Fellow-periode 2016- 2020 Digital Societies - ETH Zürich ...
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S. 06 – 14 Das Collegium Helveticum und seine Fellows S. 19 – 30 Ein Labor für Transdisziplinarität S. 35 – 54 Digitale Gesellschaften S. 59 – 66 Kunst am Collegium Helveticum S. 69 – 77 Externe Kollaborationen: andere Fragen, neue Lösungen S. 80 – 81 Leitung und Mitarbeitende
Editorial Geleitwort – Dr. Christian Ritter die Funktion des Leiters ad interim. Weitere Themen- Per aspera ad astra wochen und publikumswirksame Aus Gegenwartsforschung in historischer stellungen fanden statt. Umgebung: Im Herbst 2016 haben sieben Das Abschlussjahr 2020 wurde neu gewählte Fellows ihre Arbeit in Wenn ich auf die Fellowperiode 2016 von der Corona-Pandemie dominiert und der Semper-Sternwarte aufgenommen. bis 2020 zurück- und zur Semper-Stern- erforderte neue Lösungen. Die Eröffnung Zusammen mit ihren Mitarbeitenden warte, dem Sitz des Collegium Helveti- der Ausstellung «Wired Nation» zum und gemeinsam mit drei assoziierten cum, emporschaue, dann fällt mir dieser Abschluss eines Fellowprojekts beispiels Fellows beschäftigten sie sich während Spruch ein, frei übersetzt: «Über raue weise konnte trotz verzögerter Fertig- vier Jahren mit Ausprägungen und Be Wege zu den Sternen.» stellung der Ausstellungsräume in der dingungen des digitalen Wandels. Durch Es war eine aussergewöhnliche Sternwarte rechtzeitig erfolgen, wenn ihre Arbeit und als Persönlichkeiten Fellowperiode, die nun zu einem höchst auch ohne die geselligen Momente einer prägten sie das Collegium Helveticum erfreulichen Abschluss gekommen ist. Vernissage. Und auch die von mehreren entschieden – thematisch, aber auch Vorbereitet vom neuen Leiter Prof. Dr. Fellows gemeinsam organisierte Tagung in Bezug auf die Formate, in denen ge- Thomas Hengartner und neu mit der «Algorithmic Knowledge Production – forscht, diskutiert und vermittelt wurde. Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) Principles, Problems, Prospects» wurde als Sie hatten wesentlichen Anteil daran, als dritte Trägerhochschule starteten Videokonferenz ein voller Erfolg. dass sich das Collegium Helveticum auch sieben Fellows mit einem hochaktu- Das sichtbare, ja leuchtende Ergeb- in der Fellowperiode 2016 bis 2020 als ellen Thema: Digital Societies. Die ZHdK nis der Fellowperiode 2016 bis 2020 ein Ort für exzellente ebenso wie origi- stellte Prof. Hannes Rickli, die Universität in Form von Publikationen und Veranstal- nelle wissenschaftliche und künstlerische Zürich Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno, tungen ist Ausdruck einer produktiven Forschung profilieren konnte. Dafür ist Prof. Dr. Monika Dommann, Prof. Dr. Mike Zusammenarbeit von Wissenschaftler ihnen herzlich gedankt. Ein Dank geht Martin und die ETH Zürich Prof. Dr. David innen und Wissenschaftlern sowie Künst- ebenso an die Mitarbeitenden und das Gugerli, Prof. Dr. Petros Koumoutsakos lerinnen und Künstlern aus verschie Leitungsteam des Collegium Helveticum und Prof. Dr. Renate Schubert als Fellows. denen Disziplinen. Der vielfältige Output für ihr ausserordentliches Engagement Die drei assoziierten Fellows Prof. Dr. erstreckt sich von Monografien und auch in turbulenten Zeiten. Joachim Buhmann, Prof. Dr. Sara Fabrikant Sammelbänden zu Beiträgen nationaler Die vorliegende Broschüre gibt und Prof. Dr. Florent Thouvenin erwiesen und internationaler Behörden und Orga Einblick in die durchgeführten Arbeiten sich von Beginn weg als wichtige Partner nisationen, über Ausstellungen bis hin und die daraus erwachsenden Ideen und der Fellows. zu wissenschaftlichen Artikeln in ange Aktivitäten. Die Bildstrecken zeigen Foto- Im Sommer 2017 erkrankte sehenen Fachpublikationen. Er umfasst grafien von Andrea Helbling und Marc Thomas Hengartner und verstarb ein ebenso die Entwicklung von Software und Latzel, die im Rahmen künstlerischwis- knappes Jahr später. Er hinterliess Hardware wie künstlerische Arbeiten. senschaftlicher Recherchen über digitale eine grosse Lücke als Mensch sowie als Im Namen des Kuratoriums danke Infrastrukturen entstanden sind und Ideengeber, Moderator und Führungs ich den Fellows, den assoziierten Fellows, die – unter anderem – in den neuen Aus- person. Die gemeinsamen transdiszi den