Bundeswettbewerb deutschsprachiger Schauspielstudierender Dokumentation
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Bundeswettbewerb 27 utschsprachiger hauspielstudierender des Bundesministeriums für Bildung und Forschung der Bundesrepublik Deutschland verbunden mit der Verleihung des Max Reinhardt Preises der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 19. bis 25. Juni 2016 in Bern Dokumentation DOKU M E N T A T IO N B E R N 2 0 1 6 rn 2016 Anja Michalke / Ulrike Kahle-Steinweh Loulou D‘Aki (Fotos) Gefördert vom
INFORMATIONEN INHALT Veranstalter Europäische Theaterakademie GmbH „Konrad Ekhof“ Hamburg 4 Programm Prof. Marion Hirte, Geschäftsführerin 9 Spielort. Wie schön ist Bern! c/o Universität der Künste Berlin, Studiengang Schauspiel, 10 Gastgeber: Kreatives Hand in Hand – Hochschule der Künste Bern Fasanenstraße 1B, 10623 Berlin, kontakt@theatertreffen.com 14 Eröffnung in Zusammenarbeit mit der Ständigen Konferenz Schauspielausbildung (SKS) 18 Wettbewerb und der Hochschule der Künste Bern (HKB) 19 Wettbewerbsbeiträge gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 20 Bern: „ARTUSEXMACHINA“ der Bundesrepublik Deutschland und der Universität für Musik 22 Zürich: „IVANOV“ und darstellende Kunst Wien, Stifterin des Max Reinhardt Preises 24 Graz: „Club Fiction“ Planung, Programm, Prof. Marion Hirte (Geschäftsführerin), kontakt@theatertreffen.com, 26 Wien, Max Reinhardt Seminar: „Glaube Liebe Hoffnung“ Durchführung, Presse Europäische Theaterakademie GmbH „Konrad Ekhof“ Hamburg 28 Hamburg: „Yvonne, Prinzessin von Burgund“ 30 Stuttgart: „Dysmorphomanie“ Mitarbeit der Daniel Nartschick, kontakt@theatertreffen.com Geschäftsführung 32 Salzburg: „Glänzende Aussichten“ 34 Potsdam: „Katzelmacher“ Organisation Anette Stockhammer, organisation@theatertreffen.com, im Auftrag 36 Rostock: „Abu dhabi oder Der erste apokalyptische Tag“ der Europäischen Theaterakademie GmbH „Konrad Ekhof“ Hamburg 38 Hannover: „Ich brauch dich (für mich)“ Veranstaltungsorte Dampfzentrale Bern, Schlachthaus Theater Bern, 40 Wien, Musik und Kunst Privatuniversität: „Empört euch, ihr Krähwinkler!" in Bern Brückenpfeiler, Berner Fachhochschule 42 Essen-Bochum: „Der Impresario von Smyrna“ Technische Leitung Christoph Gorgé 44 Leipzig: „Frühlings Erwachen! (LIVE FAST – DIE YOUNG)“ 46 Berlin, Universität der Künste: „Fallobst im Westen oder Jimmy F. Projektleitung Bern Barbara Stocker und der Schmelztiegel der unbegrenzten Möglichkeiten" Dokumentation/ Herausgeber und verantwortlich für den Inhalt: 48 München, Otto Falckenberg Schule: „REICHSTHEATERKAMMER“ Impressum Europäische Theaterakademie GmbH „Konrad Ekhof“ Hamburg, 50 München, August Everding: „Ein Klotz am Bein“ Prof. Marion Hirte, kontakt@theatertreffen.com 52 Berlin, „Ernst Busch“: „Sommergäste“ Texte Ulrike Kahle-Steinweh, Stuttgart, ukahle@aol.com 54 Frankfurt am Main: „SHOOT/KATZELMACHER/REPEAT“ Redaktion und Texte Anja Michalke, Hamburg, anja.michalke@im-www.de 56 Die Jury Fotos Loulou D‘Aki, Athen, loulou.daki@rocketmail.com 58 Kurzer Überblick aller Preisträgerinnen und Preisträger 2016 Satz und Grafik Gundula Scheele, Hamburg, gs@stpaulidruck.de Druck Druckerei in St. Pauli, Hamburg, sh@stpaulidruck.de 60 Eröffnungsrede der Jury 62 Die Preisträgerinnen und Preisträger Webseite www.theatertreffen.com 74 Kein Fazit oder Wir spielen, also denken wir nächstes Treffen 25. Juni bis 1. Juli 2017 76 Off-Programm Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart 77 Reichtum ist unterlassene Hilfeleistung. Vortrag von Jean Ziegler mit freundlicher Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI 78 Speziell für Lehrende: Feedback-Workshop Unterstützung von Lotteriefonds und Kulturförderungsfonds des Kantons Bern 79 Grazie aus dem Senegal. African Dance Workshop Abteilung Kulturelles der Stadt Bern 80 Zusammen stampfen. Suzuki-Workshop Ernst Göhner Stiftung 82 Verspielter Look: Das Erscheinungsbild des Bundeswettbewerbs Prof. Otto Beisheim-Stiftung 84 Ein Dorf wird gebaut Migros-Kulturprozent 86 Teilnehmerinnen und Teilnehmer 2016 Hamasil Stiftung 89 Beteiligte Hochschulen – Adressen Das dieser Veröffentlichung zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des 90 Leitlinien für den Bundeswettbewerb 2 Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 3 2516LS0001 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor.
PROGRAMM – 19. BIS 25. JUNI 2016 – BERN BERN – 19. BIS 25. JUNI 2016 – PROGRAMM SONNTAG, 19. JUNI 2016 MONTAG, 20. JUNI 2016 MITTWOCH, 22. JUNI 2016 FREITAG, 24. JUNI 2016 20 Uhr AUSSERDEM 18 Uhr 18 Uhr 18 Uhr 18 Uhr Abschlussveranstaltung / Gesprächskreis Eröffnung Universität für Musik und Hochschule für Musik und Otto Falckenberg Schule Preisverleihung der Studierenden Darstellende Kunst Graz Theater Rostock München Montag bis Samstag Begrüßung „Club Fiction“ „Abu dhabi oder „REICHSTHEATERKAMMER“ Grußwort 10.30 – 12.30 Uhr Dr. Thomas Beck eine Stückentwicklung Der erste apokalyptische Tag“ eine Recherche Wolfram Heberle sowie Samstag Direktor der Hochschule der von Ralf-Günter Krolkiewicz Studienbereichsleiter Theater, 19 – 20 Uhr Künste Bern 20 Uhr 20 Uhr Hochschule der Künste Bern Universität für Musik und 20 Uhr Theaterakademie Off-Programm Grußworte darstellende Kunst Wien, Hochschule für Musik, Theater August Everding München Juryrede Theater außer Konkurrenz, Benedikt Hauser Max Reinhardt Seminar und Medien Hannover „Ein Klotz am Bein“ Im Namen der Jury vorgetragen Arbeitsproben der Studierenden Stellvertretender Leiter des „Glaube Liebe Hoffnung“ „Ich brauch dich (für mich)“ von Georges Feydeau von Anita Vulesica nach spontaner Anmeldung Staatssekretariats für Bildung, von Ödön von Horváth und nach Wolfdietrich Schnurre Dienstag bis Samstag 14 – 17 Uhr Forschung und Innovation (SBFI), Lukas Kristl 22 Uhr Preisverleihung Schweiz 22 Uhr Hochschule für Schauspielkunst Vergabe der Förderpreise der Gespräche der Dozierenden 22 Uhr Musik und Kunst Privatuniversität „Ernst Busch“ Berlin Bundesministerin für Bildung Mittwoch, Donnerstag, Samstag, Dr. Irina Ehrhardt Theaterakademie Hamburg der Stadt Wien „Sommergäste“ und Forschung der Bundes- 10 – 13 Uhr Leiterin des Referats „Yvonne, Prinzessin von „Empört euch, ihr Krähwinkler!