Bikini - die unglücklichen Inseln - Von WWuullff DD.. HHuunndd

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Bikini – die unglücklichen Inseln
   Von Wulf D. Hund

                                                                  „[D]ie vollends aufgeklärte Erde
                                                         strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“
                                                                        (Dialektik der Aufklärung)

R    assistisches Einfühlungsvermögen kann tödlich sein. Zur Dialektik der
     Aufklärung gehört, dass es dort, wo es vermeintliches Glück imaginiert,
latente Aggressionen entwickelt. Unverhüllt offenbart das der Name Bikini,
den westliche Einbildungskraft und Erfindergeist zur perversen sprachlichen
Verbindung paradiesischen Insellebens, verführerischer Weiblichkeit, imperi-
aler Willkür und atomarer Verseuchung gemacht haben.
   Am 1. Juli 1946 (Ortszeit) fand auf Bikini der erste von 23 Kernwaffenversu-
chen statt. Die Bewohner des Atolls hatten zuvor der ihnen vom amerikani-
schen Militärgouverneur der Marshall-Inseln unterbreiteten Aufforderung
zugestimmt, ihre Insel „zum Wohle der Menschheit“ vorübergehend zu ver-
lassen. Der Zynismus dieses Ansinnens stand in einer langen Tradition imagi-
nierter glücklicher Inseln und ihrer Bewohner. Die Vorstellung, andere lebten
in nicht entfremdeten Verhältnissen, erlaubte einerseits Bilder unbeschwerten
Vergnügens; andererseits wurde denen, die solcher Zuschreibung unterlagen,
ihr paradiesisches Dasein solange mit Dummheit, Faulheit und Geilheit ver-
rechnet, bis sie geschichtslos, kulturlos und nutzlos erschienen.
   Solche Bilanz findet sich schon in der triebökonomischen Buchführung
Immanuel Kants. Sie betrachtet den Menschen als Wilden, der sich durch
Arbeit zur Zivilisation emporarbeitet. Weil das mit Mühe verbunden ist, legt er
gelegentlich eine Pause ein und sehnt sich nach einem Paradies, in dem sich
untätig glücklich sein lässt. Sein Trieb zur Perfektionierung reißt ihn aber
immer wieder aus solchen Träumen. Im Licht der Vernunft betrachtet, gelten
ihm Menschen, die nur genießen, als „überflüssig“. Deswegen meint Kant, es
wäre kein Verlust, wenn Tahiti unterginge. Für das aufgeklärte Bewusstsein
sind glückliche Inseln nutzlose Produkte der Einbildungskraft.1
   Ihre Annektierung im Verlauf der europäischen Expansion hat indessen
reale Folgen. Als die Spanier die mythischen insulae fortunatae der Antike auf
den Kanaren erobern, erwartet deren ehemals als glücklich geltenden Bewoh-
nerinnen und Bewohner Tod und Sklaverei. Ihre Nachkommen sind materiell

1 Über Inseln unterrichten allgemein Rod Edmond und Vanessa Smith (Hg.), Islands in History and
  Representation, London 2003, und John R. Gillis, Islands of the Mind. How the Human Imagination
  Created the Atlantic World. New York 2004; zum hier angesprochenen Zusammenhang vgl. auch Wulf
  D. Hund, Negative Vergesellschaftung. Dimensionen der Rassismusanalyse, Münster 2006, S. 42-45.

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und kulturell enteignet, als Kolumbus auf seinem Weg in die neue Welt dort
Station macht. Der größte Teil der glücklichen Menschen, die er kurz danach
auf Haiti vorfindet, wird innerhalb weniger Jahre ausgerottet. Anschließend
entwickelt sich die Insel zum Laboratorium kolonialer und imperialer Politik,
wovon sie sich bis heute nicht erholt hat. In Zukunft sollte es noch viele glück-
liche Inseln geben.

