DOSSIER VERBOHRTE ENTWICKLUNG - (Neuer) Extraktivismus in Lateinamerika - Lateinamerika Nachrichten
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// IMPRESSUM HERAUSGEBER: FORSCHUNGS- UND DOKUMENTATIONSZENTRUM CHILE-LATEINAMERIKA E.V. UND LATEINAMERIKA NACHRICHTEN Erscheint als Dossier Nr. 6 innerhalb der LN 459/460 (September/Oktober 2012) sowie als separate Themenbroschüre. Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten V.i.S.d.P. Manuel Burkhardt und Tobias Lambert // KONTAKT Gneisenaustr. 2a, D – 10961 Berlin Tel: 030 / 694 61 00, Fax: 030 / 692 65 90 www.fdcl.org info@fdcl.org www.lateinamerika-nachrichten.de LN-Redaktion: redaktion@LN-Berlin.de Bestellungen und Informationen zum LN-Abo: abo@LN-Berlin.de Diese Publikation wurde gefördert durch die Europäische Union. Diese Publikation wurde produziert mit der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union. Der Inhalt der Publikation liegt in der alleinigen Verantwortung der Herausgeber_innen und kann in keiner Weise als Sichtweise der Europäischen Union angesehen werden. Sie wurde veröffentlicht im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Projekts „Just trade?! “. Dieses plädiert im Sinne einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung für eine größere Übereinstimmung von Entwicklungs- und Handelspolitik der EU. Das Projekt wird getragen von: Ecologistas en Acción (Spanien), FDCL e.V. (Deutschland), Glopolis (Tschechien), Protect the Future (Ungarn) and Transnational Institute (Niederlande). Titelfoto: Olmo Calvo Rodríguez von der argentinischen Kooperative Sub [Cooperativa de fotógrafos]
VERBOHRTE ENTWICKLUNG (NEUER) EXTRAKTIVISMUS IN LATEINAMERIKA Fotos: Nicolás Pousthomis // Sub [Cooperativa de fotógrafos] Dieses und folgende Fotos Offener Gold- und Kupfer-Tagebau Bajo La Alumbrera, Provinz Catamarca, Argentinien 4 Ruinöser Ressourcenreichtum // Ein Dossier 24 Weichen gestellt // Der Bergbau soll als zur Debatte über (Neuen) Extraktivismus in „Lokomotive“ die gesamte kolumbianische Lateinamerika Wirtschaft anschieben, trifft aber auch auf 7 Alte Wege verlassen // Neuer Extraktivismus Widerstand und der holprige Weg hin zu postextraktivisti- 28 Kupferland in privater Hand // In Chile lagern schen Alternativen die größten Kupferreserven der Welt, was seit 10 Venezuela klebt am Öl // Die Dominanz des jeher den Wunsch nach Verstaatlichung befördert schwarzen Goldes ist in der Wirtschaft unge- 31 „Aus Umbau wurde Kontinuität“ // Interview brochen mit José de Echave, ehemaliger Vize-Umwelt- 14 Die Pacha Mama melken // Die frühere Basis minister Perus von Evo Morales verliert das Vertrauen, dass 34 Im Schatten der Industrie // Kleinbergbau dessen Kabinett wirklich an einem strukturellen spielt eine wichtige Rolle in Lateinamerika – Ein Wandel interessiert ist Überblick 17 Widersprüchliche Bilanz // Ecuadors Regie- 37 Vorerst finito für Infinito Gold // Niederlagen rung setzt auf Intensivierung des Extraktivis- für Bergbauunternehmen in Costa Rica mus mit höheren Sozialausgaben 40 Rückschlag für Bergbaukonzerne // In Ar- 21 Bohren, was das Zeug hält // Brasiliens gentinien ist ein Gletscherschutzgesetz in Kraft extraktive Industrien wollen den großen Sprung getreten wagen
RUINÖSER RESSOURCENREICHTUM EIN DOSSIER ZUR DEBATTE ÜBER (NEUEN) EXTRAKTIVISMUS IN LATEINAMERIKA Die Ausbeutung von Rohstoffen ist für Lateiname- in der Verfassung festgeschrieben. Doch jenseits rika nichts Neues. Seit der Kolonisation wurde der von öko-sozialistischen Diskursen hat sich an der Kontinent geplündert, die Gewinne flossen in den Fixierung auf Rohstoffexporte nichts geändert. Im globalen Norden. Für die lokale Bevölkerung blie- Gegenteil nimmt deren Bedeutung als Devisen- ben hingegen Armut, Krankheiten und Umwelt- quelle mit steigenden Staatsausgaben zu. schäden. Die Geschichte der hemmungslosen Der Uruguayer Eduardo Gudynas vom Lateiname- Ausbeutung hat der uruguayische Schriftsteller rikanischen Zentrum für Sozialökologie (CLAES) Eduardo Galeano in seinem 1971 erschienenen charakterisiert die neuen Rohstoffpolitiken der pro- Standardwerk Die offenen Adern Lateinamerikas gressiven Regierungen als „Neo-Extraktivismus” eindrücklich geschildert. und hat damit in Lateinamerika eine Debatte über Seit ein paar Jahren nun wird nun unter dem die Nachhaltigkeit des extraktiven Wirtschaftsmo- Stichwort „Neuer Extraktivismus“ wieder zuneh- dells ausgelöst. Das Neue am Neo-Extraktivis- mend über die negativen Folgen der Rohstoff- mus ist dabei – laut Gudynas – in erster Linie die förderung debattiert. Extraktivismus bedeutet in größere staatliche Kontrolle über die Einnahmen diesem Zusammenhang eine auf höchstmögliche aus den extraktiven Industrien. Die Ausbeutung Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für der Rohstoffe werde durch die gerechtere Ver- den Export ausgerichtete Entwicklungsstrategie. teilung der Gelder wiederum stärker legitimiert Die Koordinaten haben sich allerdings verschoben. und Kritik daran politisch marginalisiert. Anstatt Denn heute erhöhen in vielen Ländern Lateina- an der Überzeugung festzuhalten, dass möglichst merikas (Mitte)-Linksregierungen die staatliche viele Einnahmen aus dem Rohstoffsektor abge- Kontrolle über die Rohstoffe. Dabei ist die globa- schöpft werden müssten, fordert Gudynas zum le Bedeutung Lateinamerikas in diesem Bereich Nachdenken über Alternativen auf. In der Debatte deutlich gestiegen. Lag dessen Anteil am welt- um eine Überwindung des Extraktivismus geht weiten Bergbau 1990 zum Beispiel noch bei zwölf es ihm dabei nicht darum, künftig sämtliche Roh- Prozent, so betrug er 2009 bereits 35 Prozent. Eine stoffförderung zu unterbinden, wohl aber deutlich offen neoliberale Bergbaupolitik verfolgen nur noch einzuschränken. Da der Weg zu einer post-extrak- wenige Länder in Lateinamerika, darunter Chile tivistischen Ära langwierig sei, müssten Übergan- und Kolumbien. ge eingeleitet werden, zu denen zunächst auch In Ländern wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador eine Erhöhung der Kontrolle über die extraktiven müssen transnationale Konzerne heute deutlich Industrien gehöre, wie sie etwa in Venezuela und höhere Abgaben entrichten. Mit dem Geld wer- Bolivien stattgefunden hat. Dabei stellt Gudynas den unter anderem Sozialausgaben gesteigert, auch den herrschenden Entwicklungsbegriff und was vielerorts zu einem deutlichen Rückgang der dessen Linearität radikal in Frage. Statt einer „al- Armut und einer Verbesserung des Zugangs zu Bil- ternativen Entwicklung“ müssten „Alternativen dung und Gesundheitseinrichtungen geführt hat. zu Entwicklung“ diskutiert werden. Bolivien und Ecuador haben als gesellschaftliches Bei aller schlüssigen Kritik am Extraktivismus darf Ziel in ihren neuen Verfassungen die Verwirkli- dabei nicht aus dem Blick geraten, dass sich die chung des „guten“ oder „erfüllten Lebens” (buen progressiven, von einer breiten Bevölkerungs- vivir) formuliert, das auf indigenen Wertvorstellun- mehrheit demokratisch legitimierten Regierungen gen basiert. Ecuador hat sogar Rechte der Natur in einem realpolitischen Umfeld und dem ständi- 4 LN-Dossier 6
