Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut

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Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
Dezember 2020

                                                                      Nachhaltiges
                                                                      aus dem Öko-Institut

Besser am
Boden bleiben?
Luftverkehr und Klimaschutz

Stay Grounded   Netzwerk für ein klimagerechtes Transportwesen

Soziale Normen wandeln      Interview mit Prof. Dr. Stefan Gössling

Höhere Ambitionen für die EU      Eine Kolumne von Sabine Gores und Anke Herold
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
2   IM FOKUS I Stay Grounded

    Die
    rote Linie
    Stay Grounded – ein Netzwerk
    zur Begrenzung des Luftverkehrs
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
3

Alles begann in Wien, 2016. Bei Protesten gegen den Bau          300 Organisationen haben das Positionspapier inzwischen
einer dritten Start- und Landebahn am Flughafen zogen Ak-        unterschrieben, über 160 sind Mitglied von Stay Grounded,
tivistinnen und Aktivisten auf der betroffenen Ackerfläche       darunter viele Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiati-
eine rote Linie für weiteres Flugwachstum. Parallel fanden an    ven und Klimagerechtigkeitsgruppen.
sechs anderen Flughäfen weltweit Aktionen statt. „Wir haben
damals andere Gruppen kontaktiert, die bereits gegen den         Seine Ziele verfolgt Stay Grounded auf vielen unterschied-
Flughafenausbau in London-Heathrow oder auch in Mexiko           lichen Wegen. Vier Campaignerinnen und ein Campaigner
Stadt und Istanbul protestierten, und mussten feststellen: Es    kümmern sich um die Vernetzung und den Austausch der
gab bisher keine Vernetzung zwischen Initiativen, die sich ge-   Mitglieder. „Ihnen stellen wir außerdem Analysen für ihre
gen das ungebremste Wachstum des Luftverkehrs engagie-           Arbeit zur Verfügung, wir organisieren Webinare zu unter-
ren“, erzählt Magdalena Heuwieser, Campaignerin und Pres-        schiedlichen Themen und initiieren auch gemeinsame Kam-
sesprecherin bei Stay Grounded.                                  pagnen“, erklärt Magdalena Heuwieser. Als der Luftverkehr im
                                                                 Frühjahr 2020 durch die Corona-Krise einbrach und Fluglini-
Zwei Jahre später gab es ein Netzwerk und ein Positionspa-       en staatliche Hilfspakete forderten, organisierte Stay Groun-
pier, in dem 13 Schritte für ein klimagerechtes Transport-       ded die internationale Kampagne #SavePeopleNotPlanes.
wesen eingefordert werden. „Wichtige Schritte hierfür sind       „Es kann nicht sein, dass Milliarden Steuergelder in einer so
aus unserer Sicht zum Beispiel eine deutlich lokalere Pro-       klimaschädlichen und ohnehin enorm subventionierten In-
duktions- und Arbeitsweise, aber auch die Abschaffung von        dustrie versenkt werden – und das auch noch ohne soziale
Kurzstreckenflügen sowie der Privilegien der Luftfahrtindus-     und ökologische Kriterien“, so Heuwieser. „Jetzt wäre der Zeit-
trie und eine Verlagerung auf klimafreundlichere Fortbe-         punkt, einen gerechten Strukturwandel zu finanzieren, der
wegungsmittel“, fordert Heuwieser. Die Kompensation von          weder auf Kosten der Beschäftigten in den fossilen Sektoren
Emissionen aus dem Luftverkehr lehnt das Netzwerk ab. „Oft       geht, noch auf Kosten unserer Zukunft.“
werden hierdurch zum Beispiel Projekte unterstützt, die zu
erneuten Landkonflikten führen oder die sowieso durchge-                                                       Christiane Weihe
führt worden wären – und die Emissionen werden kein Stück
gemindert. Kompensation ist letzten Endes nichts anderes als     https://stay-grounded.org
Ablasshandel, um guten Gewissens weiter zu fliegen.“ Über        magdalena@stay-grounded.org
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
4   INHALT

                                                                                      10
                                                                            Mit der Bahn nach Barcelona
                                                                            die Suche nach alternativen

                                                                   IM FOKUS: LUFTVERKEHR UND KLIMASCHUTz
                                                               2 Die rote Linie
                                                                 Stay Grounded – ein netzwerk zur Begrenzung des
                                                                 Luftverkehrs
                                                               6 Klimaschädlicher geht’s nicht
                                                                 Wie kann der Luftverkehr nachhaltiger werden?
                                                              10 Vermeiden, verlagern, verbessern
                                                                 alternativen zum Fliegen und die Kompensation
                                                                 von emissionen
                                                              12 „Es ist nicht mehr hip und cool, um die Welt zu
                                                                 jetten“
                                                                 Interview mit Prof. dr. Stefan Gössling (Linnaeus

                               6
                                                                 universität)
                                                              13   Porträts
                Keine ausreichenden Maßnahmen                      Christoph Brunn (Öko-Institut)
                 die regulierung des Luftverkehrs                  Prof. dr. eckhard Pache (universität Würzburg)
                                                                   Helmut Lutz (der Kopfbahnhof )

                        Viele offene Fragen                         ARBEIT
        Wie funktioniert ein ambitionierter eu-Klimaschutz?   14 Von der Endlagerung bis zur Stadtentwicklung
         eine Kolumne von Sabine Gores und anke Herold           aktuelle Projekte, neue Ideen

                              18                              16 Von Wasserstoff bis Cloud Computing
                                                                 Kurze rückblicke, abgeschlossene Studien

                                                                   PERSPEKTIVE
                                                              18 Viele offene Fragen
                                                                 Wie funktioniert ein ambitionierter eu-Klimaschutz?

                                                                   EINBLICK
                                                              19 Vom Elektroauto bis zum Spendenprojekt
                                                                 neuigkeiten aus dem Öko-Institut

                                                                   VORSCHAU
                                                              20 50 Millionen bis 2030
                                                                 Wie gelingt die Wärmewende?
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
EDITORIAL I IMPRESSUM                       5

                                Menschen verbinden,
                                aber nachhaltig
                                die Zeiten, in denen der Luftverkehr nur Wachstum kannte, sind für den Moment vorbei.
                                durch die CoVId-19-Pandemie blieben und bleiben unzählige Flugzeuge auf dem Boden.
                                Viele Menschen fragen sich zudem: Muss ich wirklich fliegen? denn schnell zeigte sich: Vie-
                                le Geschäftsreisen sind überflüssig. Videokonferenzen funktionieren. und urlaub im eigenen
                                Land kann auch sehr schön sein.

                                allerdings weiß ich aus meiner tätigkeit in der entwicklungszusammenarbeit auch, wie wich-
                                tig der direkte Kontakt zu den Menschen in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten
                                sein kann. Wie wichtig damit das Fliegen für den austausch der Kulturen und die internationa-
                                le Kooperation zur Lösung unserer globalen Herausforderungen ist. Persönliche treffen schär-
                                fen das gegenseitige Verständnis und helfen Vertrauen aufzubauen. doch wir alle müssen
                                uns angesichts der klimaschädlichen Wirkungen die Frage stellen: Welche Flüge sind wirklich
                                nötig und wie kann ich diese möglichst nachhaltig gestalten? Ich war in meinen ersten Mo-
                                naten am Öko-Institut sehr beeindruckt, wie konsequent sich diese Frage im Institut gestellt
                                wird. dass nicht innerhalb von deutschland geflogen wird, ist eine Selbstverständlichkeit.
Jan Peter Schemmel              aber ebenso, dass der anspruch, nicht mehr als nötig zu fliegen, auch bei der Konzeption von
Sprecher der Geschäftsführung   internationalen Projekten bedacht wird. dafür wird ein noch stärkerer Fokus darauf gelegt,
des Öko-Instituts               Partnerinnen und Partnern vor ort effizient zu stärken, damit diese die aufgaben dort selbst-
j.schemmel@oeko.de              ständig übernehmen können.

                                es wäre fatal für das Klima, wenn der Luftverkehr nach der Pandemie wieder dem ungebrems-
                                ten Wachstumstrend folgte wie vor ihrem Beginn. daher führt am abbau von Subventionen
                                sowie an höheren Steuern und abgaben kein Weg vorbei. Zusätzlich braucht es natürlich
                                klimaverträgliche optionen für jenen Luftverkehr, der unvermeidbar ist: neue, Co2-neutrale
                                Kraftstoffe ebenso wie eine elektrifizierung, wo sie möglich ist.