  Plünderung im Paradies

Dabei hatte Kolumbus beim Anblick Haitis nicht nur an die Aneignung seiner
Bodenschätze und die Versklavung seiner Bewohner gedacht. Weil sie nackt
waren und kein Eigentum zu kennen schienen, war er zunächst unsicher, ob
sie nicht noch im goldenen Zeitalter lebten. Zudem zeigte er sich überzeugt,
dass das irdische Paradies nicht weit entfernt sein konnte. Weil er es gerne den
Himmeln näher wissen wollte, schlug er sogar vor, die gerade verifizierte
Gestalt der Erde aus der Form einer Kugel in die einer Birne zu transformieren.
Deren Ausbuchtung verglich er mit der Brust einer Frau, und die Brustwarze
schien ihm kein schlechter geographischer Ort für den Garten Eden.
   Gleichzeitig machte bereits die Praxis seiner Expedition deutlich, dass die
Eroberung des Paradieses dessen Bild nicht unangetastet lassen würde. Die
Heimkehrer aus dem Land jenseits von Eden deuteten Unbefangenheit als
Schamlosigkeit und Gastfreundschaft als Prostitution. Das Paradies galt ihnen
als Garten der Lüste, und die Ohnmacht ihrer Opfer interpretierten sie als
Freibrief für sexuelle Gewalt. Nachdem Michele de Cuneo, Teilnehmer der
zweiten Reise des Kolumbus, mit dessen Billigung eine Indianerin vergewal-
tigt hatte, schrieb er nach Hause, sie hätte sich dabei angestellt wie eine pro-
fessionelle Hure.2
   Auch die Imagination der harmonischen Einheit von Mensch und Natur
wurde revidiert. Die Kolonisierung der Wünsche verkehrt die Vorstellung vom
Paradies. Der Garten Eden erscheint den zivilisierten Rückkehrern als nutz-
lose Wildnis, seine Bewohner als ebenso ursprünglich wie primitiv. Während
sich die vom Engel der Geschichte vertriebenen Sünder durch eigene Arbeit
emanzipiert haben, müssen diejenigen, die im Zustand der Unschuld verhar-
ren, zur Arbeit gezwungen werden.
   Die imaginierten Paradiese der Neuzeit sind ambivalent; ihre Daseinsbe-
rechtigung beschränkt sich auf Träume unerfüllbarer Sehnsucht. Als von Wil-
den bevölkerte Natur werden sie zum Ärgernis. Ihr ungenutztes Land gilt als
Freibrief seiner Aneignung. Wie weiland der Zorn Gottes die Sünder, trifft
jetzt die Zivilisation der Europäer die Primitiven. Ihr faules Verharren im
Naturzustand wird ihnen als Verfehlung ausgelegt. Die Kultivierung der
glücklichen Inseln unterwirft sie einem Netz von Zwecksetzungen und Inter-
pretationen. Sie sind Paradies, Schatzinsel, Utopia, Stützpunkt, Laboratorium
und Gefängnis in einem.
2 Kolumbus’ paradiesische Brustwarzenphantasien und Cuneos Gewaltsexualität diskutiert Tzvetan
  Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985, S. 25 f., 63 f.