Leitern und den Mitarbeitenden stellungs- und Aufführungsräumen am plinären Projekte der Fellows waren aber des Collegium Helveticum, dass sie die Collegium ausgestellt wurden. Mit dieser schon so weit aufgegleist – die Forschung Fellowperiode trotz eines Schicksals- infrastrukturellen Neuerung unterstreicht und Veröffentlichungen liefen wie ge- schlags und Ereignissen höherer Gewalt das Collegium Helveticum den Anspruch plant –, dass das Kuratorium keinen zu einem höchst erfreulichen Abschluss und die Bereitschaft, den transdiszipli- Nachfolger suchte. Es betraute Thomas’ gebracht haben. Eine grossartige Leistung: nären Dialog auch in der Zukunft und in Stellvertreter, Dr. Hartmut von Sass, mit Per aspera ad astra! neuen Konstellationen voranzutreiben. der operationellen Leitung des Colle- gium Helveticum. Als dieser auf eine Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Dr. Christian Ritter, Professur an die Humboldt Universität Sarah Springman, Rektorin ETH Zürich, Leiter a.i. zu Berlin berufen wurde, übernahm Präsidentin des Kuratoriums
Das Collegium hochschule, einer Technischen Hoch- schule und einer Volluniversität ist weltweit einzigartig. Es ist mit seinem vier Jahre die Voraussetzung zur erfolg- reichen Realisierung transdisziplinärer Forschungsprojekte. Helveticum und transdisziplinären Ansatz ein geeigneter Leiter und Fellows wählen zusam Ort zur Reflexion komplexer Vorgänge men assoziierte Fellows – in der aktu- jenseits vorgefasster Denkkollektive ellen Fellowperiode deren drei –, die ihre seine Fellows und Denkstile. Im Zentrum der Arbeit eigenen Kompetenzfelder und -spektren am Collegium Helveticum stehen dabei ergänzen, sich in die Fellowprojekte die Entwicklung, die Umsetzung und einbringen und die nationalen wie inter- die Reflexion kollaborativer, transdiszi- nationalen Bezüge stärken. plinärer Forschungsprojekte. Zentral ist hierbei auch der Austausch mit dem Im Zentrum der Arbeit am Collegium Hochschulplatz Zürich, insbesondere Geschichte Das Collegium Helveticum wurde 1997 Helveticum, dem einzigen Institute of die Vernetzung mit den und innerhalb der drei Trägerhochschulen, mit dem von der ETH Zürich als Forum für den Dialog zwischen den Wissenschaften Advanced Studies der Schweiz, stehen internationalen Netzwerk der IAS sowie mit ausseruniversitären Stakeholdern mit dem Ziel gegründet, das gegenseitige Verständnis zwischen den Natur- und der Dialog zwischen den Wissenschaften aus Kultur, Politik, Verwaltung und Technikwissenschaften sowie den Geistes- Wirtschaft. und Sozialwissenschaften zu fördern. Bis einerseits und den Künsten anderseits 2004 war das Collegium Helveticum als sowie die Entwicklung, die Umsetzung Fellow-Modell 2004 – 2020 Sieben Fellows – je drei Professor*in- ein zahlenmässig kleines Graduierten kolleg für junge Wissenschaftler*innen und die Reflexion kollaborativer, transdis nen der Universität Zürich und der ETH Zürich sowie ein*e Professor*in der der Universität Zürich und der ETH Zürich organisiert. Die Kollegiat*innen, ziplinärer Forschungsprojekte. Zürcher Hochschule der Künste – bilden die aufgrund ihres interdisziplinären den Kern des Collegium Helveticum. Es Interesses und der wissenschaftlichen unterscheidet sich damit von anderen Qualität ihres Forschungsprojektes IAS einerseits durch seine verhältnismäs- ausgewählt wurden, verbrachten zwei sig kleine Fellowzahl, andererseits durch Semester am Collegium Helveticum. Als Institute for Advanced Studies (IAS) Das Collegium Helveticum, das gemein- deren mehrjähriges Engagement sowie Die interdisziplinäre Umgebung wurde bietet das Collegium Helveticum intel sam von der Universität Zürich, der ETH deren transdisziplinäre Zusammenarbeit durch Einladung von international lektuelle Freiräume und fördert wissen- Zürich und der Zürcher Hochschule in sogenannten Fellowprojekten zu renommierten Gästen aus Wissenschaft, schaftliche Innovation auch jenseits der Künste getragen wird, versteht sich einem gemeinsamen Schwerpunktthema. Literatur und Kunst verstärkt, die je- der Paradigmen der Disziplinen und des als Thinktank und als Laboratorium für Die von einem Kuratorium gewählten weils für ein Semester an der Sternwarte Mainstreams der Forschungsförderung. Transdisziplinarität. Es fördert die Be- Fellows