DOSSIER VERBOHRTE ENTWICKLUNG - (Neuer) Extraktivismus in Lateinamerika - Lateinamerika Nachrichten

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DOSSIER VERBOHRTE ENTWICKLUNG - (Neuer) Extraktivismus in Lateinamerika - Lateinamerika Nachrichten
DOSSIER
VERBOHRTE ENTWICKLUNG
(Neuer) Extraktivismus in Lateinamerika
// IMPRESSUM
HERAUSGEBER:
FORSCHUNGS- UND DOKUMENTATIONSZENTRUM CHILE-LATEINAMERIKA E.V. UND LATEINAMERIKA NACHRICHTEN

Erscheint als Dossier Nr. 6 innerhalb der LN 459/460 (September/Oktober 2012) sowie als separate Themenbroschüre.
Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten
V.i.S.d.P. Manuel Burkhardt und Tobias Lambert

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Sie wurde veröffentlicht im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Projekts „Just trade?! “. Dieses plädiert im Sinne einer
gerechten und nachhaltigen Entwicklung für eine größere Übereinstimmung von Entwicklungs- und Handelspolitik der EU. Das Projekt
wird getragen von: Ecologistas en Acción (Spanien), FDCL e.V. (Deutschland), Glopolis (Tschechien), Protect the Future (Ungarn) and
Transnational Institute (Niederlande).

    Titelfoto: Olmo Calvo Rodríguez von der argentinischen
    Kooperative Sub [Cooperativa de fotógrafos]
VERBOHRTE ENTWICKLUNG
(NEUER) EXTRAKTIVISMUS IN LATEINAMERIKA

                                                                                                                     Fotos: Nicolás Pousthomis // Sub [Cooperativa de fotógrafos]
     Dieses und folgende Fotos Offener Gold- und Kupfer-Tagebau Bajo La Alumbrera, Provinz Catamarca, Argentinien

4       Ruinöser Ressourcenreichtum // Ein Dossier              24     Weichen gestellt // Der Bergbau soll als
        zur Debatte über (Neuen) Extraktivismus in                     „Lokomotive“ die gesamte kolumbianische
        Lateinamerika                                                  Wirtschaft anschieben, trifft aber auch auf
7       Alte Wege verlassen // Neuer Extraktivismus                    Widerstand
        und der holprige Weg hin zu postextraktivisti-          28     Kupferland in privater Hand // In Chile lagern
        schen Alternativen                                             die größten Kupferreserven der Welt, was seit
10      Venezuela klebt am Öl // Die Dominanz des                      jeher den Wunsch nach Verstaatlichung befördert
        schwarzen Goldes ist in der Wirtschaft unge-            31     „Aus Umbau wurde Kontinuität“ // Interview
        brochen                                                        mit José de Echave, ehemaliger Vize-Umwelt-
14      Die Pacha Mama melken // Die frühere Basis                     minister Perus
        von Evo Morales verliert das Vertrauen, dass            34     Im Schatten der Industrie // Kleinbergbau
        dessen Kabinett wirklich an einem strukturellen                spielt eine wichtige Rolle in Lateinamerika – Ein
        Wandel interessiert ist                                        Überblick
17      Widersprüchliche Bilanz // Ecuadors Regie-              37     Vorerst finito für Infinito Gold // Niederlagen
        rung setzt auf Intensivierung des Extraktivis-                 für Bergbauunternehmen in Costa Rica
        mus mit höheren Sozialausgaben                          40     Rückschlag für Bergbaukonzerne // In Ar-
21      Bohren, was das Zeug hält // Brasiliens                        gentinien ist ein Gletscherschutzgesetz in Kraft
        extraktive Industrien wollen den großen Sprung                 getreten
        wagen
RUINÖSER
RESSOURCENREICHTUM
EIN DOSSIER ZUR DEBATTE ÜBER (NEUEN) EXTRAKTIVISMUS IN LATEINAMERIKA

      Die Ausbeutung von Rohstoffen ist für Lateiname-       in der Verfassung festgeschrieben. Doch jenseits
      rika nichts Neues. Seit der Kolonisation wurde der     von öko-sozialistischen Diskursen hat sich an der
      Kontinent geplündert, die Gewinne flossen in den        Fixierung auf Rohstoffexporte nichts geändert. Im
      globalen Norden. Für die lokale Bevölkerung blie-      Gegenteil nimmt deren Bedeutung als Devisen-
      ben hingegen Armut, Krankheiten und Umwelt-            quelle mit steigenden Staatsausgaben zu.
      schäden. Die Geschichte der hemmungslosen              Der Uruguayer Eduardo Gudynas vom Lateiname-
      Ausbeutung hat der uruguayische Schriftsteller         rikanischen Zentrum für Sozialökologie (CLAES)
      Eduardo Galeano in seinem 1971 erschienenen            charakterisiert die neuen Rohstoffpolitiken der pro-
      Standardwerk Die offenen Adern Lateinamerikas          gressiven Regierungen als „Neo-Extraktivismus”
      eindrücklich geschildert.                              und hat damit in Lateinamerika eine Debatte über
      Seit ein paar Jahren nun wird nun unter dem            die Nachhaltigkeit des extraktiven Wirtschaftsmo-
      Stichwort „Neuer Extraktivismus“ wieder zuneh-         dells ausgelöst. Das Neue am Neo-Extraktivis-
      mend über die negativen Folgen der Rohstoff-           mus ist dabei – laut Gudynas – in erster Linie die
      förderung debattiert. Extraktivismus bedeutet in       größere staatliche Kontrolle über die Einnahmen
      diesem Zusammenhang eine auf höchstmögliche            aus den extraktiven Industrien. Die Ausbeutung
      Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für            der Rohstoffe werde durch die gerechtere Ver-
      den Export ausgerichtete Entwicklungsstrategie.        teilung der Gelder wiederum stärker legitimiert
      Die Koordinaten haben sich allerdings verschoben.      und Kritik daran politisch marginalisiert. Anstatt
      Denn heute erhöhen in vielen Ländern Lateina-          an der Überzeugung festzuhalten, dass möglichst
      merikas (Mitte)-Linksregierungen die staatliche        viele Einnahmen aus dem Rohstoffsektor abge-
      Kontrolle über die Rohstoffe. Dabei ist die globa-     schöpft werden müssten, fordert Gudynas zum
      le Bedeutung Lateinamerikas in diesem Bereich          Nachdenken über Alternativen auf. In der Debatte
      deutlich gestiegen. Lag dessen Anteil am welt-         um eine Überwindung des Extraktivismus geht
      weiten Bergbau 1990 zum Beispiel noch bei zwölf        es ihm dabei nicht darum, künftig sämtliche Roh-
      Prozent, so betrug er 2009 bereits 35 Prozent. Eine    stoffförderung zu unterbinden, wohl aber deutlich
      offen neoliberale Bergbaupolitik verfolgen nur noch    einzuschränken. Da der Weg zu einer post-extrak-
      wenige Länder in Lateinamerika, darunter Chile         tivistischen Ära langwierig sei, müssten Übergan-
      und Kolumbien.                                         ge eingeleitet werden, zu denen zunächst auch
      In Ländern wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador        eine Erhöhung der Kontrolle über die extraktiven
      müssen transnationale Konzerne heute deutlich          Industrien gehöre, wie sie etwa in Venezuela und
      höhere Abgaben entrichten. Mit dem Geld wer-           Bolivien stattgefunden hat. Dabei stellt Gudynas
      den unter anderem Sozialausgaben gesteigert,           auch den herrschenden Entwicklungsbegriff und
      was vielerorts zu einem deutlichen Rückgang der        dessen Linearität radikal in Frage. Statt einer „al-
      Armut und einer Verbesserung des Zugangs zu Bil-       ternativen Entwicklung“ müssten „Alternativen
      dung und Gesundheitseinrichtungen geführt hat.         zu Entwicklung“ diskutiert werden.
      Bolivien und Ecuador haben als gesellschaftliches      Bei aller schlüssigen Kritik am Extraktivismus darf
      Ziel in ihren neuen Verfassungen die Verwirkli-        dabei nicht aus dem Blick geraten, dass sich die
      chung des „guten“ oder „erfüllten Lebens” (buen        progressiven, von einer breiten Bevölkerungs-
      vivir) formuliert, das auf indigenen Wertvorstellun-   mehrheit demokratisch legitimierten Regierungen
      gen basiert. Ecuador hat sogar Rechte der Natur        in einem realpolitischen Umfeld und dem ständi-