“ nach Maxim Gorki republik Deutschland auf Kulturelle Bildung, Burgund“ von Gernot Plass, frei nach Vorschlag der Jury des Sitzung der ständigen Bundesministerium für Bildung von Witold Gombrowicz "Freiheit in Krähwinkel" Wettbewerbs, überreicht von Konferenz Schauspiel (SKS) und Forschung der von Johann Nestroy den Mitgliedern der Jury Montag, Dienstag, Freitag, Bundesrepublik Deutschland SAMSTAG, 25. JUNI 2016 10 – 13 Uhr DIENSTAG, 21. JUNI 2016 Vergabe des Max Reinhardt Florian Reichert DONNERSTAG, 23. JUNI 2016 17 Uhr Preises der Universität für Musik Fachbereichsleitung Oper/Theater, 18 Uhr „Hochschule für Musik und und darstellende Kunst Wien Workshop für Lehrende Hochschule der Künste Bern Staatliche Hochschule für Musik 18 Uhr Darstellende Kunst auf Vorschlag der Jury, über- „Feedback-Methoden und Darstellende Kunst Stuttgart Folkwang Universität der Künste Frankfurt am Main reicht von Dominik Maringer in kreativen Kontexten“ Johanna Dähler „Dysmorphomanie“ Essen-Bochum „SHOOT/KATZELMACHER/ mit Georg Weinand Studierendenvertreterin von Vladimir Sorokin „Der Impresario von Smyrna“ REPEAT“ Vergabe des Preises der Montag bis Donnerstag, Hochschule der Künste Bern von Carlo Goldoni von Susanne Wolff und Studierenden, überreicht vom 14:30 – 17 Uhr 20 Uhr Dagmar Borrmann nach Stifter Prof. Gerd Wameling Vorstellung der Jury Universität Mozarteum Salzburg 20 Uhr Rainer Werner Fassbinder und Workshop „African Dance“ Prof. Marion Hirte „Glänzende Aussichten“ Hochschule für Musik und Theater Mark Ravenhill Vergabe des Marina Busse mit Nago Koité Geschäftsführerin der Europä- von Martin Heckmanns „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Preises, überreicht vom Dienstag bis Donnerstag, ischen Theaterakademie GmbH Leipzig Stifter Friedrich Springorum 14 – 17 Uhr „Konrad Ekhof“ Hamburg 22 Uhr „Frühlings Erwachen! Filmuniversität Babelsberg (LIVE FAST – DIE YOUNG)“ Dankesworte Workshop „Suzuki“ 19 Uhr „Konrad Wolf“ Potsdam nach Frank Wedekind, unter Prof. Marion Hirte mit Jannis Spengler Hochschule der Künste Bern „Katzelmacher“ Verwendung der Fassung von Geschäftsführerin der Europäi- Dienstag bis Freitag, „ARTUSEXMACHINA“ von Rainer Werner Fassbinder Nuran David Calis schen Theaterakademie GmbH 14:30 – 17 Uhr von Henry Purcell, John Dryden, „Konrad Ekhof“ Hamburg Tankred Dorst, Antonio Palesano 22 Uhr "Reichtum ist Universität der Künste Berlin unterlassene Hilfeleistung" 21 Uhr „Fallobst im Westen oder Vortrag von Jean Ziegler Zürcher Hochschule der Künste Jimmy F. und der Schmelztiegel Freitag, 14 – 15:30 Uhr „IVANOV“von Anton Tschechow der unbegrenzten Möglichkeiten” von Philipp Gärtner 4 5
WIE SCHÖN IST BERN! Wer mit dem Zug nach Bern kommt, verlässt den großen, modernen Bahn- hof, um unmittelbar darauf in einer Stadt zu stehen, die jeden sofort mit ihrem selbstbewussten Charme vereinnahmt. Die generelle Farbgebung der Innen- stadt lässt sich am besten mit beige-oliv beschreiben. Und das soll schön sein?, fragt zweifelnd der Nicht-Bernkenner. „Woleppe“ (berndeutsch für „natürlich“)! Die schüchternen Farben bil- den einen fantastischen Hintergrund für die Inszenierung des mittelalterlichen Stadtkerns. Aller- orten sind die Gebäude der Altstadt mit Fahnen behängt, die dominant und fröhlich über den vielen historischen Laubengängen und erhabenen Bauten im Wind flattern. Die häufigsten Moti- ve sind dabei das Schweizer Kreuz und der Berner Bär, das Wappentier der Stadt. Der Stadtname „Bern“ leite sich schließlich von Bär ab, so die Berner. Sprachwissenschaftler sind sich einig, dass dieser Argumentation jegliche Grundlage fehlt, aber wer fragt danach, wenn sich aus der volks- mündlichen Ableitung ein so imposantes Wappentier gewinnen lässt? Beim Schlendern durch die Straßen der Altstadt fällt auf, wie gut gepflegt die vielen Sehenswür- digkeiten – die Figurenbrunnen, Säulengänge, Häuserfassaden – sind. Seit 1983 ist dieser Ort of- fiziell geadelt: Die Berner Altstadt steht seitdem auf der Liste des UNESCO-Welterbes. Und Adel verpflichtet: Überall befinden sich kleine Informationsplaketten, die der Touristenhochburg Bern zur Ehre gereichen. In mehreren Sprachen wird hier der eigenen Herkunft Rechnung getragen. In einem der Laubengänge stößt der geneigte Tourist auf die alten Holztüren eines ehemaligen Schlachthofes. Der wäre unscheinbar, hätten Berner Studenten ihn dieser Tage nicht mit unüber- sehbaren grafischen Elementen ausgestattet, die auf den 27. Bundeswettbewerb deutschspra- chiger Schauspielstudierender verweisen. Normalerweise trifft sich hier, im Schlachthaus Theater Bern, die freie Theaterszene der Schweiz. Das passt, denn während des Bundeswettbewerbs fan- den in dem urigen Saal die Veranstaltungen des Off-Theaters statt – Studierende zeigten frei he- raus sich selbst und die Stücke, an denen sie arbeiten. Das Herz Berns schlug zwischen dem 19. und dem 25. Juni für alle Theaterbegeisterten jedoch leicht abseits der Altstadt. Für eine Woche tobte ein Theatersturm über die Bühne der Dampf- zentrale! Das über hundertjährige Backsteingebäude liegt unterhalb der Altstadt, in Gehweite des ausgedehnten Campus' der Fachhochschule Bern und direkt an der Aare, dem tiefblauen Fluss, der Bern umschlingt wie ein glänzendes Seidentuch. Als Dampfkraftwerk leistete der Ort bis 1973 seinen Beitrag zur Energieversorgung der Stadt. Danach gab es ein jahrelanges Rin- gen zwischen der Berner Jugend- bzw. Kulturszene und den städtischen Behörden. 1987 gab die Stadt nach: Die Dampfzentrale wurde wieder zum Energiezentrum, doch ist der energetische Gewinn seitdem künstlerischer Natur mit einem Schwerpunkt auf zeitgenössischen Musik- und Tanzveranstaltungen. Als Hauptquartier des 27. Bundeswettbewerbs deutschsprachiger Schauspielstudierender war die Dampfzentrale überaus gut geeignet. Die Bühne bot Raum für achtzehn Theaterstücke, der große Saal war Speisesaal für sämtliche Mahlzeiten von Frühstück bis Abendessen, das Foyer diente als Informations- und Versammlungszentrale sowie als Hotspot für das tägliche Mitein- ander und der Bereich ums Haus herum war ein Naherholungsgebiet allererster Güte. An den Tagen, die herrliches Sommerwetter zu bieten hatten, erlagen Studierende und sicher auch ei- nige der Lehrenden vor dem Theaterabend dem Locken der Aare. In ihren sauberen und schnell dahinströmenden Fluten kühlten sich Einheimische und Gäste mit größtem Vergnügen ab und ließen sich gen Altstadt treiben. Kein Wunder, dass Bern weltweit zu den zehn Städten mit der höchsten Lebensqualität zählt. Anja Michalke 8 9