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Dass die neu entdeckten Paradiese Schätze bergen müssten, galt für die euro-
päischen Eroberer als ausgemacht. Genau genommen hatten sie sich nur des-
wegen den Mühen der Entdeckung unterzogen. Vom Edelmetall bis zum
Vogelmist erhoben sie Anspruch auf alles, was sich verwerten ließ. Als
Gewürzinseln oder Zuckerinseln schlugen sie weiter Profit aus ihnen, wenn
sich ihr natürlicher Reichtum erschöpft hatte. Dabei machten sie sich nicht nur
die Erde untertan, sondern auch deren Bewohner.
   Neben der Plünderung ihrer Ressourcen boten die glücklichen Inseln
noch weiteren praktischen Nutzen. Sie dienten als Stützpunkte der kolonia-
len Expansion Europas und waren entsprechend strategisch umkämpft.
Dass sie nebenbei so gut es ging ausgebeutet wurden, stand außer Frage.
Nicht wenige von ihnen mussten dabei verschiedene Phasen des Kolonia-
lismus über sich ergehen lassen. Sri Lanka etwa, dessen Botschaft in
Deutschland noch heute darauf hinweist, dass es den Griechen und Römern
des Altertums als geographischer Ort des Paradieses gegolten hätte, wurde
nacheinander von den Portugiesen, Holländern und Engländern beherrscht.
Die Ersten begnügten sich mit den Einkünften des der ursprünglichen
Akkumulation dienenden Raubkapitalismus. Die Nächsten setzten zur
Unterstützung ihrer handelskapitalistischen Bedürfnisse auf Zwangsarbeit
zur Gewinnung von Zimt und anderen Spezereien. Die Letzten experimen-
tierten mit Kaffee, Tee und Gummibäumen und veränderten mit ihrem Plan-
tagenkapitalismus gründlich das Antlitz und die Bevölkerungsstruktur der
Insel.
   Selbst ohne Bodenschätze ließen die glücklichen Inseln sich nutzbar
machen. Konnten sie nicht in Arbeitslager für ihre autochthonen Bewohner
oder importierte Sklaven verwandelt werden, so doch immer noch in Strafla-
ger für die eigenen Wilden, den als minderwertig betrachteten so genannten
Ausschuss Europas. Portugal bediente sich des weit vom brasilianischen Fest-
land entfernten Archipels Fernando de Norhona, wo Amerigo Vespucci, als er
1503 seinen Fuß auf die Inseln setzte, ausgerufen hatte: „Hier ist das Para-
dies“, alsbald als Straflager.

   Elysische Versuchsgelände

Auch für die indigene Bevölkerung wurden ihre glücklichen Inseln zu
Gefängnissen, aus denen es kein Entrinnen gab und wo sie entweder Tod oder
Arbeitsdienst erwartete. Den Eroberern dienten sie dabei gleichzeitig als
Laboratorium, in dem sich mit Mensch und Natur experimentieren ließ.
  Der ökologische Imperialismus studierte auf ihnen schon vor der Entde-
ckung Amerikas die Auswirkungen des Imports europäischer Pflanzen und
Tiere. Von Porto Santo mussten die Portugiesen vor den von ihnen selbst aus-
gesetzten Kaninchen, die dort die gesamte Vegetation vernichteten und das
Antlitz der Insel nachhaltig veränderten, nach Madeira fliehen. Das von sei-
nen ersten Besuchern als irdisches Paradies voll üppiger Wälder und klaren
Wassers beschriebene St. Helena wurde von portugiesischen Ziegen und

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englischen Siedlern derart entwaldet, dass Erosion und Trockenheit es zu
einem ökologischen Problemfall werden ließen.
   Der genozidale Imperialismus studierte auf den glücklichen Inseln die Kom-
plizenschaft europäischer Krankheiten bei der Besiegung und Ausrottung
autochthoner Bevölkerungen und half, wo sie ihr Werk nicht nachhaltig ver-
richteten, mit politischen und kulturellen Gewaltmaßnahmen nach. Teneriffa
etwa konnten die Spanier nur erobern, nachdem seine Bewohner durch eine
eingeschleppte Seuche nahezu vollständig dezimiert worden waren. Crosbys
Bemerkung, jedes Eden hätte seine Schlange, verweist in diesem Fall darauf,
dass jene von außerhalb des Paradieses kam. Dessen ursprüngliche Bewohner
wurden hingegen zunehmend verdächtigt, gefallene Engel zu sein. Der engli-
sche Maler John Glover zeichnete die Tasmanier als schwarze Teufel, die aus
dem Paradies entfernt werden müssten. Zur selben Zeit wurden diejenigen,
die die gewaltsame Landnahme und den Kulturkontakt mit den Europäern
überlebt hatten, zusammengesammelt und auf einer kleinen, Tasmanien vor-
gelagerten Insel interniert und zu Tode zivilisiert.3
   Von den unzufriedenen Geistern, die die Entwicklung der Moderne theore-
tisch begleiteten, wurde ihnen keine Hilfe zuteil. Zwar boten sich ihnen Inseln
als ideale Schauplätze einer Kritik an den bestehenden Verhältnissen an. Von
Morus bis Swift zeigten sie sich freilich nur dann glücklich, wenn sie der Herr-
schaft der Vernunft unterworfen waren. Die Bewohner der glücklichen Inseln
der Sozialutopien haben allesamt vom Baum der Erkenntnis gekostet. Die
Utopier hielten Sklaven, und im Land der Houyhnhnms wurde über die Eutha-
nasie der Yahoos diskutiert.
   Unter diesen Bedingungen ging es im Paradies alles andere als unschuldig
zu. Erkenntnis unter Palmen rationalisierte deren Nutzlosigkeit von der
Kokosplantage bis zur Silhouette für Robinson-Clubs. Gegenüber dem, was in
seiner Unmittelbarkeit zu verharren schien, ersann sie schließlich die Mittel,
sein sinnloses Dasein ganz zu beenden.