4   LN-Dossier 6
gen Kampf um Souveränität befinden. Zwar hat          transnationalen Unternehmen. In vielen Fällen ha-
es in der Geschichte Lateinamerikas immer wie-       ben die Einnahmen aus dem Rohstoff-Export in
der Verstaatlichungen (und teilweise Reprivatisie-   links regierten Länder erst den Horizont für eine
rungen) von rohstofffördernden Industrien gege-      eigenständige Politik geöffnet, die nicht von den
ben. Mit einer derart weitgehenden Rückkehr des      Weisungen der einzelnen Industriestaaten oder
Staates bei gleichzeitigem Anziehen der Rohstoff-    des IWF abhängig ist. Sollten neoliberale Kräfte in
preise, wie in den letzten Jahren, hatte in den      der Region wieder hegemonial werden, würde die
1990er Jahren jedoch kaum jemand gerechnet. In       Rohstoff-Politik weder ökologischer noch sozialer
Folge der Schuldenkrise der 1980er Jahre war den     ausfallen. Die Gewinne wanderten schlicht wie-
meisten lateinamerikanischen Staaten von Welt-       der mehr in die Taschen der Privatwirtschaft. Die
bank und dem Internationalen Währungsfonds           stärkere (sozial-) staatliche Kontrolle über die Roh-
(IWF) als Bedingung für den Erhalt von Krediten      stoffe stellt also durchaus einen ersten Fortschritt
eine Deregulierung der Wirtschaft und Verschlan-     dar – längerfristig praktikabel ist die Fokussierung
kung des Staates auferlegt worden. Dazu gehörte      auf den Rohstoffexport dennoch nicht. In ganz La-
auch die Privatisierung des Bergbausektors. Ein      teinamerika nehmen die sozioökologischen Kon-
neoliberales Investitionsklima sowie eine schwa-     flikte mit Anwohner_innen von Bergbau-Projekten
che Arbeits- und Umweltgesetzgebung zogen            drastisch zu. Gegner_innen der Rohstoffförde-
transnationale Bergbaukonzerne an.                   rung werden als Sympathisant_innen der rechten
Seit den letzten Jahren aber kontrollieren viele     Opposition diffamiert und teilweise kriminalisiert.
Staaten in Lateinamerika die Rohstoffförderung       Das extraktivistische Modell zieht die Vertreibung
wieder stärker. Dabei steht außer Frage, dass,       von Menschen, die Zerstörung von Ökosystemen
wenn schon Rohstoffe gefördert werden, die Ein-      und landwirtschaftlichen Nutzflächen sowie die
nahmen aus dem Geschäft der (marginalisierten)       Verschmutzung von Wasservorräten nach sich.
Bevölkerung zu Gute kommen sollten und nicht         Der in einigen Ländern diskursiv gewünschte

                                                                                                LN-Dossier 6   5
Übergang zu einer produktiven nicht-kapitalisti-        mala sich vom erklärten Ziel einer anderen Roh-
      schen Wirtschaftsweise, scheint durch den Ex-           stoffpolitik abwendete. Ronald Köpke beschreibt
      traktivismus nicht befördert, sondern umgekehrt         anschließend, wie der Kleinbergbau gegenüber
      behindert zu werden.                                    dem industriellen Großbergbau benachteiligt
      Mit dem Dossier Verbohrte Entwicklung werfen            wird, obwohl daran deutlich mehr Menschen fi-
      die Lateinamerika Nachrichten und das FDCL ei-          nanziell partizipieren. Punktuell konnte der zuneh-
      nen Blick auf die aktuelle Situation des Extrakti-      mende Widerstand gegen die industrielle Roh-
      vismus in Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt          stoffförderung bereits Erfolge verzeichnen, die
      dabei auf der Förderung mineralischer und fossi-        über die bloße Aufschiebung einzelner Projekte
      ler Rohstoffe. Zunächst führt Eduardo Gudynas in        hinausgehen und tatsächlich den Extraktivismus
      die Diskussion um den Neuen Extraktivismus ein.         in Frage stellen. In Argentinien verabschiedete
      Martin Ling erläutert am Beispiel des venezolani-       der Kongress im Oktober 2010 ein Gesetz zum
      schen Erdöls die Schwierigkeiten eines Landes,          Schutz der Gletscher, das die Ausbeutung von
      dessen Wirtschaft überwiegend von nur einem             Rohstoffen in festgelegten Gebieten untersagt
      Rohstoff abhängt. Anhand von Texten über Boli-          und einen Rückschlag für die Lobby-Arbeit gro-
      vien, Ecuador und Brasilien thematisieren Thilo F.      ßer Bergbaukonzerne darstellt. Ebenso verhält es
      Papacek, Ximeña Montaño und Christian Russau            sich mit dem im November 2010 beschlossenen
      jeweils beispielhaft die Rohstoffpolitik der (Mitte-)   Verbot aller neuen Projekte des offenen Metall-Ta-
      Linksregierungen. Als Beispiel für eine strikt neo-     gebaus in Costa Rica als erstem Land in Lateina-
      liberale Rohstoffpolitik beschreibt Alke Jenss an-      merika. Antje Krüger und Markus Plate behandeln
      schließend, was es bedeutet, dass die kolumbia-         die beiden Fälle jeweils in ihren Artikeln.
      nische Regierung den Bergbau zur „Lokomotive“           Bei aller Kritik an den Regierungen, Konzernen
      für die Exportwirtschaft erklärt hat. David Rojas-      oder Schwellenländern sollte indes eines klar
      Kienzle zeigt am Beispiel des chilenischen Kupfers      sein: Ohne eine nachhaltige Senkung des Roh-
      auf, dass die Geschichte von Verstaatlichungen im       stoffkonsums im globalen Norden werden Über-
      Rohstoffsektor keineswegs erst in den letzten           gänge zu post-extraktivistischen Modellen kaum
      Jahren begonnen hat. Im Interview geht der pe-          möglich sein. Das auf fortwährendem Wachstum
      ruanische Bergbau-Experte und ehemaliger Vize-          basierendes Wirtschaftsmodell kann aufgrund der
      Umweltminister unter der aktuellen Regierung            Begrenztheit der meisten Rohstoffe sowie der
      Humala, José de Echave, auf die zunehmenden             vielfältigen Krisen des globalisierten Kapitalismus
      Konflikte rund um den Extraktivismus in Peru ein.        (Ernährungs-, Klima-, Energie- und Finanzkrise)
      Als ehemaliges Kabinettsmitglied erläutert er die       nur radikal in Frage gestellt werden.
      Schlüsselmomente, in denen die Regierung Hu-                                               // LN und FDCL