GASTGEBER KREATIVES HAND IN HAND – HOCHSCHULE DER KÜNSTE BERN Die Hochschule der Künste Bern, kurz HKB, entstand im Jahr 2003. Nicht aus dem Nichts: Bereits existierende Hochschulen unterschiedlicher künstlerischer Ausrichtungen wurden 2003 zusammengefasst, um sich gemeinsam in einer Hochschule wiederzufinden. Von Anfang an begleitete diesen Zusammenschluss ein „Wenn schon, denn schon“: Wenn schon ein Zusammenschluss, dann soll er für die Studierenden, Dozierenden und anderen Mitarbeitenden einen Sinn haben, also konkret die Möglichkeit des Kennenlernens anderer Arbeitsweisen und Inhalte, anderer Ästhetiken und Hintergründe innerhalb der eigenen Hochschule bieten. Im Strategiepapier der HKB klingt das so: „Die HKB Für die Theaterstudierenden bedeutet dies, dass visuelle Anteile mit Studierenden aus ist mehr als die in ihr zusammengefassten Fachbereiche und Studiengänge.“ dem Fachbereich Gestaltung und Kunst erarbeitet werden oder „Soundtracks“ zusammen mit Studierenden aus Musik & Medienkunst oder Composition & Theory entstehen. Allen zugängliche Werkstätten, das „Medialab“ oder ein Tonstudio steuern nicht nur Logistisches bei. Ihre Mitarbeitenden stehen den Studierenden auch mit entsprechendem Know-how zur Seite. Die Forschung ist mit vier Forschungsschwerpunkten (Intermedialität, Interpretation, Kommunikationsdesign, Materialität) nicht an Disziplinen gebunden, sondern ist hochschulübergreifend Motor und Anlaufstelle für Forschungsanliegen der Fachbereiche. Wichtig ist der HKB aber nicht nur die disziplinäre, sondern auch die sprachliche und kulturelle Öffnung. Dass der Kanton Bern ein zweisprachiger Kanton ist, spiegelt sich in Studiengängen wider, die von vornherein französisch und deutsch angeboten werden. Andere Studiengänge richten sich mit englischsprachigen Lehranteilen betont international aus. Im Masterstudiengang des Studienbereichs Theater „Expanded Theatre“ arbeiten Studierende aus Europa, Asien, Amerika und Afrika zusammen. Die so entstehenden Kratzer im Lack der Eurozentriertheit schaffen neue Sichtweisen – ein Ziel, das durch die heutige Migrationssituation eine unvorhergesehene Brisanz erhält. Auch finden sich im MA-Theater Geteilt wurde also von Anfang an der Gedanke, dass Zusammenarbeit auf der inhaltlichen ebenso wie auf der organisatorischen Ebene gesucht, ermöglicht und gefördert werden soll. Das „Y-Institut“, in welchem HKB-übergreifende Lehrangebote entstehen und angeboten werden, verleiht diesem Willen Struktur und Ausdruck. Verpflichtend findet ein Teil des Studiums für alle Bachelor-Studierenden der HKB an diesem Institut statt. Die Y-Angebote öffnen Fenster, wecken Neugier, erzeugen katalytische Wirkung, bringen verschiedenste Studierende in Kontakt zueinander, so dass diese dann individuell und eigeninitiativ Projekte ersinnen, aus- und aufführen. 10 11
Studierende mit unterschiedlichen künstlerischen Vorbildungen zusammen, die ihre Disziplin in Bezug auf gestalterische und dramaturgische Hintergründe erweitern wollen. Die vertiefte Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theaterformen und der eigenschöpferischen Projektarbeit steht im Vordergrund. Im dreijährigen Bachelor Studiengang Theater hingegen erlernen die Studierenden das Handwerk für ihre Arbeit als Schauspielerin oder Schauspieler. Wichtig ist, dass dieses auch im Bachelor-Studiengang schon in eigenen Projekten eine persönliche Anwendung und Entwicklung erfährt. Der 27. Bundeswettbewerb deutschsprachiger Schauspielstudierender war für die HKB ein wichtiger Anlass, um zu überprüfen, ob der oben zitierte Anspruch der inhaltlichen und organisatorischen Zusammenarbeit den Weg vom Papier in die Praxis findet: Zunächst wurde mit „ARTUSEXMACHINA“, angelehnt an „King Arthur“ von Henry Purcell, eine Produktion gewählt, in der Studierende aus der Musik, der Oper und dem Theater zusammenarbeiteten. Darüber hinaus haben Studierende aus dem Studiengang Vermittlung in Kunst und Design die Ausstattung der Pavillons, die Möblierung und Beleuchtung sowie weitere begleitende Details entworfen. Im Studiengang Kommunikationsdesign wurde eine gestalterische Linie und ein kommunikationsdramaturgisches Konzept erarbeitet, welches das gesamte Treffen in einer visuellen Klammer zusammenfasste – dies sowohl in allen das Treffen begleitenden Printmedien (Programm / Plakate / Dokumentation) als auch in der Ausstattung und Ausschilderung der Veranstaltungsorte bis hin zum Entwurf der Schwimmtasche für das Schwimmvergnügen in der Aare. Für die Unterbringung der Teilnehmenden wurde zusammen mit den Studierenden des Studiengangs Architektur der Berner Fachhochschule vor dem Hintergrund des gedanklichen Ansatzes der „Sozialen Plastik“, wie ihn Joseph Beuys formuliert, ein Pavillon entworfen. Tatsächlich hat sich der Gedanke bewährt, denn Wohnen und Arbeiten standen so während des Treffens in einem von den Teilnehmenden geschätzten, besonders kommunikationsfördernden Verhältnis zueinander. Sowohl auf koordinatorischer als auch auf inhaltlicher Ebene ist der Anspruch übergreifender Zusammenarbeit tatsächlich mit Arbeit verbunden. Manchmal erscheint der entstehende Reibungsverlust größer als es das Resultat rechtfertigen würde. Und doch entsteht immer wieder vieles an nicht erwarteten „Kreuzungspunkten“. Auch wegen dieser Überraschungen bleiben wir dran. Florian Reichert Fachbereichsleiter Oper / Theater, Hochschule der Künste Bern 12
Dr. Thomas Beck Benedikt Hauser Dr. Irina Ehrhardt Florian Reichert Johanna Dähler Prof. Marion Hirte Direktor der Hochschule der Künste Bern Vertreter des Staatsekretäriats für Leiterin des Referats Kulturelle Bildung Fachbereichsleiter Oper / Theater Studierendenvertreterin Geschäftsführerin der Europäischen Bildung, Forschung und Innovation der Schweiz Bundesministerium für Bildung und Forschung der Hochschule der Künste Bern Theaterakademie GmbH der Bundesrepublik Deutschland „Konrad Ekhof“ Hamburg ERÖFFNUNG Beeindruckend war auch die Rede von Florian Reichert, Fachbereichsleiter Oper / Theater der gastgebenden Hochschule Bern, die hier in Auszügen festgehalten werden soll: „Dieses Treffen ist Teil dieser Welt. Und ich frage ich mich, in welcher Beziehung es denn zu Die Dampfzentrale schien wie gemacht für den 27. Bundeswettbewerb deutsch- dieser Welt steht. […] sprachiger Schauspielstudierender. Optimal gefüllt war die Tribüne mit den Teilnehmenden, Wie schön überschaubar erscheint im Rückblick eine Welt, die sich politisch einigermaßen die freudige Erwartung verband – was würde die Woche an