gen Kampf um Souveränität befinden. Zwar hat transnationalen Unternehmen. In vielen Fällen ha- es in der Geschichte Lateinamerikas immer wie- ben die Einnahmen aus dem Rohstoff-Export in der Verstaatlichungen (und teilweise Reprivatisie- links regierten Länder erst den Horizont für eine rungen) von rohstofffördernden Industrien gege- eigenständige Politik geöffnet, die nicht von den ben. Mit einer derart weitgehenden Rückkehr des Weisungen der einzelnen Industriestaaten oder Staates bei gleichzeitigem Anziehen der Rohstoff- des IWF abhängig ist. Sollten neoliberale Kräfte in preise, wie in den letzten Jahren, hatte in den der Region wieder hegemonial werden, würde die 1990er Jahren jedoch kaum jemand gerechnet. In Rohstoff-Politik weder ökologischer noch sozialer Folge der Schuldenkrise der 1980er Jahre war den ausfallen. Die Gewinne wanderten schlicht wie- meisten lateinamerikanischen Staaten von Welt- der mehr in die Taschen der Privatwirtschaft. Die bank und dem Internationalen Währungsfonds stärkere (sozial-) staatliche Kontrolle über die Roh- (IWF) als Bedingung für den Erhalt von Krediten stoffe stellt also durchaus einen ersten Fortschritt eine Deregulierung der Wirtschaft und Verschlan- dar – längerfristig praktikabel ist die Fokussierung kung des Staates auferlegt worden. Dazu gehörte auf den Rohstoffexport dennoch nicht. In ganz La- auch die Privatisierung des Bergbausektors. Ein teinamerika nehmen die sozioökologischen Kon- neoliberales Investitionsklima sowie eine schwa- flikte mit Anwohner_innen von Bergbau-Projekten che Arbeits- und Umweltgesetzgebung zogen drastisch zu. Gegner_innen der Rohstoffförde- transnationale Bergbaukonzerne an. rung werden als Sympathisant_innen der rechten Seit den letzten Jahren aber kontrollieren viele Opposition diffamiert und teilweise kriminalisiert. Staaten in Lateinamerika die Rohstoffförderung Das extraktivistische Modell zieht die Vertreibung wieder stärker. Dabei steht außer Frage, dass, von Menschen, die Zerstörung von Ökosystemen wenn schon Rohstoffe gefördert werden, die Ein- und landwirtschaftlichen Nutzflächen sowie die nahmen aus dem Geschäft der (marginalisierten) Verschmutzung von Wasservorräten nach sich. Bevölkerung zu Gute kommen sollten und nicht Der in einigen Ländern diskursiv gewünschte LN-Dossier 6 5
Übergang zu einer produktiven nicht-kapitalisti- mala sich vom erklärten Ziel einer anderen Roh- schen Wirtschaftsweise, scheint durch den Ex- stoffpolitik abwendete. Ronald Köpke beschreibt traktivismus nicht befördert, sondern umgekehrt anschließend, wie der Kleinbergbau gegenüber behindert zu werden. dem industriellen Großbergbau benachteiligt Mit dem Dossier Verbohrte Entwicklung werfen wird, obwohl daran deutlich mehr Menschen fi- die Lateinamerika Nachrichten und das FDCL ei- nanziell partizipieren. Punktuell konnte der zuneh- nen Blick auf die aktuelle Situation des Extrakti- mende Widerstand gegen die industrielle Roh- vismus in Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt stoffförderung bereits Erfolge verzeichnen, die dabei auf der Förderung mineralischer und fossi- über die bloße Aufschiebung einzelner Projekte ler Rohstoffe. Zunächst führt Eduardo Gudynas in hinausgehen und tatsächlich den Extraktivismus die Diskussion um den Neuen Extraktivismus ein. in Frage stellen. In Argentinien verabschiedete Martin Ling erläutert am Beispiel des venezolani- der Kongress im Oktober 2010 ein Gesetz zum schen Erdöls die Schwierigkeiten eines Landes, Schutz der Gletscher, das die Ausbeutung von dessen Wirtschaft überwiegend von nur einem Rohstoffen in festgelegten Gebieten untersagt Rohstoff abhängt. Anhand von Texten über Boli- und einen Rückschlag für die Lobby-Arbeit gro- vien, Ecuador und Brasilien thematisieren Thilo F. ßer Bergbaukonzerne darstellt. Ebenso verhält es Papacek, Ximeña Montaño und Christian Russau sich mit dem im November 2010 beschlossenen jeweils beispielhaft die Rohstoffpolitik der (Mitte-) Verbot aller neuen Projekte des offenen Metall-Ta- Linksregierungen. Als Beispiel für eine strikt neo- gebaus in Costa Rica als erstem Land in Lateina- liberale Rohstoffpolitik beschreibt Alke Jenss an- merika. Antje Krüger und Markus Plate behandeln schließend, was es bedeutet, dass die kolumbia- die beiden Fälle jeweils in ihren Artikeln. nische Regierung den Bergbau zur „Lokomotive“ Bei aller Kritik an den Regierungen, Konzernen für die Exportwirtschaft erklärt hat. David Rojas- oder Schwellenländern sollte indes eines klar Kienzle zeigt am Beispiel des chilenischen Kupfers sein: Ohne eine nachhaltige Senkung des Roh- auf, dass die Geschichte von Verstaatlichungen im stoffkonsums im globalen Norden werden Über- Rohstoffsektor keineswegs erst in den letzten gänge zu post-extraktivistischen Modellen kaum Jahren begonnen hat. Im Interview geht der pe- möglich sein. Das auf fortwährendem Wachstum ruanische Bergbau-Experte und ehemaliger Vize- basierendes Wirtschaftsmodell kann aufgrund der Umweltminister unter der aktuellen Regierung Begrenztheit der meisten Rohstoffe sowie der Humala, José de Echave, auf die zunehmenden vielfältigen Krisen des globalisierten Kapitalismus Konflikte rund um den Extraktivismus in Peru ein. (Ernährungs-, Klima-, Energie- und Finanzkrise) Als ehemaliges Kabinettsmitglied erläutert er die nur radikal in Frage gestellt werden. Schlüsselmomente, in denen die Regierung Hu- // LN und FDCL FOTOS IN DIESEM DOSSIER Zwei Fotoreportagen des argentinischen Kollektivs Cooperativa Sub bebildern das vorliegende Dossier. Die jungen Fotograf_innen aus Buenos Aires teilen sich neben ihrer Leidenschaft fürs Fotografieren auch ihr Büro, eine Internetseite als Portal für ihre Arbeit und ihre Einnahmen. Die erste Reportage von Nicolás Pousthomis zeigt den offenen Gold- und Kupfer-Tagebau Bajo La Alumbrera nahe des Ortes Belén in der nord-argentinischen Provinz Catamarca. An dem Tagebau beteiligt sind das staatliche Bergbauunternehmen YMAD und der transnationale Konzern Alumbrera Limited. Dieser besteht aus dem schweizerischen Rohstoffgiganten Xstrata sowie den kanadischen Unternehmen Goldcorp Inc. und Northern Orion Resources Inc. Die zweite Reportage (ab Seite 15) stammt von Olmo Calvo Rodriguez und zeigt Fotos der Tausenden Menschen, die jeden Tag in den Minen von Potosí arbeiten. Diese waren einstmals der wirtschaftliche Motor Boliviens, doch jetzt stecken sie in einer schweren Krise. Hunderte Kooperativen beuten die alten staatlichen Minen aus – ohne vernünftige Arbeitsmaterialien und eine Beschwerdeinstanz. Weitere Reportagen der Kooperative sind zu finden unter: http://sub.coop/ 6 LN-Dossier 6
