Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...

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Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
Fellow-
periode
 2016 –
2020
     Digital
     Societies
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
S. 06 – 14
Das Collegium Helveticum
und seine Fellows

S. 19 – 30
Ein Labor für
Transdisziplinarität

S. 35 – 54
Digitale Gesellschaften

S. 59 – 66
Kunst am
Collegium Helveticum

S. 69 – 77
Externe Kollabora­tionen:
andere Fragen, neue Lösungen

S. 80 – 81
Leitung und Mitarbeitende
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
Editorial                                    Geleitwort –                                      Dr. Christian Ritter die Funktion des
                                                                                               Leiters ad interim. Weitere Themen-
                                             Per aspera ad astra                               wochen und publikumswirksame Aus­
Gegenwartsforschung in historischer                                                            stellungen fanden statt.
Umgebung: Im Herbst 2016 haben sieben                                                                 Das Abschlussjahr 2020 wurde
neu gewählte Fellows ihre Arbeit in          Wenn ich auf die Fellowperiode 2016               von der Corona-Pandemie domi­niert und
der Semper-Sternwarte aufgenommen.           bis 2020 zurück- und zur Semper-Stern-            erforderte neue Lösungen. Die Eröffnung
Zusammen mit ihren Mitarbeitenden            warte, dem Sitz des Collegium Helveti-            der Ausstellung «Wired Nation» zum
und gemeinsam mit drei assoziierten          cum, emporschaue, dann fällt mir dieser           Ab­schluss eines Fellowprojekts beispiels­
Fellows beschäftigten sie sich während       Spruch ein, frei übersetzt: «Über raue            weise konnte trotz verzögerter Fertig-
vier Jahren mit Ausprägungen und Be­         Wege zu den Sternen.»                             stellung der Ausstellungsräume in der
dingungen des digitalen Wandels. Durch               Es war eine aussergewöhnliche             Sternwarte rechtzeitig erfolgen, wenn
ihre Arbeit und als Persönlichkeiten         Fellowperiode, die nun zu einem höchst            auch ohne die geselligen Momente einer
prägten sie das Collegium Helveticum         erfreulichen Abschluss gekommen ist.              Vernissage. Und auch die von mehreren
entschieden – thematisch, aber auch          Vorbe­reitet vom neuen Leiter Prof. Dr.           Fellows gemeinsam organisierte Tagung
in Bezug auf die Formate, in denen ge-       Thomas Hengartner und neu mit der                 «Algorithmic Knowledge Production –
forscht, diskutiert und vermittelt wurde.    Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)              Principles, Problems, Prospects» wurde als
Sie hatten wesentlichen Anteil daran,        als dritte Trägerhochschule starteten             Videokonferenz ein voller Erfolg.
dass sich das Collegium Helveticum auch      sieben Fel­­lows mit einem hochaktu-                     Das sichtbare, ja leuchtende Er­geb­-
in der Fellowperiode 2016 bis 2020 als       ellen Thema: Digital Societies. Die ZHdK          nis der Fellowperiode 2016 bis 2020
ein Ort für exzellente ebenso wie origi-     stellte Prof. Hannes Rickli, die Uni­ver­­sität   in Form von Publikationen und Veranstal-
nelle wissenschaftliche und künstlerische    Zürich Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno,           tungen ist Ausdruck einer produktiven
Forschung profilieren konnte. Dafür ist      Prof. Dr. Monika Dommann, Prof. Dr. Mike          Zu­sammenarbeit von Wissenschaftler­
ihnen herzlich gedankt. Ein Dank geht        Martin und die ETH Zürich Prof. Dr. David         innen und Wissenschaftlern sowie Künst-
eben­so an die Mitarbeitenden und das        Gugerli, Prof. Dr. Petros Koumoutsakos            lerinnen und Künstlern aus verschie­
Leitungsteam des Collegium Helveticum        und Prof. Dr. Renate Schubert als Fellows.        denen Disziplinen. Der vielfältige Output
für ihr ausserordentliches Engagement        Die drei assoziierten Fellows Prof. Dr.           erstreckt sich von Monografien und
auch in turbulenten Zeiten.                  Joachim Buhmann, Prof. Dr. Sara Fabrikant         Sammelbänden zu Beiträgen nationaler
        Die vorliegende Broschüre gibt       und Prof. Dr. Florent Thouvenin erwiesen          und internationaler Behörden und Orga­
Einblick in die durchgeführten Arbeiten      sich von Beginn weg als wichtige Partner          nisationen, über Ausstellungen bis hin
und die daraus erwachsenden Ideen und        der Fellows.                                      zu wissenschaftlichen Artikeln in ange­
Aktivitäten. Die Bildstrecken zeigen Foto-           Im Sommer 2017 erkrankte                  sehenen Fachpublikationen. Er umfasst
grafien von Andrea Helbling und Marc         Thomas Hengartner und verstarb ein                ebenso die Entwicklung von Software und
Latzel, die im Rahmen künstlerischwis-       knappes Jahr später. Er hinterliess               Hardware wie künstlerische Arbeiten.
senschaftlicher Re­cherchen über digitale    eine grosse Lücke als Mensch sowie als                   Im Namen des Kuratoriums danke
Infrastruk­turen entstanden sind und         Ideengeber, Moderator und Führungs­               ich den Fellows, den assoziierten Fellows,
die – unter anderem – in den neuen Aus-      person. Die gemeinsamen transdiszi­               den Leitern und den Mitarbeitenden
stellungs- und Aufführungsräumen am          plinären Projekte der Fellows waren aber          des Collegium Helveticum, dass sie die
Collegium ausgestellt wurden. Mit dieser     schon so weit aufgegleist – die For­schung        Fellowperiode trotz eines Schicksals-
infrastrukturellen Neuerung unterstreicht    und Veröffentlichungen liefen wie ge-             schlags und Ereignissen höherer Gewalt
das Collegium Helveticum den Anspruch        plant –, dass das Kuratorium keinen               zu einem höchst erfreulichen Abschluss
und die Bereitschaft, den transdiszipli-     Nachfolger suchte. Es betraute Thomas’            gebracht haben. Eine gross­ar­tige Leistung:
nären Dialog auch in der Zukunft und in      Stellvertreter, Dr. Hartmut von Sass, mit         Per aspera ad astra!
neuen Konstellationen voranzutreiben.        der operationellen Leitung des Colle-
                                             ­gium Helveticum. Als dieser auf eine
                                                                                                    Prof. Dr. Dr. h. c. mult.
     Dr. Christian Ritter,                    Professur an die Humboldt Universität                 Sarah Springman, Rektorin ETH Zürich,
     Leiter a.i.                              zu Berlin berufen wurde, übernahm                     Präsidentin des Kuratoriums
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
Das Collegium                                                                          hochschule, einer Technischen Hoch-
                                                                                       schule und einer Volluniversität ist
                                                                                       weltweit einzigartig. Es ist mit seinem
                                                                                                                                    vier Jahre die Voraussetzung zur erfolg-
                                                                                                                                    reichen Realisierung transdisziplinärer
                                                                                                                                    Forschungsprojekte.

Helveticum und
                                                                                       transdiszi­plinären Ansatz ein geeigneter           Leiter und Fellows wählen zusam­
                                                                                       Ort zur Reflexion komplexer Vorgänge         men assoziierte Fellows – in der aktu-
                                                                                       jenseits vorgefasster Denkkollektive         ellen Fellowperiode deren drei –, die ihre

seine Fellows
                                                                                       und Denk­stile. Im Zentrum der Arbeit        eigenen Kompetenzfelder und -spektren
                                                                                       am Collegium Helveticum stehen dabei         ergänzen, sich in die Fellowprojekte
                                                                                       die Entwicklung, die Umsetzung und           einbringen und die nationalen wie inter-
                                                                                       die Reflexion kollaborativer, transdiszi­-   nationalen Bezüge stärken.
                                                                                       pli­närer Forschungsprojekte. Zentral
                                                                                       ist hier­bei auch der Austausch mit dem
Im Zentrum der Arbeit am Collegium                                                     Hochschulplatz Zürich, insbesondere
                                                                                                                                    Geschichte
                                                                                                                                    Das Collegium Helveticum wurde 1997
Helveticum, dem einzigen Institute of                                                  die Vernetzung mit den und innerhalb
                                                                                       der drei Trägerhochschulen, mit dem
                                                                                                                                    von der ETH Zürich als Forum für den
                                                                                                                                    Dialog zwischen den Wissenschaften
Advanced Studies der Schweiz, stehen                                                   inter­nationalen Netzwerk der IAS sowie
                                                                                       mit ausseruniversitären Stakeholdern
                                                                                                                                    mit dem Ziel gegründet, das gegenseitige
                                                                                                                                    Verständnis zwischen den Natur- und
der Dialog zwischen den Wissenschaften                                                 aus Kultur, Politik, Verwaltung und          Technikwissenschaften sowie den Geistes-
                                                                                       Wirtschaft.                                  und Sozialwissenschaften zu fördern. Bis
einerseits und den Künsten anderseits                                                                                               2004 war das Collegium Helveticum als