Schauspiel, an Diskussion und Aus- komplett beschreiben ließ als ein Rechts und ein Links. Wie schön überschaubar eine Welt, in tausch, an künstlerischen, aber auch persönlichen Erfahrungen bringen? der Willy Brandt, Herbert Wehner, Franz Josef Strauß in einer Bundestagsdebatte übereinander Dr. Thomas Beck, Direktor der gastgebenden Hochschule der Künste Bern, machte neugierig herfielen, sich verbal in alle Einzelteile zerlegten und man doch spürte, dass da etwas da war, auf das Zuhause auf Zeit. Mögen die Aufführenden „die Bühne des Turbinensaals der Dampf- was sie verband, was sie dennoch gemeinsam erreichen wollten. zentrale künstlerisch unter Dauerstrom setzen“, wünschte er allen Anwesenden in seiner herzli- Heute: Es gibt keine wirklichen Debatten mehr! Gespräche finden hinter geschlossenen Türen chen Begrüßung und übergab das Wort an Benedikt Hauser, Vertreter des Staatssekretariats für statt, ein Handschlag davor, ein Handschlag danach und eine trocken verlesene Erklärung, was Bildung, Forschung und Innovation der Schweiz. „Wir brauchen die Studenten als Akteure, um erreicht worden sei... die Zukunftsfähigkeit der Schweiz als Denk- und Werkplatz zu erhalten. Kreativität macht nicht an Gewählte Vertreter, also Vorstehende eines Staates, setzen Debatten außer Kraft. Ihre Auseinan- Landesgrenzen halt!“, betonte er. dersetzung geht dahin, die Rechtsgrundlagen so zu beugen, dass sie gar nicht mehr debattieren Dr. Irina Ehrhardt, Referatsleiterin für Kulturelle Bildung des Bundesministeriums für Bildung müssen, sondern legitimiert unschädlich machen können, was sie stört. Und ansonsten wird und Forschung der Bundesrepublik Deutschland, hob den Stellenwert des Bundeswettbewerbs Töten und Zerstören der Debatte vorgezogen. […] Einen wirklichen, intelligent geführten Streit, hervor. „Wir möchten mit unserer Förderung in diesen bewegten Zeiten ein Zeichen setzen, wie eine wirkliche Auseinandersetzung um eine gemeinsame Sache, scheint es nicht mehr zu geben. wichtig uns dieser Bereich der kulturellen Bildung ist. Dieser Wettbewerb ist der einzige, der Und das beunruhigt!!! […] Deutschland mit der Schweiz und Österreich verbindet.“ Warmherzig berichtete sie von Erfah- Es scheinen jedenfalls wieder Zeiten zu kommen, in denen der Einzelne, das Individuum, an rungen der Schauspielstudierenden auf deren Wegen in das Berufsleben. Prof. Marion Hirte, Wert einbüßt. Es sind wieder die vielen. Die vielen, die ihre Heimat verlassen müssen, die vielen, Geschäftsführerin der Europäischen Theaterakademie GmbH „Konrad Ekhof“, betonte in ihrer die sich in restaurierten europäischen Stadtzentren treffen, um dagegen zu sein. Die vielen, die Begrüßung, dass die Wertschätzung des Wettbewerbs sich auch daran zeige, dass „neben den versuchen, ungeschoren an all dem vorbeizukommen. Preisgeldern und dem Renommee der Ehrung das Arbeitstreffen, der Austausch auf studenti- Eine öffentliche Debatte aber, die konstruktiv, offen und womöglich mit Härte das verhandelt, scher wie Dozentenebene, seinen Wert an sich gefunden“ habe. was geschieht, um gemeinsam herauszufinden, was in Zukunft geschehen soll, ist selten gewor- Als Studierendenvertreterin sprach Johanna Dähler, die mit langer Blondhaarperücke ans Mi- den. Die Debatte, die, wie das Theater, gebunden ist daran, dass Personen sich zur selben Zeit krophon trat. Sie erzählte von ihrem Vorsprechen an einem deutschen Theater und der darauf an einen selben Ort begeben, um etwas zu verhandeln, eine Debatte, geführt in der Einheit von folgenden, ebenso absurden wie ernüchternden Rückmeldung: Alles sei eigentlich ganz toll Raum und Zeit, mit eventuell nachfolgender Handlung, findet nicht statt. gewesen, aber sie müsse doch wissen, dass an diesem Theater jemand mit blonden Haaren ge- Darum freue ich mich auf diese Woche, in der wir uns immer wieder in diesen Raum begeben sucht werde! Diese „erste Frontalerfahrung mit dem Thema Typisierung am Stadttheater“ hatte werden und wo etwas verhandelt wird im Hier und Jetzt und im Beisein aller, die hier sind. Ohne sie zu grundsätzlichen Fragen geführt, die sie an ihre Mitstudierenden im Publikum weitergab: Finten, ohne Hintertüren. Alles was sichtbar ist, ist da! Und wir können darüber streiten.“ „Was ist das Theater der Zukunft für uns alle? Was ist unsere Berufsvision? Und wie passt das Anja Michalke zum freien Markt?“ 14 15
WETTBEWERB WETTBEWERBSBEITRÄGE Bern, Hochschule der Künste: ARTUSEXMACHINA Förderpreise für Zur Förderung des künstlerischen Nachwuchses, insbesondere Schauspielstudierende zur Erleichterung des Übergangs in die künstlerische Praxis, Zürcher Hochschule der Künste / der Bundesministerin vergibt die Bundesministerin für Bildung und Forschung der Departement Darstellende Künste und Film: IVANOV für Bildung und Bundesrepublik Deutschland jährlich Preise für hervorragende Forschung der künstlerische Leistungen. Graz, Universität für Musik und darstellende Kunst: Club Fiction Bundesrepublik Die Gesamthöhe der zu vergebenden Preise beträgt Deutschland 20.000 Euro. Wien, Universität für Musik und darstellende Kunst / Max Reinhardt Seminar: Glaube Liebe Hoffnung Max Reinhardt Preis Der vom damaligen Bundesminister für Wissenschaft und Hamburg, Theaterakademie an der Hochschule für Musik und Theater: der Universität für Forschung der Bundesrepublik Österreich im Jahre 1993 Yvonne, Prinzessin von Burgund Musik und darstellende anlässlich des Theatertreffens in Wien gestiftete Max-Reinhardt- Kunst Wien Preis soll alle zwei Jahre an ein Ensemble vergeben werden, das Stuttgart, Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst: in seiner Arbeit zukunftsweisende Innovationen sichtbar werden Dysmorphomanie lässt. Das Preisgeld beträgt 10.000 Euro. Salzburg, Universität Mozarteum: Glänzende Aussichten Preis der Dieser Preis wurde zum dritten Mal vom Schauspieler Prof. Gerd Potsdam, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF: Katzelmacher Studierenden Wameling gestiftet. Er wird jenen Studierenden verliehen, die nach Meinung ihrer Mitstudierenden die schauspielerisch beste Rostock, Hochschule für Musik und Theater: Ensemblearbeit gezeigt haben. Die Abstimmung darüber erfolgt Abu dhabi oder Der erste apokalyptische Tag während des Treffens online via Doodle durch die offiziell als studentische Teilnehmer gemeldeten Schauspielstudierenden. Hannover, Hochschule für Musik, Theater und Medien: Ich brauch dich (für mich) Das Preisgeld beträgt 