Überwacht und überdacht - Impfsicherheit - Deutsches Ärzteblatt
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Die Sicherheit steht bei Impfstof- fen an oberster Stelle, werden sie doch einem völlig gesunden Men- schen verabreicht. Foto: BERTRAND GUAY POOL/AFP Impfsicherheit Überwacht und überdacht Ein möglicher Zusammenhang zwischen dem COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca und seltener Hirnvenenthrombosen haben das Impfprogramm in Deutschland vorübergehend ins Straucheln gebracht. Die Beurteilung solcher unbewiesener Verdachtsfälle ist durchaus kompliziert. W enn die Vorkommnisse Debatten. Wie die Verdachtsmeldun- 150 000 alles in den Schatten ge- um den Corona-Impfstoff gen aus wissenschaftlich-medizini- stellt, was jemals in Impfstudien AZD1222 von AstraZene- scher Sicht eingeordnet werden kön- gegen andere Infektionskrankhei- ca eines gezeigt haben, dann dies: nen, ist indes noch nicht abschlie- ten zusammengetragen werden Das Meldesystem zur frühzeitigen ßend geklärt. konnte. Diese Studien mussten Erfassung unerwünschter Ereignis- Um eine Zulassung zu erlangen, sich hinsichtlich der Wirksamkeit se, die in einem möglichen Zusam- müssen Impfstoffe in umfangrei- der zu beurteilenden Impfstoffe menhang mit Impfungen stehen, chen Studien der Phasen I–III zahl- stets auf Surrogatparameter verlas- funktioniert sowohl deutschland- reiche standardisierte Testreihen sen. Das gilt nicht nur für seltene- als auch europaweit ausgezeichnet. durchlaufen. re, aber oftmals schwer verlaufen- Die koordinierte Pharmakovigilanz de Infektionskrankheiten, sondern hatte für AZD1222 Signale ausfin- Echte Schutzwirkung gezeigt auch für die jährlich zumindest en- dig gemacht, die einen Verdacht Unter Pandemiebedingungen wie demisch auftretende Influenza. auf durch Impfung induzierte Si- aktuell bei SARS-CoV-2 konn- So beruhen Wirksamkeitsnach- nus- beziehungsweise Hirnvenen- ten erstmals Raten einer echten weise von Impfstoffen gegen In- thrombosen nahegelegt hatten. Schutzwirkung gegen eine Infek- fluenza zunächst nur auf Nach- Welche Schlüsse aus diesen Ver- tionskrankheit im großen Stil erho- weisen immunologischer Labor- dachtsmeldungen gezogen und wel- ben werden. In der Summe haben parameter wie zum Beispiel Anti- che Maßnahmen auf dieser Basis alle bislang gegen SARS-CoV-2 körperspiegel, da randomisierte, vonseiten der Gesundheitspolitik ge- durchgeführten Phase-III-Studien kontrollierte Studien wegen der troffen wurden, war Gegenstand hef- mit einer akkumulierten Proban- unvorhersehbaren Influenzasitua- tiger und kontroverser öffentlicher denzahl von mittlerweile mehr als tion kaum durchführbar und nicht A 674 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 118 | Heft 13 | 2. April 2021
MEDIZINREPORT reproduzierbar sind. Nach Anwen- der Abteilung für Sicherheit von Ereignisse von etwa 10 pro 100 000 dung in der jeweiligen „Grippe- Arzneimitteln und Medizinproduk- hochrechnen. Dies übertrifft laut welle“ werden dann der Schutz vor ten im Paul-Ehrlich-Institut (PEI), PEI die zu erwartende Inzidenz in Infektion und Erkrankung nach- Dr. med. Brigitte Keller-Stanis- der Allgemeinbevölkerung bei Wei- träglich bestimmt. lawski, bei einem Pressebriefing tem und wurde deshalb als Signal „Die aktuellen Impfstoffe gegen vor. Solche sehr seltenen Ereignis- gewertet. COVID-19 wurden hingegen in den se können somit kaum in Zulas- Die CSVT-Hintergrundinzidenz, Zulassungsstudien (Phase III) tat- sungsstudien der Phase III regis- die laut PEI als Vergleich zur Auf- sächlich auf ihre Wirksamkeit zum triert werden und bedürfen viel- spürung eines Signals herangezo- Schutz vor einer schweren Erkran- mehr einer sorgfältigen Pharmako- gen wurde, liegt bei etwa 1 pro kung