ALTE WEGE VERLASSEN NEUER EXTRAKTIVISMUS UND DER HOLPRIGE WEG HIN ZU POSTEXTRAKTIVISTISCHEN ALTERNATIVEN Die Ausbeutung von Rohstoffen wird derzeit in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs in ganz Lateinamerika ausgeweitet. Progres- Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der sive Regierungen schöpfen heute zwar einen Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige größeren Anteil der Einnahmen ab und in- Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als vestieren diese in Sozialprogramme. Die so- zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im zialen und ökologischen Auswirkungen sind Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische trotzdem problematisch. Eine Debatte über Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahl- die Zeit nach dem Extraktivismus kommt versprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut langsam in Gang. dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerba- sis sowie entgegen der Empfehlungen von Fach- Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind leuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhal- Linken, und verbündet sich stattdessen mit kon- te zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der servativen und wirtschaftsnahen Kreisen. Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für LN-Dossier 6 7
Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokultu- Wirtschaft des Landes anschieben soll. ren in der Landwirtschaft sowie andere Formen von So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateiname- des Extraktivismus in ganz Lateinamerika fest- rikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen stellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen, progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Ve- die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die nezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung schwerwiegende soziale und ökologische Konse- der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung quenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoff- bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer preisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer Förderstätten und die Förderung bisher ungenutz- asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber ter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argenti- 2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von nien. Bodenerkundungen finden in immer ent- Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau mas- legeneren und schwerer zugänglichen Gebieten siv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen, im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik- mehr als das aller Andenstaaten zusammen. Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen Die globale Gesamtsituation macht die exportori- gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Mo- entierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem ein- nokulturen werden auf riesige Flächen ausgewei- träglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts- tet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt, bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in warum das Kapital sich vielerorts dem Primär- Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. sektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstoff- Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon lieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonial- profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung zeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförde- diese Funktion immer wieder in abgewandelter rung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte Form zurück. Geändert haben sich nur die Grün- Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José de, mit denen die Ausbeutung der natürlichen Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden konservative oder neoliberale Regierungen auf al- Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das te Konzepte von der Rolle des Marktes und von Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konser- ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“ vative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu 8 LN-Dossier 6
verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoff- praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht ausbeutung doch unlängst noch kritisiert. nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesam- Die Regierungslinke hat jedoch einen grundle- ten Planeten befriedigen könnten. Ökologische genden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos, Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn re- mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respek- formiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirt- tiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden, schaftswachstum und Wählerbindung. wird behauptet, diese könnten technisch gelöst Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Ge- in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich winne würden die sozialen und ökologischen Schä- deutlich von vorhergehenden Regierungen unter- den wettmachen. Die massenweise Förderung von scheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeich- Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum nen konnten, insbesondere im Kampf gegen die basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaft- Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass lichen Wohlstand und steigenden Konsum in den diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Roh- urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den stoffexporte finanziert wurden und den hohen Städten gibt es riesige Einkaufszentren und margi- Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue nalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heu- Extraktivismus der progressiven Regierungen te in vorher ungekanntem Ausmaß. geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staat- Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Län- lichen Präsenz einher, beispielsweise durch natio- dern Debatten über den Ausstieg aus der Abhän- nale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhe- gigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Mit- re Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf einbezogen wird darin der veränderte politische Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Vene- Kontext. In den Debatten kommt die Forderung zuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialpro- eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungs- gramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht konzepte enthalten sein, als auch der politische über monatliche Transferzahlungen hinausgehen. Diskurs der progressiven Regierungen eine neue Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärms- Richtung einschlagen muss, der bisher Extrakti- ten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale vismus als notwendig für die Armutsbekämpfung Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige darstellt. In einem Transitionsprozess werden Zahlungen beschränken. post-extraktivistische Strategien als Alternativen Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt. Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökono- Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt wer- mien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung den, um die schwerwiegendsten Auswirkungen und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern. klein geredet oder abgestritten. Diese Situation Dazu gehören beispielsweise die Schließung be- macht den Ausbruch von sozialen Protesten ge- sonders umweltschädlicher Förderstätten oder die gen den Extraktivismus verständlich. Die Konflikt- Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Not- lagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von wendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kon- territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbar- tinuität der Ausbeutung von Natur und des öko- machung der ökonomischen Kosten von sozialen nomischen Wachstums ist dermaßen deutlich, und ökologischen Schäden. Ökologische und öko- dass selbst linke Präsident_innen sich über sozi- nomische, soziale und politische Maßnahmen wer- ale und ökologische Forderungen lustig machen, den miteinander verknüpft, um die Fokussierung Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgrei- Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen at- fende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maß- tackieren. Man solle den Reichtum der Natur des nahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen verbunden werden, um den Ausstieg aus dem ge- sie, sondern diesen Trend sogar verstärken. genwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen. Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt, // Eduardo Gudynas einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die Übersetzung: Sebastian Henning LN-Dossier 6 9
VENEZUELA KLEBT AM ÖL DIE DOMINANZ DES SCHWARZEN GOLDES IST IN DER WIRTSCHAFT UNGEBROCHEN
Venezuelas Präsident Hugo Chávez schmie- det weiter langfristige Pläne: Im Oktober 2012 stellt er sich zur Wiederwahl und bis zum Jahr 2019 soll die Ölförderung in Vene- zuela verdoppelt werden. Damit gerät sein zu Amtsbeginn im Jahr 1999 ausgegebenes Vorhaben, die Wirtschaft zu diversifizieren und die Ölabhängigkeit sukzessiv abzubau- en, weiter in den Hintergrund. It’s the oil price, stupid! Auf die Entwicklung des Ölpreises könnte sich Venezuelas Präsident Hu- go Chávez berufen, wenn er begründen müsste, warum Venezuelas Wirtschaft allen Diversifizie- rungsbemühungen zum Trotz immer noch extrem vom Schwarzen Gold abhängt. Ölexporte machen nach wie vor rund 90 Prozent der Exporterlöse des Mitglieds der Organisation Erdölexportieren- der Länder (OPEC) aus, die Öl- und Gasindustrie ist für etwa ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich und trägt rund die Hälfte zu den Staatseinnahmen bei. Als Chávez im zweiten Halbjahr 1998 seine erste Wahl gewann, dümpelte der Ölpreis im Zuge der Asienkrise bei rund zehn US-Dollar pro Barrel (Ein Barrel sind 159 Liter). Kein Wunder, dass Chávez schon zu Beginn seiner Amtszeit 1999 verkünde- te, dass er neben der Neuordnung der Ölgesell- schaft PdVSA auch Landwirtschaft, Industrie und Tourismus neu ausrichten werde, um dem Auf und Ab des Ölpreises mit all seinen Konsequen- zen für die venezolanische Konjunktur weniger ausgeliefert zu sein. Doch so tief wie im Jahr 1998 steht der Ölpreis schon lange nicht mehr: Der Trend geht eindeu- tig nach oben. Dafür sorgt zum einen die ge- nerelle Begrenztheit der Vorkommen, die im so genannten Peak Oil kulminieren, dem Punkt an dem das Globale Ölfördermaximum erreicht ist, bevor es unweigerlich nach unten geht. Dieser Punkt ist nicht exakt wissenschaftlich bestimm- bar, auch weil immer wieder neue Ölvorkommen entdeckt werden, die meist jedoch aufwändi- ger Fördermethoden bedürfen. Die Produktion eines Fasses Rohöls auf neu erschlossenen Feldern kostet im weltweiten Durchschnitt zwi- schen 50 und 80 US-Dollar – bei den alten Fel- dern im saudischen Wüstensand liegen sie bei zwei bis drei US-Dollar. Hinzu kommen politische Faktoren, wobei vor al- lem Krisen die Preise beeinflussen. Letztes Jahr LN-Dossier 6 11
war es insbesondere der Bürgerkrieg in Libyen, ela dem petrochemischen Sektor. derzeit sind es die israelischen Drohungen mit In Venezuela hat die Holländische Krankheit un- einem Militärschlag gegen den Iran, die für Un- ter anderem die einheimische Landwirtschaft ruhe sorgen und zudem Spekulant_innen auf den befallen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf be- Plan rufen. Ein Barrel der Nordseesorte Brent zur trächtliche Nahrungsmittelimporte angewiesen, Auslieferung im Oktober kostete am 27. August obwohl es potenziell an geeigneten Agrarflächen 114,82 US-Dollar. Die Preise steigen, obwohl we- nicht fehlt. So ist Venezuela das einzige südame- gen der schwächelnden Weltkonjunktur und da- rikanische Land mit einer negativen Agrarbilanz. mit einhergehender sinkender Gesamtnachfrage Im Jahr 2010 standen Agrarexporten von 59 Mil- eigentlich ein Preisrückgang zu erwarten wäre. lionen US-Dollar rund 5 Milliarden US-Dollar Im- Vom Rekordhoch von 147,50 US-Dollar im Som- porte gegenüber, belegen die Zahlen der Latein- mer 2008 sind die Preise zwar noch weit entfernt, amerikanischen Integrationsvereinigung ALADI. doch sie sind hoch genug, um den Druck auf Egal ob Fleisch, Milch, Getreide, Fette oder Öle: Venezuela zu mildern. Die mühseligen Diversifi- Venezuela ist Nettoimporteur. Laut dem venezo- zierungsversuche drohen so einmal mehr auf die lanischen Statistikamt INE sind in den vergange- lange Bank geschoben zu werden. nen 13 Jahren die Nahrungsmittelimporte um 230 Wie stark Venezuelas Wirtschaftsentwicklung mit Prozent gestiegen und haben sich damit mehr als dem Ölpreis verbunden ist, lässt sich in den Jah- verdreifacht. ren seit der Pleite der Investmentbank Lehman Dabei war die Regierung Chávez nicht untätig. Brothers im September 2008 nachzeichnen. Der Schon im Jahr 2001 wurde mit einem Landgesetz globale Wirtschaftseinbruch in den beiden Folge- der Weg für eine Agrarreform geebnet. Das Natio- jahren ging mit sinkenden Ölpreisen einher, die