1.000 Euro. Wien, Musik und Kunst Privatuniversität: Empört euch, ihr Krähwinkler! Essen-Bochum, Folkwang Universität der Künste: Der Impresario von Smyrna Marina Busse Preis Der in memoriam vom Ehemann Friedrich Springorum und Freunden der Schauspielerin und Dozentin Prof. Marina Busse Leipzig, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“: gestiftete Preis wird je einem Studenten und einer Studentin für Frühlings Erwachen! (LIVE FAST – DIE YOUNG) ihre besonderen schauspielerischen Einzelleistungen in Höhe von jeweils 1.000 Euro verliehen. Das Preisgeld beträgt Berlin, Universität der Künste: Fallobst im Westen oder Jimmy F. und 2.000 Euro. der Schmelztiegel der unbegrenzten Möglichkeiten Insgesamt wurden beim 27. Bundeswettbewerb deutschsprachiger Schauspielstudierender Preisgelder in Höhe München, Otto Falckenberg Schule: REICHSTHEATERKAMMER von 33.000 Euro an die teilnehmenden Studentinnen und Studenten vergeben. München, Bayerische Theaterakademie August Everding: Ein Klotz am Bein Berlin, Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“: Sommergäste Frankfurt am Main, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst: 18 19 19 SHOOT/KATZELMACHER/REPEAT
BERN Hochschule der Künste Bern ARTUSEXMACHINA von Henry Purcell, John Dryden, Tankred Dorst, Antonio Palesano Zur Produktion Eine Produktion des 3. Jahrganges (BA Theater), in Zusammenarbeit mit den Studierenden des MA Oper und Studierenden des Fachbereichs Musik der HKB Premiere 7. April 2016 HKB Theater Bern Ursprüngliche Fassung ca. 195 Minuten 5 Aufführungen ES SPIELTEN Gian Leander Bättig, Fabian Eyer, Linda Gunst, Nico Herzig, Katharina Kessler, Jasmin Kiranoglu, Julian Koechlin, Lara Marian Patzack, Melina Pyschny, Die Künste schwingen, miteinander. Sechs Or- bauen die Berner ein schön tönendes, schön an- sen Gatten und König Artur inmitten als über- Jonas Rhonheimer, Anne Sauvageot chestermusiker, fünf Opernsänger, elf Schau- zusehendes Kunstgebäude. Und wie der Text, flüssigem Dritten. Wie sie sich anschmachten: spieler, jahrgangsübergreifend. Und noch d verwebt auch die Musik von Purcell und dem Bei Ginevra fehlt nicht viel, und sie schwingt sich SängerInnen: dreizehn dazu, vom Regisseur über den mu- Zeitgenossen Antonio Palesano alt und neu. über das Schachbrett in Lancelots Arme. Beun- Nora Bertogg, Sylvie Humphries, Ye Jin Kim, sikalischen Leiter bis zu den Technikern. Viel erzählen die jungen Künstler in kurzer ruhigend und ernst: Mordred und der Engel. Mkhanyiseli Goodman Mlombi, Donovan Smith Ein Wagnis? Keineswegs, die HKB fördert Zeit, von Tod und Liebe, von Heilsuche und Ver- Artus verstoßener Sohn Mordred möchte gut fachübergreifende Ausbildung. Kein Ran- rat. Pathos wird erfolgreich vermieden, sie wol- sein, glaubt aber nicht, dass ein Engel hinter ihm MusikerInnen: schmeißen an den Zeitgeist, wo ohne ‚kreuz len auch keine „Märchentheaterkacke“, sie spie- steht. Und entscheidet sich für das Böse. Santiago Bernal, Elisa Marchetti, und quer’ gar nichts mehr geht. In Bern len mit der Sprachvielfalt bei den Sängern, und Die meisten der Schauspieler konnten leider Francesca Naibo, Katarzyna Seremak, herrscht die Überzeugung, dass alle Künste Chronist Blasius, eine Figur von Tankred Dorst, nur ihre komische Seite zeigen, das allerdings Francesca Verga, Priska Weibel zusammengehören. führt mit schulmeisterlicher Heiterkeit durch die überzeugend. Für Gefühle zuständig war die Mit ARTUSEXMACHINA folgen die Berner ei- Geschichte. Musik. Die sehnsuchtserfüllten Lieder von Purcell Regie: Lukas Bangerter / Tomas Flachs nem barocken Vorbild: Henry Purcells „King Ar- Tragikomisch: König Artus, der sterben will, waren ausdrucksstark gesungen, die Orchester- thur“, Libretto von John Dryden, ist eine betö- was sein Leib-Ritter Kay aus Eigennutz zu ver- musik von Palesano souverän gespielt. Da blieb Aufführungsrechte: Suhrkamp Verlag rend mitreißende Semi-Oper, bis heute. hindern sucht. Superkomisch: Das heimliche nur ein Wunsch: das Original von dreieinhalb (Auszüge MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND Mit den Texten von Dryden und aus „Merlin“, Liebespaar Königin Ginevra und Sir Lancelot Stunden zu erleben. von Tankred Dorst) der modernen Artus-Version von Tankred Dorst, beim Schachspiel, mit dem verwirrt ahnungslo- Ulrike Kahle-Steinweh 20 21
Sie kreisen um ein Zentrum, wollen jemanden haben, der sie amüsiert, begeistert, hält. Aber da ist nur Ivanov, und Ivanov ist haltlos. Er weiß noch weniger, wie er leben soll, als seine Bewunderer. Seine kranke Frau lässt er ohne jede Rührung sterben, seine Gläubiger lassen ihn kalt. Der ruinierte Gutsbesitzer Ivanov (Tim Czerwonatis) ist nur mit sich beschäftigt, freut sich sogar, dass er schlecht, dass er erbärm- lich ist, badet sich in Selbsthass. Das ist er- staunlich kurzweilig. Denn die Zürcher ver- wandeln Tschechows gelangweilte Gesell- schaft in lauter Exzentriker, in ein buntes Spektakel mit Untertönen. Im Vorspiel steht Ivanov zwischen einem Mann mit Pistole, der ihn erschießen und einem Mann, der unbe- dingt mit ihm reden will. Letzteren wimmelt er ungnädig ab, der Pistole neigt er sich lä- chelnd zu. Ein Bild, das alles sagt. Da können seine Schulden wachsen, die junge Tochter seines Gläubigers ihn in eine zweite Ehe treiben, alles egal. Die ihn umgeben, haben zwar alle einen schönen Spleen, mehr aber auch nicht. Der eine ist vom Kartenspiel besessen, der andere von ZÜRICH ES SPIELTEN seinem Aussehen, die eine vom Geld, die ande- Zürcher Hochschule für Künste Joachim Aeschlimann, Sophie Arbeiter, re vom Gräfinnentitel. Und so treiben sie dahin, Pan Aurel Bucher, Tim Czerwonatis, nein, sie brechen durch die Spiegelwände, sie Jonas Götzinger, Marie-Theres Hölig, stürmen vor und kriechen ab, sie schlittern rein IVANOV Matthias Koch, Miro Maurer, Mirjam Rast, und beherrschen jeden Tempo- und Stim- von Anton Tschechow Marco Sykora, Nolundi Tschudi, Josefine Voss mungswechsel souverän. So zeigen die Zürcher eine menschliche Menagerie, die erschreckt in Regie: Christoph Frick ihrer Gedanken- und Mitleidslosigkeit. Nur der versoffene Lebedew (Pan Aurel Buch- Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag er), der Vater der liebeshungrigen Sascha, zeigt echtes Mitgefühl, echte Besorgnis um seinen ZUR PRODUKTION Schuldner Ivanov und seine bereits vor der Eine Produktion des Studiengangs Master of Hochzeit mit Ivanov unglückliche Tochter. Von Arts in Theater, Vertiefung Schauspiel Anfang an unglücklich ist der Arzt Lwow, der Iva- Premiere 14. Januar 2016 novs Frau bis zum Tod begleitete, ein ständiger Theater der Künste, Zürich Mahner und schließlich Richter über Ivanov. Ursprüngliche Fassung ca. 100 Minuten Für seine Rolle als Lwow bekam Jonas Göt- 6 Aufführungen zinger einen Solopreis. Ulrike Kahle-Steinweh 22 23