sowie die Entwicklung, die Umsetzung                                                   Fellow-Modell 2004 – 2020
                                                                                       Sieben Fellows – je drei Professor*in-
                                                                                                                                    ein zahlenmässig kleines Graduierten­
                                                                                                                                    kolleg für junge Wissenschaftler*innen
und die Reflexion kollaborativer, transdis­                                            nen der Universität Zürich und der ETH
                                                                                       Zürich sowie ein*e Professor*in der
                                                                                                                                    der Universität Zürich und der ETH
                                                                                                                                    Zürich organisiert. Die Kollegiat*innen,
zipli­närer Forschungsprojekte.                                                        Zürcher Hochschule der Künste – bilden       die aufgrund ihres interdisziplinären
                                                                                       den Kern des Collegium Helveticum. Es        Interesses und der wissenschaftlichen
                                                                                       unterscheidet sich damit von anderen         Qualität ihres Forschungsprojektes
                                                                                       IAS einerseits durch seine verhältnismäs-    ausgewählt wurden, verbrachten zwei
                                                                                       sig kleine Fellowzahl, andererseits durch    Semester am Collegium Helveticum.
Als Institute for Advanced Studies (IAS)    Das Collegium Helveticum, das gemein-      deren mehrjähriges Engagement sowie          Die interdisziplinäre Umgebung wurde
bietet das Collegium Helveticum intel­      sam von der Universität Zürich, der ETH    deren transdisziplinäre Zusammenarbeit       durch Einladung von international
lektuelle Freiräume und fördert wissen-     Zürich und der Zürcher Hochschule          in sogenannten Fellowprojekten zu            renommierten Gästen aus Wissenschaft,
schaftliche Innovation auch jenseits        der Künste getragen wird, versteht sich    einem gemeinsamen Schwerpunktthema.          Literatur und Kunst verstärkt, die je-
der Paradigmen der Disziplinen und des      als Thinktank und als Laboratorium für     Die von einem Kuratorium gewählten           weils für ein Semester an der Sternwarte
Mainstreams der Forschungsförderung.        Transdisziplinarität. Es fördert die Be-   Fellows behalten während der gesamten        weilten.
Zusätzlich zur Forschungstätigkeit seiner   gegnung und den Dialog zwischen den        vierjährigen Fellowperiode ihre Lehr-               Seit 2004 wird das Collegium
Fellows und Mitarbeitenden richtet das      Geistes- und Sozialwissenschaften, den     stühle und Funktionen an den jeweiligen      Helveticum gemeinsam von ETH Zürich
Collegium Helveticum internationale Ver­    Natur- und Ingenieurwissenschaften,        Hochschulen, werden aber zu 20 Prozent       und Universität Zürich getragen. Gleich-
anstaltungen zu grundlegenden Themen        den medizinischen Wissenschaften sowie     ihres Arbeitspensums für die Forschung       zeitig wurde die bis heute aktuelle
der Wissenschaft und der Künste im All­     den Künsten und reagiert damit auf         am Collegium Helveticum freigestellt.        Struktur mit auf fünf Jahre gewählten
gemeinen sowie zum aktuellen Schwer-        Tendenzen zur technischen, kulturellen             Dieses in der akademischen Welt      Fellows eingeführt, allesamt Inhaber*
punkthema Digital Societies im Speziellen   und wissenschaftlich-disziplinären         einzigartige Modell einer «Long-term-        innen von Lehrstühlen an der Universität
aus. Darüber hinaus bildet das Collegium    Entgrenzung, die entsprechende wissen-     part-time-Fellowship» ermöglicht zum         Zürich und der ETH Zürich, die an einem
Helveticum, zum Teil in Kooperation mit     schaftliche Zugänge erfordern.             einen den intensiven Austausch zwischen      gemeinsam definierten Schwerpunkt­
anderen Institutionen und Initiativen,             Das Collegium Helveticum ist        dem Collegium Helveticum und dem             thema arbeiten. In der ersten Fellow-
auch eine Plattform für transdisziplinäre   das einzige IAS in der Schweiz. Seine      Hochschulplatz Zürich. Zum anderen           periode (2004 – 2009) lautete das Schwer-
Forschungsfragen und -verbunde.             dreifache Trägerschaft mit einer Kunst­    schafft die Berufung der Fellows für         punktthema Die Rolle der Emotionen:

6                                                                                      Das Collegium Helveticum                                                                  7
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
ihr Anteil bei menschlichem Handeln und          zur Betriebseinstellung. Nach umfassen-      Besonders interessiert sie die Frage,        Sie ist Mitglied der Projektgruppe
bei der Setzung sozialer Normen, in der          den Restaurationsarbeiten erfolgte 1997      wie die Möglichkeiten der Digitalisierung    «Psychopharmakaforschung von Prof.
folgenden (2009–2016) Reproduzierbar-            die Wiedereröffnung als Institutsgebäude     für eine patientenorientierte, angemes-      Dr. Roland Kuhn in der Psychiatrischen
keit, Vorhersage, Relevanz. Die aktu­elle        des Collegium Helveticum. Im Herbst          sene Gesundheitsversorgung genutzt wer-      Klinik Münsterlingen (1946 – 1972)»,
Periode (2016–2020) läuft unter dem              2020 konnte das Collegium Helveticum         den können.                                  Teil des Editorial Board der Konstanz
Titel Digital Societies. Seit 2016 verfügt das   in der Semper-Sternwarte zwei neue                  Nikola Biller-Andorno ist Mit­        University Press, Mitglied am Zentrum
Collegium Helveticum mit der Zürcher             Räume inklusive Infrastruktur für Aus-       glied der Schweizerischen Akademie der       «Geschichte des Wissens» der Universität
Hochschule der Künste (ZHdK) über eine           stellungen und Aufführungen in Betrieb       Medizinischen Wissenschaften, Vize­          und der ETH Zürich sowie Vorstands­
dritte Trägerhochschule.                         nehmen, die auf die Bedürfnisse künst-       präsidentin des Klinischen Ethikkomi-        mitglied der Schweizerischen Gesellschaft
        Erster Leiter des Collegium              lerisch-wissenschaftlicher Forschung und     tees des Universitätsspitals Zürich          für Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
Helveticum war Prof. Dr. Adolf Muschg.           Präsentationen zugeschnitten sind.           sowie Mitglied des Forschungsrats des
1998 ging die Leitung an Prof. Dr. Helga                                                      Schweizerischen Nationalfonds.
Nowotny über, die diese bis zu ihrer
Emeritierung im Jahr 2002 innehatte.
Als Leiter ad interim stand Prof. Dr. Peter
Rieder bis Ende September 2004 dem
Collegium Helveticum vor. Zwischen               Die Fellows
2004 und 2015 fungierte Prof. Dr. Gerd
Folkers als Leiter. Zwischen 2016 und                                                                                                      Prof. Dr. David Gugerli
2018 wurde das Collegium Helveticum
durch Prof. Dr. Thomas Hengartner ge­                                                         Prof. Dr. Monika Dommann                     David Gugerli ist seit 2001 ordentlicher
leitet. Nach dessen Hinschied amtete                                                                                                       Professor für Technikgeschichte an der
bis Ende Dezember 2019 PD Dr. Hartmut                                                         Monika Dommann ist Professorin für           ETH Zürich.
von Sass als stellvertretender Leiter.                                                        Geschichte der Neuzeit an der Universität           Der 1961 geborene Gugerli promo­
Seit Januar 2020 zeichnet interimistisch         Prof. Dr. Dr. Nikola Biller-Andorno          Zürich.                                      vierte 1987 in Geschichte, habilitierte
Dr. Christian Ritter verantwortlich.                                                                  1966 in Walchwil (ZG) geboren        1995 an der Universität Zürich und wur-
                                                 Nikola Biller-Andorno ist ordentliche        promovierte und habilitierte sie an der      de 1997 als Assistenzprofessor an die
Semper-Sternwarte                                Professorin für Biomedizinische Ethik        Universität Zürich. Sie forschte und         ETH Zürich berufen. Er war Gast an der
Das Collegium Helveticum ist in der              an der Universität Zürich und leitet         lehrte unter anderem an der Universität      Maison des Sciences de l’Homme in
sogenannten Semper-Sternwarte behei­             das Institut für Biomedizinische Ethik       Basel, am Internationalen Kolleg für Kul-    Paris (1988 und 1991), Visiting Fellow
matet. Der denkmalgeschützte Bau in              und Medizingeschichte der Universität        turtechnikforschung und Medienphilo-         der Stanford University (1992), Inves-
unmittelbarer Nähe der Hauptgebäude              Zürich.                                      sophie in Weimar, am German Historical       tigador visitante am Colegio de México
von Universität Zürich und ETH Zürich                    1971 in Nürnberg (D) geboren         Institute in Washington, am Max-Planck-      (1989 – 1993), Fellow am Wissenschafts-
ist eng verbunden mit dem Mathe-                 studierte sie Medizin und Philosophie.       Institut für Wissenschaftsgeschichte in      kolleg zu Berlin (1993 / 94), Fellow am
matiker und Astronomen Rudolf Wolf               Nach der Promotion in beiden Fächern         Berlin, an der McGill University in Mont-    Internationalen Forschungszentrum Kul-
(1816 – 1893) und dem Architekten                und einem Postdoctoral Fellowship            real und am Internationalen Forschungs-      turwissenschaften in Wien (1994) sowie
Gottfried Semper (1803 – 1879), beide            an der Harvard Medical School habili-        zentrum Kulturwissenschaften in Wien.        Professor an der Universidad Nacional
ab 1855 Professoren am Polytechnikum             tierte sie im Fach Medizinethik an der               Zu ihren Forschungsschwerpunk-       Autónoma de México (1996). 2006 war
Zürich. Die Sternwarte wurde auf Wolfs           Universität Göttingen. Nach einer zwei-      ten gehören die Verflechtungen der Alten     er Gast des Rektors des Wissenschafts-
Bestreben und nach Plänen Sempers                jährigen Tätigkeit bei der Weltgesund-       und Neuen Welt, die Geschichte mate­         kollegs zu Berlin, 2008 / 09 Senior Fellow
gebaut und 1864 eingeweiht. Sie bildete          heitsorganisation in Genf folgte sie einem   rieller Kulturen, die Geschichte immate-     des Zukunftskollegs der Universität
über mehr als 100 Jahre ein weltweites           Ruf an die Charité in Berlin. Seit 2005      rieller Güter, die Geschichte der Logistik   Konstanz. 2014 / 15 war er Senior Fellow
Zentrum der Sonnenflecken-Forschung.             ist Nikola Biller-Andorno in Zürich tätig.   und der Data Centers, die Geschichte         am Digital Cultures Research Lab an der
Die wachsende Stadt mit ihren Emis­              Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte        des Marktes und seiner Grenzen, die          Leuphana Universität Lüneburg.
sionen stellte den ursprünglich länd-            liegen im Bereich der narrativen Medizin     Geschichte von Bild- und Tonspeichern               Seine Forschungsarbeiten um­
li­chen Standort der Sternwarte im               sowie der Auswirkungen der Ökonomi-          sowie die Methodologie und Theorie           spannen ein breites thematisches Feld
20. Jahrhundert in Frage und führte 1980         sierung auf die medizinische Versorgung.     der Geschichtswissenschaft.                  der Technik- und Wissenschaftsge-