nale Landinstitut INTI verteilte in den Jahren 2003 zwischenzeitlich lediglich 30 bis 40 US-Dollar pro und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar brach- Barrel betrugen und bescherten Venezuela eine liegendes Staatsland an Kooperativen, danach kräftige Rezession von 3,2 Prozent im Jahr 2009 wurden noch über 100.000 landlose Familien mit und 1,5 Prozent im Folgejahr. Erst nachdem der enteignetem ungenutztem Privatland ausgestat- Ölpreis wieder stieg, erholte sich auch die vene- tet. Mit dem Plan Zamora greift die Regierung zolanische Wirtschaft und verzeichnete im Jahr seit dem Jahr 2003 Kleinbauern und -bäuerinnen 2011 wieder ein Wachstum von 4,2 Prozent, dass mit Krediten, Bildungsangeboten, Investitionen dieses Jahr vermutlich sogar übertroffen wird. in Vertriebswege, Häuserbau, Wasser und Infra- Das grundlegende Problem Venezuelas ist die struktur unter die Arme. All dies hat zwar die na- sogenannte Holländische Krankheit. In den Nie- tionale Produktion bei Agrargütern nach Angaben derlanden wurde in den 1960er Jahren nach der Regierung von 1999 bis 2011 um 44 Prozent dem überraschenden Fund reichhaltiger Erdgas- nach oben getrieben, doch noch kräftiger wuchs vorkommen zum ersten Mal festgestellt, dass die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum sich Rohstoffreichtum in einen Fluch verwandeln der ärmeren Bevölkerungsschichten. Venezuela kann. Der Zufluss von reichlich US-Dollar aus dem muss so immer noch rund 70 Prozent seiner Le- Rohstoffexport führt zu einer Aufwertung der bensmittel einführen. eigenen Währung. Der angenehme Aspekt dar- Mit den Währungsabwertungen in den Jahren an ist, dass sich die Importkapazität des Landes 2010 und 2011 hat sich die Konkurrenzfähigkeit erhöht, sprich sich das Land mehr Güterimporte der heimischen Landwirtschaft und Industrie leisten kann. Der negative und schwer wiegende zwar wieder verbessert, jedoch nicht in einem Nachteil besteht darin, dass einheimische Produ- Maße, das die vorangegangene jahrelange Über- zent_innen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, bewertung kompensiert. Der Wechselkurs war sowohl gegenüber Importeuren als auch auf dem bis 2010 bei 2,15 Bolívar pro US-Dollar festge- Weltmarkt, sofern es sich um Unternehmen han- zurrt und das, obwohl Venezuela hohe Inflati- delt, die etwas anderes als Rohstoffe exportieren. onsraten von weit über 20 Prozent verzeichnete Der Verlust an Arbeitsplätzen in jenen Sektoren und damit weit höhere als die USA mit der Re- ist fast unumgänglich. Die ganze Volkswirtschaft ferenzwährung. Nur mittels Dollarverkäufen und bekommt so mehr und mehr Schlagseite in Rich- Devisenkontrollen der Zentralbank konnte der tung des dominanten Rohstoffsektors, in Venezu- Bolívar mehr schlecht als recht auf diesem Ni- 12 LN-Dossier 6
veau gehalten werden. Im Jahr 2010 wurde die Sozialprogramme durchzuführen. Die Ölgesell- Währung auf 4,3 Bolívar pro US-Dollar abgewer- schaft PdVSA fungiert seit dem Jahr 2003 auch tet. Zum Jahresbeginn 2011 schaffte die Chávez- als eine Art Sozialministerium, die aus dem eige- Administration dann noch den Vorzugswech- nen Haushalt Sozialprogramme wie die misiones selkurs von 2,6 Bolívar je US-Dollar ab. Damit finanziert – die unter anderem von Bildung (mi- wurde bis dato der Import von Lebensmitteln sión Robinson und misión Ribas) über Gesundheit und Medikamenten sowie bestimmten Investiti- (misión barrio adentro) bis hin zur Versorgung mit onsgütern wie Maschinen subventioniert. Auch subventionierten Lebensmitteln (misión mercal) hier gilt seitdem der offizielle Wechselkurs von reichen. Im Jahr 2011 flossen fast 40 Milliarden 4,3 Bolívar pro US-Dollar. US-Dollar in Sozialprogramme und Sonderfonds Der Holländischen Krankheit und der Überbe- des Präsidenten. wertung könnte durch eine gezielte Strategie der Die Öldollar gleichzeitig aufzuschatzen und aus- Unterbewertung seitens der venezolanischen zugeben, geht logischerweise nicht. Venezuela Zentralbank begegnet werden. Dafür müssten wäre entwicklungsökonomisch allerdings gut die Devisenzuflüsse in ihrer Wirkung auf die hei- beraten, künftig zumindest einen Teil der Ölein- mische Geldmenge und Währung so weit wie nahmen langfristig anzulegen, um auf Sicht ei- möglich sterilisiert werden, indem sie in einen nen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer Zukunftsfonds fließen und dort langfristig ange- Stärkung des Binnensektors zu erreichen. Dazu legt werden. Ein solches Modell praktiziert Nor- bedarf es neben der Unterbewertungsstrategie wegen mit beachtlichem Erfolg. Im dortigen Öl- einer selektiven Protektion, bei der die Zollsät- fonds werden seit dem Jahr 1990 die enormen ze mit dem Verarbeitungsgrad ansteigen. Da- Erträge aus dem Ölexport angelegt. Dies ge- mit könnte Venezuela das erreichen, was bisher schieht ausschließlich auf ausländischen Märk- verfehlt wurde: eine breitere Produktpalette der ten, um ein Überhitzen der inländischen Wirt- heimischen Wirtschaft und eine konkurrenzfähige schaft und einer Aufwertung der Norwegischen Binnenmarktentwicklung. Die Weichen in diese Krone entgegenzuwirken. Richtung müssen indes noch gestellt werden. Angesichts der enormen sozialen Schuld, die in Chávez Ankündigung vor wenigen Wochen, bis Venezuela über die vergangenen Jahrzehnte ak- zum Jahr 2019 die Ölförderung in Venezuela ver- kumuliert wurde, ist ein solches Modell in Vene- doppeln zu wollen, spricht nicht für eine schnelle, zuela wohl schwer politisch durchsetzbar. Chávez fundierte Kursänderung. nützt die Öleinnahmen schließlich bisher dazu, // Martin Ling
DIE PACHA MAMA MELKEN DIE FRÜHERE BASIS VON EVO MORALES VERLIERT DAS VERTRAUEN, DASS DESSEN KABI- NETT WIRKLICH AN EINEM STRUKTURELLEN WANDEL INTERESSIERT IST Boliviens Regierung trat mit dem Verspre- aktuellen politischen Situation in Bolivien. Zahlrei- chen an, ein neues Wirtschaftsmodell ein- che wichtige Diskussionen gingen von diesem zuführen, das sich an den Bedürfnissen von Medium aus. Früher galt die Seite als ausgespro- Mensch und Umwelt orientiert. In der Praxis chen MAS-nah, doch dieses Verhältnis hat sich entpuppt sich die Regierungspolitik aber als nun gewandelt. Neo-Extraktivismus, der sich von den Wirt- Sehr viele Vertreter_innen von indigenen und an- schaftsmodellen früherer Regierungen des deren sozialen Bewegungen beklagen, dass die Landes nur wenig unterscheidet. MAS den historischen Prozess des Wandels in Bolivien verraten hätte. Deutliche Worte findet „TIPNIS ist das schwarze Loch der Regierung“, ur- der Aymara-Aktivist und Soziologe Pablo Mamani teilt Raúl Prada in einem Beitrag für die Internet- Ramírez. Unter Evo Morales habe sich der „Präsi- seite bolpress.com. Der ehemalige Vizeminister dentenpalast in eine Festung der indigenen Auf- für strategische Planung gehört seit Mitte 2010 zu standsbekämpfung verwandelt. [...] Die Träume den linken Kritiker_innen des bolivianischen Präsi- hunderter Männer und Frauen auf einen besseren denten Evo Morales. Mit dem „schwarzen Loch“ Tag wurden verraten“, schrieb er in einem Beitrag meint er, dass der Konflikt um das indigene Terri- für das Internet-Portal. torium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé (TIP- Der bessere Tag, auf den so viele indigene Be- NIS) droht, jedes Prestige der Regierung und ihren wegungen gehofft hatten, sollte zu einem „erfüll- Anspruch, die indigene Bevölkerungsmehrheit des ten Leben“ führen. Das Konzept des „erfüllten“ Landes zu repräsentieren, zu schlucken: „Der Konf- oder „guten Lebens“ (buen vivir) ist die zentrale likt um TIPNIS hat der Regierung alles abverlangt.