      FOTOS IN DIESEM DOSSIER
      Zwei Fotoreportagen des argentinischen Kollektivs Cooperativa Sub bebildern das vorliegende Dossier.
      Die jungen Fotograf_innen aus Buenos Aires teilen sich neben ihrer Leidenschaft fürs Fotografieren
      auch ihr Büro, eine Internetseite als Portal für ihre Arbeit und ihre Einnahmen.
      Die erste Reportage von Nicolás Pousthomis zeigt den offenen Gold- und Kupfer-Tagebau Bajo La
      Alumbrera nahe des Ortes Belén in der nord-argentinischen Provinz Catamarca. An dem Tagebau
      beteiligt sind das staatliche Bergbauunternehmen YMAD und der transnationale Konzern Alumbrera
      Limited. Dieser besteht aus dem schweizerischen Rohstoffgiganten Xstrata sowie den kanadischen
      Unternehmen Goldcorp Inc. und Northern Orion Resources Inc.
      Die zweite Reportage (ab Seite 15) stammt von Olmo Calvo Rodriguez und zeigt Fotos der Tausenden
      Menschen, die jeden Tag in den Minen von Potosí arbeiten. Diese waren einstmals der wirtschaftliche
      Motor Boliviens, doch jetzt stecken sie in einer schweren Krise. Hunderte Kooperativen beuten die
      alten staatlichen Minen aus – ohne vernünftige Arbeitsmaterialien und eine Beschwerdeinstanz.
      Weitere Reportagen der Kooperative sind zu finden unter: http://sub.coop/

6   LN-Dossier 6
ALTE WEGE VERLASSEN
NEUER EXTRAKTIVISMUS UND DER HOLPRIGE WEG HIN ZU POSTEXTRAKTIVISTISCHEN
ALTERNATIVEN

    Die Ausbeutung von Rohstoffen wird derzeit            in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs
    in ganz Lateinamerika ausgeweitet. Progres-           Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der
    sive Regierungen schöpfen heute zwar einen            Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige
    größeren Anteil der Einnahmen ab und in-              Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als
    vestieren diese in Sozialprogramme. Die so-           zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im
    zialen und ökologischen Auswirkungen sind             Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische
    trotzdem problematisch. Eine Debatte über             Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahl-
    die Zeit nach dem Extraktivismus kommt                versprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut
    langsam in Gang.                                      dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerba-
                                                          sis sowie entgegen der Empfehlungen von Fach-
    Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind        leuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der
    kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhal-   Linken, und verbündet sich stattdessen mit kon-
    te zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der      servativen und wirtschaftsnahen Kreisen.
    Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben         Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für

                                                                                                      LN-Dossier 6   7
Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokultu-       Wirtschaft des Landes anschieben soll.
      ren in der Landwirtschaft sowie andere Formen von     So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung
      Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateiname-    des Extraktivismus in ganz Lateinamerika fest-
      rikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen      stellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die
      Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter        Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen,
      progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Ve-   die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die
      nezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen    Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung
      schwerwiegende soziale und ökologische Konse-         der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung
      quenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoff-       bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer
      preisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer     Förderstätten und die Förderung bisher ungenutz-
      asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber      ter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel
      ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von       Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argenti-
      2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von    nien. Bodenerkundungen finden in immer ent-
      Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau mas-   legeneren und schwerer zugänglichen Gebieten
      siv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten       sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa
      Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen,     im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik-
      mehr als das aller Andenstaaten zusammen.             Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen
      Die globale Gesamtsituation macht die exportori-      gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Mo-
      entierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem ein-    nokulturen werden auf riesige Flächen ausgewei-
      träglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts-      tet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das
      und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt,        bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in
      warum das Kapital sich vielerorts dem Primär-         Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
      sektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie       Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstoff-
      Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon        lieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonial-
      profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung         zeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt
      Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförde-     diese Funktion immer wieder in abgewandelter
      rung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte    Form zurück. Geändert haben sich nur die Grün-
      Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José       de, mit denen die Ausbeutung der natürlichen
      Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz        Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich
      vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden      konservative oder neoliberale Regierungen auf al-
      Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das       te Konzepte von der Rolle des Marktes und von
      Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konser-        ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“
      vative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von      von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist
      der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die         es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu

8   LN-Dossier 6
verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoff-      praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht
ausbeutung doch unlängst noch kritisiert.             nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesam-
Die Regierungslinke hat jedoch einen grundle-         ten Planeten befriedigen könnten. Ökologische
genden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem           Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos,
Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn re-       mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respek-
formiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirt-      tiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden,
schaftswachstum und Wählerbindung.                    wird behauptet, diese könnten technisch gelöst
Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez         werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Ge-
in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich        winne würden die sozialen und ökologischen Schä-
deutlich von vorhergehenden Regierungen unter-        den wettmachen. Die massenweise Förderung von
scheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeich-      Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum
nen konnten, insbesondere im Kampf gegen die          basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaft-
Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass              lichen Wohlstand und steigenden Konsum in den
diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Roh-       urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den
stoffexporte finanziert wurden und den hohen           Städten gibt es riesige Einkaufszentren und margi-
Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue          nalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heu-
Extraktivismus der progressiven Regierungen           te in vorher ungekanntem Ausmaß.
geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staat-   Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Län-
lichen Präsenz einher, beispielsweise durch natio-    dern Debatten über den Ausstieg aus der Abhän-
nale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhe-      gigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Mit-
re Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf     einbezogen wird darin der veränderte politische
Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Vene-       Kontext. In den Debatten kommt die Forderung
zuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar      auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl
für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialpro-     eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungs-
gramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht          konzepte enthalten sein, als auch der politische
über monatliche Transferzahlungen hinausgehen.        Diskurs der progressiven Regierungen eine neue
Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärms-    Richtung einschlagen muss, der bisher Extrakti-
ten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale        vismus als notwendig für die Armutsbekämpfung
Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige    darstellt. In einem Transitionsprozess werden
Zahlungen beschränken.                                post-extraktivistische Strategien als Alternativen
Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von          zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt.
Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökono-       Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt wer-
mien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung        den, um die schwerwiegendsten Auswirkungen
und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig            von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern.
klein geredet oder abgestritten. Diese Situation      Dazu gehören beispielsweise die Schließung be-
macht den Ausbruch von sozialen Protesten ge-         sonders umweltschädlicher Förderstätten oder die
gen den Extraktivismus verständlich. Die Konflikt-     Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Not-
lagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von    wendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen
Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und        auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene
Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kon-        territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbar-
tinuität der Ausbeutung von Natur und des öko-        machung der ökonomischen Kosten von sozialen
nomischen Wachstums ist dermaßen deutlich,            und ökologischen Schäden. Ökologische und öko-
dass selbst linke Präsident_innen sich über sozi-     nomische, soziale und politische Maßnahmen wer-
ale und ökologische Forderungen lustig machen,        den miteinander verknüpft, um die Fokussierung
Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit      auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgrei-
Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen at-      fende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maß-
tackieren. Man solle den Reichtum der Natur des       nahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten
Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen      verbunden werden, um den Ausstieg aus dem ge-
sie, sondern diesen Trend sogar verstärken.           genwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen.
Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt,                                 // Eduardo Gudynas
einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die                     Übersetzung: Sebastian Henning

                                                                                               LN-Dossier 6   9
VENEZUELA KLEBT
AM ÖL
DIE DOMINANZ DES SCHWARZEN GOLDES IST IN DER WIRTSCHAFT UNGEBROCHEN
Venezuelas Präsident Hugo Chávez schmie-
det weiter langfristige Pläne: Im Oktober
2012 stellt er sich zur Wiederwahl und bis
zum Jahr 2019 soll die Ölförderung in Vene-
zuela verdoppelt werden. Damit gerät sein
zu Amtsbeginn im Jahr 1999 ausgegebenes
Vorhaben, die Wirtschaft zu diversifizieren
und die Ölabhängigkeit sukzessiv abzubau-
en, weiter in den Hintergrund.