8                                                                                             Das Collegium Helveticum                                                              9
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
schichte des 19. und 20. Jahrhunderts:      PhD (1992) in Luftfahrtechnik und an­-       Martins Forschungsschwerpunkte               er künstlerische Forschungsprojekte im
Geschichte der Elektrifizierung, der        ge­wandter Mathematik machte er              sind das theoretische Verstehen von          Bereich Kunst und Wissenschaft. 2016 bis
kartographischen Beherrschung des na-       am California Institute of Technology        ge­sundem Altern, empirische Studien         2020 war Rickli Fellow.
tionalen Raums, der Visualisierung des      in Pasadena.                                 und Längsschnittstudien; ausserdem                  1959 in Bern geboren studierte
menschlichen Körpers sowie der Entwick-            Seine Forschung konzentriert sich     stellt er Unterstützungssysteme für die      er in Zürich und Karlsruhe Fotografie,
lung der Technischen Hochschule. In         auf die Schnittstelle zwischen Computing     Entscheidungsfindung zur Verfügung,          Theorie der Gestaltung und Kunst so-
jüngerer Zeit sind Studien zur Geschichte   und Data Sciences, insbesondere auf          um die individuelle Dynamik des gesun-       wie Medienkunst. Von 1988 bis 1994
rechnergestützter Suchprozeduren und        deren Anwendung in der Technik und der       den Älterwerdens in Alltagskontexten         arbeitete er als freischaffender Fotograf
Datenbanken sowie zur wissensbasierten      Medizin.                                     zu verstehen und darüber zu informie-        für diverse Zeitungen und Zeitschriften
Ökonomie der Rückversicherungsbran-                Koumoutsakos gründete das             ren. Er bedient sich dabei hauptsäch-        (u.a. Neue Zürcher Zeitung, Das Magazin,
che entstanden.                             ETH Zürich Computational Laboratory          lich multidisziplinärer und partizipati-     Bilanz) und ist seit 1991 als Bildender
       David Gugerli ist Gründungsmit-      (2000 – 2007) und ist der Gründungs­         ver Forschungsansätze, um semantische        Künstler mit Ausstellungen im In- und
glied des Zentrums «Geschichte des          direktor der Zurich Graduate School in       Analysen zur Integration verschiedener       Ausland tätig. 2004 wurde er mit dem
Wissens», das von der ETH Zürich und        Computational Science. Er war Vorsitzen-     Informationsebenen und -formen zu ent-       Prix Meret Oppenheim des Eidgenös­
der Universität Zürich getragen wird.       der des wissenschaftlichen Steuerungs-       wickeln und damit individuelle gesund-       sischen Bundesamts für Kultur ausge-
Er war Vorsteher des Departements           ausschusses der europäischen High-           heitsbezogene Daten zu interpretieren.       zeichnet.
für Geistes-, Sozial- und Staatswissen­     Performance-Computing-Infrastruktur                  Er ist an Kompetenzzentren zu               Schwerpunkte seiner Forschung
schaften (D-GESS), Mitglied der For-        und ist im Moment Vorsitzender des           den Themen Gerontologie, Plastizitäts-       und Lehre sind der instrumentelle Me-
schungskommission und von 2009 bis          Access Committee. Er wurde zum Fellow        forschung, Multimorbidität und Dynamik       dien- und Raumgebrauch, die Materialität
2016 Präsident der Strategiekommis­-        der American Society of Mechanical           des gesunden Älterwerdens beteiligt.         des Digitalen sowie die Medienökologie.
sion der ETH Zürich. Gugerli ist ausser-    Engineers, der American Physical Society     Er ist Teil der Steuerungsgruppe der na-     Forschungsprojekte: «Computersignale.
dem Mitglied des Turing Centre der          und der Society for Industrial and Applied   tionalen Plattform «alternde Gesellschaft»   Kunst und Biologie im Zeitalter ihres
ETH Zürich.                                 Mathematics gewählt. Er erhielt den          und ist Vorsitzender der UZH-Senioren-       digitalen Experimentierens» (2012 – 2015
                                            Advanced Investigator Grant des Europä­      Universität Zürich. Martin war mit seinen    und 2017–2021) und «Überschuss.
                                            ischen Forschungsrates und führte das        Empfehlungen hinsichtlich der Ethik          Videogramme des Experimentierens»
                                            Team an, das 2013 den ACM Gordon Bell        neuer Datenformen (Globales Wissen-          (2007 – 2009), gefördert vom Schweizeri-
                                            Prize in Supercomputing gewann.              schaftsforum der OECD), Big Data und         schen Nationalfonds SNF. Die Resul-
                                                                                         Gesundheit (Schweizer Akademie der           tate seiner Forschungen werden national
                                                                                         Naturwissenschaften) am Weltbericht          und international in Ausstellungen,
                                                                                         über Altern und Gesundheit 2015 und          Buchpublikationen und an Tagungen ver-
                                                                                         2020 der Weltgesundheitsorgani­sation        öffentlicht.
Prof. Dr. Petros Koumoutsakos                                                            (WHO) beteiligt.