geprüft und bewertet“, er- vigilanz über einen langen Zeit- 100 000 pro Jahr und beträgt somit klärt der Vorsitzende der Ständigen raum nach der Zulassung hinweg. nur 1/10 der jetzt auffällig gewor- Impfkommission (STIKO), Prof. denen Häufung. Australischen Da- Dr. med. Thomas Mertens. Von Verdachtsfällen zu Signalen ten zufolge wird aber die CSVT- Was für die Beurteilung der Mit der Zahl der Impfungen gegen Häufigkeit in der Allgemeinbevöl- Wirksamkeit der Vakzine unter COVID-19 im Rahmen nationaler kerung unterschätzt. Mit ihnen lässt Pandemiebedingungen zutrifft, das Impfkampagnen weltweit nimmt sich die jährliche Inzidenz auf 1,57 gilt nun auch für die Ermittlung von also auch die Wahrscheinlichkeit pro 100 000 pro Jahr berechnen (1). unerwünschten Wirkungen dieser zu, dass sehr seltene Impfkomplika- Ferner legen niederländische Daten Impfstoffe. Mit Phase-III-Studien tionen überhaupt auffallen, regis- eine altersabhängige Verteilung der in Größenordnungen von bis zu triert und dokumentiert werden CSVT-Häufigkeit mit Schwerpunkt 30 000 Probanden, wie sie jetzt für können. auf Personen unter 50 Jahren nahe, eine Reihe von COVID-19-Impf- Ein solches Signal hatte sich auf- sodass es in dieser Altersgruppe zu stoffen absolviert wurden, ließen grund von mittlerweile 14 beim einer Unterschätzung der tatsächli- sich durchaus auch seltenere ernst- PEI gemeldeten Verdachtsfällen chen Inzidenz um den Faktor 4 bis zunehmende Impfkomplikationen auf zerebrale Sinusvenenthrombosen 8 kommen dürfte (2). In einer aktu- detektieren. (CSVT) ergeben (Stand: 23. März ellen Stellungnahme der Deutschen Um allerdings ein verdoppeltes 2021). Diese Verdachtsdiagnosen Gesellschaft für Neurologie (DGN) Risiko einer Erkrankung aufzuspü- wurden im Abstand von 4 bis 16 Ta- heißt es in diesem Zusammenhang: ren, das durch eine Impfung gegen- gen nach der Impfung mit AZD1222 „Insgesamt ist die Datenlage unsi- über einem allgemeinen Risiko in bei 13 Frauen und 1 Mann im Alter cher, da es wahrscheinlich nicht Höhe von 1:100 000 in der All- von 20 bis 63 Jahren gestellt. Da in- wenige, klinisch blande Fälle gibt, gemeinbevölkerung hervorgerufen zwischen mehr als 1,6 Millionen die nie als CSVT identifiziert wer- wird, müsste eine Studie mehr als Menschen in Deutschland seit Impf- den.“ (3) 2,3 Millionen Probanden umfassen, beginn im Februar 2021 mit In Großbritannien sind nach die 1:1 auf Placebo und Verum ver- AZD1222 geimpft wurden, lässt elf Millionen Impfungen gegen teilt wären, rechnete die Leiterin sich eine jährliche Inzidenz dieser COVID-19, bei denen überwiegend KOMMENTAR Martin Wiehl, Freier Medizin- und Wissenschaftsjournalist Noch bevor eine sorgfältige Überprüfung, Einschätzung und verklumpungen“ als mögliches Risiko zuzuschreiben. Dass Einordnung von vermutlichen Sicherheitssignalen bei Imp- die Hintergrundinzidenz venöser Thromboembolien weitaus fungen mit dem COVID-19-Vakzin von AstraZeneca über- höher war, als sich aus den vermeintlichen Impfkomplikatio- haupt möglich wurde, überschwemmten die Medien die nen errechnen ließ, war für den „news-flow“ in dieser Phase Menschheit auf allen Kanälen mit Meldungen. Zu den Glanz- der medialen Aufmerksamkeit unerheblich. Völlig egal war dabei auch die Unterscheidung von thromboembolischen Ereignissen, wie sie häufig in der Allgemeinbevölkerung vor- Differenzierung Fehlanzeige kommen, und den extrem seltenen Sinusvenenthrombosen als komplett andere Entität. leistungen der medialen Berichterstattung gehörte dabei Viel aufregender erschien den medialen Experten, dass auch, das Publikum mit allen möglichen Arten von „Blutge- gleich mehrere Staaten einen Impfstopp verhängt hatten. rinnseln“ vertraut zu machen. Dass venöse Thromboembo- Auch wenn ein postulierter Zusammenhang zwischen lien und konsekutiv damit verbundene Lungenembolien zu Thrombosen und Impfungen nicht dadurch an Wahrheitsge- den häufigsten Volksleiden zählen, hat die auf Schlagzeilen halt gewinnt, dass viele ihn teilen und daraus voreilige abonnierten Medien nicht davon abgehalten, AZD1222 „Blut- Schlüsse ziehen. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 118 | Heft 13 | 2. April 2021 A 675