It’s the oil price, stupid! Auf die Entwicklung des
Ölpreises könnte sich Venezuelas Präsident Hu-
go Chávez berufen, wenn er begründen müsste,
warum Venezuelas Wirtschaft allen Diversifizie-
rungsbemühungen zum Trotz immer noch extrem
vom Schwarzen Gold abhängt. Ölexporte machen
nach wie vor rund 90 Prozent der Exporterlöse
des Mitglieds der Organisation Erdölexportieren-
der Länder (OPEC) aus, die Öl- und Gasindustrie
ist für etwa ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts
verantwortlich und trägt rund die Hälfte zu den
Staatseinnahmen bei.
Als Chávez im zweiten Halbjahr 1998 seine erste
Wahl gewann, dümpelte der Ölpreis im Zuge der
Asienkrise bei rund zehn US-Dollar pro Barrel (Ein
Barrel sind 159 Liter). Kein Wunder, dass Chávez
schon zu Beginn seiner Amtszeit 1999 verkünde-
te, dass er neben der Neuordnung der Ölgesell-
schaft PdVSA auch Landwirtschaft, Industrie und
Tourismus neu ausrichten werde, um dem Auf
und Ab des Ölpreises mit all seinen Konsequen-
zen für die venezolanische Konjunktur weniger
ausgeliefert zu sein.
Doch so tief wie im Jahr 1998 steht der Ölpreis
schon lange nicht mehr: Der Trend geht eindeu-
tig nach oben. Dafür sorgt zum einen die ge-
nerelle Begrenztheit der Vorkommen, die im so
genannten Peak Oil kulminieren, dem Punkt an
dem das Globale Ölfördermaximum erreicht ist,
bevor es unweigerlich nach unten geht. Dieser
Punkt ist nicht exakt wissenschaftlich bestimm-
bar, auch weil immer wieder neue Ölvorkommen
entdeckt werden, die meist jedoch aufwändi-
ger Fördermethoden bedürfen. Die Produktion
eines Fasses Rohöls auf neu erschlossenen
Feldern kostet im weltweiten Durchschnitt zwi-
schen 50 und 80 US-Dollar – bei den alten Fel-
dern im saudischen Wüstensand liegen sie bei
zwei bis drei US-Dollar.
Hinzu kommen politische Faktoren, wobei vor al-
lem Krisen die Preise beeinflussen. Letztes Jahr

                                        LN-Dossier 6   11
war es insbesondere der Bürgerkrieg in Libyen,       ela dem petrochemischen Sektor.
      derzeit sind es die israelischen Drohungen mit       In Venezuela hat die Holländische Krankheit un-
      einem Militärschlag gegen den Iran, die für Un-      ter anderem die einheimische Landwirtschaft
      ruhe sorgen und zudem Spekulant_innen auf den        befallen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf be-
      Plan rufen. Ein Barrel der Nordseesorte Brent zur    trächtliche Nahrungsmittelimporte angewiesen,
      Auslieferung im Oktober kostete am 27. August        obwohl es potenziell an geeigneten Agrarflächen
      114,82 US-Dollar. Die Preise steigen, obwohl we-     nicht fehlt. So ist Venezuela das einzige südame-
      gen der schwächelnden Weltkonjunktur und da-         rikanische Land mit einer negativen Agrarbilanz.
      mit einhergehender sinkender Gesamtnachfrage         Im Jahr 2010 standen Agrarexporten von 59 Mil-
      eigentlich ein Preisrückgang zu erwarten wäre.       lionen US-Dollar rund 5 Milliarden US-Dollar Im-
      Vom Rekordhoch von 147,50 US-Dollar im Som-          porte gegenüber, belegen die Zahlen der Latein-
      mer 2008 sind die Preise zwar noch weit entfernt,    amerikanischen Integrationsvereinigung ALADI.
      doch sie sind hoch genug, um den Druck auf           Egal ob Fleisch, Milch, Getreide, Fette oder Öle:
      Venezuela zu mildern. Die mühseligen Diversifi-       Venezuela ist Nettoimporteur. Laut dem venezo-
      zierungsversuche drohen so einmal mehr auf die       lanischen Statistikamt INE sind in den vergange-
      lange Bank geschoben zu werden.                      nen 13 Jahren die Nahrungsmittelimporte um 230
      Wie stark Venezuelas Wirtschaftsentwicklung mit      Prozent gestiegen und haben sich damit mehr als
      dem Ölpreis verbunden ist, lässt sich in den Jah-    verdreifacht.
      ren seit der Pleite der Investmentbank Lehman        Dabei war die Regierung Chávez nicht untätig.
      Brothers im September 2008 nachzeichnen. Der         Schon im Jahr 2001 wurde mit einem Landgesetz
      globale Wirtschaftseinbruch in den beiden Folge-     der Weg für eine Agrarreform geebnet. Das Natio-
      jahren ging mit sinkenden Ölpreisen einher, die      nale Landinstitut INTI verteilte in den Jahren 2003
      zwischenzeitlich lediglich 30 bis 40 US-Dollar pro   und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar brach-
      Barrel betrugen und bescherten Venezuela eine        liegendes Staatsland an Kooperativen, danach
      kräftige Rezession von 3,2 Prozent im Jahr 2009      wurden noch über 100.000 landlose Familien mit
      und 1,5 Prozent im Folgejahr. Erst nachdem der       enteignetem ungenutztem Privatland ausgestat-
      Ölpreis wieder stieg, erholte sich auch die vene-    tet. Mit dem Plan Zamora greift die Regierung
      zolanische Wirtschaft und verzeichnete im Jahr       seit dem Jahr 2003 Kleinbauern und -bäuerinnen
      2011 wieder ein Wachstum von 4,2 Prozent, dass       mit Krediten, Bildungsangeboten, Investitionen
      dieses Jahr vermutlich sogar übertroffen wird.       in Vertriebswege, Häuserbau, Wasser und Infra-
      Das grundlegende Problem Venezuelas ist die          struktur unter die Arme. All dies hat zwar die na-
      sogenannte Holländische Krankheit. In den Nie-       tionale Produktion bei Agrargütern nach Angaben
      derlanden wurde in den 1960er Jahren nach            der Regierung von 1999 bis 2011 um 44 Prozent
      dem überraschenden Fund reichhaltiger Erdgas-        nach oben getrieben, doch noch kräftiger wuchs
      vorkommen zum ersten Mal festgestellt, dass          die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum
      sich Rohstoffreichtum in einen Fluch verwandeln      der ärmeren Bevölkerungsschichten. Venezuela
      kann. Der Zufluss von reichlich US-Dollar aus dem     muss so immer noch rund 70 Prozent seiner Le-
      Rohstoffexport führt zu einer Aufwertung der         bensmittel einführen.
      eigenen Währung. Der angenehme Aspekt dar-           Mit den Währungsabwertungen in den Jahren
      an ist, dass sich die Importkapazität des Landes     2010 und 2011 hat sich die Konkurrenzfähigkeit
      erhöht, sprich sich das Land mehr Güterimporte       der heimischen Landwirtschaft und Industrie
      leisten kann. Der negative und schwer wiegende       zwar wieder verbessert, jedoch nicht in einem
      Nachteil besteht darin, dass einheimische Produ-     Maße, das die vorangegangene jahrelange Über-
      zent_innen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren,        bewertung kompensiert. Der Wechselkurs war
      sowohl gegenüber Importeuren als auch auf dem        bis 2010 bei 2,15 Bolívar pro US-Dollar festge-
      Weltmarkt, sofern es sich um Unternehmen han-        zurrt und das, obwohl Venezuela hohe Inflati-
      delt, die etwas anderes als Rohstoffe exportieren.   onsraten von weit über 20 Prozent verzeichnete
      Der Verlust an Arbeitsplätzen in jenen Sektoren      und damit weit höhere als die USA mit der Re-
      ist fast unumgänglich. Die ganze Volkswirtschaft     ferenzwährung. Nur mittels Dollarverkäufen und
      bekommt so mehr und mehr Schlagseite in Rich-        Devisenkontrollen der Zentralbank konnte der
      tung des dominanten Rohstoffsektors, in Venezu-      Bolívar mehr schlecht als recht auf diesem Ni-