“ Forderung der indigenen Bewegungen – und der Die Regierung wollte im vergangenen Jahr be- Regierung. Es soll eine Alternative zu klassischen reits eine Überlandstraße durch das per Gesetz Entwicklungsmodellen bieten. Was das buen vivir „unantastbare“ Schutzgebiet bauen lassen, was genau bedeutet, ist nicht klar. Einfacher lässt sich aber enorme Proteste provozierte (siehe zum sagen, was es nicht sein soll: Die Unterordnung Beispiel LN 449, 450 und 456). Die Demonstra- von Politik und Wirtschaft unter Profitstreben und tionen gingen von Gruppen aus, die einst zu den den Maßgaben kapitalistischer Wertschöpfung. wichtigsten Verbündeten der Regierungspartei Konkret sollte sich diese neue Wirtschaftsweise Bewegung zum Sozialismus (MAS) zählten und nicht zuletzt in der Abkehr vom Extraktivismus äu- erzwangen einen vorläufigen Baustopp. Derzeit ßern. Seit der Kolonialzeit ist Boliviens Wirtschaft läuft eine Volksbefragung zum Straßenbaupro- auf die Ausbeutung von Bodenschätzen ausge- jekt, die bis zum 10. September abgeschlossen richtet, alle negativen Folgen für Menschen und sein soll. „Der Kampf um den Erhalt des TIPNIS Umwelt wurden dem Bergbau untergeordnet. In ist ein Kampf um die Fortsetzung des Prozesses“, den Diskussionen zum buen vivir wird dagegen schreibt Prada weiter. Er meint den Prozess des der Respekt vor Pacha Mama, der Mutter Erde, Wandels in Bolivien, für den die Regierung Mora- betont und gefordert. les einst stand. Doch genau diese Ideen, so sagen linken Kritiker_ Auf der Internetseite bolpress.com häufen sich innen, verfolge die Regierung nicht mehr. Ihre Aus- derartige kritische Aussagen über die Regierung. sagen zum buen vivir und zum Respekt vor Pacha Auf diesem Forum publizieren einflussreiche Ak- Mama seien nurmehr Lippenbekenntnisse. Die tivist_innen, Sozialwissenschaftler_innen und meisten großen Regierungsprojekte seien zu sehr Politiker_innen Analysen und Meinungsartikel zur im alten Entwicklungsdenken verhaftet. Diese Kri- 14 LN-Dossier 6
Fotos: Olmo Calvo Rodríguez // Sub [Cooperativa de fotógrafos] Dieses und folgende Fotos Minenarbeiter in Potosí, Bolivien tik ist leicht nachvollziehbar. Ob es der geplante dem verhältnismäßig guten Wirtschaftswachstum Abbau von Lithium ist, aus dem Batterien für Elek- der letzten Jahre in zahlreiche Sozialprogramme torautos gebaut werden sollen, oder diverse Stau- investiert, die nach brasilianischen Vorbild einge- dammprojekte im Amazonasgebiet oder die wei- führt wurden. Ein Beipiel dafür sind Beihilfen für tere Erschließung von Erdöl- und Gasquellen: Die arme Familien mit Kindern (etwa der Bono Juan- großen Wirtschaftspläne der Regierung setzen vor cinto Pinto). Zahlreiche arme indigene Gemein- allem auf den Abbau von Ressourcen, den Ausbau den auf dem Land haben dank staatlicher Investi- von Infrastruktur und Industrialisierung. tionen erstmals Zugang zu sauberen Trinkwasser Großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik Bolivi- erhalten. Derartige Hilfsprogramme erklären die ens hat das Komitee zur Verteidigung des Natio- nach wie vor hohe Popularität der Regierung Mo- nalen Erbes (CODEPANAL), das dem staatlichen rales in vielen indigenen Landgemeinden. Erdölkonzern YPFB nahe steht. Es setzt über- Einige, wie der Soziologe Mamani, kritisieren aber wiegend auf konventionelles Wirtschaftswachs- gerade diese Hilfsprogramme: Hilfen kämen vor tum. Doch dieses soll vom Staat ausgehen. Die allem den Gemeinden zugute, die sich gut mit der „progressive Ausweisung transnationaler Erdöl-, Regierung stellen. So werde die indigene Bewe- Erdgas- und Bergbauunternehmen“ und ihre Er- gung Boliviens gespalten. Er sieht den Grund für setzung durch „eigene staatliche Unternehmen“ den sich abzeichnenden Erfolg der Regierung bei steht an erster Stelle in der Liste der Ziele von der Volksabstimmung über das TIPNIS weniger in CODEPANAL. Diese antiimperialistisch orientier- der Zustimmung der dortigen Bevölkerung für das te Verstaatlichungspolitik soll erreichen, dass die Straßenprojekt. Vielmehr seien es die Geschenke Gewinne aus dem Geschäft im Land bleiben und seitens der Regierung, die die Bevölkerung auf der Bevölkerung zu Gute kommen. Regierungslinie bringen. In der Tat hat die Regierung die Einnahmen aus Ob die Hilfsprogramme wirklich eine Art Beste- LN-Dossier 6 15
chung der indigenen Gemeinden darstellen, mag 2006 trägt den Namen „Helden des Chaco“. Schon umstritten sein. Sie bieten der Regierung jedoch der Name erinnert an den Einzug der Erdölkonzes- ohne Zweifel die Möglichkeit, für mehr Akzeptanz sionen des US-Unternehens Standard Oil im Jahr für die Entwicklungsprojekte zu werben. Exemp- 1937, eine direkte Folge des Chaco-Kriegs (1932- larisch zeigt dies eine Rede von Evo Morales, vom 1935). Bereits die damaligen Regierungen des so- August 2011: „Wenn wir Straßen bauen wollen, genannten „militärischen Sozialismus“ versuchten, sind einige Brüder dagegen. Wenn wir als Regie- die Einnahmen aus der Erdölförderung der armen rung mehr Erdgas oder Erdöl fördern wollen, dass Bevölkerungsmehrheit zugute kommen zu lassen. die Pacha Mama uns gibt, wollen das auch einige Ein ähnliches Muster verfolgte die Verstaatlichung Brüder nicht. Wenn wir Wasserkraftwerke bauen der Zinnminen im Jahr 1952. Doch eine staatliche wollen, sind einige Brüder dagegen. Wovon soll Kontrolle des Extraktivismus bedeutet nicht, dass Bolivien denn leben?