Petros Koumoutsakos war von 2000 bis
2020 Professor für Computational
Sciences an der ETH Zürich. Seit Herbst     Prof. Dr. Mike Martin
2020 ist er Professor für Computing
in Science and Engineering an der Har-      Mike Martin ist seit 2002 ordentlicher
vard University.                            Professor für Gerontopsychologie und
       Koumoutsakos wurde 1963 in           Gerontologie an der Universität Zürich.                                                   Prof. Dr. Renate Schubert
Gythio, Laconia in Griechenland gebo­ren           Martin wurde 1965 in Mainz ge-        Prof. Hannes Rickli
und studierte Schiffbau an der Natio-       boren. Er studierte Psychologie in Mainz                                                  Renate Schubert war bis 2020 ordentliche
nalen Technischen Universität Athen         und in Georgia (USA), wo er seinen           Hannes Rickli ist Bildender Künstler         Professorin für Nationalökonomie an
(Diplom 1986) und an der Universität        Masterabschluss machte. Seinen Dok­          und lehrt seit 2004 als Professor an         der ETH Zürich.
Michigan in Ann Arbor, USA (Master-         torgrad erwarb er an der Universität         der Zürcher Hochschule der Künste                   Schubert studierte Wirtschafts-
abschluss 1987). Seinen Masterabschluss     Mainz, und er habilitierte 2001 an der       ZHdK. Am dortigen Institut für Gegen-        wissenschaften an der Universität Mainz,
(1988) in Luftfahrtechnik und seinen        Universität Heidelberg.                      wartskunst IFCAR initiiert und leitet        wurde an der Universität Tübingen pro­

10                                                                                       Das Collegium Helveticum                                                            11
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
moviert und habilitierte an der Techni-
schen Universität Darmstadt. Nach einer
                                             Die assoziierten                           Joachim Buhmann wirkte als Studien-
                                                                                        direktor (2008 – 2013) und als Prorektor
                                                                                                                                      später wechselte sie an das Geographi-
                                                                                                                                      sche Institut der University of California,
Professur an der Universität Regensburg      Fellows                                    Studium der ETH Zürich (2014 – 2017).         Santa Barbara in Kalifornien (USA),
wechselte sie an die Universität Tü-                                                    Seit 2017 vertritt er das Gebiet Data         wo sie von 2000 bis 2005 als Assistenz-
bingen. 1992 kam Schubert an die ETH                                                    Science als Forschungsrat im Schweizer        professorin im Bereich GIScience und
Zürich. Zwischen 1993 und 2006 war                                                      Nationalfonds. Die Deutsche Arbeits-          Kartographie lehrte und forschte. Im Jahr
sie dort Leiterin des Instituts für Wirt-                                               gemeinschaft für Mustererkennung,             2005 wurde sie zur ausserordentlichen
schaftsforschung. 2006 gründete sie                                                     die Buhmann von 2009 bis 2015 leitete,        Professorin an das Geographische Institut
das interdisziplinäre Institut für Umwelt-                                              verlieh ihm 2017 die Ehrenmitglied-           der Universität Zürich berufen.
entscheidungen (IED) an der ETH Zürich,                                                 schaft. Im selben Jahr wurde er auch in              Fabrikants Forschungsinteressen
das sie bis 2014 leitete.                                                               die Schweizer Akademie der Technischen        umfassen geographische Informations­
       Schuberts Forschungsschwer­           Prof. Dr. Joachim M. Buhmann               Wissenschaften SATW gewählt. 2020             visualisierung, geovisuelle Analytik,
punkte liegen in der Verhaltensökono­                                                   wurde er zum Fellow der International         Raumkognition, graphische Gestaltung
mik, angewandt auf Umwelt- und               Joachim M. Buhmann ist seit 2003 or-       Association for Pattern Recognition IAPR      von Anwendungsoberflächen und deren
Energiethemen.                               dentlicher Professor an der ETH Zürich     ernannt.                                      empirische Evaluierung mit Anwen-
       Sie war viele Jahre Mitglied der      für das Forschungsgebiet Informa-                                                        dern sowie dynamische Kartographie.
Entscheidungsgremien des Schweize­ri­        tion Science and Engineering. Er leitet                                                         Neben ihrer Forschung, Lehre
schen Nationalfonds und der Deut-            das Institut für Maschinelles Lernen                                                     und Tätigkeit als Co-Direktorin der UZH
schen Forschungsgemeinschaft. Zwischen       am Departement Informatik. Zwischen                                                      Digital Society Initiative ist sie Mitglied
2000 und 2013 war Schubert Mitglied          2017 und 2020 war er assoziierter                                                        des Schweizerischen Wissenschaftsrats
des Wissenschaftlichen Beirats Globale       Fellow am Collegium Helveticum.                                                          und in einer Reihe von internationa-
Um­weltveränderungen der deutschen                  Buhmann studierte Physik an                                                       len wissenschaftlichen Gremien tätig.
Bundesregierung. Zwischen 2004 und           der TU München und promovierte dort                                                      2011 bis 2015 war sie Vi­ze­prä­si­dentin der
2008 hatte sie den Vorsitz des Gremiums      1988 mit einer Arbeit zu künstlichen       Prof. Dr. Sara Irina Fabrikant                Internationalen Kartographischen Ver-
inne. Von 2011 bis 2019 war Schubert         neuronalen Netzen. Nach Forschungsauf-                                                   einigung. Gender- und Diversitäts­aspekte
Vorsitzende des Aufsichts­rats des Karls-    enthalten an der University of Southern    Sara Irina Fabrikant ist seit 2013 ordent­    in einer digitalen Wissens­gesellschaft im
ruher Instituts für Techn­ologie. Renate     California und am Lawrence Livermore       liche Professorin für Geographie an           Allgemeinen und spezifisch im Bildungs-
Schubert war ausserdem Mitglied und          National Laboratory wirkte er als Pro-     der Universität Zürich und leitet dort        sektor sind Sara Irina Fabrikant besonders
Leiterin meh­rerer Expertengremien, die      fessor für Praktische Informatik an der    den Lehrstuhl Geographische Informa­          wichtige Anliegen.
verschiedene Regierungen beraten. Seit       Universität Bonn (1992 – 2003).            tions­visualisierung und Analyse am
2015 ist sie Forscherin (Principal In­              Buhmanns Forschungsinteressen       Geographischen Institut. Als ehemaliges
vestigator) in den Programmen «Fu­ture       umfassen Theorie und Anwendungen           Mitglied der Institutsleitung des Geo­-
Resilience System» und «Cooling Sin-         des maschinellen Lernens und der künst­    gra­phischen Instituts war sie zuerst Ins­-
gapore» des Singapore-ETH-Centre in          lichen Intelligenz sowie ein breites       titutsleiterin (2014 – 2016) sowie Direk­
Singapur.                                    Themenspektrum zur Informationsver-        torin Lehre (2016 – 2018). Zwischen
                                             arbeitung in den Lebenswissenschaften,     2018 und 2020 war sie assoziierte Fellow
                                             insbesondere der Medizin. Zentral stellt   am Collegium Helveticum.
                                             sich im Bereich des maschinellen Lernens           Fabrikant studierte von 1990 bis      Prof. Dr. Florent Thouvenin
                                             die Frage, wie komplexe Modelle und        1996 Geographie, Geschichte und Kar­-
                                             Algorithmen in der Datenanalytik (Big      tographie an der Universität Zürich und       Florent Thouvenin ist ausserordentlicher
                                             Data) validiert werden können, wenn        der ETH Zürich. Sie promovierte 2000          Professor für Informations- und Kommu-
                                             sie aus empirischen Beobachtungen          in Geographie an der University of Colo-      nikationsrecht an der Universität Zürich
                                             ge­schätzt werden. Insbesondere müssen     rado in Boulder (USA) mit Schwerpunkt         und war zwischen 2017 und 2020 asso­
                                             dafür die Konzepte statistischer und       GIScience. 1999 erfolgte der Ruf als          ziierter Fellow am Collegium Helveticum.
                                             algorithmischer Komplexität und ihre       Assistenzprofessorin ans Geographische                Thouvenin wurde 1975 in Zürich
                                             Wechselwirkung grundsätzlich verstan-      Institut der University at Buffalo (State     geboren und hat an der Universität Zürich
                                             den werden.                                University of New York, USA). Ein Jahr        studiert, doktoriert und habilitiert. Er