12   LN-Dossier 6
veau gehalten werden. Im Jahr 2010 wurde die       Sozialprogramme durchzuführen. Die Ölgesell-
Währung auf 4,3 Bolívar pro US-Dollar abgewer-     schaft PdVSA fungiert seit dem Jahr 2003 auch
tet. Zum Jahresbeginn 2011 schaffte die Chávez-    als eine Art Sozialministerium, die aus dem eige-
Administration dann noch den Vorzugswech-          nen Haushalt Sozialprogramme wie die misiones
selkurs von 2,6 Bolívar je US-Dollar ab. Damit     finanziert – die unter anderem von Bildung (mi-
wurde bis dato der Import von Lebensmitteln        sión Robinson und misión Ribas) über Gesundheit
und Medikamenten sowie bestimmten Investiti-       (misión barrio adentro) bis hin zur Versorgung mit
onsgütern wie Maschinen subventioniert. Auch       subventionierten Lebensmitteln (misión mercal)
hier gilt seitdem der offizielle Wechselkurs von    reichen. Im Jahr 2011 flossen fast 40 Milliarden
4,3 Bolívar pro US-Dollar.                         US-Dollar in Sozialprogramme und Sonderfonds
Der Holländischen Krankheit und der Überbe-        des Präsidenten.
wertung könnte durch eine gezielte Strategie der   Die Öldollar gleichzeitig aufzuschatzen und aus-
Unterbewertung seitens der venezolanischen         zugeben, geht logischerweise nicht. Venezuela
Zentralbank begegnet werden. Dafür müssten         wäre entwicklungsökonomisch allerdings gut
die Devisenzuflüsse in ihrer Wirkung auf die hei-   beraten, künftig zumindest einen Teil der Ölein-
mische Geldmenge und Währung so weit wie           nahmen langfristig anzulegen, um auf Sicht ei-
möglich sterilisiert werden, indem sie in einen    nen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer
Zukunftsfonds fließen und dort langfristig ange-    Stärkung des Binnensektors zu erreichen. Dazu
legt werden. Ein solches Modell praktiziert Nor-   bedarf es neben der Unterbewertungsstrategie
wegen mit beachtlichem Erfolg. Im dortigen Öl-     einer selektiven Protektion, bei der die Zollsät-
fonds werden seit dem Jahr 1990 die enormen        ze mit dem Verarbeitungsgrad ansteigen. Da-
Erträge aus dem Ölexport angelegt. Dies ge-        mit könnte Venezuela das erreichen, was bisher
schieht ausschließlich auf ausländischen Märk-     verfehlt wurde: eine breitere Produktpalette der
ten, um ein Überhitzen der inländischen Wirt-      heimischen Wirtschaft und eine konkurrenzfähige
schaft und einer Aufwertung der Norwegischen       Binnenmarktentwicklung. Die Weichen in diese
Krone entgegenzuwirken.                            Richtung müssen indes noch gestellt werden.
Angesichts der enormen sozialen Schuld, die in     Chávez Ankündigung vor wenigen Wochen, bis
Venezuela über die vergangenen Jahrzehnte ak-      zum Jahr 2019 die Ölförderung in Venezuela ver-
kumuliert wurde, ist ein solches Modell in Vene-   doppeln zu wollen, spricht nicht für eine schnelle,
zuela wohl schwer politisch durchsetzbar. Chávez   fundierte Kursänderung.
nützt die Öleinnahmen schließlich bisher dazu,                                         // Martin Ling
DIE PACHA MAMA MELKEN
DIE FRÜHERE BASIS VON EVO MORALES VERLIERT DAS VERTRAUEN, DASS DESSEN KABI-
NETT WIRKLICH AN EINEM STRUKTURELLEN WANDEL INTERESSIERT IST

      Boliviens Regierung trat mit dem Verspre-             aktuellen politischen Situation in Bolivien. Zahlrei-
      chen an, ein neues Wirtschaftsmodell ein-             che wichtige Diskussionen gingen von diesem
      zuführen, das sich an den Bedürfnissen von            Medium aus. Früher galt die Seite als ausgespro-
      Mensch und Umwelt orientiert. In der Praxis           chen MAS-nah, doch dieses Verhältnis hat sich
      entpuppt sich die Regierungspolitik aber als          nun gewandelt.
      Neo-Extraktivismus, der sich von den Wirt-            Sehr viele Vertreter_innen von indigenen und an-
      schaftsmodellen früherer Regierungen des              deren sozialen Bewegungen beklagen, dass die
      Landes nur wenig unterscheidet.                       MAS den historischen Prozess des Wandels in
                                                            Bolivien verraten hätte. Deutliche Worte findet
      „TIPNIS ist das schwarze Loch der Regierung“, ur-     der Aymara-Aktivist und Soziologe Pablo Mamani
      teilt Raúl Prada in einem Beitrag für die Internet-   Ramírez. Unter Evo Morales habe sich der „Präsi-
      seite bolpress.com. Der ehemalige Vizeminister        dentenpalast in eine Festung der indigenen Auf-
      für strategische Planung gehört seit Mitte 2010 zu    standsbekämpfung verwandelt. [...] Die Träume
      den linken Kritiker_innen des bolivianischen Präsi-   hunderter Männer und Frauen auf einen besseren
      denten Evo Morales. Mit dem „schwarzen Loch“          Tag wurden verraten“, schrieb er in einem Beitrag
      meint er, dass der Konflikt um das indigene Terri-     für das Internet-Portal.
      torium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé (TIP-     Der bessere Tag, auf den so viele indigene Be-
      NIS) droht, jedes Prestige der Regierung und ihren    wegungen gehofft hatten, sollte zu einem „erfüll-
      Anspruch, die indigene Bevölkerungsmehrheit des       ten Leben“ führen. Das Konzept des „erfüllten“
      Landes zu repräsentieren, zu schlucken: „Der Konf-    oder „guten Lebens“ (buen vivir) ist die zentrale
      likt um TIPNIS hat der Regierung alles abverlangt.“   Forderung der indigenen Bewegungen – und der
      Die Regierung wollte im vergangenen Jahr be-          Regierung. Es soll eine Alternative zu klassischen
      reits eine Überlandstraße durch das per Gesetz        Entwicklungsmodellen bieten. Was das buen vivir
      „unantastbare“ Schutzgebiet bauen lassen, was         genau bedeutet, ist nicht klar. Einfacher lässt sich
      aber enorme Proteste provozierte (siehe zum           sagen, was es nicht sein soll: Die Unterordnung
      Beispiel LN 449, 450 und 456). Die Demonstra-         von Politik und Wirtschaft unter Profitstreben und
      tionen gingen von Gruppen aus, die einst zu den       den Maßgaben kapitalistischer Wertschöpfung.
      wichtigsten Verbündeten der Regierungspartei          Konkret sollte sich diese neue Wirtschaftsweise
      Bewegung zum Sozialismus (MAS) zählten und            nicht zuletzt in der Abkehr vom Extraktivismus äu-
      erzwangen einen vorläufigen Baustopp. Derzeit          ßern. Seit der Kolonialzeit ist Boliviens Wirtschaft
      läuft eine Volksbefragung zum Straßenbaupro-          auf die Ausbeutung von Bodenschätzen ausge-
      jekt, die bis zum 10. September abgeschlossen         richtet, alle negativen Folgen für Menschen und
      sein soll. „Der Kampf um den Erhalt des TIPNIS        Umwelt wurden dem Bergbau untergeordnet. In
      ist ein Kampf um die Fortsetzung des Prozesses“,      den Diskussionen zum buen vivir wird dagegen
      schreibt Prada weiter. Er meint den Prozess des       der Respekt vor Pacha Mama, der Mutter Erde,
      Wandels in Bolivien, für den die Regierung Mora-      betont und gefordert.
      les einst stand.                                      Doch genau diese Ideen, so sagen linken Kritiker_
      Auf der Internetseite bolpress.com häufen sich        innen, verfolge die Regierung nicht mehr. Ihre Aus-
      derartige kritische Aussagen über die Regierung.      sagen zum buen vivir und zum Respekt vor Pacha
      Auf diesem Forum publizieren einflussreiche Ak-        Mama seien nurmehr Lippenbekenntnisse. Die
      tivist_innen, Sozialwissenschaftler_innen und         meisten großen Regierungsprojekte seien zu sehr
      Politiker_innen Analysen und Meinungsartikel zur      im alten Entwicklungsdenken verhaftet. Diese Kri-