“ weniger Umweltschäden entstehen. So verweist die Regierung auch im Konflikt um So schreibt Rebecca Hollender von der Sozial- und die Straße durch das TIPNIS auf den vermeintli- Umweltorganisation Klimawandel und Gerechtig- chen Nutzen für die Bevölkerung. Über die Straße keit (ccjusticia) auf bolpress.com, dass die aktuelle bekämen die indigenen Gemeinden in dem Ge- Ressourcenpolitik Boliviens ein direktes Hindernis biet besseren Zugang zum Gesundheits- und Bil- auf dem Weg zum buen vivir darstelle: „Das neo- dungswesen. Kritiker_innen sehen dagegen den extraktivistische Modell ist nur ein geringer Fort- Bau der Straße als ersten Schritt zu Erschließung schritt gegenüber dem, was vorher herrschte: Das weiterer Erdgasquellen im Naturschutzgebiet. Sie klassische extraktivistische Modell, das seit 500 befürchten, dass auf der Straße weniger Schul- Jahren eine Schneise der Zerstörung durch Um- busse und Krankenwagen fahren werden als welt und Gesellschaften in Lateinamerika gezogen Lastwagen, die Tropenhölzer und Kokablätter von und die Länder ökonomisch vom Export von Roh- illegal gerodeten Flächen aus dem fragilen Regen- stoffen abhängig gemacht hat.“ waldgebiet abtransportieren. Die Kritiker_innen Doch solcher Kritik am Neo-Extraktivismus spre- der Regierung hinterfragen grundsätzlich, ob Erd- chen Regierungsvertreter_innen jegliche Legi- ölförderung und Industrialisierung überhaupt mit timation ab. Der Soziologe Eduardo Paz Rada den Interessen der Bevölkerung und der Natur in unterstellt seinerseits Kritiker_innen der Ent- Einklang zu bringen ist. wicklungspolitik, den revolutionären Wandel im Doch Industrialisierung ist das erklärte Ziel der re- Land zu verraten. In einem Artikel mit dem Titel gierungsnahen CODEPANAL. Im vergangenen Ok- „Ein falsches Dilemma: Neo-Extraktivismus ge- tober publizierte die Organisation einen Entwick- gen Umweltschutz“, der auch auf bolpress.com lungsplan für die Zeit von 2011 bis 2021. Ziel ist, die erschien, schreibt er, dass sich multinationale Energieproduktion Boliviens zu vervielfachen. Da- Unternehmen und Umweltorganisationen mitein- für sollen Wasserkraftwerke gebaut werden, was ander verschworen hätten: „Beide Pole sind Teil im Regenwaldgebiet Madidi im Nordosten des der imperialistischen Strategie, die wichtigsten Landes geplant ist. Dies sei eine „Mindestanforde- Ressourcen des Planeten zu kontrollieren.“ rung, um aus der Dritten Welt in die industrialisierte So scheinen sich soziale Bewegungen und Re- Zweite Welt aufzusteigen“, wie es im Text von CO- gierung in Bolivien deutlich entzweit zu haben. DEPANAL heißt. Das buen vivir fordert eigentlich Doch trotz dieser Konflikte, schreibt Pablo Mama- die Abkehr von derartigen Hierarchisierungen in ni Ramirez in seinem Artikel, sei der Prozess des „Dritte“ und „Zweite“ Welt, die eine „nachholende Wandels in Bolivien noch nicht tot: „Wenn man Entwicklung“ implizieren. In den Debatten um das meinen Artikel liest, könnte man das glauben.“ buen vivir geht es eigentlich darum, ob angesichts Der Prozess müsse nur wieder von den sozialen der Klimaerwärmung Pacha Mama nicht besser und indigenen Organisationen ausgehen, und er gedient wäre, wenn man ihr Gas und Öl da lässt, glaubt, dass dies auch geschehe: „Die Bevölke- wo es ist, und ihre Flüsse nicht anstaut. rung hat sich erhoben und ist nicht bereit, sich Diese Ignoranz bemängeln immer mehr soziale Ak- wieder niederzuknien.“ Auch nicht vor einer sich tivist_innen an der Regierung. Zudem stellt sich die indigen gebenden Regierung. Frage, wie neu der Neo-Extraktivismus eigentlich // Thilo F. Papacek ist. Das Dekret zur Nationalisierung des Erdöls von 16 LN-Dossier 6
WIDERSPRÜCHLICHE BILANZ ECUADORS REGIERUNG SETZT AUF INTENSIVIERUNG DES EXTRAKTIVISMUS MIT HÖHEREN SOZIALAUSGABEN Ecuadors Plan Nacional para el Buen Vivir, Wirtschaft zu einem neuen Modell vor. der Entwicklungsplan 2009-2013, setzte sich Wie weit ist dieser Umbau heute, im sechsten zwei große Ziele: Die Rückkehr des Staates Jahr der Regierung von Präsident Rafael Correa, als Instanz der Umverteilung und den Über- gediehen? Die Förderung und der Export von gang zu einem neuen Wirtschaftsmodell. Die Öl haben heute wirtschaftlich dasselbe Gewicht Ergebnisse sind ambivalent. wie in der Ära des Erdölbooms der 1970er Jahre. Der Staatshaushalt ist in hohem Maße von die- René Ramirez, früherer Planungsminister, schrieb sem Wirtschaftszweig abhängig. 2010 machten im Jahr 2010 im Hinblick auf Ecuadors Entwick- Rohstoffe mit etwa 77 Prozent immer noch über lungsstrategie, dass „das größte Alleinstellungs- drei Viertel des Exportvolumens aus, gegenüber merkmal Ecuadors seine Biodiversität ist, und lediglich 23 Prozent exportierter Produkte aus der sein größter Wettbewerbsvorteil darin liegt, sie verarbeitenden Industrie. Tourismus, Dienstleis- durch ihren Erhalt und den Aufbau von Bio- und tungen und Landwirtschaft befinden sich, anstatt Nanotechnologie zu nutzen.” Der derzeit gültige zu expandieren, eher in einer leichten Rezession. Entwicklungsplan 2009-2013 sieht als Hauptzie- Die Agrarpolitik setzt auf industrielle Produktion le eine umverteilende Politik und den Umbau der für den Export oder für Supermarktketten, und LN-Dossier 6 17
benachteiligt die Kleinbauern und -bäuerinnen. auf der Prioritätenliste von Ressourcenminister Anstatt ein neues Wirtschaftsmodell zu entwi- Wilson Pastor, vier davon sind bereits fortge- ckeln, weitet die Regierung das alte Akkumula- schritten. Ebenso vorgesehen ist die Ausweitung tionsmodell aus. Obwohl Ecuador kein Land ist, der Ölförderung auf den Südosten des ecuado- in dem Bergbau traditionell eine relevante Rolle rianischen Amazonasgebiets, der einzigen relativ gespielt hätte, setzt die Regierung Correa nun auf intakten Regenwaldfläche des Landes außerhalb industriellen Tagebau als weitere Einkommens- des Yasuní Nationalparks. Wird dies umgesetzt, quelle für den Staat. So unterschrieb er Anfang würde das statt der Umwandlung des extraktiven März 2012 den ersten großen Vertrag mit einem Akkumulationsmodells seine Intensivierung und kanadisch-chinesischen Konzern. Regierungsme- flächenmäßige Ausweitung bedeuten, mit dem dien wie El Telegrafo feierten den Beginn der Ära entsprechenden Verlust an Biodiversität und an des „verantwortlichen Tagebaus”, in dem der Staat Möglichkeiten für einen nachhaltigen Tourismus eine größere Kontrolle über die Branche ausübe. als alternative Einnahmequelle. Die Überwindung Bergbauexperten wie William Sacher oder Alberto des Extraktivismus wird innerhalb der politisch Acosta bezweifeln jedoch, dass es einen verant- recht heterogenen Regierung heute tatsächlich wortlichen Tagebau geben kann. Die Erfahrungen nur noch von einer Minderheitenströmung poli- aus ähnlichen Projekten in Lateinamerika spre- tisch gewollt. Präsident Correa, die einzige Figur, chen jedenfalls dagegen. Es erscheint fraglich, ob die diese von links bis rechts reichenden Strö- die Regierung eines kleinen Staates wie Ecuador mungen zusammenhalten kann, sagte in einer die konkrete Praxis transnationaler Bergbau-Kon- Bilanz der ersten fünf Jahre „Bürgerrevolution“: zerne in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards „Im Grunde machen wir innerhalb desselben Ak- effektiv kontrollieren kann. Diese wechseln näm- kumulationsmodells die Dinge einfach nur besser, lich innerhalb eines