MEDIZINREPORT das Vakzin von AstraZeneca appli- im Bereich der Pharmakovigilanz sich bei den unerwünschten Ereig- ziert wurde, lediglich drei CSVT- (PRAC) war die EMA zu dem nissen mit hoher Wahrscheinlich- Diagnosen gestellt worden. Dass Schluss gekommen, dass es insge- keit um ein immunologisch ausge- die Häufigkeit dort im Unterschied samt gesehen zu keiner auffälligen löstes Phänomen handelt (5). zu hierzulande durchaus im Rah- Häufung thromboembolischer Er- men der Hintergrundinzidenz oder eignisse im Zusammenhang mit der Mögliche Auslöser für CSVT sogar darunter liegt, könnte an Un- AZD1222-Impfung gekommen ist. Als Auslöser könnten das Impfanti- terschieden in den Impfpopulatio- Allerdings könnte die Impfung gen, das Transportvehikel für die nen liegen. mit dem Vakzin mit sehr seltenen körpereigene Produktion des Impf- Fällen von Thrombosen – Sinusve- antigens und eine unspezifische Unterschiedliche Impfkollektive nenthrombosen – assoziiert sein, Impfreaktion des angeborenen Im- Sowohl thrombotische Ereignisse als die mit einer Thrombozytopenie munsystems infrage kommen. Für auch Autoimmunphänomene, die mit und teilweise Blutungen einherge- den Fall, dass es das Impfantigen ist, diesen Ereignissen assoziiert sind, wäre zu erwarten, dass andere Impf- werden überwiegend mit dem weib- stoffe, die ebenfalls für dieses Anti- lichen Geschlecht in Verbindung ge- gen kodieren, ähnliche Probleme bracht. Aufgrund der anfänglichen hervorrufen: Bislang gibt es noch STIKO-Empfehlung, AZD1222 trotz keine Berichte über entsprechende europäischer Zulassung ohne Alters- Häufungen bei den zugelassenen beschränkung nur bei Personen un- mRNA-Vakzinen. Außerdem müss- ter 65 Jahren zu verimpfen, wurden ten die Ereignisse auch im Zusam- in Deutschland seit Februar 2021 menhang mit Infektionen mit dem fast ausschließlich Menschen aus Erreger selbst auftreten. dem medizinischen Personal mit Mehr als die Hälfte der Mensch- diesem Impfstoff geimpft. Da in die- heit hat mit unterschiedlichen Ade- sem Kollektiv wiederum das weibli- noviren als Auslöser von Erkran- che Geschlecht den weitaus über- kungen meist banaler Natur wie wiegenden Anteil hat, wurden über- zum Beispiel Erkältungen Bekannt- Foto: wildpixel/iStock proportional viele junge Frauen un- schaft gemacht hat. Zu einer doku- ter 50 Jahren mit AZD1222 geimpft. mentierten CSVT-Häufung im Zu- In Großbritannien wurde der Impf- sammenhang mit Adenovirusinfek- stoff dagegen ohne Altersbeschrän- tionen ist es aber nicht gekommen. kung verabreicht. hen (4). Für einen kausalen Zu- Verdacht auf Das Transportvehikel für die Erbin- Laut Peter Arlett, Head of Data sammenhang gebe es nicht ausrei- Sinusvenenthrom- formation des Impfstoffantigens er- Analytics and Methods Task Force chend Evidenz, so die Behörde, bosen: Die Be- scheint als Auslöser deshalb eher fürchtung, dass der der Europäischen Arzneimittelbe- die dem Vakzin erneut eine gute unwahrscheinlich. COVID-19-Impfstoff hörde EMA, ist es „sehr wahr- Nutzen-Risiko-Bilanz bescheinig- von AstraZeneca Denkbar ist auch eine unspezifi- scheinlich“, dass Unterschiede zwi- te. Dennoch sei ein Zusammen- mit einem gehäuften sche Impfreaktion des angeborenen schen den Impfpopulationen der hang nicht ausgeschlossen, wes- Auftreten von Immunsystems. Vorstellbar wäre ei- Grund für die