14   LN-Dossier 6
Fotos: Olmo Calvo Rodríguez // Sub [Cooperativa de fotógrafos]
  Dieses und folgende Fotos Minenarbeiter in Potosí, Bolivien

tik ist leicht nachvollziehbar. Ob es der geplante      dem verhältnismäßig guten Wirtschaftswachstum
Abbau von Lithium ist, aus dem Batterien für Elek-      der letzten Jahre in zahlreiche Sozialprogramme
torautos gebaut werden sollen, oder diverse Stau-       investiert, die nach brasilianischen Vorbild einge-
dammprojekte im Amazonasgebiet oder die wei-            führt wurden. Ein Beipiel dafür sind Beihilfen für
tere Erschließung von Erdöl- und Gasquellen: Die        arme Familien mit Kindern (etwa der Bono Juan-
großen Wirtschaftspläne der Regierung setzen vor        cinto Pinto). Zahlreiche arme indigene Gemein-
allem auf den Abbau von Ressourcen, den Ausbau          den auf dem Land haben dank staatlicher Investi-
von Infrastruktur und Industrialisierung.               tionen erstmals Zugang zu sauberen Trinkwasser
Großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik Bolivi-       erhalten. Derartige Hilfsprogramme erklären die
ens hat das Komitee zur Verteidigung des Natio-         nach wie vor hohe Popularität der Regierung Mo-
nalen Erbes (CODEPANAL), das dem staatlichen            rales in vielen indigenen Landgemeinden.
Erdölkonzern YPFB nahe steht. Es setzt über-            Einige, wie der Soziologe Mamani, kritisieren aber
wiegend auf konventionelles Wirtschaftswachs-           gerade diese Hilfsprogramme: Hilfen kämen vor
tum. Doch dieses soll vom Staat ausgehen. Die           allem den Gemeinden zugute, die sich gut mit der
„progressive Ausweisung transnationaler Erdöl-,         Regierung stellen. So werde die indigene Bewe-
Erdgas- und Bergbauunternehmen“ und ihre Er-            gung Boliviens gespalten. Er sieht den Grund für
setzung durch „eigene staatliche Unternehmen“           den sich abzeichnenden Erfolg der Regierung bei
steht an erster Stelle in der Liste der Ziele von       der Volksabstimmung über das TIPNIS weniger in
CODEPANAL. Diese antiimperialistisch orientier-         der Zustimmung der dortigen Bevölkerung für das
te Verstaatlichungspolitik soll erreichen, dass die     Straßenprojekt. Vielmehr seien es die Geschenke
Gewinne aus dem Geschäft im Land bleiben und            seitens der Regierung, die die Bevölkerung auf
der Bevölkerung zu Gute kommen.                         Regierungslinie bringen.
In der Tat hat die Regierung die Einnahmen aus          Ob die Hilfsprogramme wirklich eine Art Beste-

                                                                                                LN-Dossier 6                                 15
chung der indigenen Gemeinden darstellen, mag             2006 trägt den Namen „Helden des Chaco“. Schon
       umstritten sein. Sie bieten der Regierung jedoch          der Name erinnert an den Einzug der Erdölkonzes-
       ohne Zweifel die Möglichkeit, für mehr Akzeptanz          sionen des US-Unternehens Standard Oil im Jahr
       für die Entwicklungsprojekte zu werben. Exemp-            1937, eine direkte Folge des Chaco-Kriegs (1932-
       larisch zeigt dies eine Rede von Evo Morales, vom         1935). Bereits die damaligen Regierungen des so-
       August 2011: „Wenn wir Straßen bauen wollen,              genannten „militärischen Sozialismus“ versuchten,
       sind einige Brüder dagegen. Wenn wir als Regie-           die Einnahmen aus der Erdölförderung der armen
       rung mehr Erdgas oder Erdöl fördern wollen, dass          Bevölkerungsmehrheit zugute kommen zu lassen.
       die Pacha Mama uns gibt, wollen das auch einige           Ein ähnliches Muster verfolgte die Verstaatlichung
       Brüder nicht. Wenn wir Wasserkraftwerke bauen             der Zinnminen im Jahr 1952. Doch eine staatliche
       wollen, sind einige Brüder dagegen. Wovon soll            Kontrolle des Extraktivismus bedeutet nicht, dass
       Bolivien denn leben?“                                     weniger Umweltschäden entstehen.
       So verweist die Regierung auch im Konflikt um              So schreibt Rebecca Hollender von der Sozial- und
       die Straße durch das TIPNIS auf den vermeintli-           Umweltorganisation Klimawandel und Gerechtig-
       chen Nutzen für die Bevölkerung. Über die Straße          keit (ccjusticia) auf bolpress.com, dass die aktuelle
       bekämen die indigenen Gemeinden in dem Ge-                Ressourcenpolitik Boliviens ein direktes Hindernis
       biet besseren Zugang zum Gesundheits- und Bil-            auf dem Weg zum buen vivir darstelle: „Das neo-
       dungswesen. Kritiker_innen sehen dagegen den              extraktivistische Modell ist nur ein geringer Fort-
       Bau der Straße als ersten Schritt zu Erschließung         schritt gegenüber dem, was vorher herrschte: Das
       weiterer Erdgasquellen im Naturschutzgebiet. Sie          klassische extraktivistische Modell, das seit 500
       befürchten, dass auf der Straße weniger Schul-            Jahren eine Schneise der Zerstörung durch Um-
       busse und Krankenwagen fahren werden als                  welt und Gesellschaften in Lateinamerika gezogen
       Lastwagen, die Tropenhölzer und Kokablätter von           und die Länder ökonomisch vom Export von Roh-
       illegal gerodeten Flächen aus dem fragilen Regen-         stoffen abhängig gemacht hat.“
       waldgebiet abtransportieren. Die Kritiker_innen           Doch solcher Kritik am Neo-Extraktivismus spre-
       der Regierung hinterfragen grundsätzlich, ob Erd-         chen Regierungsvertreter_innen jegliche Legi-
       ölförderung und Industrialisierung überhaupt mit          timation ab. Der Soziologe Eduardo Paz Rada
       den Interessen der Bevölkerung und der Natur in           unterstellt seinerseits Kritiker_innen der Ent-
       Einklang zu bringen ist.                                  wicklungspolitik, den revolutionären Wandel im
       Doch Industrialisierung ist das erklärte Ziel der re-     Land zu verraten. In einem Artikel mit dem Titel
       gierungsnahen CODEPANAL. Im vergangenen Ok-               „Ein falsches Dilemma: Neo-Extraktivismus ge-
       tober publizierte die Organisation einen Entwick-         gen Umweltschutz“, der auch auf bolpress.com
       lungsplan für die Zeit von 2011 bis 2021. Ziel ist, die   erschien, schreibt er, dass sich multinationale
       Energieproduktion Boliviens zu vervielfachen. Da-         Unternehmen und Umweltorganisationen mitein-
       für sollen Wasserkraftwerke gebaut werden, was            ander verschworen hätten: „Beide Pole sind Teil
       im Regenwaldgebiet Madidi im Nordosten des                der imperialistischen Strategie, die wichtigsten
       Landes geplant ist. Dies sei eine „Mindestanforde-        Ressourcen des Planeten zu kontrollieren.“
       rung, um aus der Dritten Welt in die industrialisierte    So scheinen sich soziale Bewegungen und Re-
       Zweite Welt aufzusteigen“, wie es im Text von CO-         gierung in Bolivien deutlich entzweit zu haben.
       DEPANAL heißt. Das buen vivir fordert eigentlich          Doch trotz dieser Konflikte, schreibt Pablo Mama-
       die Abkehr von derartigen Hierarchisierungen in           ni Ramirez in seinem Artikel, sei der Prozess des
       „Dritte“ und „Zweite“ Welt, die eine „nachholende         Wandels in Bolivien noch nicht tot: „Wenn man
       Entwicklung“ implizieren. In den Debatten um das          meinen Artikel liest, könnte man das glauben.“
       buen vivir geht es eigentlich darum, ob angesichts        Der Prozess müsse nur wieder von den sozialen
       der Klimaerwärmung Pacha Mama nicht besser                und indigenen Organisationen ausgehen, und er
       gedient wäre, wenn man ihr Gas und Öl da lässt,           glaubt, dass dies auch geschehe: „Die Bevölke-
       wo es ist, und ihre Flüsse nicht anstaut.                 rung hat sich erhoben und ist nicht bereit, sich
       Diese Ignoranz bemängeln immer mehr soziale Ak-           wieder niederzuknien.“ Auch nicht vor einer sich
       tivist_innen an der Regierung. Zudem stellt sich die      indigen gebenden Regierung.
       Frage, wie neu der Neo-Extraktivismus eigentlich                                          // Thilo F. Papacek
       ist. Das Dekret zur Nationalisierung des Erdöls von