GRAZ Alarm. Mal wieder eine Selbstreflektion? Ein mitreißender Rhythmus. Wirkungsvoll in in den Knien, allerdings auf österreichisch – Universität für Musik und darstellende Kunst Schauspielschüler im Publikum raunt: „Sind Szene gesetzt, klug gedacht, symbolisch: sehr komisch. Stargast Miley Cyrus performt Graz die gerade in der Rolle oder privat?“ Das ist Fremdbestimmt den Dreck wegmachen, „Wrecking Ball“ – zum Glück kann Carmen die brennende Frage, wenn die Schauspieler aus allem etwas machen. Steinert gar nicht so synthetisch und keimfrei an der Rampe erzählen, dass sie das Stück Sie treten an die Rampe und erzählen von sein wie das Original. Sie ist frisch und frech CLUB FICTION „Club Fiction“ nicht wollten und den sich, ihrem Projekt, der Zusammenarbeit und singen kann sie auch. Standing Ovations Regisseur auch nicht. Graz – Arnheim. Sie reden deutsch, sie reden für alle. Ein Video zeigt, wie total genervt sie alle englisch, holländisch, arabisch. Sie nehmen Die Produktion wurde mit dem Max-Rein- waren bei den Proben, so was von genervt, ihr Projekt heiter und ernst. Und zeigen ihre hardt-Preis ausgezeichnet. Ulrike Kahle-Steinweh das kann ja nur gefaked sein. Ist es aber Ratlosigkeit bei den Themen Revolution, ES SPIELTEN nicht. Sie alle waren so unglücklich, dass sie Ausbeutung, Flüchtlinge. Ohne falsche Tala Al-Deen, Amelie Bauer, Danijel Gavrilovic, schließlich ohne Regisseur und ohne Stück Betroffenheit – hier ist das geglückt. Stefan Hendrikx, Nick Livramento Silva, weitermachen durften. Sie denken laut, sie fragen viel, so erfinden Anne Rietmeijer, Patrick Schlegel, Nur noch zwei Wochen, was tun? Erst mal sie sich ihr Stück. Ein Höhepunkt der Schau- Carmen Steinert, Michael Zehentner Party und das gleich für die Arbeit nutzen: Die spielkunst: „Nicks Tonight Show“. Der Nie- Party wird von hinten live übertragen, nach derländer Nick Lavramento Silva aus Arnheim ZUR PRODUKTION vorne in ein öffentliches Klo. Und dieses Klo ist besser als alle Talkmeister von GB und Eine Stückentwicklung der wird danach bespielt, dass es eine Wonne US zusammen, seine Gäste sind spektakulär: Schauspielstudierenden des 3. Jahrgangs ist. Die Schauspieler putzen und putzen, sie Kapital, Klima, Religion und Terrorismus. Premiere 12. Mai 2016 als interkulturelles Projekt putzen und haben gleichzeitig Sex, ein Mann Seine Gäste toben sich aus. Das aasige mit der ArtEZ Toneelschool Arnhem/NL nimmt eine Frau, zwei Frauen nehmen sich Kapital (männlich) nimmt das schüchterne Theater im Palais, Graz eine Frau. Die Opfer lassen es reaktionslos Klima (weiblich) von vorne, von hinten – Ursprüngliche Fassung ca. 80 Minuten geschehen. Sie putzen einfach weiter und beklemmend symbolisch. Die Religion 10 Aufführungen aus ihren Putzgeräuschen formt sich ein (männlich) macht auf jugendlich, mit Hose 24 25
Poetisch, bösartig, makaber – Horvaths Welt. hofft. So entsteht ganz von allein ein unüber- Die beschwören die Schauspieler sogar ohne brückbarer Graben zwischen der jungen Eli- ihr originales Wiener Bühnenbild – es war zu sabeth, die unverschuldet immer tiefer ins kompliziert für einen Wiederaufbau. Plötzlich Elend getrieben wird, und ihren gnadenlo- haben sie viel freien Raum, und statt einer sen Gegenspielern. Elisabeth flattert wie ein Kluft im Boden, die sie bespielen, in die sie hi- Vogel hilfesuchend von einem zum anderen. neinfallen können, schlängelt sich der Fluss Sie will arbeiten, dazu braucht sie einen Ge- nur mit Klebestreifen markiert über die Büh- werbeschein. Um das Geld dafür zu bekom- ne, auf der es von Anfang an hoch her geht. men, muss sie arbeiten, ohne Gewerbeschein. Nebel wallt, ein Gitarrist lässt schräge Klän- Wir wissen, dieser kafkaeske Kampf gegen ge klirren, sind wir im Schloss von Dracula? Im Vorschriften und Bürokratie ist heute mehr Techno-Verließ? Ein Clown, niemand anderes denn je für viele Menschen Alltag. Wie hier als der Tod, wieselt beunruhigend herum. So ein Mensch unverdrossen anrennt gegen den eine schwarze Clownsfigur zu erfinden und zu „Hochmut der Ämter“, das geht unter die spielen, ist eine Herausforderung, aber die- Haut. Was für eine Szene, wenn der Ober- se wieselt etwas zu häufig durch die Szenerie. inspektor Elisabeth im Bett des Schupos er- Regiestudent David Stöhr schafft es trotzdem, wischt und sie nackt vor ihn treten muss. Ent- mit diesen Zugaben die Atmosphäre von blößt in wirklich jeder Beziehung. Irrwitz und Hoffnungslosigkeit zu vertiefen. Und man vergisst sie lange nicht, Elisabeth Die Schauspieler wollten eine starke Form, und ihre bösartigen, sadistischen Verfolger: den und ihre Art der Karikierung passt zu Horváth Präparator, den Oberinspektor und vor allem und seinen krankhaften Figuren, die auf Schupo Alfons (Lennart Lemster), der seine Lie- Hierarchie und Gesetz bestehen. Nur Elisa- be bedenkenlos an die Karriere verrät. beth (Pauline Fusban) bleibt natürlich und Ulrike Kahle-Steinweh WIEN ES SPIELTEN Universität für Musik und darstellende Kunst Bernhard Eder, Pauline Fusban, Wien, Max Reinhardt Seminar Alina Hagenschulte, Lena Kalisch, Lennart Lemster, Vidina Popov, Andrej Reimann, Andrei Tacu, Lukas Watzl GLAUBE LIEBE HOFFNUNG von Ödön von Horváth und Lukas Kristl Regie: David Stöhr Aufführungsrechte: Sessler Verlag ZUR PRODUKTION Eine Produktion des 4. Jahrgangs, Diplominszenierung Premiere 27. Januar 2016 Neue Studiobühne im Max Reinhardt Seminar, Wien Ursprüngliche Fassung ca. 80 Minuten 4 Aufführungen 26 27
