321 verwiesen. Für die Lo- kalisation Kehlkopf gilt die gleiche Dosis wie in der benachbarten Lokalisation Lun- ge (Nachweis der Einwirkung einer kumu- lativen Dosis von mindestens 100 Benz(a) pyren-Jahren [(μg BaP/m³) x Jahre]). Für Die fokale Dystonie entsteht arbeitsbedingt durch professionelles langjäh- die Entwicklung von Kehlkopfkrebs wur- riges, repetitives und intensives Musizieren. de, wie auch schon bei der BK-Nr. 1321, insbesondere aktives Rauchen von Tabak- produkten als konkurrierende Ursache läufen im Alltag auftreten, wie beispiels- fen bei ersten Anzeichen von Symptomen angesehen. weise beim Halten des Bestecks.22 und geeignete präventive Maßnahmen von besonderer Wichtigkeit. Fazit Die fokale Dystonie entsteht arbeitsbe- Mit der 4. BKV-ÄndV ist es dem Verordnungs- dingt durch langjähriges, repetitives und Ergänzung der BK-Nummer 4104 geber größtenteils gelungen, die neuen intensives Musizieren auf professionellem Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs Berufskrankheiten sehr differenziert zu Niveau. Ein solches Niveau ist nach der durch Asbest bezeichnen. Vier der fünf zitierten BK-Tatbe- derzeitigen wissenschaftlichen Erkennt- Die bisher schon in der BK-Liste enthalte- stände beinhalten eindeutige Dosismaße nislage in der Regel bei einem Orientie- ne BK-Nr. 4104 wird um das Krankheits- (BK-Nrn. 1320, 1321, 4104, 4113). Für die foka- rungswert von rund 10.000 Stunden er- bild „Ovarialkarzinom“ ergänzt. Hinter le Dystonie bei Instrumentalmusikern und reicht. Ein nur gelegentliches Musizieren diesem lateinischen Begriff verbirgt sich -musikerinnen (BK-Nr. 2115) ist zumindest die über viele Jahrzehnte hinweg verursacht Eierstockkrebs, sodass die Ergänzung nur betroffene Personengruppe sehr konkret be- das Krankheitsbild der fokalen Dystonie Frauen betrifft. schrieben. Dies trägt zur Rechtssicherheit im Sinne dieser Berufskrankheit nicht.23 und Rechtsklarheit in der Praxis bei. Betroffen können Berufsmusiker und -mu- Wie bisher schon beim Lungen- oder Kehl- sikerinnen sein, die aktiv oder ehemals kopfkrebs ist die Anerkennung eines Ova- Die 4. BKV-ÄndV ist im Vergleich zur 3. BKV- aktiv Tasten- und Zupfinstrumente, rialkarzinoms als Berufskrankheit nach ÄndV jedoch innerhalb einer nur kurzen Streich-, Holzblas- sowie insbesondere folgenden Alternativen möglich: Zeitspanne nach Veröffentlichung der jewei- Blechblasinstrumente und Perkussions- • in Verbindung mit Asbeststaublun- ligen wissenschaftlichen Begründungen instrumente gespielt haben.24 Häufig sind generkrankung (Asbestose) (August und Dezember 2016) in Kraft getre- die betroffenen Personen nicht mehr in • in Verbindung mit durch Asbeststaub ten. Damit könnte einhergehen, dass die der Lage, ihre professionelle Tätigkeit verursachter Erkrankung der Pleura neuen BKen insbesondere bei Ärztinnen auszuüben. Sie sind gezwungen, ihre Kar- oder und Ärzten sowie Arbeitgebenden, für die riere zu beenden. Auch aufgrund der he- • bei Nachweis der Einwirkung einer eine gesetzliche Anzeigepflicht von BK-Ver- terogenen Erfassung der Übungszeit in kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis dachtsfällen besteht, verstärkt wahrgenom- den der wissenschaftlichen Begründung am Arbeitsplatz von mindestens 25 men und beachtet werden. In der beschrie- zugrunde gelegten Studien, fehlt es an Faserjahren {25 x 106 [(Fasern/m³) x benen kurzen Zeitspanne gab es bisher entsprechend gesicherten medizinisch- Jahre]}26 wenig wissenschaftliche Diskussionen in wissenschaftlichen Erkenntnissen für die der Öffentlichkeit. Damit ist zum jetzigen Ableitung einer genauen Dosis-Wirkungs- Besonders