16   LN-Dossier 6
WIDERSPRÜCHLICHE BILANZ
ECUADORS REGIERUNG SETZT AUF INTENSIVIERUNG DES EXTRAKTIVISMUS MIT HÖHEREN
SOZIALAUSGABEN

    Ecuadors Plan Nacional para el Buen Vivir,          Wirtschaft zu einem neuen Modell vor.
    der Entwicklungsplan 2009-2013, setzte sich         Wie weit ist dieser Umbau heute, im sechsten
    zwei große Ziele: Die Rückkehr des Staates          Jahr der Regierung von Präsident Rafael Correa,
    als Instanz der Umverteilung und den Über-          gediehen? Die Förderung und der Export von
    gang zu einem neuen Wirtschaftsmodell. Die          Öl haben heute wirtschaftlich dasselbe Gewicht
    Ergebnisse sind ambivalent.                         wie in der Ära des Erdölbooms der 1970er Jahre.
                                                        Der Staatshaushalt ist in hohem Maße von die-

    René Ramirez, früherer Planungsminister, schrieb    sem Wirtschaftszweig abhängig. 2010 machten
    im Jahr 2010 im Hinblick auf Ecuadors Entwick-      Rohstoffe mit etwa 77 Prozent immer noch über
    lungsstrategie, dass „das größte Alleinstellungs-   drei Viertel des Exportvolumens aus, gegenüber
    merkmal Ecuadors seine Biodiversität ist, und       lediglich 23 Prozent exportierter Produkte aus der
    sein größter Wettbewerbsvorteil darin liegt, sie    verarbeitenden Industrie. Tourismus, Dienstleis-
    durch ihren Erhalt und den Aufbau von Bio- und      tungen und Landwirtschaft befinden sich, anstatt
    Nanotechnologie zu nutzen.” Der derzeit gültige     zu expandieren, eher in einer leichten Rezession.
    Entwicklungsplan 2009-2013 sieht als Hauptzie-      Die Agrarpolitik setzt auf industrielle Produktion
    le eine umverteilende Politik und den Umbau der     für den Export oder für Supermarktketten, und

                                                                                               LN-Dossier 6   17
benachteiligt die Kleinbauern und -bäuerinnen.       auf der Prioritätenliste von Ressourcenminister
      Anstatt ein neues Wirtschaftsmodell zu entwi-        Wilson Pastor, vier davon sind bereits fortge-
      ckeln, weitet die Regierung das alte Akkumula-       schritten. Ebenso vorgesehen ist die Ausweitung
      tionsmodell aus. Obwohl Ecuador kein Land ist,       der Ölförderung auf den Südosten des ecuado-
      in dem Bergbau traditionell eine relevante Rolle     rianischen Amazonasgebiets, der einzigen relativ
      gespielt hätte, setzt die Regierung Correa nun auf   intakten Regenwaldfläche des Landes außerhalb
      industriellen Tagebau als weitere Einkommens-        des Yasuní Nationalparks. Wird dies umgesetzt,
      quelle für den Staat. So unterschrieb er Anfang      würde das statt der Umwandlung des extraktiven
      März 2012 den ersten großen Vertrag mit einem        Akkumulationsmodells seine Intensivierung und
      kanadisch-chinesischen Konzern. Regierungsme-        flächenmäßige Ausweitung bedeuten, mit dem
      dien wie El Telegrafo feierten den Beginn der Ära    entsprechenden Verlust an Biodiversität und an
      des „verantwortlichen Tagebaus”, in dem der Staat    Möglichkeiten für einen nachhaltigen Tourismus
      eine größere Kontrolle über die Branche ausübe.      als alternative Einnahmequelle. Die Überwindung
      Bergbauexperten wie William Sacher oder Alberto      des Extraktivismus wird innerhalb der politisch
      Acosta bezweifeln jedoch, dass es einen verant-      recht heterogenen Regierung heute tatsächlich
      wortlichen Tagebau geben kann. Die Erfahrungen       nur noch von einer Minderheitenströmung poli-
      aus ähnlichen Projekten in Lateinamerika spre-       tisch gewollt. Präsident Correa, die einzige Figur,
      chen jedenfalls dagegen. Es erscheint fraglich, ob   die diese von links bis rechts reichenden Strö-
      die Regierung eines kleinen Staates wie Ecuador      mungen zusammenhalten kann, sagte in einer
      die konkrete Praxis transnationaler Bergbau-Kon-     Bilanz der ersten fünf Jahre „Bürgerrevolution“:
      zerne in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards       „Im Grunde machen wir innerhalb desselben Ak-
      effektiv kontrollieren kann. Diese wechseln näm-     kumulationsmodells die Dinge einfach nur besser,
      lich innerhalb eines hochdynamischen und -speku-     denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu
      lativen Markts extrem häufig ihren Sitz und damit     schaden; aber wir haben die Absicht, eine ge-
      ihre Rechtsform, und sind deshalb juristisch kaum    rechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft zu
      haftbar zu machen. So bleibt die Verantwortung       schaffen.” Immer wieder betont der Staatschef,
      für die entstandenen Schäden an der Umwelt und       dass es unverantwortlich wäre, „wie Bettler auf
      der lokalen Bevölkerung, die nach 25 bis 30 Jah-     einem Sack Gold zu sitzen”, indem man Ölfelder
      ren Tagebau ihre Subsistenzgrundlage verloren        oder Kupfervorkommen nicht ausbeute, und be-
      haben wird, bei der ecuadorianischen Regierung.      zeichnet die Gegner des Extraktivismus als „in-
      Dies macht die Rentabilität des Tagebaus auf lan-    fantil”, „fundamentalistisch” oder gar als „Stein-
      ge Sicht zweifelhaft.                                zeitmenschen”.
      Vierzehn weitere Tagebau-Großprojekte stehen         Die in der Verfassung verankerten Rechte der