   Zum Wohle der Menschheit

Als am 1. Juli vor 60 Jahren auf Bikini die Kernwaffenversuche begannen,
waren die Bewohner der Inseln bereits deportiert und auf das östlich gelegene
Rongerik-Atoll gebracht worden. Rongerik war wesentlich kleiner als Bikini,
hatte unzureichende Nahrungsressourcen und verfügte nur über eine man-
gelhafte Wasserversorgung. Obwohl sie schon nach kurzer Zeit körperlich
vom Hunger gezeichnet waren, wurden die Bikinianer nur notdürftig ver-
pflegt und erst zwei Jahre nach ihrer Deportation auf das Kwajalein-Atoll eva-
3 Vgl. Alfred C. Crosby, Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900-1900, Cam-
  bridge 1986 (wo sich auf S. 92 die Bemerkung zur Schlange im Paradies findet); Richard H. Grove,
  Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism,
  1600-1860, Cambridge 1995 (das Beispiel St. Helena wird hier auf S. 95-125 diskutiert); zur Geschichte
  der Tasmanier Lyndall Ryan, The Aboriginal Tasmanians, Crowns Nest 21996; Glovers Bilder unter-
  sucht Bernard Smith, European Vision of the South Pacific, Melbourne 21989 (wo sich S. 268 die Bemer-
  kung findet, dass der Maler die Aborigines als aus dem Paradies zu entfernende „kleine schwarze
  Teufel“ darstellte).

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kuiert. Dort siedelte man sie in Zelten neben der Rollbahn des amerikanischen
Militärflughafens an, bis ein anderer Platz für sie gefunden war. Im November
1948 verschiffte man sie auf die Insel Kili.
   Die einstmals autonome Gruppe war mittlerweile zum Versorgungsfall
geworden. Das änderte sich auch im neuen Domizil nicht. Kili war eine Insel
ohne Lagune, die agrarisch nutzbare Fläche klein und unzureichend, die
umgebende raue See zum Fischfang weitgehend ungeeignet. Schon nach
kurzer Zeit betrachteten die Bikinianer sie als Gefängnisinsel.
   An eine Rückkehr auf ihr Atoll war vorerst nicht zu denken. Das atomare
Wettrüsten führte dazu, dass – nach den beiden ersten Versuchen 1946 – zwi-
schen 1954 und 1958 mehr als 20 weitere Nukleartests durchgeführt wurden.
Beim stärksten von ihnen explodierte die Wasserstoffbombe „Bravo“ mit einer
Sprengkraft von 750 Hiroshima-Bomben. Nach Abschluss der Versuche
waren drei der Inseln des Bikini-Atolls verschwunden. Sie waren so überflüs-
sig gewesen, dass sie zum Wohle der Menschheit verdampft werden konnten.
   Schließlich gaben die Amerikaner Rückkehrversprechen. Obwohl 1972
ernsthafte Hinweise auf eine andauernde Strahlenbelastung existierten und
sich die Mehrheit der Exilierten für weiteres Warten entschied, wurde einer
Gruppe von Heimwehkranken die Rückkehr erlaubt. 1975 stellte man bei
ihnen Anzeichen erhöhter radioaktiver Belastung fest; 1977 konnte im Trink-
wasser eine die für die USA maßgeblichen Höchstwerte drastisch überstei-
gende Radioaktivität gemessen werden; 1978 mussten die Bikinianerinnen
und Bikinianer ihre Insel wieder verlassen und wurden nach Ejit im Majuro-
Atoll gebracht. Für die Vertreter US-amerikanischer Behörden galten sie
fortan als „die beste verfügbare Datenquelle zum Transfer von Plutonium, das
von einem biologischen System durch die Darmwände aufgenommen
wurde“. So waren die für überflüssig erklärten ehemaligen Bewohner eines
idealen Versuchsgeländes doch noch zu etwas gut.4