häufige berufliche Asbestexpo- Zeitpunkt unklar, ob beim Inkrafttreten der Beziehung, sodass in der wissenschaftli- sitionen gab es für Frauen beispielsweise 4. BKV-ÄndV der Erkenntnisprozess zu den chen Begründung nur Orientierungswer- in der Asbest-Textilindustrie. neu aufgenommenen Berufskrankheiten te genannt werden.25 schon vollständig abgeschlossen war oder Mit Einführung des neuen Krankheitsbil- noch offene Fragen für die Beurteilung der Derzeit gibt es für Erkrankte mit fokaler des „Eierstockkrebs“ steht die Unfallversi- Einzelfälle verbleiben oder entstehen. Die Dystonie nur wenige und unzureichend cherung vor einer besonderen Herausfor- Berufskrankheitenliste wird stetig fortge- wirkende Therapien, die keine zuverlässi- derung, da dies für viele Gynäkologinnen führt, sodass auch in Zukunft mit der Auf- ge und erfolgreiche Behandlung verspre- und Gynäkologen der erste Kontakt mit Be- nahme weiterer BK in die Liste gerechnet chen. Daher sind ein frühzeitiges Eingrei- rufskrankheiten sein könnte. werden kann. ● 12 DGUV Forum 12/2017
Forschungsschwerpunkte Berufskrankheiten Aktuelle Forschungsschwerpunkte veröffentlicht Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) unterstützt Forschung zu Berufskrankheiten. Wenn Kritik am Berufskrankheitenrecht derer Forschungsbedarf gesehen wird, (ÄSVB)2, insbesondere bei häufig geäußert wird, kommt oft auch der Vor- beschlossen worden. vorkommenden Erkrankungen zur wurf, es fände zu wenig Forschung zu Be- Abgrenzung der besonderen Perso- rufskrankheiten statt. Mit der Bekanntmachung will die DGUV nengruppe potenzielle Forschungsnehmer und -neh- • Kanzerogenität von (BK-)Listenstoffen Nach einer Auswertung der Deutschen merinnen anregen, entsprechende För- und deren Subtypen beim Menschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Um- derungsanträge zu diesen wichtigen For- • Kombinationswirkungen von Kan- weltmedizin (DGAUM) hat die deutsche ar- schungsfeldern an die DGUV zu richten. zerogenen beitsmedizinische Hochschulmedizin zu Mit dieser Maßnahme soll gleichzeitig die keinem Zeitpunkt mehr hochwertige, inter- Transparenz der Forschung und For- nationale Publikationen veröffentlicht als schungsförderung der gesetzlichen Un- in den vergangenen Jahren. Dies zeigt zum fallversicherung erhöht und die öffentli- Beispiel eine simple Analyse im Web of Sci- che Wahrnehmung von Forschung mit ence (Abb. 1 und 2). BK-Relevanz verbessert werden. Diese Literatur Zielsetzung entspricht auch der Positio- Deutsche Gesetzliche Unfallver- Trotzdem wurde bei verschiedenen Diskus- nierung der DGUV im Weißbuch Berufs- sicherung (DGUV) (Hrsg.): Berufs- sionen zum Reformbedarf im Recht der Be- krankheitenrecht (DGUV 2016) zu einer krankheitenrecht 2016: Probleme rufskrankheiten wiederholt der Ausbau der anzustrebenden besseren öffentlichen – Herausforderungen – Lösungen. Forschung zum Thema Berufskrankheiten Wahrnehmung sowohl der Forschung im Dezember 2016 gefordert. So zum Beispiel auch in der vo- Bereich Berufskrankheiten als auch der http://publikationen.dguv.de/ rigen Konferenz der Ministerinnen und Mi- Forschungsförderung der gesetzlichen dguv/pdf/10002/12473.pdf (Abruf: 16.10.2017) nister, Senatorinnen und Senatoren für Ar- Unfallversicherung. beit und Soziales der Länder (ASMK)1: „Im Rahmen der Reform des Berufskrankhei- Die Identifikation der Themen erfolgte in tenrechts bitten sie das BMAS […] darauf einem mehrstufigen Prozess unter Betei- hinzuwirken, dass die Forschung zu den ligung von Fachleuten aus der Praxis und Berufskrankheiten ausgebaut wird.