12                                                                                      Das Collegium Helveticum                                                                 13
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
war wissenschaftlicher Assistent an
der ETH Zürich und an der Universität
Zürich, praktizierte als Rechtsanwalt
in einer Zürcher Wirtschaftskanzlei und
war Senior Research Fellow in einem
Forschungsprojekt der Universität Zürich
sowie Assistenzprofessor an der Uni­
versität St. Gallen.
        Der Schwerpunkt seiner Forschung
liegt derzeit im Urheber- und Datenschutz­-
recht. Im Vordergrund steht dabei die
fundamentale Frage, ob und gegebenen-
falls wie das Datenschutzrecht neu ge-
dacht werden muss, um die Privatsphäre
der betroffenen Personen zu schützen
und gleichzeitig eine möglichst weitgeh­
ende Nutzung von Daten zu ermöglichen.
Weitere Forschungsprojekte befassen
sich mit der rechtlichen Erfassung der
Herausforderungen von Künstlicher
Intelligenz (KI) mit Ausschliesslichkeits-
rechten an und dem Zugang zu Daten
und mit der zunehmenden Personalisie­
rung von Werbung, Verträgen und
Preisen.
        Thouvenin ist unter anderem
Vor­sitzender des Leitungsausschusses
des Center for Information Technology,
Society, and Law, Direktor der UZH
Digital Society Initiative sowie Geschäfts­
führer und Vorstandsmitglied des
Schweizer Forums für Kommunikati­

                                              Bildstrecke: Fotografien von Andrea Helbling, Arazebra.
onsrecht.

                                              Fellowprojekt «Digitale Infrastrukturen»

14                                                                                                      Kunst am Collegium Helveticum   15
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
16   Kunst am Collegium Helveticum   17
Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
Ein Labor für
                                        Transdisziplinarität
                                        Transdisziplinarität ist am Collegium
                                        Helveticum nicht nur Praxis, sie wird
                                        gleichzeitig auch zum Thema gemacht.

                                        Das Collegium Helveticum versteht sich       ähnlich ambivalente Karriere hinter sich
                                        als Laboratorium für Transdisziplinarität.   hat. Transdisziplinarität kann ganz unter-
                                        Sein Auftrag, so formuliert es seine Ge-     schiedliche Anliegen und Metho­den
                                        schäftsordnung, besteht in der Förderung     bezeichnen.
                                        der Begegnung und des Dialogs zwischen                Das Collegium Helveticum nimmt
                                        den Geistes- und Sozialwissenschaften,       sich der transdisziplinären Forschung
                                        den Natur- und Ingenieurwissenschaften,      ihrerseits als Forschungsgegenstand an.
                                        den medizinischen Wissenschaften so­         Ausgehend vom Thema der laufenden
                                        wie den Künsten. Dieser Grundauftrag         Fellowperiode – Digital Societies – werden
                                        besteht seit der Gründung des Collegium      die Herausforderungen der Trans­diszipli­
                                        Helveticum im Jahre 1997 und hat im          narität immer wieder aufgerollt:
                                        Verlaufe seines Bestehens lediglich in                Wie gestaltet man transdiszipli­-
                                        der verstärkten Gewichtung der Kunst –       nä­res Forschen? Wie stellt man sicher,
                                        seit sich die Zürcher Hochschule der         dass die Fliehkräfte der Einzelwissen-
                                        Künste neben der Universität Zürich und      schaften nicht das Anliegen untergraben,
                                        der ETH Zürich als dritte Trägerin des       auf neue Weise zusammenzuarbeiten?
                                        Collegium Helveticum dazugesellte – eine     Welcher Einsicht verdankt sich die Wert-
                                        leichte Anpassung erfahren.                  schätzung transdisziplinärer Ausrich-
                                                Das Collegium Helveticum legt        tung? Ist es die Erfahrung, dass wichtige
                                        nicht nur Wert darauf, dass die hier         Fragen ohne transdis­ziplinären Zuschnitt
                                        angesiedelten Forschungsprojekte             der Forschung nicht identifiziert und
                                        einem transdisziplinären Ansatz folgen.      entsprechende Lösungen nicht erarbeitet
                                        Es reflektiert diesen gleichzeitig mit       werden können? Und was bedeutet Trans­-
                                        Veranstaltungen, in denen es die Trans­      diszi­plinarität für die Disziplinarität der
                                        disziplinarität zum Thema macht, oder        Wissenschaften? Er­höhen transdiszi­
     Andrea Helbling Arazebra, Zürich

                                        indem es als transdisziplinäre Plattform     plinäre Kollaborationen die wechselsei­
                                        für komplexe, gesamtgesellschaftliche        tige Produktivität oder führen sie – im
                                        Themen dient. Und dies immer im              Gegenteil – zu Abgrenzungseffekten oder
                                        Bewusstsein, dass kaum ein Begriff der       gar Rivalität?
     Fotostrecke:

                                        jüngeren Wissenschaftsgeschichte eine

18                                                                                                                             19
«Forschung wird                                  Barbara Bleisch: Viele sprechen von Transdiszipli­
                                                 narität, Sie leben diese in Ihren gemeinsamen
                                                 Projekten vor. So sind Sie zum Beispiel nach Gondo
                                                                                                      einen persönlichen Zugang zur Wirklichkeit. Als
                                                                                                      Historikerin möchten Sie aber vermutlich wissen,
                                                                                                      wie es «wirklich» war?

wieder entblättert»
                                                 gereist, ein Walliser Bergdorf, das im Jahr 2000
                                                 zu ein Drittel von einem Erdrutsch zerstört wur-
                                                 de und auf diese Weise traurige Berühmtheit
                                                 erlangte. Sie haben sich für Gondo jedoch aus
                                                 anderen Gründen interessiert.                        «Das ist das, was
Ihr Forschungsprojekt ist exemplarisch für       Hannes Rickli: Ich hatte Gondo aufgrund              Forschung eigentlich
transdisziplinäres Arbeiten am Collegium Hel-    eines neueren Zeitungsartikels auf dem
                                                 Radar. Er berichtete über eine «Bitcoin-             ausmacht: ein offener
veticum: Die Historikerin Monika Dommann         Mine», die dort eingerichtet worden war,
                                                                                                      Prozess. Dieser ist
                                                 unter anderem, weil Gondo über sehr
und der Künstler Hannes Rickli im Gespräch       billige Strompreise verfügt. Man muss                nie abgeschlossen.»
                                                 dazu wissen, dass Gondo in früheren
mit Barbara Bleisch über das Projekt «Digitale   Zeiten auch eine Goldmine hatte. Die Ver-            Monika Dommann

Infrastrukturen» und über transdisziplinäres     bindung zwischen Goldschürfen, Strom
                                                 und neuen Geldformen – also letztlich
Arbeiten.                                        der Digitalisierung – hat mich für das
                                                 Dorf eingenommen.                                    Dommann: Nach Reinhart Koselleck dürfen
                                                                                                      Historiker nichts behaupten, was anders
                                                 Was sucht eine Historikerin an einem Ort, an dem     in den Quellen steht. Das ist Regel Num-
                                                 es um Bitcoin-Minen geht?                            mer eins. Damit kommt man gerade beim
                                                                                                      Beispiel Gondo nicht weiter. Nach den
                                                 Monika Dommann: Was wir in Gondo                     persönlichen Gesprächen sind wir aber
                                                 machten, ist das, was Historikerinnen                tatsächlich ins Archiv gestiegen, in die
                                                 und Historiker immer tun: «Dig where                 Bibliotheken, in die Medienberichtsspei-
                                                 you stand!» Wir haben uns rumführen,                 cher. Wir merkten, dass viele Geschich-
                                                 uns die ganze Szenerie, die entstehende              ten kursieren; Geschichten, die sich stets
                                                 Infrastruktur zeigen lassen. Wir haben               ähneln und weit in die Vergangenheit
                                                 mit Leuten gesprochen und im Anschluss               reichen – bis zum Goldrausch im 19. Jahr-
                                                 an die Gespräche tief in der Geschichte              hundert. Unser Bild komplettierte und
                                                 gegraben. Dabei haben wir nicht nur die              verdichtete sich immer weiter. Nach zwei
                                                 Schichten der letzten zehn Jahre abge­               Jahren «Grabungsarbeiten» in den Erzäh-
                                                 tragen, Stichworte Erdrutsch und Bitcoin-            lungen der Menschen und in Archiven
                                                 Mine, sondern gelangten bis tief ins                 hatten wir ein anderes Bild dieses Dorfes
                                                 19. Jahrhundert, als die Wasserwirtschaft            als dasjenige, das wir am Anfang hatten.
                                                 im Wallis ihren Anfang nahm, deren                   Das ist das, was Forschung eigentlich
                                                 Spuren Wirtschaft, Gesellschaft und Zu-              ausmacht: ein offener Prozess. Dieser ist
                                                 sammenleben im Dorf bis heute prägen.                nie abgeschlossen. Was ich explizit ge-
                                                                                                      lernt habe, ist – was ich als Historikerin
                                                 Als Historikerin sind Sie auf Quellen angewiesen.    natürlich schon länger weiss –, dass
                                                 Die meisten Historiker vergraben sich dafür in       vermeintlich «objektive» Medienberichte
                                                 Archiven. Sie sprechen dagegen mit Zeitzeugen vor    Teil dieser Narrative sind und dass wir
                                                 Ort, was Sie auch in Ihrem Buch dokumentieren.       mit diesen Medienberichten sehr kritisch
                                                 Wer Geschichten erzählt, wählt allerdings immer      umgehen müssen.