   Ein verstrahltes Utopia

Ende der 80er Jahre wurden neue Pläne zur Verwertung des verstrahlten
Paradieses geschmiedet. Das „New York Times Magazine“ vom 1. Mai 1994
berichtete unter dem anzüglichen Titel „Bombing Bikini Again (This Time
With Money)“, die Bikinianer wollten ihre Heimat als atomaren Unterwasser-
park und Atommülldeponie vermarkten. Für den Nukleartourismus gab es
bereits eine viel versprechende Vorstudie – schließlich war das Atoll gleich
mehrfach attraktiv und bot neben kilometerlangen Sandstränden Tauchgänge
zu versunkenen Kriegsschiffen und Begegnungen mit Haien. Mit der Verklap-
pung radioaktiver Abfälle, für die der an die Stelle der verdampften Inseln

4 Zu Bikini vgl. Jack Niedenthal, For the Good of Mankind. A History of the People of Bikini and their
  Islands, Majuro 22001, und Robert C. Kiste, Bikinians. A Study in Forced Migration, Menlo Park 1974;
  vgl. auch die Website der Bikinianer (www.bikiniatoll.com) sowie den Bericht des Micronesia Support
  Committee, Marshall Islands. A Chronology 1944-1981, Honolulu 1981. Das Zitat über die „beste ver-
  fügbare Datenquelle“ stammt aus John May, Das Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters. Daten –
  Fakten – Katastrophen, München 1989, S. 141.

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getretene Bombentrichter als Deponie dienen könnte, ließen sich angeblich
Milliarden verdienen. Unter vier Augen soll ein Mitglied des Bikini Council
den Journalisten anvertraut haben, am liebsten beide Geschäfte machen zu
wollen.
   Die touristischen Pläne sind mittlerweile realisiert worden. Im Juli 2000
erklärte das Magazin „Condé Nast Traveller“ Bikini zu einem der 50 weltweit
besten Plätze entspannter Inselurlaube und schrieb, es gäbe nur wenige Orte,
die dem Garten Eden ähnlicher sähen. Schon drei Jahre zuvor hatte die „New
York Times“ geschwärmt, wie lebendig Bikini wäre: ein weißer Strand voller
Kokospalmen, die sich über einer perfekt türkisfarbenen See wiegen. Zur sel-
ben Zeit wurde es vom „Sportdiving Magazine“ als Postkarten-Korallenatoll
und im Fernsehprogramm von MSN und NBC als tropisches Paradies
beschrieben. Das Magazin „Field&Stream“ erklärte es zum Anglerparadies
und das „Men’s Journal“ zum Taucherparadies. Die Chefredakteurin von
„Women Underwater“ meinte schlicht, für sie wäre Bikini mit seiner Geister-
flotte bei den Bombenversuchen versenkter Schiffe und seinem weißen, wei-
chen Sand einfach Utopia.
   Die Perversität solcher Phantasien besteht nicht nur darin, dass sie die ver-
strahlten Inseln zu Urlaubsparadiesen erklären, sondern vor allem darin, ihre
zwangsweise Entvölkerung als paradiesische Ruhe zu genießen. Zwar kam
1998 ein Report der Internationalen Atomenergiebehörde zu dem Ergebnis,
Bikini könne wieder dauerhaft besiedelt werden. Bei den herangezogenen
Messwerten war allerdings eine akzeptable Strahlendosis von 100 Millirem
zugrunde gelegt worden. Als die Bikinianer erfuhren, dass die entsprechen-
den Standards der US-amerikanischen Environmental Protection Agency bei
15 Millirem liegen, forderten sie die Anwendung dieses Wertes bei den Mes-
sungen auf ihrem Atoll.
   Dieser Wert wurde auch im Verfahren vor dem Nuclear Claims Tribunal der
Republik Marshallinseln zugrunde gelegt. Das Urteil sprach den Bikinianern
eine Entschädigung von über 563 Millionen US-Dollar zu – davon 278 Millio-
nen für vergangene und zukünftige Nutzungsverluste ihres Atolls, rund 251
Millionen für eine sichere Entsorgung und Rekultivierung der Inseln und fast
34 Millionen für erlittene Härten. Ob und wann sie dieses Geld jemals erhalten
werden, ist unklar.
   Dass sich in der Ära des globalen Kapitalismus Nutzung und Wiederherstel-
lung des Paradieses berechnen lassen, ist nicht verwunderlich. Die Sichtweise
des Tribunals machte sich dabei allerdings die Spannbreite neuzeitlicher west-
licher Inselbilder zunutze, die von Robinsons Eiland bis zu Bougainvilles
neuem Kythera reichen. Das eine war unkultiviert und von Barbaren umgeben,
musste durch gehörige Disziplin, Mühe und Schweiß nutzbar gemacht werden
und bot auch dann nur ein gefahrenvolles und einsames Leben, das lediglich
von einem Wilden geteilt wurde. Auf dem anderen herrschten Müßiggang und
Freiheit. Die Bewohner zeigten sich gastfreundlich, und die schönen Tahitiane-
rinnen warfen sich den fremden Männern ungeniert an den Hals.
   Die Freuden solchen in höchsten Tönen gepriesenen Insellebens wurden
bei der Berechnung des Schmerzensgeldes für die Bevölkerung Bikinis offen-