Verzerrung der halb weitere Prüfungen und Studi- Thrombosen in den ne Hochregulierung über Toll-like- CSVT-Hintergrundinzidenz gewe- en folgen werden. In der Zwi- Sinusvenen verbun- Rezeptoren und Interferone als ers- sen sind. „In Großbritannien waren schenzeit wird das Vakzin mit ei- den sein könnte, te Antwort auf Impfantigene, die es vor allem ältere Menschen. nem Warnhinweis versehen. führte zu einem bei Menschen mit entsprechender Impfstopp. Inzwi- Wenn man mehr junge Frauen Bei aller Unklarheit, ob es sich genetischer Disposition Autoim- schen wurden die impft, dann hat man auch mehr Fäl- bei der Häufung von CSVT-Fällen Impfungen wieder munvorgänge auslösen könnte, die le“, erklärte er bei einer Pressekon- tatsächlich um ein Sicherheitssignal aufgenommen. letztlich in eine immunologisch be- ferenz der EMA. für AZD1222 handelt, hat sich doch dingte CSVT münden könnten. Als eine mögliche Erklärung eines deutlich gezeigt: „Die Ursa- Der Dortmunder Immunologe werde diskutiert, dass es bei den äl- chenforschung – selbst für einen Watzl kommt deshalb zu dem teren Personen aufgrund des schwä- bislang nur vermutlichen Zusam- Schluss, dass derzeit keine Rationa- cheren Immunsystems nicht zu der menhang – ist in Deutschland gut le greifbar zu sein scheint, mit der immunologisch vermittelten Kom- organisiert, basiert auf spezialisier- sich das vermeintliche Signal einer plikation einer CSVT gekommen ter Expertise und ist international CSVT-Häufung nach Impfung mit ist, erklärt Prof. Dr. med. Johannes vernetzt“, sagt der Generalsekretär AZD1222 tatsächlich auf die spe- Oldenburg, Direktor des Instituts der Deutschen Gesellschaft für Im- zielle Eigenart dieses Impfstoffes für Experimentelle Hämatologie munologie (DGfI), Prof. Dr. rer. zurückführen ließe. Martin Wiehl und Transfusionsmedizin am Uni- nat. Carsten Watzl. So hat sich auf- versitätsklinikum Bonn. Nach ei- grund der mit der CSVT meist ver- Literatur im Internet: ner eingehenden Überprüfung durch gesellschafteten Thrombozytopenie www.aerzteblatt.de/lit1321 den Ausschuss für Risikobewertung sehr rasch herausgestellt, dass es oder über QR-Code. A 676 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 118 | Heft 13 | 2. April 2021
MEDIZINREPORT Zusatzmaterial, Heft 13/2021, zu: Impfsicherheit Überwacht und überdacht Ein möglicher Zusammenhang zwischen dem COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca und seltener Hirnvenenthrombosen haben das Impfprogramm in Deutschland vorübergehend ins Straucheln gebracht. Die Beurteilung solcher unbewiesener Verdachtsfälle ist durchaus kompliziert. Literatur 1. Devasagayam S, Wyatt B, Leyden J, Klei- nig T: Cerebral venous sinus thrombosis in- cidence is higher than previously thought: a retrospective population-based study. Stro- ke 2016; 47 (9): 2180–2. 2. Coutinho JM, Zuurbier SM, Aramideh M, Stam J: The incidence of cerebral venous thrombosis: a cross-sectional study. Stroke 2012; 43 (12): 3375–7. 3. Stellungnahme der DGN zur Sars- CoV2-Impfung mit dem Impfstoff von Astra- Zeneca, 19. März 2021; https://dgn.org/neu ronews/neuronews/stellungnahme-der-dgn- zur-sarscov2-impfung-mit-dem-impfstoff- von-astrazeneca/ (last accessed on 26 March 2021). 4. Mitteilung der EMA, 18. März 2021; https://www.ema.europa.eu/en/news/co vid-19-vaccine-astrazeneca-benefits-still- outweigh-risks-despite-possible-link-rare- blood-clots(last accessed on 26 March 2021). 5. Stellungnahme der GTH zur Impfung mit dem AstraZeneca COVID-19 Vakzin, 22. März 2021; https://gth-online.org/wp-con tent/uploads/2021/03/GTH_Stellungnah- me_AstraZeneca_3_22_2021.pdf (last ac- cessed on 26 March 2021). A4 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 118 | Heft 13 | 2. April 2021
Sie können auch lesen