                                diese ausgabe der eco@work ist übrigens nicht unsere einzige aktuelle Veröffentlichung zum
                                thema Fliegen und Klimaschutz. dr. Martin Cames, Leiter unseres Bereichs energie & Klima-
                                schutz in Berlin, hat sich vor Kurzem ausführlich mit uta Maria Pfeiffer, Leiterin nachhaltigkeit
                                beim Bundesverband der deutschen Luftverkehrswirtschaft, unterhalten. das spannende Ge-
                                spräch der beiden finden Sie im Internet auf unserem Blog unter: blog.oeko.de. Geführt haben
                                sie es, natürlich, per Videokonferenz.

                                Bleiben Sie interessiert – und möglichst oft auf dem Boden!

                                Ihr
                                Jan Peter Schemmel

                                Weitere Informationen zu unseren Themen finden Sie im Internet unter www.oeko.de/epaper

                                eco@work – dezember 2020 – ISSn 1863-2009 – Herausgeber: Öko-Institut e.V.
                                redaktion: Mandy Schoßig (mas), Christiane Weihe (cw) – Verantwortlich: Jan Peter Schemmel
                                Weitere autorinnen und autoren: Sabine Gores, anke Herold, Moritz Mottschall, anette nickels (ani), Jan Peter Schemmel
                                druckauflage: 2.150; digitale Verbreitung: rund 7.000 abonnentinnen und abonnenten – Im Internet verfügbar unter: www.oeko.de/epaper
                                Gestaltung/Layout: tobias Binnig, www.gestalter.de – technische umsetzung: Markus Werz – Gedruckt auf 100-Prozent-recyclingpapier
                                redaktionsanschrift: Borkumstraße 2, 13189 Berlin, tel.: 030/4050 85-0, Fax: 030/4050 85-388, redaktion@oeko.de, www.oeko.de
                                Bankverbindung für Spenden:
                                GLS Bank, BLZ 430 609 67, Konto-nr. 792 200 990 0, IBan: de50 4306 0967 7922 0099 00, BIC: GenodeM1GLS
                                Spenden sind steuerlich abzugsfähig.
                                Bildnachweis: titel, S.4, S.6/7, S.10 © fStopImages / Malte Müller; S.2/3 © Stay Grounded; S.12 unten © Meike rinsch; S.14 © digitalstock
                                – stock.adobe.com; S.16 © Smirkdingo – stock.adobe.com; S.17 © sdecoret – stock.adobe.com; andere © Privat oder © Öko-Institut, Ilja C.
                                Hendel
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
6   IM FOKUS

    Klimaschädlicher
    geht’s nicht
    Wie kann der Luftverkehr
    nachhaltiger werden?

    Wenn in Frankfurt ein Flugzeug nach New York star-    kontinuierlich zugenommen und es fehlt nach wie
    tet, beginnt eine besonders klimaschädliche Reise:    vor an wirksamen politischen Maßnahmen, um die
    Jeder Passagier und jede Passagierin verursacht für   Treibhausgasemissionen des Luftverkehrs zu redu-
    den Hin- und Rückflug eine Erderwärmung, die der      zieren. Im aktuellen Spendenprojekt hat sich das
    Wirkung von fast vier Tonnen CO2 entspricht. So       Öko-Institut ausführlich dem Klimaschutz im Luft-
    viele Emissionen entstehen auch, wenn man 21.900      verkehr gewidmet und dabei auch seine Regulie-
    Kilometer mit dem Auto fährt. Kein Verkehrsmittel     rung und Subventionierung analysiert und bewer-
    ist damit so schädlich wie das Flugzeug. Dennoch      tet.
    hat der Luftverkehr in den vergangenen Jahren
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
7
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
8   IM FOKUS

    Für manch einen wirken die direkten        Luft- und Raumfahrt (DLR) noch Ende         len Luftverkehr mit klimafreundlichem
    Emissionen des Luftverkehrs vielleicht     2019 einen Anstieg der weltweiten Pas-      E-Kraftstoff betreiben, müsste man die
    vernachlässigbar – sie haben einen         sagierzahlen von rund vier Milliarden       weltweite erneuerbare Stromproduk-
    Anteil von etwa 2,5 Prozent an den glo-    im Jahr 2016 auf über neun Milliarden       tion ausschließlich zum Antrieb von
    balen CO2-Emissionen. Doch sind darin      im Jahr 2040. „Durch die Pandemie gab       Flugzeugen verwenden.“

                                                                                                    8
    die so genannten Nicht-CO2-Effekte         es einen immensen Einbruch, der auch
    nicht berücksichtigt. „Anders als zum      in den kommenden Jahren spürbar
    Beispiel ein Auto oder ein Motorrad sto-   sein wird“, sagt Graichen, „so wird sich
    ßen Flugzeuge ihre Emissionen in zehn      die Zahl der Dienstreisen vermutlich
    Kilometern Höhe aus – das macht sie        reduzieren – jetzt, wo wir erlebt ha-
    weitaus klimaschädlicher“, erklärt Jakob   ben, dass Videokonferenzen eine ech-
    Graichen, Senior Researcher am Öko-In-     te und bequeme Alternative sind.“ Der
    stitut. „Flugzeuge tragen zur Wolkenbil-   Wissenschaftler aus dem Bereich Ener-
    dung bei und haben komplexe Wirkun-        gie & Klimaschutz erwartet auch, dass
    gen auf das Klima: Der durch sie verur-    kurzfristig weniger Fernreisen geplant
    sachte Beitrag zur Erderhitzung ist drei   werden und mehr Urlaub im eigenen                   Milliarden Euro
    Mal höher als bei „normalen“ CO2-Emis-     Land gemacht wird. „Ich glaube aber
    sionen aus der Kraftstoffverbrennung.“     nicht, dass sich das Reiseverhalten dau-
    Da die Nicht-CO2-Effekte nur in höheren    erhaft verändert“, sagt er, „es ist davon
    Flughöhen eine wesentliche Rolle spie-     auszugehen, dass sich der Tourismus
    len, ist die klimaschädliche Wirkung von   in ein paar Jahren wieder der Situation
    Flugzeugen zudem auf langen Strecken       vor 2020 annähert und der Luftverkehr
    viel höher als auf kurzen.                 weiter wächst – mit all seinen negativen
                                               Konsequenzen.“

                                                    AM ANFANG DES WEGES

                                               Dabei müsste die Luftverkehrsindus-
                                               trie zur Erreichung der Klimaziele bis
                                               2050 klimaneutral werden. Wege, wie
    Der Luftverkehr                            die Branche dies erreichen kann, sind
    verursacht                                 jedoch nach wie vor nur teilweise in
    etwa                                       Sicht. „Es gibt zwar Verbesserungen bei
                                               der Energieeffizienz, doch sie reichen

37
                                               nicht ansatzweise, um den Zuwachs
                                               an Flügen zu kompensieren geschwei-          entgehen der Steuerkasse
                                               ge denn Treibhausgasminderungen zu             jedes Jahr aufgrund
                                               erreichen“, sagt Jakob Graichen. Auch             der fehlenden
                                               alternative Antriebe sind für den Se-          Kerosinbesteuerung
                                               nior Researcher Zukunftsmusik. „Kurz-

                BIS                            streckenflüge könnten mittelfristig
                                               elektrisch betrieben werden, so wie
                                               Norwegen das ab 2040 plant“, sagt er,       Und während es auf technischer Sei-
                                               „für Langstreckenflüge sind syntheti-       te noch viel zu tun gibt, ergreift auch
                                               sche Kraftstoffe die wahrscheinlichste      die nationale und internationale Poli-
                                               Klimaschutzoption, da diese mit Hilfe       tik keine ausreichenden Maßnahmen,
                                               von erneuerbaren Energien produziert        um schon heute mehr Klimaschutz im
    Prozent der                                werden können.“ Doch der Experte be-        Luftverkehr durchzusetzen. Im Gegen-
    globalen Erwärmung                         tont auch: Für schnelle Emissionsmin-       teil: Die Branche wird in hohem Maße
                                               derungen im Luftverkehr sind diese          subventioniert. „Fliegen wird künstlich
                                               Kraftstoffe nicht zu gebrauchen. „Sie       verbilligt“, erklärt Graichen, „so gibt es
                                               sind bislang noch deutlich teurer und       keine Mehrwertsteuer auf internatio-
    Darüber hinaus ist der Luftverkehr kon-    zum Teil nicht ausgereift. Es wird noch     nale Flugtickets und keine Besteuerung
    tinuierlich angestiegen, in den vergan-    Jahrzehnte dauern, bis die globalen         des Treibstoffes – übrigens im Gegen-
    genen Jahren um jeweils vier bis fünf      Infrastrukturen und Produktionskapa-        satz zu allen anderen Verkehrsträgern.“
    Prozent. Prognosen gingen vor der          zitäten auf einem angemessenen Stand        Durch eine Energiesteuerbefreiung
    ­COVID-19-Pandemie auch weiterhin          sind“, so Graichen. „Zur Einordnung der     subventio­niert alleine die Bundesrepu-
     von einem starken Wachstum aus. So        Potenziale hilft außerdem ein Vergleich:    blik den Luftverkehr mit acht Milliarden
     erwartete das Deutsche Zentrum für        Wollte man heute den gesamten globa-        Euro im Jahr, EU-weit belaufen sich die
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
9