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sichtlich nicht in Anschlag gebracht. Die drei Milliarden US-Dollar, die nach
einem Urteil erster Instanz der Tabakkonzern Philip Morris einem einzigen
durch seine Produkte geschädigten Raucher zahlen sollte, sprechen da eine
andere Sprache. Die sehr viel niedrigeren vergleichbaren Summen für die
Kosten kurzfristig ausführbarer, aber technisch aufwändiger Aufräumarbeiten
und die Ausgleichszahlung für eine über viele Jahrzehnte unmögliche ökono-
mische Nutzung der Inseln zeigen, dass es hier einerseits um die Bezahlung
von Industrieunternehmen und andererseits um die Abgeltung der Besitzer
von Kokospalmen geht. Die aber werden nicht nach ihrem romantischen Wert,
sondern nach dem durchschnittlichen Marktwert von Kopra taxiert.

   „Put the blame on Mame“

Die erste über Bikini abgeworfene Bombe hieß offiziell „Abel“. Der Zynismus
dieser bigotten Namengebung ist schwer zu überbieten. Der Name des von
seinem Bruder Kain, dem Vater der Sesshaften, ermordeten Hirten Abel
wurde der Bombe gegeben, die das Land der als Nomaden der Meere imagi-
nierten Südseeinsulaner zerstören sollte. Der Brudermord wiederholte sich als
Reinigungszeremonie, die das Kainsmal der Heimat der angeblich Unbehaus-
ten einbrennen und die Täter von ihm befreien sollte. Sie waren die Ingeni-
eure einer strahlenden Zukunft, der jene zu weichen hatten.
   Die Mannschaft der Maschine freilich, aus der die Bombe abgeworfen wer-
den sollte, hatte das Flugzeug „Dave’s Dream“ genannt und das Bodenperso-
nal die Bombe „Gilda“ getauft. Das war der Name der von Rita Hayworth
gespielten Hauptfigur eines gerade mit großem Erfolg angelaufenen Films.
Sie interpretierte die Figur zwischen „bombshell“ und „femme fatale“ und
machte in einem von ihr gesungenen Lied die erotische Ausstrahlung einer
Frau für allerlei Katastrophen verantwortlich. In dessen Refrain hieß es: „Put
the blame on Mame, boys, put the blame on Mame“ – damit wurde einer um
des Reimes willen Mame genannten universellen Eva die Schuld am Elend der
Welt zugeschrieben.5
   Die an der Operation Crossroads beteiligten Mannschaften waren bestimmt
keine Vorläufer dekonstruktivistischer Philosophen. Aber sie wussten, dass sie
an einem welthistorischen Unternehmen beteiligt waren. Und sie handelten
symbolisch. Der von ihnen auf die Bombe geschriebene Name wurde schon
allein durch deren Sprengkraft zugleich dem Namen als Potential der Ver-
nichtung eingeschrieben. Daves Traum war es, die Bombe mit dem Namen
Gilda gegen dessen durch die glücklichen Inseln symbolisierte Macht der Ver-
führung zu richten – und sich so ein für allemal von den sinnlosen Imaginatio-
nen nicht entfremdeten Lebens zu befreien. Die Explosion der sexualisierten
Bombe auf den von erotischen Phantasien überzogenen Südseegestaden
5 Auf die Namensgebung „Gilda“ für die Bombe „Able“ verweist Gerald G. Gross in seinem Bericht für
  die „Washington Post“ vom 1.7.1946; für den Hinweis auf Rita Hayworths Song danke ich Tana Schirr-
  macher. Auch die zweite zur Explosion gebrachte Bombe, die offiziell „Baker“ hieß, bekam von den