“ Sozialpartnern. Im Ergebnis wurden fol- Fußnoten gende Forschungsfelder als besonders [1] Beschluss der 93. ASMK am 01. Auch die Deutsche Gesetzliche Unfallver- wichtig identifiziert: und 02.12.2016 in Lübeck sicherung (DGUV) hat sich im Prozess um • Berücksichtigung von Belastungsspit- [2] Die Beratungsthemen sind je- Weiterentwicklungen im Recht der Berufs- zen bei schädigender Dauereinwir- weils aktuell auf der Internetseite krankheiten mit diesem Themenfeld be- kung www.bmas.de/DE/Themen/Soziale- schäftigt. Als ein Schritt auf dem Weg zur • Forschung zu Dosis-Wirkungs-Bezie- Sicherung/Gesetzliche-Unfallversi- Stärkung einer an den aktuellen Bedarfen hungen bei den Beratungsthemen des cherung/der-aerztliche-sachversta- endigenbeirat-berufskrankheiten. ausgerichteten Forschung ist nun die Be- Ärztlichen Sachverständigenbeirats html aufgeführt. kanntmachung von Themenfeldern im Be- „Berufskrankheiten“ beim Bundes- [3] Die Unfallversicherungsträger reich Berufskrankheiten, in denen beson- ministerium für Arbeit und Soziales haben folgende von allen gemein- sam getragene DGUV-Institute ein- gerichtet: IFA – Institut für Arbeits- Autorinnen schutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, IPA – Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversi- Dr. Ulrike Wolf Stefanie Palfner cherung sowie IAG – Institut für Ar- Referat Berufskrankheiten Referat Berufskrankheiten beit und Gesundheit der Deutschen der DGUV der DGUV Gesetzlichen Unfallversicherung. E-Mail: ulrike.wolf@dguv.de E-Mail: stefanie.palfner@dguv.de ▸ DGUV Forum 12/2017 13
Titelthema „Die Forschung der DGUV konzentriert sich auf Themen, die für die Unfallversicherung und ihre Aufgaben prioritär sind.“ • Psychische Erkrankungen durch an- Zitationen pro Jahr haltende psychische Belastungen am Die vergangenen 20 Jahre werden angezeigt Arbeitsplatz • Chronisch-obstruktive Atemwegs- 24,000 erkrankungen (Bronchitis) durch 22,000 anorganische, insbesondere granu- 20,000 läre biobeständige oder quarzhaltige 18,000 Stäube 16,000 • Hautkrebs durch künstliche UV- 14,000 Strahlung 12,000 10,000 Die Forschung der DGUV ist schwerpunkt- 8,000 mäßig anwendungsorientiert und konzen- 6,000 triert sich auf Themen, die für die Unfall- 4,000 versicherung und ihre Aufgaben prioritär 2,000 sind. Entscheidend ist daher, dass die zu 0 erwartenden Ergebnisse für die Aufgaben 2000 2008 2006 2009 2004 der gesetzlichen Unfallversicherung 2003 2002 2007 2005 1998 1999 2001 2010 2016 2014 2017 2012 2013 2015 2011 genutzt werden können. Die identifizier- ten Themen spiegeln sich auch in For- schungsaktivitäten der DGUV-Institute3 Veröffentlichte Artikel pro Jahr Die vergangenen 20 Jahre werden angezeigt wieder. Sofern es sinnvoll ist, wird daher eine wissenschaftliche Kooperation zwi- 600 schen den Antragstellenenden und den 550 DGUV-Instituten angestrebt. 500 450 Die oben genannten Forschungsschwer- 400 punkte werden auf der Internetseite „Forschungsförderung“ der DGUV 350 (www.dguv.de, Webcode: d91768) und 300 auf der Plattform ELFI (www.elfi.info) 250 öffentlich bekannt gemacht. 200 150 Interessierte Forschungseinrichtungen 100 und -konsortien können ihre Anträge jederzeit beim Referat Forschungsförde- 50 rung der DGUV einreichen. Es ist auch 0 weiterhin möglich, Anträge zu anderen 2000 2008 2006 2009 2004 2003 2002 2007 2005 1998 1999 2001 2010 2016 2014 2017 2012 2013 2015 2011 Themen als den genannten Forschungs- schwerpunkten einzureichen. Nähere Informationen zur DGUV-Forschungs- Abb. 1 und 2: Anzahl der Publikationen sowie zitierten Artikel der deutschen arbeits- förderung sowie zur Antragstellung medizinischen Hochschulmedizin in den Jahren 1998 bis 2017 (2017 unvollständig sind zu finden unter: www.dguv.de erfasst). Quelle: Prof. Hans Drexler, Vorstand DGAUM. (Webcode: d91768) ● 14 DGUV Forum 12/2017