20                                               Transdisziplinarität                                                                                21
Mir fällt in diesem Zusammenhang ein Zitat des          dass dieser Zugang erarbeitet werden
     Basler Historikers Jacob Burckhardt ein, der ein        muss, technisch oder durch irgendwel-
     ambivalentes Verhältnis zur Geschichte hatte:           che Operationen. In diesem Sinn sind
     «Wir möchten gern die Welle kennen, auf der wir im      dies durchaus unterschiedliche Zugänge.
     Ozean treiben – allein, wir sind diese Welle selbst.»
     Man möchte gern die eigene Zeitgeschichte               Was haben Sie denn in Gondo in diesen verschie-
     verstehen und ist zugleich Teil dieser Geschichte.      denen Rollen gesehen: als Berichterstatter und als
     Teilen Sie diesen Zugang?                               Künstler?

     Dommann: Die Metapher der Welle ist
     schön. Es ist wichtig, dass man den
     Standpunkt, den man selbst einnimmt,
     und sein Erkenntnisinteresse kennt oder
     darüber nachdenkt. Das Bild der Welle
     wird in der Geschichte häufig verwendet.
     Der französische Historiker Fernand
     Braudel hat das Bild des Schaums der
     Wellen geprägt: Der Schaum, der oben-
     auf schwimmt, entspricht den sichtbaren
     Ereignissen, zum Beispiel einer Medien-
     mitteilung. Braudel betonte, man müsse
     den Kräften, die diese Welle überhaupt
     in Bewegung bringen, nachgehen. Dann
     stösst man auf die sozialen, aber auch
     auf ökonomische Kräfte. Dies ist genau
                                                                Hannes Rickli ist Bildender Künstler und
     das, was wir getan haben. Wir haben
                                                                Professor an der Zürcher Hochschule
     Sedimente abgetragen bis ins 19. Jahr-                     der Künste
     hundert hinein und so die Geschichte der
     Digitalisierung in diesem Ort freigelegt.

     Sie haben mehrere Male vom Graben gesprochen.
     Sie, Herr Rickli, sind Fotograf, und sie graben         Rickli: An der Oberfläche war diese Block-
     und gruben in Ihrer Laufbahn auf unterschiedliche       chain-Mine sichtbar, die in einer Garage
     Arten: als «Berichterstatter» für Zeitungen, als        aufgebaut ist, in der sich die «Miners»
     Künstler und heute auch als Wissenschaftler. Als        eingemietet haben. Interessant ist, dass
     Berichterstatter zeigen Sie die Welt, wie sie ist,      diese Garage zuvor einem Transporteur
     als Künstler deuten, interpretieren Sie sie. Gibt es    gehört hatte, der dort seine Lastwagen
     für Sie als Fotograf immer verschiedene Wirklich-       wartete. Es wurde also bereits die Verbin-
     keitszugänge?                                           dung sichtbar zwischen Gondo als Säu­
                                                             mer­station, als Zollstelle – und Gondo
     Rickli: Als Berichterstatter interessiert das,          als Geldschöpfungsplatz. Und all dies in
     was sich auf der Oberfläche abbildet,                   einer Garage. Digitalität beginnt in der
     was als Symbol lesbar ist. Wenn ich aller­-             Garage. Ein konkretes und zugleich typi-
     dings als Künstler unterwegs bin, versu-                sches Bild.
     che ich einen Zugang zu finden, mit dem
     ich sozusagen unter diese Oberfläche                    Dommann: Die Garage ist seit der Erfindung
     blicken kann. Dies bedeutet gleichzeitig,               des Internets natürlich zum Sinnbild