Subventionen auf etwa 27 Milliarden          men zur Begrenzung der Co2-emissio-           jetzigen Form bringt CorSIa nichts für
euro. die Mehrwertsteuerbefreiung            nen der Luftverkehrsindustrie unter der       den Klimaschutz.“
kostet deutschland jährlich rund fünf        internationalen Zivilluftfahrtorganisati-
und die eu rund 30 Milliarden euro im        on ICao: „das taugt nichts“, sagt er. unter
Jahr. „davon profitieren übrigens vor        dem abkommen sollten die emissionen                    EIN NEUER ANLAUF?
allem Menschen mit höherem einkom-           stabilisiert werden, indem Fluggesell-
men, weil sie häufiger fliegen.“ aus         schaften ab 2021 Kompensationszerti-
Sicht des Senior researchers ist es an       fikate aus Klimaschutzprojekten kaufen        Klimaschutz im Luftverkehr – aussichts-
der Zeit, dass der Luftverkehr steuerlich    müssen, wenn ihre emissionen über ei-         los? nicht ganz, sagt Jakob Graichen.
wie jeder andere Sektor behandelt wird       nem referenzwert liegen. „ursprünglich        denn es gibt Bewegung in der Politik.
– durch die erhebung der Mehrwert-           sollte dieser referenzwert auf Grundla-       Im november 2019 sprachen sich neun
steuer oder durch eine deutlich höhere       ge der durchschnittlichen emissionen          eu-Mitgliedsstaaten – darunter auch
ticketsteuer vor allem für Mittel- und       der Jahre 2019 und 2020 festgelegt            deutschland – für eine stärkere Besteu-
Fernstrecken. „Wenn es teurer wird,          werden“, erklärt Jakob Graichen, „na-         erung aus. auch die eu-Kommission
fliegen auch weniger Menschen“, sagt         türlich möchte die Luftfahrtindustrie         will sich im rahmen des Green deal den
Graichen, „ein noch wirksamerer anreiz       möglichst hohe referenzwerte. Sie ar-         Steuerausnahmen für Kerosin widmen.
für den Klimaschutz ist aber die einfüh-     gumentierte in diesem Frühjahr mit            „Bis Juni 2021 soll es einen Vorschlag
rung einer Kerosinsteuer, weil sie den       einem starken einbruch durch die              für ein überarbeitetes energiesteuer-
energieverbrauch teurer macht und da-        CoVId-19-Pandemie, dass alleine 2019          recht geben“, so der Senior researcher.
mit einen direkten anreiz zur emissions-     als referenzjahr festgelegt werden soll-      „Bislang sind alle Versuche hierfür ge-
reduktion gibt.“                             te. Ihre Befürchtung: aufgrund des his-       scheitert, unter anderem, weil es beim
                                             torischen tiefs der Flugemissionen im         Steuerrecht einstimmigkeit geben
Im rahmen des Spendenprojektes               Jahr 2020 sei die Bemessungsgrundlage         muss und sich immer wieder Länder
„Über den Wolken oder am Boden blei-         sonst besonders niedrig und es wären          querstellen. Vielleicht gibt es nun end-
ben?“ hat das Öko-Institut unterschied-      sehr viele emissionen kompensations-          lich einen erfolgreicheren anlauf. oder
liche Maßnahmen zur regulierung des          pflichtig.“ Mit unterstützung der eu-Mit-     aber eine „allianz der Willigen“, bei der
Luftverkehrs und seiner emissionen           gliedsländer hat der ICao Council sich        sich Mitgliedsstaaten bilateral auf eine
analysiert und ihren (möglichen) Bei-        dieser Haltung angeschlossen und 2019         Kerosinbesteuerung einigen.“
trag für den Klimaschutz bewertet. So        als referenzjahr definiert.
ist der innereuropäische Luftverkehr                                                       Wenn in Zukunft in Frankfurt ein Flug-
teil des eu-emissionshandels (eu-etS).       aus Sicht des Öko-Instituts werden die        zeug nach new york startet, könnte das
doch auch dieses Instrument erzielt          emissionen des Luftverkehrs jedoch            ticket dann vielleicht ein Stück teurer
laut Jakob Graichen kaum Wirksamkeit         auch langfristig deutlich unter den ur-       sein. Bislang ist das Fliegen jedoch un-
im Sektor. „Zunächst hat der emissi-         sprünglichen annahmen liegen. das             angemessen billig, eine sinnvolle Be-
onshandel nur einen sehr begrenzten          zeigt die Kurzanalyse „Should CorSIa          steuerung und ein wirksamer emissi-
einflussbereich und er deckt nur die         be changed due to the CoVId-19 cri-           onshandel sind unverzichtbar. „Ich bin
Co2-emissionen, nicht aber die indirek-      sis?“. „die Luftverkehrsindustrie ist von     persönlich kein strikter Gegner des Luft-
te Klimawirkung von Flügen ab“, sagt er,     der Pandemie deutlich stärker betroffen       verkehrs“, sagt Jakob Graichen, „aber wir
„darüber hinaus erhält die Luftverkehrs-     als andere Sektoren. Wir gehen davon          brauchen endlich tiefergehende Maß-
industrie einen großen teil der Zertifi-     aus, dass es auch länger dauern wird,         nahmen, um das unbegrenzte Wachs-
kate ohne sinnvolle Begründung kos-          bis ein Vor-Krisen-niveau erreicht wird“,     tum zu beenden, den Luftverkehr zu
tenlos.“ denn: Wenn die Gefahr besteht,      sagt Graichen. Bei vorherigen Krisen          reduzieren und diesen klimaneutral zu
dass eine klimaschädliche aktivität in       wie etwa dem Golfkrieg oder der Wirt-         gestalten.“
ein nicht-eu-Land abwandert – man            schaftskrise von 2008 habe dies etwa
spricht hier von Carbon leakage – kön-       zwei bis sechs Jahre gedauert. „der                                       Christiane Weihe
nen Zertifikate im eu-etS frei zugeteilt     Kompensationsbedarf unter CorSIa
werden. „Beim Luftverkehr wandern            hätte sich daher nur minimal geän-
die Passagiere und Passagierinnen aber       dert: die auswirkungen des niedrige-
nicht ab. Sie wollen weiterhin von zu        ren referenzwerts und der niedrigeren
Hause abfliegen“, so der Wissenschaft-       emissionen hätten sich gut ausgegli-
ler, „daher sollten die freien Zuteilungen   chen“, sagt der Senior researcher. doch
abgeschafft werden, um dadurch stär-         bereits vor diesen Änderungen hatte
kere anreize zur emissionsminderung          CorSIa erhebliche Schwächen, betont
zu setzen.“                                  er. „das System adressiert allein das
                                                                                           Jakob Graichen ist Senior Researcher im Bereich
                                             emissionswachstum, deckt nur einen
                                                                                              Energie & Klimaschutz des Öko-Instituts. Er
                                             teil der globalen emissionen ab und die       forscht zu Politiken und Maßnahmen, mit denen
      WIRKUNGSLOS: CORSIA                    Qualität der zugelassenen ausgleichs-          die Emissionen des Luft- und Schiffsverkehrs re-
                                             zertifikate ist fragwürdig. So müssen         duziert werden können. Darüber hinaus arbeitet
                                                                                           der Physiker unter anderem zum Green Deal der
                                             zum Beispiel Waldprojekte nur für etwa
                                                                                           EU und zur Weiterentwicklung des europäischen
Klare Worte findet Jakob Graichen auch       zwanzig Jahre garantieren, dass der                           Emissionshandels.
für CorSIa, das internationale abkom-        Wald auch effektiv stehen bleibt. In der                     j.graichen@oeko.de
Besser am Boden bleiben? - Luftverkehr und Klimaschutz - Öko-Institut
10 IM FOKUS

   Vermeiden, verlagern,
   verbessern
   Alternativen zum Fliegen
   und die Kompensation
   von Emissionen
   22 Stunden mit dem Zug statt knapp drei Stunden mit dem Flugzeug? Für
   die meisten Menschen scheint es ausgeschlossen, sich für eine Reise von
   Berlin nach Barcelona auf die Schiene statt in die Luft zu begeben. Doch
   alleine in dieser innereuropäischen Reise stecken mehr Alternativen als sie
   auf den ersten Blick vielleicht sichtbar sind. Einschließlich der Frage, ob es
   nicht ebenso schön wäre, ins deutlich näher gelegene Bamberg zu reisen.
   Angesichts der immensen Klimaschädlichkeit des Fliegens müssen wir un-
   ser Reiseverhalten überdenken sowie guten Alternativen eine echte Chan-
   ce geben.