Wirbelsäulenerkrankungen Stand zur Rechtsprechung Aktuelles zu den Wirbelsäulenerkrankungen Vor 25 Jahren wurden Wirbelsäulenerkrankungen in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen. Der Diskussionsbedarf ist weiterhin hoch. Mehr als 25 Jahre nach der Einführung der brink, der Vorsitzende des am 23. April zwischen der Arbeitsgemeinschaft der Wirbelsäulenerkrankungen als Berufs- 2015 entscheidenden Senats des BSG, Wissenschaftlichen Medizinischen Fach- krankheiten nach den Nummern 2108, seine tragenden Gründe. Die Frage, wie gesellschaften (AWMF), der Deutschen 2109 und 2110 der Anlage zur BKV ist der hoch eine Exposition sein müsse, um als Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Diskussionsbedarf immer noch hoch. besonderes Kriterium der B2-Konstellation Umweltmedizin (DGAUM), der Deutschen der Konsensempfehlungen einen Ursa- Gesellschaft für Sozialmedizin und Prä- Dies zeigt sich nicht nur in Beiträgen wis- chenzusammenhang zwischen den lang- vention (DGSMP) und der Deutschen Ge- senschaftlicher Fachzeitschriften, son- jährigen Hebe- und Tragevorgängen mit setzlichen Unfallversicherung (DGUV) dern auch in der Rechtsprechung des der bandscheibenbedingten Lendenwir- entwickelten Grundsätzen zur Erstellung Bundessozialgerichts (BSG) zuletzt vom belsäulenerkrankung begründen zu kön- von Begutachtungsempfehlungen erarbei- 23. April 2015 (vgl. Infokasten, S. 16). Die nen, sei keine rechtliche, sondern eine me- tet worden. kontroversen Einschätzungen zu diesen dizinisch-wissenschaftliche. Hierzu habe nicht zuletzt bei der Kausalitätsbewertung der erkennende Senat keine eigenen Fest- Keine Mehrheitsmeinung ableitbar nicht ganz unkomplizierten Berufskrank- stellungen vorzunehmen gehabt, sondern In der Gesamtschau aller Quellen sei eine heiten wurden kürzlich im Bundessozial- sei auf den aktuellen medizinisch-wissen- eindeutige oder zumindest eine Mehr- gericht noch einmal besonders deutlich schaftlichen Erkenntnisstand angewiesen. heitsmeinung zur Definition des genann- und bedürfen einer Einordnung eines Dieser könne sich grundsätzlich aus den ten „Richtwertes“ nicht ableitbar. Wegen strukturierten weiteren Vorgehens. Konsensempfehlungen ergeben, da diese der unterschiedlichen medizinisch-wis- trotz der seit ihrer Veröffentlichung be- senschaftlichen Aussagen sei die vom Wegen der besonderen Bedeutung des reits verstrichenen Zeitdauer nach wie vor vorentscheidenden Landesozialgericht Themas hat sich der Deutsche Sozialge- als aktueller medizinisch-wissenschaftli- (LSG) erfolgte Entscheidung durch das richtstag mit dem Thema befasst, im Rah- cher Erkenntnisstand gelten. Allerdings BSG nicht als offensichtlich falsch zu wer- men eines Workshops die aktuellen Streit- handele es sich bei den Konsensempfeh- ten. Damit sei eine höchstrichterliche punkte thematisiert und Handlungsbedarf lungen um keine echte Rechtsgrundlage Korrektur im konkreten Einzelfall ausge- konstatiert. Für die gesetzliche Unfallver- im Sinne eines Gesetzes oder einer gesetz- schlossen gewesen, ohne dass damit sicherung ist zu klären, wo und wie sie ei- lich ermächtigten Rechtsverordnung. grundsätzliche Aussagen zur zugrunde zu nen Beitrag zur Befriedung leisten kann. Es handele sich vielmehr um ein qualifi- legenden medizinisch-wissenschaftli- ziertes Autorenpapier, das keine rechts- chen Meinung verbunden gewesen seien. Neuere Rechtsprechung des BSG staatlich gesicherte Legitimation aufweise. Zur neueren