  beteiligten Mannschaften einen Frauennamen. Nach der angeblich für den Trojanischen Krieg verant-
  wortlichen schönen Helena hieß sie „Helen of Bikini“.

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würde deren Anziehungskraft vernichten. Die Bombardierung der glück-
lichen Inseln war die Gegenprobe zur Bilanz der Zivilisation. Nur durch deren
Zerstörung konnte jene aus den roten Zahlen kommen.
   Es ist nicht überliefert, ob die Besatzung von „Dave’s Dream“ sich bewusst
war, dass ihre Mission in einer langen Tradition herrschaftlich abgesicherter
Männerphantasien stand. Schon die Spanier hatten, indem sie Eva gleichzei-
tig vergewaltigten und zur Hure erklärten, demonstriert, dass sich die Verlo-
ckung des Baumes der Erkenntnis durch die Ausübung schierer Gewalt im
Zaum halten ließ.

  Jenseits von Eden

Weil sich die Tragödien der Weltgeschichte angeblich nur als Farce wiederho-
len lassen, wurde die von den Konquistadoren entwickelte Methode im Bikini-
zeitalter von einem mittelmäßigen Dessousdesigner aus Paris kopiert. Der von
ihm geplanten Präsentation eines zweiteiligen Badeanzugs kam zwar ein
Couturier von den Champs-Élysées zuvor, der sein Modell angesichts der
aktuellen Diskussion „Atome“ nannte. Ihm gegenüber setzte er aber mit
Erfolg auf deutlich weniger Stoff und hatte auch bei der Namengebung das
bessere Gespür. „Bikini“ schien ihm nicht nur mit der nuklearen Explosivkraft
verbunden, sondern gleichzeitig „winzig klein, paradiesisch, erotisierend“
und von daher der ideale Name für sein Produkt zu sein. Für seine Vorführung
konnte er, des knappen Zuschnitts wegen, als Mannequin allerdings nur eine
Stripteasetänzerin gewinnen.
   Mit der Assoziation von Atombombe und Sexbombe verband er ebenso
wenig die Vorstellung weiblicher Freiheit und Selbstermächtigung wie der
Schriftzug Gilda auf der Bombe Abel. Die drastische Reduktion des Stoffes
setzte nur vorgeblich auf Befreiung und enthielt ebenso wie seine Zerteilung
ein Element voyeuristischer Lüsternheit. Dessen latentes Umschlagen in
Gewalt hat in der weiteren Verknappung bis hin zu jenem schmalen Streifen,
der sich Extrembikini oder Mikrobikini nennt, stofflichen Niederschlag gefun-
den. Gleich einer Trense durch Nates und Vulva gezogen, signalisiert er jene
Form unschuldiger Nacktheit, von der sich der chauvinistische Betrachter zum
beherzten Zugriff aufgefordert fühlt. Unter ein und demselben Namen wurde
das insulare Sinnbild des Paradieses zerstört und Eva gleichzeitig entblättert
und an die Kandare genommen.
   Der geschäftstüchtige Modemacher erwies sich so als würdiger Nachfahre
Gauguins. Der war sich sicher gewesen, in den Augen der glücklichen Bewoh-
nerinnen der Südseeparadiese „ein gewisses Verlangen nach Vergewalti-
gung“ wahrnehmen zu können. Als er das bei seiner 13jährigen tahitiani-
schen Geliebten befriedigte, schien sie ihm dadurch „immer gefügiger und
liebevoller“ zu werden.
   Nur wenn die in solchen Phantasien dominierende Gewalt offen ausgespro-
chen wurde, löste das gelegentlich Irritationen aus. Als de Sade Frauen zu
Objekten männlicher Begierde erklärte und für Männer das Recht auf Verge-