   Wer in Deutschland mit dem Flugzeug          Oft ist man zudem mit dem Flugzeug        senden Luftverkehr und den Ausbau
   unterwegs ist, verursacht pro Kilome-        nicht schneller, kann aber im Zug die     von Flughäfen gewidmet, denn sie sind
   ter mehr Schaden für das Klima als mit       Reisezeit deutlich effektiver nutzen.“    wichtig, um neue Diskurse zu prägen.“
   jedem anderen Verkehrsmittel: etwa in                                                  Der Einbruch des Luftverkehrs durch
   gleichem Maße wie 230 Gramm CO2-             Im Spendenprojekt „Über den Wolken        die COVID-19-Pandemie ist für Anne
   Äquivalente (CO2e). Beim Auto sind es        oder am Boden bleiben?“ hat sich das      Siemons eine Gelegenheit, bestehende
   laut Umweltbundesamt (UBA) noch              Öko-Institut ausführlich mit Alternati-   Reisemuster zu überprüfen und in Fra-
   etwa 147 g CO2e, im Zug-Fernverkehr          ven zu Flugreisen beschäftigt. „Hierfür   ge zu stellen. „Auch wenn zu erwarten
   nur etwa 32 g CO2e. „Aus diesem Grund        haben wir etwa mit Menschen gespro-       ist, dass sich der Tourismus in einigen
   sollten wir alle Flüge vermeiden, die        chen, die weniger fliegen oder sogar      Jahren wieder seiner vorherigen Ent-
   nicht unbedingt notwendig sind oder          ganz darauf verzichten, und uns Unter-    wicklung angleicht, liegt hier doch eine
   für die es sinnvolle Alternativen gibt“,     nehmen angeschaut, die ihrer Beleg-       Chance, Alternativen zu entdecken und
   sagt Anne Siemons, Senior Researcher         schaft Anreize geben, sich anders fort-   sie auch nach der Pandemie beizube-
   am Öko-Institut, „für innerdeutsche          zubewegen“, erklärt die Wissenschaft-     halten.“
   Strecken ist es beispielsweise nicht allzu   lerin. „Darüber hinaus haben wir uns
   kompliziert, auf den Zug umzusteigen.        Protestbewegungen gegen den wach-
                                                                                                    AUF DIE SCHIENE

                                                                                          Wie kann es gelingen, Alternativen zu
                                                Ein Flug in Deutschland                   fördern oder sogar langfristig zu verfes-
                                                verursacht laut UBA pro                   tigen? Mit Blick auf Dienstreisen, die ei-
                                                Personenkilometer etwa                    nen Anteil von 65 Prozent an deutschen
                                                die gleiche Wirkung wie                   Inlandsflügen haben, gehen hier einige

                             230
                                                                                          Unternehmen neue Wege. „Manche
                                                                                          gewähren zusätzliche Urlaubstage für
                                                                                          klimafreundliche Bahnreisen, andere
                                                 g CO2e
                                                                                          verbieten sogar Kurzstreckenflüge“, so
                                                                                          die Wissenschaftlerin, „viele ersetzen

                              32
                                                im Zug-Fernverkehr sind es
                                                                                          Meetings derzeit durch Videokonferen-
                                                                                          zen und sparen damit eine hohe Emissi-
                                                                                          onsmenge ein.“ Auf die Frage, was jeder
                                                 g CO2e
                                                                                          Mensch persönlich für eine nachhalti-
11

                            gere Mobilität tun kann, hat das      andere Verkehrsmittel zu verlagern und – wenn das nicht
                            Spendenprojekt ebenso zahlrei-        möglich ist – die effizienz des Luftverkehrs zu verbessern.“
                            che antworten parat. Zunächst:        Kompensation ist zudem keine langfristige Lösung, da es zur
                            umdenken. und zwar vor allem          erreichung der Pariser Klimaziele notwendig sein wird, die
                            wohlhabendere Menschen aus rei-       Verbrennung fossiler Kraftstoffe komplett einzustellen und
                            chen Ländern, die hauptsächlich       zusätzlich Co2 aus der atmosphäre wieder zu entnehmen.
                            für die emissionen aus dem Luft-      die Kompensation könnte außerdem dazu führen, dass alter-
                            verkehr verantwortlich sind – jähr-   nativen nicht in Betracht gezogen werden, so Siemons. „Viele
                            lich fliegen nach Schätzungen nur     Menschen denken ja: Wenn ich kompensiere, kann ich so wei-
                            drei Prozent aller Menschen. Zwei-    terfliegen wie bisher.“ Bei einigen Kompensationsprojekten
                            tens können wir unser Verständnis     sei außerdem die Klimawirkung nicht immer gegeben. „So
                            von urlaub neu definieren. dies       besteht etwa bei Projekten, die mit aufforstung oder Verhin-
                            beginne damit, sich urlaubszie-       derung von entwaldung arbeiten, immer die Gefahr, dass die
                            le auszusuchen, die mit anderen       Wälder früher oder später doch abgeholzt werden.“ derzeit
                            Verkehrsmitteln erreichbar seien,     arbeitet das Öko-Institut zusammen mit dem WWF und dem
                            und bei reiseveranstaltern für        environmental defense Fund in den uSa an einem Leitfaden,
                            nachhaltigen tourismus zu bu-         der Hinweise gibt, wie Verbraucherinnen und Verbraucher
                            chen. eine klimafreundliche al-       bestmöglich kompensieren können, wenn sich dies nicht ver-
                            ternative für internationale reisen   meiden lässt. „es sollten zum Beispiel nicht nur die Co2-emis-
                            wären zudem nachtzüge. „einige        sionen, sondern auch andere Klimawirkungen des Fliegens
                            europäische Länder haben 2020         berücksichtigt werden. Bei Waldprojekten ist es zudem sehr
                            neue Verbindungen beschlossen         wichtig, darauf zu achten, für welchen Zeitraum die emissi-
                            oder schon eingerichtet“, sagt        onsminderung garantiert wird und ob der anbieter dies auch
                            anne Siemons, „so will zum Bei-       regelmäßig überprüft.“
                            spiel die schwedische regierung
                            neue routen von Stockholm und         Bemerkenswert findet die Wissenschaftlerin zudem den an-
                            Malmö nach Hamburg und Brüs-          satz, in Zukunft nicht mehr von Klimaneutralität, sondern von
sel finanzieren.“ 10 bis 20 Prozent der Flüge könnten durch       wirklicher Klimaverantwortung zu sprechen. „diese würde be-
einen ausbau der europäischen nachtzüge ersetzt werden,           deuten, nicht den Preis zu zahlen, den der Markt für Kompen-
schätzt das Öko-Institut. „Leider hat die deutsche Bahn ihre      sationszertifikate fordert, sondern den eigentlich erforderli-
grenzüberschreitenden nachtzugverbindungen 2016 kom-              chen Preis, um die erderhitzung auf ein verträgliches Maß zu
plett eingestellt“, so die Wissenschaftlerin, „diese sind ohne    begrenzen, oder den Preis der tatsächlich durch die emissio-
staatliche Förderung kaum wirtschaftlich, denn pro Kilometer      nen entstehenden Kosten – das umweltbundesamt geht hier
müssen trassenpreise von neun bis 22 euro bezahlt werden.“        von 180 euro pro tonne Co2 aus.“
Im Wettbewerb mit dem hoch subventionierten Luftverkehr
hat die Schiene so kaum eine Chance zu bestehen.                  Bei einem Hin- und rückflug von Berlin nach Barcelona wür-
                                                                  de dies – berechnet auf Grundlage von Werten von co2on-
auch für den Güterverkehr gibt es optionen für einen stei-        line – den ticketpreis pro Person um etwa 120 euro erhöhen.
genden transport auf der Schiene. rund 2,4 Millionen ton-         Wenn zudem die Steuerbefreiung für Flüge aufgehoben wer-
nen Fracht und Post wurden 2019 von deutschen Verkehrs-           den würde, kämen noch Kerosinsteuer und Mehrwertsteuer
flughäfen ins ausland transportiert, von dort kamen rund          hinzu. Hierdurch würde eine reise mit der Bahn zur Sagrada
2,2 Millionen tonnen an. „das ist zwar im Vergleich zu den        Familia und der katalanischen Küche deutlich attraktiver. Viel-
insgesamt transportierten Gütern ein relativ geringer anteil      leicht muss es dann auch kein schneller trip sein – sondern
und etwa die Hälfte wird im Bauch von Passagiermaschinen          eine beschauliche reise, auf deren Weg weitere schöne Ziele
transportiert“, sagt Siemons, „doch da diese im Zuge der          wie Brüssel oder avignon liegen können.
CoVId-19-Pandemie größtenteils am Boden blieben, sind
die Kosten stark gestiegen. und es gibt Möglichkeiten, die                                                               Christiane Weihe
Luftfracht zu verringern.“ die naheliegendste Lösung ist für
die Wissenschaftlerin, die Wirtschaft wieder stärker auf eine
regionale Produktion auszurichten und zum Beispiel regi-
onale Zulieferer zu bevorzugen. „aber es gibt auch weitere
Wege wie etwa die optimierung von Verpackungen, durch
die Gewicht und Volumen der Sendungen reduziert werden
können.“