hochdynamischen und -speku- denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu lativen Markts extrem häufig ihren Sitz und damit schaden; aber wir haben die Absicht, eine ge- ihre Rechtsform, und sind deshalb juristisch kaum rechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft zu haftbar zu machen. So bleibt die Verantwortung schaffen.” Immer wieder betont der Staatschef, für die entstandenen Schäden an der Umwelt und dass es unverantwortlich wäre, „wie Bettler auf der lokalen Bevölkerung, die nach 25 bis 30 Jah- einem Sack Gold zu sitzen”, indem man Ölfelder ren Tagebau ihre Subsistenzgrundlage verloren oder Kupfervorkommen nicht ausbeute, und be- haben wird, bei der ecuadorianischen Regierung. zeichnet die Gegner des Extraktivismus als „in- Dies macht die Rentabilität des Tagebaus auf lan- fantil”, „fundamentalistisch” oder gar als „Stein- ge Sicht zweifelhaft. zeitmenschen”. Vierzehn weitere Tagebau-Großprojekte stehen Die in der Verfassung verankerten Rechte der VISIONÄRE IDEE MIT HOLPRIGER UMSETZUNG Die Idee hat das Potential, die Logik des Extraktivismus grundlegend in Frage zu stellen: Im Natio- nalpark Yasuní im ecuadorianischen Amazonastiefland lagern in den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha 846 Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) Erdöl – etwa 20 Prozent der gesamten Reserven des Landes. Auf Vorschlag des früheren Erdölministers Alberto Acosta will Ecuador das Erdöl im Boden lassen, sofern von internationaler Seite 3,6 Milliarden US-Dollar aufgebracht werden. Dies entspricht der Hälfte der erwarteten Einnahmen, würde Ecuador das Öl fördern. Das Geld soll nicht in die Staatskasse, sondern in einen Treuhandfonds fließen, welcher der Organisation der Vereinten Nati- onen (UNO) unterstellt ist und aus dem unter anderem alternative Energien und Aufforstungsprojekte gefördert werden sollen. Bliebe das Öl wirklich unter der Erde, hätte das positive Auswirkungen für die in dem Gebiet lebenden Indigenen, die Erhaltung der Biodiversität der Region und das Klima. Internati- onal hat die Yasuní-ITT-Initiative viel Lob erfahren, das finanzielle Engagement potentieller Geber_innen fällt jedoch bescheiden aus. Laut offiziellen Angaben hat Ecuador sein Ziel, bis Ende 2011 100 Millionen US-Dollar einzusammeln, zwar erreicht. In den UN-Treuhandfonds wurden bisher allerdings erst weni- 18 LN-Dossier 6
Natur, ebenfalls Teil der visionären Konzepte, mit kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung denen Ecuador seit Rafael Correa international für alle verfügbar zu machen. bekannt geworden war, erfahren eine recht dürf- Doch wenn auch in der Sozialpolitik ein Wille zu tige und höchst widersprüchliche Umsetzung. mehr Gleichheit zu erkennen ist, wirft der Um- Zwar sind, wie in allen anderen Bereichen des gang der Regierung mit den teils heftigen Konflik- Staates auch, die Mittel für den Umweltschutz ten, die sowohl die Vertiefung des Extraktivismus aufgestockt worden, doch funktioniert das größte als auch der Bau von großen Wasserkraftwerken Waldschutzprogramm Socio Bosque in sehr kon- nach sich ziehen, ernsthafte Zweifel an ihrem ventionellen Bahnen. Es bietet Waldbesitzer_in- Willen auf, auch mehr Freiheit für die ecuadoria- nen Kompensationszahlungen gegen vermiedene nische Bevölkerung zuzulassen. Entwaldung, ganz in der Logik des grünen Kapita- Ein im ersten Halbjahr 2012 von Amnesty Interna- lismus und der Merkantisilierung der Natur, gegen tional veröffentlichter Bericht wirft der Regierung die Correa sich erst kürzlich im Rahmen von Río Correa die systematische Kriminalisierung des +20 ausgesprochen hatte. Auch der Erhalt des Ya- Rechts auf Protest vor. Die Organisation kritisiert, suní-Nationalparks ist inzwischen weitgehend ein dass Strafrechtsparagraphen zu extrem interpre- REDD+-Projekt (siehe Kasten). tierbaren Delikten wie “Terrorismus” und “Sa- Deutlichere Erfolge als in der Überwindung des botage” angewendet werden, die während der Extraktivismus wurden bezüglich der umverteilen- Militärdiktatur der 1970er Jahre eingeführt wur- den Rolle des Staates erzielt. Die durch neue Kon- den. Zehn Personen sitzen aufgrund von Verurtei- ditionen in der Ölförderung, aber auch durch die lungen wegen Terrorismus oder Sabotage bereits hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erzielten Haftstrafen von bis zu 8 Jahren ab, einige sind ab- Einnahmen werden in einer Kombination neolibe- getaucht, und gegen etwa 210 weitere Menschen raler und sozialdemokratischer Instrumente unter wird derzeit noch ermittelt. Auch wenn viele die- die Leute gebracht: Zum einen handelt es sich um ser Ermittlungsverfahren aus Mangel an Bewei- an die Ärmsten gerichtete, konditionierte Transfer- sen letztlich eingestellt werden, wirken sie doch leistungen (der bono de desarrollo humano beträgt einschüchternd und verhindern durch den damit beispielsweise 36 US-Dollar pro Monat), die eine verbundenen hohen Zeit- und Geldaufwand, dass Fortsetzung neoliberaler Abfederungsmaßnahmen indigene und ländliche Aktivist_innen ihr demo- bedeuten, allerdings in größerem Maßstab. Zum kratisches Recht auf Protest wahrnehmen kön- anderen werden aber auch klassisch sozialdemo- nen. Darüber hinaus bemängelt Amnesty, dass kratische Politiken umgesetzt, wie die Einführung Protestierende in aufwendigen Werbekampagnen progressiver Steuern und die Erhöhung der Sozi- von der Regierung als undemokratische Destabili- alausgaben mit dem universalistischen Anspruch, sierer und Putschisten diffamiert werden, wie es ge Millionen eingezahlt. Der Rest besteht etwa aus einem Schuldenerlass über 50 Millionen US-Dollar seitens Italien sowie einem Beitrag Deutschlands von gut 45 Millionen US-Dollar (35 Millionen Euro), der aber ausdrücklich nicht für den Fonds vorgesehen ist. Denn die deutsche Bundesregierung torpediert die ursprüngliche Ausrichtung des Projektes. Während der Bundestag der Yasuní-Initiative im Jahr 2008 die Unterstützung zugesichert hat, lehnt der aktuelle Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, eine Beteiligung an dem UN-Treuhandfonds vehement ab. Er setzt statt- dessen darauf, den Yasuní-Nationalpark durch klassische Projekte der deutschen Entwicklungszusam- menarbeit und den auf Marktmechanismen basierenden Emissionshandel REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degregation) zu schützen. Niebel will nicht für das „Unterlassen” einer Handlung bezahlen und spricht offen davon, einen „Präzedenzfall” verhindern zu wollen. Genau diesen wollen die Befürworter_innen des Projektes jedoch schaffen. Die Idee ließe sich potentiell auch auf ge- plante Bergbau-Projekte anwenden, die als besonders schädlich eingestuft werden. // Tobias Lambert LN-Dossier 6 19
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