22   Transdisziplinarität                                                                                    23
der Digitalisierung geworden! Die Leute      Infrastrukturen nähren. Medien, die           gerade in fundamentalen Umbruchs­                       Mit welchem Ziel?
rund um Steve Jobs haben im Silicon Val-     über Digitalisierungsprozesse berichten,      zeiten, wo in einigen Gebieten kein Stein
ley alle in Garagen vor sich hingetüftelt.   suchen genau nach diesen Bildern, um          auf dem anderen bleibt, wo bestehende                   Rickli: Primär eigentlich, um den Prozess
                                             das Unfassbare fassbar zu machen – und        Technologien oder Geschäftsmodelle                      der digitalen Arbeit überhaupt erfahrbar
Rickli: Innovation geht oft von Bastlern     werden mit diesen irren Bildern selbst        regelrecht zerschlagen werden (in der                   zu machen. Beim Errechnen von Wetter-
aus, von diesen jungen, verrückten Typen.    zum Hype. In dieser «Welle», um bei der       Bankenwelt spricht man von Disruption),                 modellen von MeteoSchweiz werden
Genau solche Bastler haben wir auch          Metapher von vorher zu bleiben, werden        laufen viele Initiativen und Ideen auch                 zum Beispiel täglich ungeheure Mengen
in Gondo angetroffen: Gamer, die vom         Bilder generiert, die wiederum zu Icons       ins Leere und versickern mehr oder weni-                an Daten verarbeitet, die wir anschlies-
grossen Coup träumen. Diese Garage,          der Digitalisierung werden. Die Garage ist    ger sang- und klanglos.                                 send als Wettervorhersage konsumieren.
diese Leute kann man natürlich im Bild       so ein Bild.                                                                                          Uns ist dabei nie bewusst, wie viel Ener­-
festhalten. Zugleich benötigt man aber               Deshalb hat es uns auch nicht         Sie erforschen gemeinsam die Genese und die             gie verbraucht wird und welche globalen
ein anderes Medium, um die Erzählung         überrascht, dass wir in Gondo nicht allein    Bilder der Digitalisierung – die Digitalisierung ver-   Netzwerke notwendig sind, um diese
zu komplettieren.                            waren. Wir trafen sogar auf Journalisten      ändert aber auch Ihre Arbeit. Für Sie, Herr Rickli,     Daten zu generieren.
                                             des Wired Magazine, dieser amerikani-         hat die Digitalisierung auch Erschwernisse mit sich
                                             schen Silicon-Valley-Digitalisierungs-Pos-    gebracht. Sie interessierten sich ursprünglich in       Im Zug der Pandemie werden uns die Chancen
                                             tille. Aus aller Welt reisen sie nach Gondo   erster Linie für den «Abfall», also für das Bildmate­   der Digitalisierung vielleicht neu bewusst. Eine
                                             und fotografieren Ähnliches. Und wir          rial, das nicht gebraucht wurde – etwa in Labora-       Tracing-App soll etwa helfen, Infektionsherde
                                             haben festgestellt, dass auch unser           torien, in denen Sie das Bildmaterial sammelten,        möglichst früh zu isolieren. Ungeheure Datensätze
                                             Wunsch, nach Gondo zu reisen, wiede-          das weggeworfen wurde. In diesem «Abfall»               werden global ausgetauscht, um das Virus bes-
                                             rum von den entsprechenden Bildern            steckten für Sie die interessantesten Geschichten.      ser zu verstehen. Wie bewerten Sie die Chancen
                                             genährt wurde. Unser Interesse war dann       Mit der Digitalisierung gibt es diesen Bildabfall       und die Risiken der Digitalisierung?
                                             zum Schluss allerdings doch ein wissen-       nicht mehr, weil bereits im Prozess des Bilderma-
                                             schaftliches, nämlich hinter diese Ober-      chens geschönt, gefiltert, verbessert wird. Wo-         Dommann: Es kommt gegenwärtig – und
                                             flächen zu blicken und auch hinter die        mit arbeiten Sie nun?                                   das ist interessant – zu einer Auseinan­
                                             Bilder, die uns angezogen haben, denen                                                                dersetzung zwischen Wissenschaft und
                                             wir vielleicht aber auch ein bisschen         Rickli: Der Abfall ist die Hohlform des-                Gesellschaft. Die Gesellschaft hat das
                                             auf den Leim gegangen sind.                   sen, was in bestimmten Künsten den                      Bedürfnis nach ultimativer wissenschaft-
                                                                                           Ge­genstand ausmacht – und womit                        licher Wahrheit. Im Rahmen der Pan­
                                             Weshalb sagen Sie «auf den Leim gegangen»?    für mich die Wissenschaft beginnt. Das                  demie konnten wir live beobachten, dass
                                                                                           Abfallprodukt bietet die Möglichkeit,                   es eben nicht die eine Wahrheit gibt,
                                             Dommann: Weil natürlich auch wir Teil         das zu rekonstruieren, was das Abfall-                  sondern verschiedene Wahrheiten, zum
     Monika Dommann ist Professorin für
     die Geschichte der Neuzeit an der       einer Geschichte wurden, in der sich ein      produkt sozusagen abstösst. Im digitalen                Teil auch erst vorläufige Befunde: unter-
     Universität Zürich                      kleines Dorf als neuer Hub der Digitali­      Zeitalter werden diese Abfälle nun aber                 schiedliche Wahrheiten aus der Sicht von
                                             sierung präsentiert. Es ist eine attraktive   gelöscht. Man könnte sie als Computer­                  Virologen, Epidemiologinnen, Ökono­-
                                             Geschichte, weil die Digitalisierung so       forensiker auf den Festplatten rekonstru­               men, Soziologinnen und so weiter. Die
                                             unfassbar ist – und man ihre Fortschritte     ieren. Aber das ist nicht die Methode,                  Wahrnehmung ist bis heute, dass die
                                             schon gar nicht auf dem Land in einem         die mich interessiert. Ich versuche, Ab-                Wissenschaftler sich nicht einig sind.
Dommann: Interessant ist, dass auch in       fast schon ausgestorbenen Dorf vermutet.      fallprodukte auf sinnliche Art und Weise                Dass die Wissenschaftler sich stritten und
der Digitalisierung Bildpolitik eine         «Auf den Leim gegangen» sage ich, weil        erfahrbar zu machen. Im Rahmen der                      weiter streiten, ist für mich allerdings
entscheidende Rolle spielt. Wir haben        uns die Geschichten, die uns erzählt wur-     Ausstellung «Wired Nation» (Oktober                     eine gute Nachricht. Wenn sie nämlich
oft darüber diskutiert, dass sich vieles     den, natürlich faszinierten. Diese Ge-        bis Dezember 2020 im Collegium Hel-                     nicht gestritten hätten, wäre dies für
und vielleicht das Wesentliche unter­-       schichten sind nicht falsch, sie sind sogar   veticum) haben wir zum Beispiel die                     mich besorgniserregend gewesen. Gerade
halb der sichtbaren Oberfläche abspielt.     sehr richtig. Wenn man sich in der Tech-      Rechenprozesse in einem Supercomputer                   in Krisenzeiten ist Streit, ist Kontroverse
Sozusagen im Verborgenen entstehen           nikgeschichte auskennt, sind sie oft          beobachtet, indem wir sie abhörten.                     etwas Gutes. Das für mich Beeindru-
riesige technische Anlagen, die zum          der Anfang von Technisierungsschüben,         Wir versuchten, die physische Materiali-                ckende, auch Berauschende der letzten
Teil nicht öffentlich sind und die das       Geschichten, die von einer Zukunft er­-       tät des Digitalen mit einer eigenen                     Monate ist, dass Forschung live beobach-
Bedürfnis nach Bildern dieser digitalen      zählen und von neuem Aufbruch. Doch           Methode hervorzuholen.                                  tet werden kann. Zu Ihrer Frage zurück:

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Daten als objektive Antwort zu verstehen,           solcher Schub. Wir mussten den Unter-        zwischen einzelnen Menschen. Diese                     in dem das Bild entsteht. Dann folgt der
wäre natürlich ein Missverständnis.                 richt an der Zürcher Hochschule der          Verschränkungen berühren mich als                      redaktionelle Teil: die Auswahl des Bildes,
Daten bedürfen der Interpretation. Und              Künste digital führen: mit Studierenden,     Künstler.                                              seine Einbettung in eine Geschichte. Am
Interpretation ist eben ein Aushandeln              die mit konkreten Materialien arbeiten                                                              Ende sieht man dem Einzelbild diesen
und ein Streiten, ein permanentes Fal­              und plötzlich nur noch digital kommuni­      Inwiefern?                                             Prozess nicht mehr an. Das Herausschä-
sifizieren. Und auch die Öffentlichkeit             zieren konnten. Eine eigenartige Ver-                                                               len des Gegenstandes mittels Einnahme
streitet mit. Und auch wenn es uns                  schiebung, die aber auch interessant war.    Rickli: Daten lagern in Data Centers, in               verschiedener Perspektiven ist das
Wissenschaftlerinnen gehörig nervt –                Und funktioniert hat! Ich frage mich,        Bauten aus Stahl und Beton, die aus Si-                eigentlich Interessante an der transdiszi-
diese Auseinandersetzungen sind ein                 ob und wie wir zu den alten Unterrichts-     cherheits- und Strompreisgründen meist                 plinären Arbeit.
Zeichen von guter Wissenschaft.                     formen zurückkehren oder ob wir hy-          weit abgelegen irgendwo auf der Welt
                                                    bride Formen anwenden werden.                platziert sind. Als User und vom einfach               Dommann: Die wissenschaftliche Arbeits-
                                                                                                 verfügbaren Datenfluss Profitierende                   teilung ist eine Erfindung der frühen
                                                    Dommann: Dem kann ich mich anschlies-        erreichen uns die Daten drahtlos. Wir                  Neuzeit. Wissenschaft fächert sich immer
                                                    sen. Die Digitalisierung hat eine lange      entwickeln keine Vorstellung darüber,                  mehr in Disziplinen auf, und es entwi-
                                                    Geschichte. Ihre Anfänge nimmt sie           welche massiven Infrastrukturen not-                   ckeln sich immer mehr Spezialistinnen
                                                    eigentlich schon im metrischen Denken,       wendig sind, ihre Herstellung und ihren                und Spezialisten, die mit unterschied-
                                                    im Denken in Zahlen. Natürlich verän­        Transfer zu realisieren. Weltweit sind                 lichen Methoden und Instrumenten
                                                    derte der Zweite Weltkrieg viel: Militä­     zum Beispiel Tausende von Kilometern                   arbeiten. Am Ende des Prozesses bildete
                                                    rische Interessen führten zu grossen         verlegte submarine und terrestrische                   sich in den 1980er-Jahren eine fast schon
                                                    Investitionen und brachten eine geballte     Kabel oder erdorbitale Satelliten notwen­-             romantische Sehnsucht aus, die Diszi­
                                                    Rechnerleistung hervor. Aus den riesigen     dig, wobei deren Einrichtung und Un­                   plinen wieder zusammenzufügen in dem,
                                                    Rechenzentren wurden die immer klei­         terhalt meist auf fossilen Brennstoffen                was man «Transdisziplinarität» nannte –
                                                    neren Computer. Neben der Geschichte         beruhen. Diese Lücke zwischen uns                      als könnte man sich dem Blick eines
                                                    der Entwicklung der Gerätschaften gibt       und der Umwelt – ich nenne sie, weil                   Leonardo da Vinci wieder annähern …
                                                    es aber auch eine Geschichte des Dis­        hier die menschliche Wahrnehmung
                                                    kurses über die digitalen Revolutionen.      aussetzt, den «ästhetischen Gap» – ist
     Barbara Bleisch ist Philosophin                Das ist mir vertraut von anderen techno-     Teil unserer digitalen Unmündigkeit,
     und Moderatorin «Sternstunde Philo-            logischen Schüben: Immer wurde Tech-         so meine Behauptung.
     sophie» bei SRF und war zwischen
     2017 und 2019 akademischer Gast am
                                                    nik auch eingeordnet, ins Verhältnis zum                                                            «Das transdiszipli­näre
                                                    Menschen gesetzt. Ich nehme mir als          Sprechen wir zum Schluss noch über Ihren trans-
     Collegium Helveticum
                                                    Historikerin den Luxus heraus, diese Pro-    disziplinären Ansatz. Wissenschaftliche Qualität       Arbeiten wird erst
                                                    zesse aus der Distanz zu betrachten – mit
                                                    einer gewissen Unaufgeregtheit. Trotz-
                                                                                                 hat ja meist mit disziplinärer Vertiefung zu tun –
                                                                                                 nicht mit dem Verständnis der Breite. Zumindest
                                                                                                                                                        produktiv, wenn man
Wir sprechen vom «Zeitalter der Digitalisierung».
                                                    dem bin ich immer wieder fasziniert, wie
                                                    sehr die Entwicklung neuer Technologien
                                                                                                 wird meist nur Ersteres an den Hochschulen
                                                                                                 honoriert. Was ist aus Ihrer Perspektive der Vorteil
                                                                                                                                                        auch in Konflikt gerät.»
Stehen wir Ihrer Meinung nach noch am Anfang        auch die Weltwahrnehmung prägt.              des transdisziplinären Arbeitens, und wo sind          Hannes Rickli
dieses Zeitalters, mittendrin oder schon fast am                                                 Sie sich in die Quere gekommen?
Ende? Man könnte ja auch sagen, dass die Digi-      Rickli: Ich beobachte im Moment zwei
talisierung bereits so sehr zu unserer Lebensform   Bewegungen: Die eine zieht in Richtung       Rickli: Das transdisziplinäre Arbeiten
gehört, dass wir uns nicht mehr als Zugehörige      Virtualität. Immer mehr wird entkörpert.     wird erst produktiv, wenn man auch in
eines «Zeitalters der Digitalisierung» empfinden?   Zugleich hat die Digitalisierung physische   Konflikt gerät. Erst dann wird man auf-                Wie Universalgelehrte, die die ganze Welt über-
                                                    Grundlagen und Auswirkungen. Das             merksam auf andere Sichtweisen auf den                 blicken, wie Aristoteles …
Rickli: Ich sehe die Digitalisierung als            lässt sich schön beschreiben anhand der      gleichen Gegenstand. Ich kenne das als
Prozess. Ich weiss nicht, wann er ange­             Covid-19-App. Sie funktioniert über          Fotograf sehr gut. Ein einzelnes Bild wird             Dommann: Ja, wie sie damals aus dem Vol-
fangen hat und wann er aufhören wird.               nationale Datenströme, die in Infrastruk­    aus einem riesigen Prozess herausgegrif-               len zu schöpfen, die disziplinären Gren-
Man spürt allerdings, dass es Schübe gibt.          turen des globalen Netzes fliessen –         fen. Als Fotograf entscheide ich über den              zen zu sprengen und andere Perspektiven
Corona ist und war mit Sicherheit ein               aber sie reagiert auf physischen Kontakt     Zeitpunkt, den Standort und so weiter,                 einzunehmen, um letztlich mehr oder