Rechtsprechung des Bun- Insbesondere seien die Konsensempfeh- Im weiteren Verlauf der Diskussion kris- dessozialgerichts erläuterte Prof. Spell- lungen auch nicht nach den erst später tallisierte sich ein wesentlicher Lösungs- ansatz für die Zukunft heraus: In seiner Eigenschaft als Leiter des Ge- Autor schäftsführerkonferenz-Ausschusses Be- rufskrankheiten der DGUV stellte Prof. Fred-Dieter Zagrodnik Dr. Stephan Brandenburg dar, dass sich Referat Berufskrankheiten der DGUV die gesetzliche Unfallversicherung in ab- E-Mail: fred-dieter.zagrodnik@dguv.de sehbarer Zeit darum bemühen werde, den aktuellen medizinisch-wissenschaftli- chen Erkenntnisstand zur BK-Nr. 2108 zu aktualisieren. Dabei müsse es im Hin- blick auf die bereits angesprochene ge- Foto: privat meinsame Empfehlung mit der AWMF, der DGAUM und der DGSMP und auch im ▸ DGUV Forum 12/2017 15
Titelthema Sinne des Selbstverständnisses der ge- demzufolge auch vorwiegend im Kreise Bei diesem Vorgehen sei auch zu beachten, setzlichen Unfallversicherung darum ge- der medizinischen Wissenschaftlerinnen dass sich nach der Bildung einer neuen hen, perspektivisch eine „echte“ Begut- und Wissenschaftler, also den von den Bundesregierung noch klären müsse, ob achtungsempfehlung für die BK-Nr. 2108 medizinischen Fachgesellschaften und die Aktivitäten unter anderem der DGUV mit den bekannten formalen Rahmenbe- Berufsverbänden sowie die relevanten In- zur Weiterentwicklung des BK-Rechts zu dingungen und entsprechender Transpa- stitutionen zu entsendenden Vertreterin- gesetzgeberischen Konsequenzen führen. renz zu erarbeiten. Die medizinisch- nen und Vertretern beantwortet werden Sollte es zu einer Abschaffung des Unter- wissenschaftliche Erkenntnislage sei müssten. Allerdings stünde die gesetzli- lassungszwangs kommen, würde dann bekanntlich alles andere als eindeutig, che Unfallversicherung bereit, hier für auch die BK-Nr. 2108 betroffen sein, sodass und in diesem Teil der Begutachtungs- die Rahmenbedingungen im Sinne der es gegebenenfalls schon dadurch zu Ver- empfehlung habe die gesetzliche Unfall- genannten Gemeinsamen Empfehlung zu änderungen des Tatbestandes kommen versicherung wenige Möglichkeiten, Er- sorgen. Voraussetzung für einen Erfolg könnte. Schon allein deswegen dürfe man kenntnisse beizutragen. Hier handele es sei aber ein konstruktives Miteinander die Ergebnisse dieser Bemühungen nicht sich um wissenschaftliche Fragen, die aller Beteiligten. kurzfristig erwarten. ● Rahmenbedingungen und Historie 1992 Aufnahme der BK-Nummern 2108, 2109 und 2110 in die Liste der Berufskrankheiten, allerdings mit unbestimmten Rechtsbegriffen zum Krankheitsbild, zu den erforderlichen Expositionen sowie zum Kausalzusammenhang 1999 Veröffentlichung des Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) zur Quantifizierung von Hebe- und Tragevorgängen unter Verwendung von Tagesdosen, Mindestdruckkräften sowie einer komplexen Berechnungsformel für eine kumulative Belastungsdosis im Sinne einer Gesamtlebensdosis als Orientierungswert für die Kausalitätsbewertung 2005 Veröffentlichung der Konsensempfehlungen Teil I und II mit medizinischen Beurteilungskriterien für die Kausalitätsbewertung unter Beschreibung von Voraussetzungen einzelner Fallkonstellationen sowie Darstellung, bei welchen Bewertungsvorschlägen unter den be- teiligten Fachleuten Konsens bestand 2005 Deutsche Wirbelsäulenstudie (DWS) 2007 BSG-Urteil vom 30. Oktober 2007 (Aktenzeichen B 2 U 4/06 R) zu einem männlichen Versicherten auf der Grundlage der (in der Wis- senschaft noch nicht diskutierten) Ergebnisse der DWS I mit Bestätigung des MDD als