auch die Kompensation von Flugreisen, bei der der ausstoß
von treibhausgasen etwa durch Klimaschutzprojekte ausge-          Die internationale und die EU-Klimapolitik stehen im Mittelpunkt der Arbeit
glichen wird, stand im Fokus des Spendenprojekts. „Sie steht      von Anne Siemons. Sie hat einen Master of Arts Internationale Beziehungen
                                                                   und befasst sich am Öko-Institut als Senior Researcher unter anderem mit
für uns jedoch erst am ende möglicher Klimaschutzmaßnah-
                                                                   Anrechnungsregeln für die Erreichung von Klimaschutzzielen und mit der
men im Luftverkehr“, sagt anne Siemons, „zunächst muss es                            Transparenz in der Klimafinanzierung.
darum gehen, Flüge zu vermeiden, notwendige reisen auf                                        a.siemons@oeko.de
12 IM FOKUS I InterVIeW

   “Es ist nicht
   mehr hip und                                                Die Tickets sind billig, das nächste attraktive ziel ist nah: Für vie-
                                                               le Menschen schien ein Flug in eine europäische Metropole lange

   cool, um die Welt                                           zeit nicht ungewöhnlicher als ein Ausflug in die Nachbarstadt. Wie
                                                               können sie dazu bewegt werden, weniger zu fliegen? Welche Ver-
                                                               antwortung tragen sie persönlich und was muss die Politik tun, um

   zu jetten“                                                  das Wachstum des Luftverkehrs zu begrenzen? Dazu haben wir mit
                                                               Prof. Dr. Stefan Gössling gesprochen. Er widmet sich an der schwe-
                                                               dischen Linnaeus Universität der Tourismusforschung und damit
                                                               auch der Frage, wie Reisen und Mobilität nachhaltiger werden kön-
                                                               nen.

   Professor Gössling, was können wir            derzeit der drittreichste Mensch der         spiel, die dem Luftverkehr überlegen
   von der COVID-19-Pandemie für den             Welt, basiert ja auf der assoziation mit     sind. dafür muss in die Fernbahnnetze
   Klimaschutz im Luftverkehr lernen?            guten taten. er könnte es sich ohne          investiert, müssen nachtzugverbindun-
   die erste Lehre ist auf jeden Fall: es gibt   Probleme leisten, den treibstoff für sei-    gen ausgebaut statt abgeschafft wer-
   viel mehr Luftverkehr als wir wirklich        nen Privatjet synthetisch mit Hilfe von      den. Man könnte auch die abschaffung
   brauchen. Im Grunde hatten wir schon          erneuerbaren energien produzieren zu         von Subventionen damit verbinden,
   vorher nachgewiesen, dass so viel ge-         lassen. Warum also fordern wir das nicht     dass die dadurch frei gesetzten Gelder
   flogen wird, weil die Subventionen des        von ihm ein?                                 für Projekte eingesetzt werden, die für
   Luftverkehrs hoch und die Preise da-                                                       eine positive gesellschaftliche entwick-
   durch niedrig sind. aber wenn man die         Wie lassen sich soziale Normen abseits       lung sorgen – etwa für bessere Fahrrad-
   Menschen fragt, welche Flüge für sie          der Superreichen wandeln?                    infrastrukturen in den Städten.
   wirklich wichtig sind, dann ist das nur       ein großer Schritt wurde aus meiner
   ein Bruchteil.                                Sicht durch Greta thunberg und Fridays       Warum tut die Politik nicht genug?
                                                 for Future gemacht. Ihnen ist es gelun-      Verkehr ist ein thema, vor dem die Po-
   Wie können Menschen dazu bewegt               gen, das Bild vom hippen Jetsetter in        litik stets zurückschreckt. denn Mobi-
   werden, weniger zu fliegen?                   Frage zu stellen und individuelle Verant-    lität ist sehr eng mit unserer Identität
   Wenn man den Preis erhöht, fliegen            wortlichkeit für emissionen zu fordern.      verbunden. Beim thema Luftverkehr
   die Menschen automatisch weniger.             durch Greta ist also ein sozialer normen-    heißt das: die wenigsten Menschen auf
   Hiermit erreicht man vor allem die re-        wandel in Gang gesetzt worden. auf           dieser Welt fliegen und die, die es tun,
   lativ große Gruppe der Menschen, die          einmal sind Vielfliegerinnen und Vielflie-   insbesondere die Vielflieger, bauen da-
   der Klimaschutz im Luftverkehr wenig          ger umweltsünder, es ist nicht mehr hip      rauf einen teil ihrer Persönlichkeit. Zu
   interessiert. außerdem sollten Subven-        und cool, um die Welt zu jetten.             der kleinen elite der Fliegenden gehö-
   tionen abgeschafft und eine Co2-Steuer                                                     ren zudem häufig auch die Politikerin-
   eingeführt werden. Ich plädiere außer-        Welche Botschaften sind am ehesten           nen und Politiker, die den Luftverkehr
   dem für eine risikosteuer. dass sich          geeignet, Verhaltensänderungen her-          eigentlich begrenzen sollten.
   CoVId-19 – und vorher SarS und MerS           beizuführen?
   – so schnell verbreiten konnten, ist ein      Beim Klimaschutz wird sehr viel mit          Vielen Dank für das Gespräch.
   resultat des immensen Luftverkehrs.           dystopien gearbeitet, also abstrakten        das Interview führte Christiane Weihe.
   neben den Kosten spielen aber auch            Bedrohungen von Mensch und umwelt,
   soziale normen eine wichtige rolle.           oder auch der einschränkung der per-
                                                 sönlichen Freiheiten. Wir leben in einer
   Was heißt das konkret?                        Gesellschaft, die bereits von vielen risi-
   es gibt zum Beispiel die Gruppe der Su-       ken gekennzeichnet ist, die den Men-
   perreichen, die aus meiner Sicht bislang      schen angst machen – wie aktuell die
   viel zu stark vernachlässigt wurde. rei-      Pandemie. doch angst ist ein lähmen-
   che Menschen, Promis und Superstars           des, kein aktivierendes Gefühl. Wenn
   verursachen durch ihren energiein-            wir den Klimawandel wirklich anpacken
   tensiven Lebensstil nicht nur immense         wollen, brauchen wir innere Stabilität,
   emissionen, sie sind damit auch Vorbild       das Gefühl von Sicherheit und positive
   für viele Menschen.                           Visionen.                                              Im Interview mit eco@work:
                                                                                                  Prof. Dr. Stefan Gössling, Professor für
   Wie lässt sich das ändern?                    Wie können diese Visionen aussehen?              Tourismus an der Linnaeus Universität
   Hier könnte sozialer druck helfen. das        es müssen attraktive alternativen sein.             sowie für Humanökologie an der
                                                                                                    Lund Universität (beide Schweden)
   Geschäftsmodell von Bill Gates etwa,          Pünktliche und schnelle Züge zum Bei-                    stefan.gossling@lnu.se
IM FOKUS I PortrÄtS 13