Ein Feuerwerk, ein virtuoser Tanz, natürlich Hamburger Schauspielerinnen und Schauspieler am Abgrund. Den Abgrund ignorieren sie, die haben sich das Stück mit Verve erobert, die Tex- königliche Familie, ihre Freunde, der Kam- te aus den dreißiger Jahren mit Witz poliert. Sie merherr und die Gespielin des Prinzen. Was haben zusammen mit Regisseur Samuel Weiss für eine böse Geschichte. Prinz Philipp und die Sätze geschliffen und die Bewegungen cho- seine beiden Freunde müssen sich die Zeit reographiert, bis sich genau das einstellt, was vertreiben. Schöne Miezen aufreißen? Nicht Gombrowicz im Sinn hatte: giftige Absurdität. schon wieder. Aus Übermut will sich der schö- Das Leben – eine Tollheit. ne Prinz (Mervan Ürkmez) mit einem hässli- Mit ihrem Spiel eroberten sie die Herzen der chen Mädchen verloben. Die entdeckt er in Zuschauer, einen Ensemblepreis über 8.000 Euro der ersten Reihe unter den Zuschauern. Und und den Preis der Studierenden. sie ist wirklich hässlich, Ausschlag im Gesicht Ulrike Kahle-Steinweh und an den Armen, eine trutschige Brille, ein stumpfer Blick: Yvonne. Das verordnete weiße Rüschenkleid, das ihr allerliebst steht, entlockt ihr keine Reaktion. Yvonnes (Jördis Margarethe Trauer) nicht zu er- schütternde stumpfe Haltung und ihr Schweigen machen sie zum Mittelpunkt der spleenigen Hofgesellschaft. Deren Hochmut, deren Selbst- darstellung prallt an Yvonne ab wie an einer Wand. Weil eine nicht mitspielt, könnten ja alle anderen als zwanghaft und das Spiel als hohl entlarvt werden. Ein Frevel! Womöglich Revolu- tion? Während Yvonne ganz selbstverständlich HAMBURG mit ihrer Zahnbürste durch den Salon mar- Theaterakademie Hamburg schiert, explodiert die Hofgesellschaft samt Ku- lisse. Jeder mit seinem speziellen Tick, der hefti- ger und böser wird, bis sie alle nur noch eins im YVONNE, Sinn haben: Yvonne zu ermorden. Und Yvonne PRINZESSIN VON BURGUND isst stoisch den tödlichen Fisch. Aus Liebe zum von Witold Gombrowicz, Prinzen? Die anderen machen weiter wie zuvor, Übersetzung Olaf Kühl endlich zurück zum Ennui, zu ihrem verlogenen Lebensspiel. ES SPIELTEN ZUR PRODUKTION Wie die Hamburger über die Bühne fegen, Alexander Angeletta, Amos Detscher, Eine Produktion des 3. Jahrgangs, eine mit dem Sofa kippeln, die halbrunde Salonwand Carlotta Freyer, Zora Fröhlich, Koproduktion mit der Theaterakademie mit den sieben Türen umlegen und dann durch Jakob Immervoll, Hanna Friederike Stange, Hamburg die am Boden liegenden Türen auftreten – das Jördis Margarethe Trauer, Mervan Ürkmez Premiere 8. April 2016 ist sensationell. Die Regeln werden eingehalten, Deutsches SchausSpielHaus Hamburg / mögen sie auch am Boden liegen und muss man Regie: Samuel Weiss MalerSaal sich auch noch so verrenken... Ursprüngliche Fassung ca. 75 Minuten Das ist Theater! Hochartistisch in Bewegung Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag Frankfurt 10 Aufführungen und Sprache, mit vollendetem Timing. Die acht 28 29
wir erkennen wenig: Spielen sie jetzt als ein- gebildete Kranke? Spielen sie, dass sie spie- len oder spielen sie einfach Shakespeare? Das Spiel im Spiel hätte ein Höhepunkt werden können; stattdessen werden die berühmten Sätze von Ophelia, von Yorick, von Romeo und Julia schlicht bis einfühlsam rezitiert. Nach Shakespeare kommen wieder spannen- de Momente. Eine Patientin mit Pestbeulen an Armen, Beinen, Rücken – sie hat Bälle in ihre Kleidung gesteckt und sieht aus wie ein kleines buckliges Monster – spielt wie ein Engel Klavier. Dann werfen alle ihre Perücken ab und schmei- ßen sich zu Boden, fallen wieder und wieder und wieder – bis zur totalen Erschöpfung. Wollen sie sterben? Erstehen sie neu? Sie stehen wie- der auf und benutzen, was da ist, um mit Lust und viel Rhythmusgefühl herrlichen Krach zu machen. Die nächste Sequenz: Alle platzieren ihre Prothesen vorne in einem Regal. Sind ihre ein- gebildeten Krankheiten jetzt abgelegt? Sie be- schmieren ihr Gesicht mit Lehm, sprechen im Chor, waschen den Lehm wieder ab. Wollten sie sich ein neues Gesicht, eine neue, womöglich gesunde Identität formen? STUTTGART ES SPIELTEN Sie hätscheln ihre Krankheiten, die sie einzig- Das Unkonkrete bei Figuren und Szenen, was Staatliche Hochschule für Mattea Cavic, Ognjen Koldzic, artig machen und vom richtigen Leben abhal- wir Zuschauer deutlich empfinden, haben auch Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Simon Mazouri, Viktoria Miknevich, Mark Ortel, ten. Aber – keiner ist krank. Die sieben ein- die Schauspieler während der Arbeit empfun- Franziska Maria Pößl, Vera Maria Schmidt gebildeten Patienten zeigen mit rührendem den. Mit diesen Sieben aus Stuttgart wäre auf Stolz ihre selbstgebastelten Prothesen, die jeden Fall mehr möglich gewesen. DYSMORPHOMANIE Regie: Wolfgang Michalek angeblich gegen ihre Krankheiten helfen sol- Ulrike Kahle-Steinweh von Vladimir Sorokin, len, und erzählen ihre Lebens- und Krank- Übersetzung Peter Urban Aufführungsrechte: Verlag der Autoren heitsgeschichte ins Mikrofon. Sie erwecken Interesse, das Mädchen mit dem Hühnerhals, ZUR PRODUKTION der junge Mann mit dem Buckel, der mit der Eine Produktion des 3. Jahrgangs, eine Kopro- Flatulenz. Gegen die er sich einen Stöpsel ge- duktion mit dem Schauspiel der Staatstheater bastelt hat! Gerne wäre man tiefer in ihren Stuttgart seltsamen Kosmos eingetaucht. Aber dann Premiere 2. April 2016 kommt von einem Laufband die Anweisung: Schauspiel Stuttgart, Nord Spielen! Alle steigen in verrückt-schöne Kos- Ursprüngliche Fassung ca. 85 Minuten tüme, setzen Perücken auf und versuchen sich 9 Aufführungen an Shakespeare. Diese Sequenz ist lang, und 30 31
ES SPIELTEN Julia Richter, Magdalena Wabitsch, Sophia Burtscher, Sergej Czepurnyi, Martin Esser, Wolf Danny Homann, Adrienne Lejko, Niklas Maienschein, Dominik Puhl, Rebecca Seidel, Nina Steils, Caner Sunar Regie: David Czesienski Aufführungsrechte: Martin Heckmanns ZUR PRODUKTION Eine Produktion des 4. Jahrgangs Premiere 22. April 2016 Kunstquartier, Salzburg Ursprüngliche Fassung ca. 90 Minuten 9 Aufführungen Kein Resümee, keine wohlfeile Schlussfolge- Die Zehn locken cool und souverän, sie uns Ehepaare streiten dürfen, bis sie sich SALZBURG rung, wir sollen selbst denken. In dem klugen hauen uns Fragwürdiges, Halbwahrheiten unheilbar verletzt haben. Dass Männer Sex Universität Mozarteum Salzburg Stück von Martin Heckmanns, für und mit und Wahrheiten in schneller Folge um die haben dürfen. Das will einer der beiden den Schauspielstudierenden aus Salzburg Ohren: „Schlechte Kunst ist ein Zeichen für Schauspieler nun auf keinen Fall vorführen. entwickelt, stecken Fragen, widersprüchliche funktionierende Demokratie.“ „Das falsche Er muss, im Dienste der Aufklärung. Die Antworten, Reflexionen – temperamentvoll Leben im Falschen fälscht Falsches so falsch, zwei Aufklärer klettern also das Riesennetz GLÄNZENDE AUSSICHTEN in Szene gesetzt vor einem aufgespannten dass du denkst, du lebst.