bisher am besten passendes Modell für die Expo- sitionsbeschreibung, allerdings unter Verwerfung der Tagesdosis und Verringerung der zu berücksichtigenden Druckkräfte bei Männern. Zusätzlich wird mit diesem Urteil ergänzend zu dem bestätigten Orientierungswert des MDD ein neuer unterer Grenzwert in Höhe des hälf- tigen Orientierungswerts eingeführt. Das BSG vertritt die Ansicht, dass unterhalb dieses hälftigen Orientierungswertes eine Verursachung der bandscheibenbedingten Lendenwirbelsäulenerkrankung durch die arbeitsbedingten Hebe- und Tragevorgänge sicher ausgeschlossen sei und dieser untere Grenzwert möglicherweise sogar zu gering bemessen sei. Außerdem weist das BSG die Bundesregierung darauf hin, dass im Sinne der Rechtsstaatlichkeit die Notwendigkeit einer Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe im Tatbestand der BK-Nr. 2108 gesehen wird. 2013 Veröffentlichung der Ergebnisse der Machbarkeitsstudie und der Richtwertestudie (DWS II) mit einer weiteren Auswertung der Daten der DWS im Hinblick auf die berufskrankheitenrechtlich relevante Verdoppelungsdosis (Expositionsdosis, bei der das Risiko, die jeweilige Krankheit zu erleiden, im Vergleich zur übrigen Bevölkerung doppelt so hoch ist). Ergebnis: Die Daten der DWS deuten bei erneuter Auswer- tung darauf hin, dass 1. die Berücksichtigung einer Tagesdosis entgegen den Feststellungen des BSG aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll erscheint, 2. die Verdoppelungsdosis bei 7 MNh bei Männern (MDD-Orientierungswert 25 MNh) bzw. bei 3 MNh bei Frauen (MDD-Orientierungswert 17 MNh) liegt. Allerdings sind dies keine exakten und reproduzierbaren Punktwerte, sondern das Ergebnis mehrerer Mittelungen bei einer großen Range. Außerdem erreichen mehr als 35 Prozent der „unbelasteten“ Kontrollgruppe ähnliche Lebensbelastungsdosen, sodass fraglich ist, ob diese Belastung als „besonders“ im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB VII einzuschätzen ist, 3. die vom BSG in seinem Urteil vom 30. Oktober 2007 zugrunde gelegten Annahmen zu ähnlich guten Ergebnissen führen. 2014 Der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ (ÄSVB) der Bundesregierung entscheidet sich in Kenntnis der Ergebnisse der Machbarkeitsstudie und der Richtwertestudie ohne in die Tiefe gehende inhaltlich-wissenschaftliche Prüfung nicht dazu, der Bundes- regierung rechtliche Konsequenzen im Sinne einer Anpassung der Formulierung der BK-Nr. 2108 vorzuschlagen. Eine Anpassung der Tatbe- standsmerkmale der BK-Nr. 2108 erfolgt nicht. 2015 Am 23. April 2015 entscheidet das BSG in drei anhängigen Verfahren (Aktenzeichen B 2 U 20/14 R, B 2 U 10/14 R und B 2 U 6/13 R) zur BK-Nr. 2108, dass es im Hinblick auf die existierende Literatur (vgl. Begründung der genannten Urteile) kein offensichtlicher Fehler sei, wenn der vom BSG in seinem Urteil vom 30. Oktober 2007 neu geschaffene Grenzwert in Höhe des halben MDD-Orientierungswertes im Zuge der medizinischen Kausalitätsbewertung durch die ärztlichen Sachverständigen als besondere Einwirkung im Sinne der B2-Konstella- tion, zweiter Spiegelstrich der Konsensempfehlungen, herangezogen wird. Gleichzeitig stellt das BSG in diesen Urteilen fest, dass auch die Zugrundelegung des MDD-Orientierungswertes als besondere Einwirkung im Sinne der B2-Konstellation, zweiter Spiegelstrich der Konsen- sempfehlungen herangezogen werden kann. Das BSG weist ausdrücklich darauf hin, dass in dieser speziellen Frage nun Landessozialge- richte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen könnten. 16 DGUV Forum 12/2017
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