                                                  Prof. Dr. Eckhard Pache
                                                   Juraprofessor an der
                                                   universität Würzburg
            Christoph Brunn                                                                         Helmut Lutz
  Stellvertretender Bereichsleiter am         „Die Verkehrsverwaltung hat                          Mitinhaber des
              Öko-Institut                                                                    reisebüros Kopfbahnhof
                                                   sich zu lange darauf
                                                zurückgezogen, dass sich
   „Kerosin enthält deutlich mehr                                                           „Von Berlin nach Teneriffa
                                             Kerosin nicht besteuern lässt.“
  Schwefel als andere Kraftstoffe.“                                                           nur mit Zug und Fähre?
                                          es geht. und zwar schon seit mindes-                  Das geht durchaus!“
Sie sind noch ein recht junger For-       tens 15 Jahren. So lange ist es her, dass
schungsbereich: ultrafeine Partikel,      Prof. dr. eckhard Pache analysierte,         Mit dem Chef der deutschen Bahn, ri-
kurz uFP. „darunter versteht man Parti-   ob es rechtlich möglich ist, auf inner-      chard Lutz, ist er zwar nicht verwandt.
kel, deren durchmesser kleiner als 100    deutschen Flügen eine Kerosinsteuer          doch auch im arbeitsleben von Helmut
nanometer ist. Wirkungsstudien weisen     einzuführen. „das ist unproblematisch,       Lutz dreht sich alles um Zugreisen. „Mit-
darauf hin, dass sie schädlich für die    erfasst aber natürlich nur einen kleinen     te der 1990er Jahre hatte mein Kollege
Gesundheit sind. das thema ist beson-     anteil der treibhausgasemissionen des        Georg Fabian die Idee, ein auf Bahnrei-
ders sensibel, weil sie aufgrund ihrer    Luftverkehrs“, sagt er. auch auf interna-    sen spezialisiertes reisebüro aufzubau-
geringen Größe tief in den organismus     tionalen Flügen ist eine Kerosinsteuer       en“, sagt er, „an dieses thema wagte sich
eindringen können“, erklärt Christoph     aus Sicht des Juraprofessors durchaus        kaum jemand ran – viele unterschiedli-
Brunn. „uFP werden etwa bei allen Ver-    möglich. „als Gegenargument wird             che tarife und Strecken machten es zu
brennungsvorgängen verursacht, so         immer das abkommen über die Inter-           einer komplizierten arbeit.“ Helmut
entstehen im Straßenverkehr, aber auch    nationale Zivilluftfahrt von 1944 vor-       Lutz stieg mit ein und tüftelt bis heute
an Flughäfen große Mengen.“ Beim          geschoben“, sagt er. „aber dieses sieht      für Bahnreisende europaweite Verbin-
Start eines Flugzeugs können direkt an    nur vor, dass Kerosin, das sich bereits im   dungen aus, bis 2020 mit steigendem
der Piste durchaus mehrere Millionen      Flugzeug befindet, nicht besteuert wer-      erfolg. „die CoVId-19-Pandemie hat
solcher Partikel pro Kubikzentimeter      den darf. es gibt keine zwingende re-        dann allerdings zu einem massiven
gemessen werden.                          gelung für Flugbenzin, das neu getankt       rückgang der Buchungen geführt.“
                                          wird, soweit dies nicht in bilateralen
derzeit arbeitet Christoph Brunn an       Luftverkehrsabkommen vereinbart ist.“        das Buchen von europaweiten Zügen
einer Literaturstudie, die zentrale er-                                                sei für die Kundinnen und Kunden
kenntnisse zu uFP zusammenfasst. auf-     der Verzicht auf eine Kerosinbesteue-        in den vergangenen Jahren immer
traggeber ist das Forum Flughafen &       rung führe zudem zu einer ungleichbe-        schwieriger geworden, sagt Helmut
region, das sich dem dialog zwischen      handlung der verschiedenen Verkehrs-         Lutz. „Viele Bahngesellschaften sind aus
der Luftverkehrswirtschaft am Standort    mittel. „der Wunsch, das Fliegen nicht       dem internationalen Geschäft ausge-
Frankfurt und der region rhein-Main       zu teuer zu machen, war nach dem             stiegen, direkt bei der deutschen Bahn
widmet. „darüber hinaus soll es weitere   Krieg nachvollziehbar, weil Völkerver-       kann man etwa keine Fahrkarten mehr
Belastungs- und Wirkungsanalysen am       ständigung immens wichtig war“, sagt         für Frankreich oder england buchen.
Standort geben“, sagt der stellvertre-    Prof. Pache, „mit Blick auf die Klima-       außerdem wurden viele praktische
tende Leiter des Bereichs umweltrecht     schädlichkeit des Fliegens ist das heute     nachzugverbindungen gestrichen.“ ein
& Governance. „es existieren jedoch       aber kaum noch vertretbar.“ die derzeit      Fan von Zugreisen ist Helmut Lutz trotz-
bereits erkenntnisse zu konkreten Ge-     sinnvollste und am einfachsten durch-        dem bis heute. „Ich finde das Zugfah-
genmaßnahmen – wirksam sind bei-          setzbare option für europa seien zu-         ren viel bequemer als das Fliegen oder
spielsweise die entschwefelung des        nächst bilaterale abkommen zwischen          autofahren“, sagt er, „man steht nicht
treibstoffs oder die Vermeidung unnö-     den Mitgliedstaaten. „aber natürlich         ständig in einer Schlange oder im Stau,
tigen triebwerkeinsatzes, etwa durch      brauchen wir auch eine internationale        kann herumlaufen oder einfach ein gu-
Schlepper.“                         cw    Lösung.“                             cw      tes Buch lesen.“                     cw

c.brunn@oeko.de                           pache@jura.uni-wuerzburg.de                  info@kopfbahnhof.info
14 ARBEIT I aKtueLL

                                                               Ein längeres
                                                               Kunststoffleben
                                                               Wie kann es gelingen, dass mehr Produkte aus Kunststoffrezyk-
                                                               laten eingesetzt werden? dieser Frage widmet sich das Öko-In-
                                                               stitut in einem Projekt für das umweltbundesamt. „Kunststoffe
                                                               werden viel zu wenig wiederverwendet, erste Maßnahmen wie
                                                               höhere recyclingziele im Verpackungsgesetz wurden daher be-
                                                               reits beschlossen“, sagt Juliane dieroff aus dem Bereich umwelt-
                                                               recht & Governance. „doch das genügt nicht, damit sich ein sta-
                                                               biler Markt für Produkte aus Kunststoffrezyklat entwickelt.“ das
                                                               Projektteam legt unter anderem einen Fokus auf die öffentliche
                                                               Beschaffung und analysiert, wie diese zu einer höheren nach-
                                                               frage beitragen kann. „Wir widmen uns aber auch der Wirtschaft
                                                               und untersuchen, für welche Produkte ein höherer einsatz von
                                                               recycelten Kunststoffen in Frage kommt und welche Instrumen-
                                                               te dies fördern können“, erklärt die Wissenschaftlerin.