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waltigung forderte, erntete er zumindest öffentlich Empörung. Als 200 Jahre
später die Nachkommen der Meuterer von der Bounty auf Pitcairn wegen
Unzucht mit Minderjährigen verurteilt wurden, stellte die Zeitschrift „Mare“
ihre von der ersten Ausgabe an erscheinende Kolumne „25°04’ Süd 130°06’
West – Pitcairn“ mit der Bemerkung ein, die Rubrik hätte „ihre Unschuld ver-
loren“.6
   Das war, wie die Geschichte Bikinis zeigt, entschieden unromantisch. Der
Tauchgang in der verseuchten Lagune und die Abendbrise in den Palmen des
entvölkerten Strandes verweisen darauf, dass Inselromantik nur mit Gewalt
zu haben ist. Die Imagination der glücklichen Inseln der Neuzeit wurde mit
dem Unglück ihrer Bewohner erkauft. Die Eroberung der irdischen Paradiese
war nicht als Rückkehr in den Garten Eden geplant, sondern als dessen Plün-
derung und Nutzbarmachung. Wer in ihm in den Verdacht geriet, faul oder
sinnlich zu sein, wurde gezüchtigt. Was sich in ihm nicht verwerten ließ, galt
als überflüssig. Zu diesem Programm gehörte die Verbindung von Sexualität
und Gewalt wie die von Aneignung und Vernichtung. Vermeintliche
Unschuld galt als Aufforderung, sich an ihr gütlich zu tun. Kulturelles Behar-
ren wurde als Unfähigkeit zur Zivilisation ausgelegt.
   Vor diesem Hintergrund waren es weder der Zufall noch die angebliche
Gunst der Geographie, die die Musterländer der Aufklärung, England und
Frankreich, und deren gelehrigste Kolonie, die Vereinigten Staaten von Ame-
rika, ihre Kernwaffen in der Inselwelt der Südsee testen ließen. Dass Deutsch-
land dabei fehlte, lag nur daran, dass ihm nach den Weltkriegen zunächst die
deutsche Südsee und anschließend seine Atomphysiker samt seiner Souverä-
nität abhanden gekommen waren. An der praktischen Umsetzung der Überle-
gungen seines größten Philosophen zur Überflüssigkeit des Paradieses konnte
es sich deswegen nicht beteiligen.

6 Die Geschichte des textilen Zweiteilers wird erzählt in Beate Berger, Bikini. Eine Enthüllungsge-
  schichte, Hamburg 2004 (die Auffassung des Modemachers ist dort zitiert auf S. 69); für Gauguins
  Phantasien vgl. Paul Gauguin, Noa Noa. Nach dem Urmanuskript von 1893, München u.a. 1993, S. 18
  und 64; de Sades Überlegungen finden sich in seiner „Philosophie im Boudoir“; die Informationen zu
  Pitcairn in „Mare“ 47/2004-05, sowie Dea Birkett, Serpent in Paradise, New York 1998.

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2006
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