“ Dass sie eine Klasse hoch und ihre Darbietung von ganz oben von Martin Heckmanns (Uraufführung) Riesennetz, in dem geklettert werden kann. von Schauspielschülern sind, ist ihr Fundus, aus lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen Ein Anfangschor. Sie schubsen, drängen sich dem sie schöpfen. übrig. Da wende sich wer will mit Grausen vor, springen einander auf den Schoß, eine Die Schauspieler nehmen die Zuschauer ab. Viel grausiger aber ist unsere scheinbare nach Aufmerksamkeit heischende Bande. Ein mit auf ihre bilderreiche Suche, auf der sie Überlegenheit, die sich ins Gegenteil verkehrt. aalglatter Moderator tritt vor, die Moderatorin kannibalisch eine Melone zermanschen, einen Die Entlarvung unseres unlösbar mit Klischees im Paillettenkleid räkelt sich an der Rampe. Klar, emotionalen Ausbruch ironisieren und Sex behafteten Verhältnisses zum Fremden. Ein Schauspielschülerinnen sind hübsch und geben zwischen Männern zeigen. Und ja, das ist eine Schock, eine Wahrheit, klug und bitter. Großes gerne den Vamp. Die Zuschauer sollen in die höchst peinliche Szene. Dem – unsichtbaren Kompliment. Falle gehen – und sie sollten möglichst wieder – Ausländer Aba soll gezeigt werden, wie Für ihre Darbietung bekam Nina Steils einen herausfinden. fortschrittlich und tolerant wir sind. Dass bei Solopreis. Ulrike Kahle-Steinweh 32 33
Die frühen Sechziger Jahre, sie leben. Und wie! Erschreckend in all ihrer Dumpfheit und Fremdenfeindlichkeit in der langweiligen Provinz. Passend dazu die Schlager aus dem Kofferradio, Conny Francis mit „Schöner fremder Mann“, Catherina Valente mit „Im schönen Mexiko“. Wer kannte damals schon Mexiko? Wer Griechenland? Und da kommt Jorgos, ein Grieche, der erste Ausländer, ins Dorf. Für Gunda: sexuelle Abwechslung. Für die Männer: ein Unterlegener und Konkurrent. Für Marie: ein Liebesobjekt. Helga will heiraten, Paul eine Lederjacke haben, Ingrid Schlagerstar werden. Diese jungen Leute verpassen das Wirtschaftswunder, nicht so Firmenchefin Elisabeth. Die hat es kapiert, die beutet sie aus, ihre Arbeiter, materiell und gerne auch sexuell. Sie hat die Macht, ihre Wünsche durchzusetzen. Und wird gehasst. Die Figuren sind authentisch bereits durch ihren stilisierten Look, die Männer blond à la Heino, die Frauen hochtoupiert. Alles Perücken, alles falscher Schein. Kostüme und Bühne sind abstrakt, weiße Linien auf dem Boden markieren Straße, Wohnung, Kneipe. Die dunklen Kleider und POTSDAM ES SPIELTEN Anzüge sind weiß konturiert, als wären die Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“ Ingmar Björn Böske, Nora Hickler, Menschen in ihnen nur angerissen, nicht fertig, Potsdam Justus Johanssen, Aaron Karl, Luca Lehnert, eindimensional. Die jungen Schauspieler Nadine Pape, Jacqueline Pawliczek, bewegen sich wie selbstverständlich in die- Johanna Polley, Alexander Sehan, sem für sie historischen Zeitalter vor fünfzig KATZELMACHER Nikolaus Sternfeld Jahren. Sie sind verstörend glaubhaft in ihrer von Rainer Werner Fassbinder Engstirnigkeit. Sind sie alternativlos? Könnten Regie: Andreas Rehschuh sie sich für den Fremden, den Griechen, inte- ressieren? Nein, sie brauchen etwas ganz Aufführungsrechte: Verlag der Autoren anderes: Jemanden, der noch weniger ist als sie, den sie erniedrigen, an dem sie ihren Frust ZUR PRODUKTION austoben können. Das kommt alles so bigott Liedern tuscheln sie und stänkern, weil der Eine Produktion des 3. Jahrgangs daher – erstaunlich, wie die Schauspieler aus Grieche Jorgos zum Gottesdienst gekommen Premiere 10. Dezember 2015 Potsdam so eine Atmosphäre schaffen können. ist – eine Szene voller Wucht. Die Analogie zur Reithalle, Hans Otto Theater, Potsdam Der gemeinsame Kirchgang auf Knien ist der Gegenwart könnte nicht stärker sein. Ursprüngliche Fassung ca. 80 Minuten Gipfel ihrer Verlogenheit. Zwischen frommen Ulrike Kahle-Steinweh 10 Aufführungen 34 35
Das trifft ins Schwarze, ins Herz der sie sucht ihr Leben vor dem Anschlag, sie Finsternis. Die Rostocker haben einen Schatz ist groß im Kleinen. Ein österreichischer Mr. gehoben mit diesem Stück von Ralf-Günter Schwarzenberger (schöne Ironie) bricht völlig Krolkiewicz (1955 bis 2008, Dramatiker, zusammen neben ihr: Seine Familie ist in Schauspieler, Regisseur, Intendant und einem Flugzeug, er kann sie nicht erreichen. Maler). Auch er hat eine Katze, die seine Tochter Abu Dhabi getauft hat. New York, 11. September 2001. Elf Die Texte sind nicht einfach zu sprechen, Menschen, im Schock, orientierungslos, haben eine raue Poesie, eine klare Symbolik, verloren an diesem apokalyptischen Tag, sind voll Schmerz. Aber die Rostocker klammern sich an scheinbar Nebensächliches, meistern das mit Bravour. Die anonyme die entlaufende Katze, den übergelaufenen Bedrohung symbolisiert eine mächtige, graue Kaffee. Ohne jede Sentimentalität stellen Mauer auf der Bühne, die sich bewegen kann, die Schauspielenden die Verwirrten und sich verschiebt, näher rückt. Einmal öffnet Versprengten auf die Bühne. So könnte es sie sich zu einem überwältigenden Tableau gewesen sein, so alltäglich, so banal. Leah vivant: nebeneinander, übereinander die (Judith Erhardt), die in Nachthemd und nackten Schauspieler. Schön und unschuldig. Morgenmantel floh vor Zusammensturz, Krach Sterblich. und Schutt, sucht weit weg von ihrem Haus in Dem Ensemble aus Rostock gelingt die einem Café Zuflucht. Nach langem Monolog kongeniale Aufführung eines klugen, tiefge- plötzlich verstummt, umgibt ihr Schweigen sie henden Stücks über die Unbegreiflichkeit des wie eine Aura. Andere Versprengte kommen Attentats auf New York, die Unbegreiflichkeit zu ihr, sprechen sie an, geben ihr Geld für von Gewalt und Krieg. Die Unbegreiflichkeit die Suche nach einer verlorenen Katze, für des Menschseins. ROSTOCK einen Kaffee. Die Alte (gar nicht alt: Larissa Larissa Semke bekam für die vielschichtige Hochschule für Musik und Theater Rostock Semke) plappert ihre Verstörtheit weg mit Zartheit, mit der sie „Die Alte“ ausstattete, brüchiger Nonchalance. Sie sucht ihre Katze, einen Solopreis. Ulrike Kahle-Steinweh ABU DHABI ODER DER ERSTE APOKALYPTISCHE TAG von Ralf-Günter Krolkiewicz ES SPIELTEN ZUR PRODUKTION Judith Ehrhardt, Flavius Hölzemann, Eine Produktion des 3. Jahrgangs Marcus Horn, Tobias Karn, Janna Rottmann, Premiere 3. Mai 2016 Philipp Seidler, Larissa Semke, Katharinensaal, HMT Rostock Konstantin Weber, Jing Xiang, Ursprüngliche Fassung ca. 95 Minuten Carmen Zehentmeier 4 Aufführungen Regie: Axel Holst Aufführungsrechte: Drei Masken Verlag 36 37
Sie können auch lesen