                                                               das Projekt „Prüfung konkreter Maßnahmen zur Steigerung der
                                                               nachfrage nach Kunststoffrezyklaten und rezyklathaltigen
                                                               Kunststoffprodukten“ wird gemeinsam mit dem Institut für öko-
                                                               logische Wirtschaftsforschung (IÖW) und der HtP GmbH umge-
                                                               setzt und läuft noch bis Sommer 2021.                    mas

           Pandemie und Plastik                                Geordnete Konflikte
           Wie wirken sich die Maßnahmen zur Bekämp-           Gesellschaftliche Konflikte im Zuge der ausgestaltung der ener-
           fung der CoVId-19-Pandemie auf die nutzung          giewende zu versachlichen und zu entemotionalisieren, dazu
           von einwegplastik aus? diese Frage steht im         will das neue Projekt „dezentrale energiewende zwischen sozia-
           Fokus einer aktuellen Studie für die europäi-       ler Gerechtigkeit, Systemkosten und umweltschutz – Zielkon-
           sche umweltagentur (eea). Im Projekt „Impact        flikte und Lösungsstrategien“ beitragen. „Grundsätzlich haben
           of CoVId-19 on single-use plastics and the en-      die dezentrale energiewende und die damit verbundene ver-
           vironment in europe” analysiert das Öko-Insti-      brauchernahe energieerzeugung etwa durch Photovoltaikanla-
           tut, wie sich die Produktion und der Verbrauch      gen natürlich viele Vorteile“, sagt Moritz Vogel vom Öko-Institut,
           von einwegplastik wie Verpackungen oder             „so kann zum Beispiel die energieversorgung demokratisiert
           einweghandschuhe sowie der Handel damit             werden und eine lokale Wertschöpfung entstehen.“ doch: es
           durch die Pandemie verändert haben und              gibt auch nicht beabsichtigte negative nebeneffekte, so soziale
           noch verändern können. „Zusätzlich widmen           ungleichheiten bei der Verteilung von Kosten und nutzen oder
           wir uns den damit verbundenen auswirkun-            ein höherer Flächenbedarf. diese identifiziert und bewertet das
           gen auf umwelt und Klima sowie der Frage,           Öko-Institut nun gemeinsam mit Germanwatch, der universität
           welche ergänzenden Maßnahmen die euro-              Leipzig und dem Wissenschaftszentrum Berlin. „In einer so ge-
           päische Politik mit Blick auf einwegplastik in      nannten argumentationslandkarte tragen wir unterschiedliche
           angriff nehmen könnte“, sagt Kathrin Grau-          Positionen zur dezentralität zusammen, ordnen sie und stellen
           lich, stellvertretende Leiterin des Bereichs Pro-   sie der Öffentlichkeit zur Verfügung“, so der Wissenschaftler aus
           dukte & Stoffströme.                                dem Bereich energie & Klimaschutz, „für dieses thema wurde
                                                               dies so noch nicht umgesetzt.“ darüber hinaus entwirft das Pro-
           das Projekt wird gemeinsam mit PlanMiljø            jektteam Lösungsstrategien für die Zielkonflikte. das vom Bun-
           (dänemark) und Idea Consult (Belgien) durch-        deswirtschaftsministerium geförderte Projekt läuft noch bis Ja-
           geführt und läuft noch bis Februar 2021. cw         nuar 2022.                                                   mas
15

Der nächste Schritt zur Endlagerung
Im September 2020 hat die Bundesge-          Gruppenleiterin entsorgung im Bereich      renz, die im ersten Halbjahr 2021 durch-
sellschaft für endlagerung (BGe) den         nukleartechnik & anlagensicherheit         geführt werden. „an ihnen können
Zwischenbericht teilgebiete veröffent-       des Öko-Instituts. „Wir begleiten diesen   Vertreterinnen und Vertreter etwa von
licht. darin sind jene regionen enthal-      Verfahrensschritt im rahmen eines ei-      Kommunen und Landkreisen, aber ins-
ten, die für die einrichtung eines endla-    genfinanzierten Projektes, um unsere       besondere auch Bürgerinnen und Bür-
gers für hochradioaktive abfälle grund-      unabhängige wissenschaftliche exper-       ger teilnehmen und sich so am Prozess
sätzlich geeignet sind – so zum Beispiel     tise in den Prozess einzubringen.“         beteiligen“, sagt neles. Im Zuge des bis
Lehnin in Brandenburg, das Fichtelge-                                                   Sommer 2021 laufenden Projektes ver-
birge in Bayern, aber auch Städte wie        die Wissenschaftlerinnen und Wissen-       öffentlicht das Öko-Institut Statements
Berlin oder Stuttgart. „dies führt natür-    schaftler befassen sich dabei unter an-    und Beiträge, die wichtige Positionen
lich zu einer hohen aufmerksamkeit für       derem mit der Methodik, die für den        analysieren und aktuelle Fragestellun-
das auswahlverfahren des endlager-           Zwischenbericht teilgebiete ange-          gen aufbereiten, und stellt relevante
standorts, jetzt sind erstmals Gebiete       wandt wurde, und begleiten die öffent-     Hintergrundinformationen zur Verfü-
benannt“, sagt Julia Mareike neles,          lichen Veranstaltungen der Fachkonfe-      gung.                               mas

Quartiere der zukunft
Wie kann eine nachhaltige Stadtent-          die Instrumente und gewonnenen er-
wicklung gelingen? Wie lassen sich Mo-       kenntnisse werden im Projekt traSIQ 2
bilität und Wohnen ökologisch und kli-       nun für zwei bestehende darmstädter
mafreundlich gestalten? diese Fragen         Quartiere – das Martinsviertel und Kra-
stehen im Fokus des Projektes „transfor-     nichstein-Süd – angewandt. Für sie be-
mative Strategien einer integrierten         steht in Sachen nachhaltigkeit ein noch
Quartiersentwicklung (traSIQ)“. Bereits      höherer Problemdruck als in neubau-
seit 2017 widmet sich das Öko-Institut       gebieten, es gibt viel Innovationspoten-
der kommunalen nachhaltigkeitssteue-         zial, aber auch viele umsetzungshemm-
rung in darmstadt. „diese so genannte        nisse, so zum Beispiel heterogene ei-
Schwarmstadt steht – genauso wie             gentumsverhältnisse. „Wir beschäftigen
etwa Leipzig oder Freiburg – durch den       uns gezielt mit den themen Mobilität,
starken Zuzug vor allem von jüngeren         Wärme und Wohnfläche“, so die stell-
Menschen vor besonderen Herausfor-           vertretende Leiterin des Bereichs res-
derungen“, sagt Stefanie degreif vom         sourcen & Mobilität. „Beispielsweise
Öko-Institut. Im ersten teil des Projektes   brauchen wir im Laufe eines Lebens mal
arbeitete das Projektteam, zu dem auch       mehr und mal weniger Wohnfläche –
die Wissenschaftsstadt darmstadt, das        dem muss auch die zukunftsorientierte
Institut für Landes- und Stadtentwick-       Stadtentwicklungsplanung rechnung
lungsforschung (ILS) und team ewen           tragen.“ neben der Weiterentwicklung
gehören, für die nachhaltige Planung         des online-tools auf Bestandsquartiere
eines neuen Stadtquartiers. „dabei ha-       werden unter Beteiligung von Pla-
ben wir ein webbasiertes analysetool         nungsforen Fahrpläne entwickelt, die
entwickelt, das es ermöglicht, verschie-     eine nachhaltige transformation mit
dene Gestaltungsmöglichkeiten für            Blick auf energetische Sanierung, Flä-
Quartiere zu simulieren und die effekte      chennutzung und Mobilität beschrei-
etwa auf die Co2-emissionen sichtbar         ben und begleiten. das vom Bundesmi-
zu machen. außerdem entstand ein             nisterium für Bildung und Forschung
neues Bürger-Beteiligungsformat, die         geförderte Projekt läuft bis März 2022.    das analysetool steht auf https://trasiq.
Planungsforen.“                                                                   cw    oeko.info/trasiq/ zur Verfügung.
16 ARBEIT I rÜCKBLICK

   Was kommt nach Paris?
   ab 2023 bilanzieren die Vertragsstaaten    mit dem Potsdam Institut für Klimafol-      auf welche Informationen und daten
   aus dem Pariser Klimaschutzabkommen        genforschung, dem newClimate Ins-           der Global Stocktake zurückgreifen soll-
   alle fünf Jahre die kollektiven anstren-   titute und dem Wuppertal Institut für       te, sowie Herausforderungen bewertet.
   gungen zur reduktion der treibhaus-        Klima, umwelt, energie Kriterien entwi-     „eine zentrale Herausforderung ist die
   gase durch den so genannten Global         ckelt, wie der Global Stocktake ausge-      bisher lückenhafte Berichterstattung
   Stocktake. „durch dieses Instrument soll   staltet sein sollte. „Zentrale Funktionen   vieler Länder über ihre emissionen. So
   die umsetzung des Pariser abkommens        sind aus unserer Sicht etwa, die nationa-   ist es schwierig, zu quantifizieren, wel-
   geprüft, kollektive Fortschritte sollen    len Klimaschutzziele zu erhöhen und zu      che emissionsminderung ihre Klima-
   bewertet und weiter angeregt werden“,      gewährleisten, dass die Länder rechen-      schutzziele bedeuten, sowie eine aus-
   erklärt anne Siemons vom Öko-Institut.     schaft über ihre Maßnahmen ablegen“,        sage über den kollektiven Fortschritt zu
   In der analyse „der „Global Stocktake“     so die Wissenschaftlerin aus dem Be-        treffen. Im Projekt haben wir neue Ins-
   unter dem Übereinkommen von Paris:         reich energie und Klimaschutz. darüber      trumente entwickelt, mit denen dieser
   ausgestaltung, Methodik und Prozess”       hinaus hat das Projektteam im auftrag       besser bewertet werden könnte“, sagt
   hat das Öko-Institut nun gemeinsam         des umweltbundesamtes analysiert,           anne Siemons.                        mas