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lieber noch das Ganze zu sehen. Das                    bis heute mehr oder weniger von allen        Rickli: Die zeitgenössischen Künste verbin-
ist aber ein romantisches Bild, das zum                Historikern geteilt wird. Der Nachteil       den sich momentan mit sehr vielen Re-
Scheitern verurteilt ist. Wissenschaft                 ist, dass träge Disziplinen Impulse von      ferenzfeldern, etwa den Natur-, Technik-,
funktioniert heute nur, wenn man spezi­                aussen brauchen. Es waren Impulse von        Sozial- und Geisteswissenschaften, der
alisiert ist, ein spezifisches Interesse und           aussen, die die Geschichtswissenschaft       VR- oder der AI-Technologie. Ebenso sind
spezifische Instrumente hat. Dies ist                  vorangetrieben haben: die Geografen,         ihre Medien fluid geworden. Malerei
für mich eine erste Voraussetzung. Eine                Soziologinnen und Ökonomen, und dann         etwa verbindet sich mit digitalen Bildme-
zweite ist, dass man seinen Standpunkt                 nach 1980 die Kulturanthropologinnen,        dien aus dem Internet. Gleichzeitig stelle
reflektiert, seine Interessen, aber auch die           die Philosophen und immer wieder auch        ich bei meinen Studierenden fest, dass
Grenzen der eigenen Disziplin. Anders                  Grenzgängerinnen, die oft auch nicht         sie sich verorten wollen: Was ist Malerei
gesagt bin ich der Meinung, dass es diszi­-            als Historikerinnen ausgebildet waren        heute, in welchem Verhältnis steht sie
plinäre Ausbildung braucht, um über-                   und die Geschichte mit anderen Augen         zu analogen und digitalen Bildtechniken
haupt transdisziplinär arbeiten zu können.             betrachteten.                                wie Fotografie oder Renderings? Inwie-
Ansonsten entsteht nichts Produktives –                        Dieses Einschlagen neuer Rich­       fern ist es als Künstlerin legitim, in der
weil es keine Reibung gibt zwischen den                tungen steht aber im Widerspruch zu          Recherche ethnographische Methoden
verschiedenen Standpunkten.                            dem, was in der Wissenschaftspolitik         anzuwenden, ohne dass ich sie und deren
                                                       oft mit der Lancierung von grossen For-      Kontext profund studiert habe? Das Be-
In der Kunst wurde Transdisziplinarität oft genutzt,   schungsfeldern geschieht, die fast schon     dürfnis unserer Studierenden tendiert
um gänzlich neue Kunstformen zu schaffen,              bürokratisch verordnet werden. Die           dahin, sich bereits in ihrer Ausbildung in
die wiederum in die Einzeldisziplinen zurückge­        interessantesten transdisziplinären Arbei­   vielen ausserkünstlerischen Feldern zu
wirkt haben. Man sieht dies zum Beispiel bei           ten entstehen meist nicht «top down»,        bewegen, und führt sie dann meist zur
Entwicklungen in der IT, die ihren Ursprung –          sondern «bottom up» und oft an den           komplizierten Frage zurück: Welche Me-
quasi als Rückwirkung – in der Game-Industrie hat.     Rändern, wo Forschende sich füreinander      dienkonstellation erlaubt es am besten,
Frau Dommann, lässt sich in der Geisteswissen-         interessieren und bereit sind, zusam­-       den gewählten Gegenstandsbereich und
schaft auf diese Weise ebenfalls Neues erzeugen?       menzuarbeiten, auch wenn es Konflikte        dessen Inhalte ästhetisch zu kommuni-
                                                       gibt. Unser Projekt war nicht nur trans­     zieren? Dies zu beurteilen, bedarf einer –
                                                       disziplinär, sondern auch intergene-         und da bin ich mit Monika Dommann
                                                       rationell. Das war auch für mich neu.        einig – weit über eine institutionelle Aus-
                                                       Unser Buch versammelt Arbeiten von           bildung hinausgehenden Erfahrung. Das
«Die interessantesten                                  Bachelor-Studenten bis hin zu Beiträgen      heisst, Inter- oder Transdisziplinarität
                                                       von Professorinnen und Professoren.          kann nicht gelehrt oder gelernt werden,
transdisziplinären                                     Das bedeutet viel Arbeit und viel Ver-       sondern entwickelt sich aufgrund von

Arbeiten entstehen                                     ständigung darüber, welche Standards
                                                       gelten. Dies war eine bisher unbekannte
                                                                                                    Erfahrungen.

meist nicht ‹top down›,                                und grossartige Erfahrung für mich.
                                                       Man muss allerdings auch sagen: Wir
                                                                                                         Redaktion: Barbara Bleisch und Martin Schmid
                                                                                                         Fotos: Andrea Ganz
sondern ‹bottom up›.»                                  können es uns heute leisten, transdis­
                                                       ziplinär zu forschen, weil wir unsere
Monika Dommann                                         Karrieren bereits etabliert haben. Von
                                                       unseren jungen Kolleginnen und Kolle­
                                                       gen wird noch erwartet, dass sie ihre
                                                       wissenschaftliche Laufbahn vorantreiben.
Dommann: Ja, auf jeden Fall! Geschichte ist            Und das geschieht nach wie vor meist
zwar eine alte, arrivierte und auch etwas              disziplinär. Wie gesagt: Es ist ja auch
behäbige Disziplin. Im Laufe der letzten               nicht nur schlecht, sich eine Methodolo-
170 Jahre hat sie eine unaufgeregte, aber              gie à fond zu erarbeiten und zum eigenen
sehr präzise Methodik erarbeitet, die                  Standpunkt zu finden.

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