      VISIONÄRE IDEE MIT HOLPRIGER UMSETZUNG
      Die Idee hat das Potential, die Logik des Extraktivismus grundlegend in Frage zu stellen: Im Natio-
      nalpark Yasuní im ecuadorianischen Amazonastiefland lagern in den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini
      und Tambococha 846 Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) Erdöl – etwa 20 Prozent der gesamten
      Reserven des Landes. Auf Vorschlag des früheren Erdölministers Alberto Acosta will Ecuador das Erdöl
      im Boden lassen, sofern von internationaler Seite 3,6 Milliarden US-Dollar aufgebracht werden. Dies
      entspricht der Hälfte der erwarteten Einnahmen, würde Ecuador das Öl fördern. Das Geld soll nicht in
      die Staatskasse, sondern in einen Treuhandfonds fließen, welcher der Organisation der Vereinten Nati-
      onen (UNO) unterstellt ist und aus dem unter anderem alternative Energien und Aufforstungsprojekte
      gefördert werden sollen. Bliebe das Öl wirklich unter der Erde, hätte das positive Auswirkungen für die
      in dem Gebiet lebenden Indigenen, die Erhaltung der Biodiversität der Region und das Klima. Internati-
      onal hat die Yasuní-ITT-Initiative viel Lob erfahren, das finanzielle Engagement potentieller Geber_innen
      fällt jedoch bescheiden aus. Laut offiziellen Angaben hat Ecuador sein Ziel, bis Ende 2011 100 Millionen
      US-Dollar einzusammeln, zwar erreicht. In den UN-Treuhandfonds wurden bisher allerdings erst weni-

18   LN-Dossier 6
Natur, ebenfalls Teil der visionären Konzepte, mit    kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung
denen Ecuador seit Rafael Correa international        für alle verfügbar zu machen.
bekannt geworden war, erfahren eine recht dürf-       Doch wenn auch in der Sozialpolitik ein Wille zu
tige und höchst widersprüchliche Umsetzung.           mehr Gleichheit zu erkennen ist, wirft der Um-
Zwar sind, wie in allen anderen Bereichen des         gang der Regierung mit den teils heftigen Konflik-
Staates auch, die Mittel für den Umweltschutz         ten, die sowohl die Vertiefung des Extraktivismus
aufgestockt worden, doch funktioniert das größte      als auch der Bau von großen Wasserkraftwerken
Waldschutzprogramm Socio Bosque in sehr kon-          nach sich ziehen, ernsthafte Zweifel an ihrem
ventionellen Bahnen. Es bietet Waldbesitzer_in-       Willen auf, auch mehr Freiheit für die ecuadoria-
nen Kompensationszahlungen gegen vermiedene           nische Bevölkerung zuzulassen.
Entwaldung, ganz in der Logik des grünen Kapita-      Ein im ersten Halbjahr 2012 von Amnesty Interna-
lismus und der Merkantisilierung der Natur, gegen     tional veröffentlichter Bericht wirft der Regierung
die Correa sich erst kürzlich im Rahmen von Río       Correa die systematische Kriminalisierung des
+20 ausgesprochen hatte. Auch der Erhalt des Ya-      Rechts auf Protest vor. Die Organisation kritisiert,
suní-Nationalparks ist inzwischen weitgehend ein      dass Strafrechtsparagraphen zu extrem interpre-
REDD+-Projekt (siehe Kasten).                         tierbaren Delikten wie “Terrorismus” und “Sa-
Deutlichere Erfolge als in der Überwindung des        botage” angewendet werden, die während der
Extraktivismus wurden bezüglich der umverteilen-      Militärdiktatur der 1970er Jahre eingeführt wur-
den Rolle des Staates erzielt. Die durch neue Kon-    den. Zehn Personen sitzen aufgrund von Verurtei-
ditionen in der Ölförderung, aber auch durch die      lungen wegen Terrorismus oder Sabotage bereits
hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erzielten      Haftstrafen von bis zu 8 Jahren ab, einige sind ab-
Einnahmen werden in einer Kombination neolibe-        getaucht, und gegen etwa 210 weitere Menschen
raler und sozialdemokratischer Instrumente unter      wird derzeit noch ermittelt. Auch wenn viele die-
die Leute gebracht: Zum einen handelt es sich um      ser Ermittlungsverfahren aus Mangel an Bewei-
an die Ärmsten gerichtete, konditionierte Transfer-   sen letztlich eingestellt werden, wirken sie doch
leistungen (der bono de desarrollo humano beträgt     einschüchternd und verhindern durch den damit
beispielsweise 36 US-Dollar pro Monat), die eine      verbundenen hohen Zeit- und Geldaufwand, dass
Fortsetzung neoliberaler Abfederungsmaßnahmen         indigene und ländliche Aktivist_innen ihr demo-
bedeuten, allerdings in größerem Maßstab. Zum         kratisches Recht auf Protest wahrnehmen kön-
anderen werden aber auch klassisch sozialdemo-        nen. Darüber hinaus bemängelt Amnesty, dass
kratische Politiken umgesetzt, wie die Einführung     Protestierende in aufwendigen Werbekampagnen
progressiver Steuern und die Erhöhung der Sozi-       von der Regierung als undemokratische Destabili-
alausgaben mit dem universalistischen Anspruch,       sierer und Putschisten diffamiert werden, wie es

ge Millionen eingezahlt. Der Rest besteht etwa aus einem Schuldenerlass über 50 Millionen US-Dollar
seitens Italien sowie einem Beitrag Deutschlands von gut 45 Millionen US-Dollar (35 Millionen Euro), der
aber ausdrücklich nicht für den Fonds vorgesehen ist. Denn die deutsche Bundesregierung torpediert die
ursprüngliche Ausrichtung des Projektes. Während der Bundestag der Yasuní-Initiative im Jahr 2008 die
Unterstützung zugesichert hat, lehnt der aktuelle Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Dirk Niebel, eine Beteiligung an dem UN-Treuhandfonds vehement ab. Er setzt statt-
dessen darauf, den Yasuní-Nationalpark durch klassische Projekte der deutschen Entwicklungszusam-
menarbeit und den auf Marktmechanismen basierenden Emissionshandel REDD (Reducing Emissions
from Deforestation and Forest Degregation) zu schützen. Niebel will nicht für das „Unterlassen” einer
Handlung bezahlen und spricht offen davon, einen „Präzedenzfall” verhindern zu wollen. Genau diesen
wollen die Befürworter_innen des Projektes jedoch schaffen. Die Idee ließe sich potentiell auch auf ge-
plante Bergbau-Projekte anwenden, die als besonders schädlich eingestuft werden.
                                                                                   // Tobias Lambert

                                                                                               LN-Dossier 6   19
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