   Mehr Wissen über Wasserstoff
   Wasserstoff kann nach energieeffizienz, dem direkten einsatz     erzeugt“, erklärt Matthes, „darüber hinaus gibt es aber etwa
   erneuerbarer energien und elektrifizierung zur vierten Säule     auch grauen Wasserstoff, der aus fossilen energien gewonnen
   der energiewende werden – unter bestimmten Voraussetzun-         wird. das dabei entstehende Co2 gelangt in die atmosphä-
   gen. „er muss klimaneutral hergestellt werden, also vor allem    re, daher ist ein ausbau der Wasserstoffwirtschaft auf dieser
   auf der Grundlage zusätzlicher erneuerbarer energien“, sagt      Grundlage klimapolitisch unverantwortlich.“ Für eine inte-
   dr. Felix Chr. Matthes, Forschungskoordinator energie- und       ressante kurz- bis mittelfristige option hält das Öko-Institut
   Klimapolitik am Öko-Institut, „unverzichtbar ist zudem eine      blauen oder türkisen Wasserstoff, der auf Basis von erdgas
   klare Strategie zur Frage, auf welche anwendungsbereiche         produziert wird, aber die Speicherung des gasförmigen Koh-
   der Wasserstoff-Markthochlauf vor allem ausgerichtet wer-        lendioxids (blauer Wasserstoff ) oder von festem Kohlenstoff
   den sollten. dazu gehört insbesondere, dass er in jenen Be-      (türkiser Wasserstoff ) erfordert und damit weitgehend kli-
   reichen zum einsatz kommt, für die es kaum andere optionen       maneutral bereitgestellt werden kann.
   gibt, treibhausgase zu vermeiden. also etwa in der eisen- und
   Stahlerzeugung, der chemischen Industrie, im Flug- und See-      Mit Blick auf die Kosten betont die Studie: emissionsfreier
   verkehr und bei der saisonalen Speicherung im Stromsystem.       Wasserstoff ist und bleibt ein relativ teurer Brennstoff. „es
   dies ist sinnvoll und notwendig, da der Bedarf an Wasserstoff    könnte sich lohnen, ihn in anderen Ländern zu produzieren,
   das angebot deutlich übersteigen wird.“                          da hier die erzeugungskosten zum teil niedriger sind“, sagt
                                                                    der experte, „dazu braucht es aber niedrige transportkosten
   In einer aktuellen Studie hat das Öko-Institut einen umfassen-   und ein robustes Zertifizierungssystem, das ökologische und
   den Überblick über den energieträger Wasserstoff erstellt. die   soziale Standards für die Produktion festlegt und so die nach-
   analyse widmet sich dem Stand und den Perspektiven der           haltigkeit des Wasserstoffs absichert.“ dieses könne zunächst
   technik, den Kosten sowie der nachfrage und den benötig-         in deutschland und der eu und anschließend schrittweise
   ten Infrastrukturen. Sie zeigt darüber hinaus, wie Wasserstoff   auch in Ländern außerhalb europas angewendet werden.
   hergestellt werden kann, damit er zum Klimaschutz beiträgt.                                                                 cw
   „Grüner Wasserstoff wird mit Hilfe von erneuerbaren energien
17

Emissionen aus dem Serverraum
rechenzentren sind ein wesentlicher Bestandteil der digita-    gangenheit oft als Co2-Schleuder bezeichnet, verursacht im
len Infrastruktur. ohne die zentrale datenverarbeitung wäre    rechenzentrum beispielsweise gerade mal 1,5 Gramm Co2-
unsere heutige Kommunikations-, arbeits- und Lebensweise       Äquivalente (Co2e) pro Stunde. einen größeren Co2-Fußab-
nicht möglich. umso überraschender ist es daher, dass über     druck hinterlässt die nutzung von Cloud-Software. In einer
den energieverbrauch und die Klimawirksamkeit von rechen-      Behörde wurden 59 Kilogramm (kg) Co2e pro Server-basier-
zentren bisher so wenig bekannt ist. Mit dem Projekt „Green    tem office-arbeitsplatz im Jahr gemessen. das ablegen eines
Cloud-Computing“ im auftrag des umweltbundesamtes soll-        terabytes an daten in einem online-Speicher verursacht so-
te diesem Informationsdefizit abhilfe geschaffen werden.       gar 100 bis 150 kg Co2e pro Jahr.
„Wir haben eine einheitliche Methodik entwickelt, um den
umweltfußabdruck von rechenzentren und Cloud-diensten          das Projekt „Green Cloud-Computing“ ist ein wichtiger Schritt
zu berechnen“, sagt Jens Gröger, Wissenschaftler im Bereich    für mehr Klimaschutz bei digitalen Infrastrukturen. „In Zu-
Produkte & Stoffströme.                                        kunft können für rechenzentren und Cloud-dienste damit
                                                               vergleichbare Berichtspflichten eingeführt werden wie sie für
anhand von Beispielen wurde die Methodik in der Praxis         andere energieintensive Sektoren gelten“, sagt Jens Gröger.
angewendet. das Streaming von Videofilmen, in der Ver-                                                                 mas

Ein bereicherndes Verfahren
ob die entsorgung radioaktiver abfälle     selbst das Verfahren als notwendig und   „Wichtig ist zum Beispiel, dass Kritik und
erfolgreich ist, ist auch davon abhän-     bereichernd empfinden, sind zudem        diskurse als positiv wahrgenommen,
gig, wie gut die gesellschaftlichen rah-   Lernen und reflexivität möglich.“        ja sogar früh eingefordert und in die
menbedingungen und erwartungen                                                      behördlichen arbeitsabläufe reflexiv
berücksichtigt werden. daher sieht das     In einem vom Bundeswirtschaftsmi-        integriert werden“, erklärt dr. Melanie
Gesetz für die Suche nach einem Stand-     nisterium geförderten Projekt hat das    Mbah, Wissenschaftlerin im Bereich nu-
ort für ein endlager für hochradioaktive   Öko-Institut gemeinsam mit dem Ins-      kleartechnik & anlagensicherheit. „auf
abfälle (Standortauswahlgesetz) ein        titut für technikfolgenabschätzung       eine aktive Partizipationsgestaltung
selbstlernendes, reflexives Verfahren      und Systemanalyse (ItaS) und dem         und neue Beteiligungsformen sowie
vor. „die Wechselwirkungen zwischen        Forschungszentrum für umweltpolitik      eine offene Kommunikationskultur, die
technischen und sozialen anforderun-       (FFu) der Fu Berlin untersucht, welche   auch externe expertise einbezieht und
gen sind eine große aufgabe für alle       soziotechnischen Herausforderungen       die Möglichkeit von rückschritten ak-
Beteiligten“, sagt dr. Bettina Brohmann,   bei der entsorgung radioaktiver ab-      zeptiert, kann nicht verzichtet werden.“
Forschungskoordinatorin transdiszipli-     fälle bestehen. das Projekt „Konzepte
näre nachhaltigkeitswissenschaften am      und Maßnahmen zum umgang mit             Für die weitere Forschung in diesem Be-
Öko-Institut, „denn die erwartungen an     soziotechnischen Herausforderungen       reich empfiehlt das Projektteam, weiter
das Verfahren sind hoch – es soll zudem    bei der entsorgung radioaktiver abfäl-   auf einen transdisziplinären ansatz zu
partizipativ, wissenschaftsbasiert und     le (SoteC-radio)“ widmet sich zudem      setzen. „die einbeziehung unterschied-
transparent sein.“ daher sei es unter      der Frage, wie sich betroffene und in-   licher erfahrungen, Haltungen und
anderem wichtig, dass institutionelle      teressierte akteurinnen und akteure      Sichtweisen ist in diesem Prozess unver-
akteurinnen und akteure offen und          gut in die technischen debatten und      zichtbar“, so dr. Bettina Brohmann.
kooperationsbereit sind. „nur wenn sie     entscheidungen einbeziehen lassen.                                            cw
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