behalten während der gesamten weilten. Zusätzlich zur Forschungstätigkeit seiner gegnung und den Dialog zwischen den vierjährigen Fellowperiode ihre Lehr- Seit 2004 wird das Collegium Fellows und Mitarbeitenden richtet das Geistes- und Sozialwissenschaften, den stühle und Funktionen an den jeweiligen Helveticum gemeinsam von ETH Zürich Collegium Helveticum internationale Ver Natur- und Ingenieurwissenschaften, Hochschulen, werden aber zu 20 Prozent und Universität Zürich getragen. Gleich- anstaltungen zu grundlegenden Themen den medizinischen Wissenschaften sowie ihres Arbeitspensums für die Forschung zeitig wurde die bis heute aktuelle der Wissenschaft und der Künste im All den Künsten und reagiert damit auf am Collegium Helveticum freigestellt. Struktur mit auf fünf Jahre gewählten gemeinen sowie zum aktuellen Schwer- Tendenzen zur technischen, kulturellen Dieses in der akademischen Welt Fellows eingeführt, allesamt Inhaber* punkthema Digital Societies im Speziellen und wissenschaftlich-disziplinären einzigartige Modell einer «Long-term- innen von Lehrstühlen an der Universität aus. Darüber hinaus bildet das Collegium Entgrenzung, die entsprechende wissen- part-time-Fellowship» ermöglicht zum Zürich und der ETH Zürich, die an einem Helveticum, zum Teil in Kooperation mit schaftliche Zugänge erfordern. einen den intensiven Austausch zwischen gemeinsam definierten Schwerpunkt anderen Institutionen und Initiativen, Das Collegium Helveticum ist dem Collegium Helveticum und dem thema arbeiten. In der ersten Fellow- auch eine Plattform für transdisziplinäre das einzige IAS in der Schweiz. Seine Hochschulplatz Zürich. Zum anderen periode (2004 – 2009) lautete das Schwer- Forschungsfragen und -verbunde. dreifache Trägerschaft mit einer Kunst schafft die Berufung der Fellows für punktthema Die Rolle der Emotionen: 6 Das Collegium Helveticum 7
ihr Anteil bei menschlichem Handeln und zur Betriebseinstellung. Nach umfassen- Besonders interessiert sie die Frage, Sie ist Mitglied der Projektgruppe bei der Setzung sozialer Normen, in der den Restaurationsarbeiten erfolgte 1997 wie die Möglichkeiten der Digitalisierung «Psychopharmakaforschung von Prof. folgenden (2009–2016) Reproduzierbar- die Wiedereröffnung als Institutsgebäude für eine patientenorientierte, angemes- Dr. Roland Kuhn in der Psychiatrischen keit, Vorhersage, Relevanz. Die aktuelle des Collegium Helveticum. Im Herbst sene Gesundheitsversorgung genutzt wer- Klinik Münsterlingen (1946 – 1972)», Periode (2016–2020) läuft unter dem 2020 konnte das Collegium Helveticum den können. Teil des Editorial Board der Konstanz Titel Digital Societies. Seit 2016 verfügt das in der Semper-Sternwarte zwei neue Nikola Biller-Andorno ist Mit University Press, Mitglied am Zentrum Collegium Helveticum mit der Zürcher Räume inklusive Infrastruktur für Aus- glied der Schweizerischen Akademie der «Geschichte des Wissens» der Universität Hochschule der Künste (ZHdK) über eine stellungen und Aufführungen in Betrieb Medizinischen Wissenschaften, Vize und der ETH Zürich sowie Vorstands dritte Trägerhochschule. nehmen, die auf die Bedürfnisse künst- präsidentin des Klinischen Ethikkomi- mitglied der Schweizerischen Gesellschaft Erster Leiter des Collegium lerisch-wissenschaftlicher Forschung und tees des Universitätsspitals Zürich für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Helveticum war Prof. Dr. Adolf Muschg. Präsentationen zugeschnitten sind. sowie Mitglied des Forschungsrats des 1998 ging die Leitung an Prof. Dr. Helga Schweizerischen Nationalfonds. Nowotny über, die diese bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2002 innehatte. Als Leiter ad interim stand Prof. Dr. Peter Rieder bis Ende September 2004 dem Collegium Helveticum vor. Zwischen Die Fellows 2004 und 2015 fungierte Prof. Dr. Gerd Folkers als Leiter. Zwischen 2016 und Prof. Dr. David Gugerli 2018 wurde das Collegium Helveticum durch Prof. Dr. Thomas Hengartner ge Prof. Dr. Monika Dommann David Gugerli ist seit 2001 ordentlicher leitet. Nach dessen Hinschied amtete Professor für Technikgeschichte an der bis Ende Dezember 2019 PD Dr. Hartmut Monika Dommann ist Professorin für ETH Zürich. von Sass als stellvertretender Leiter. Geschichte der Neuzeit an der Universität Der 1961 geborene Gugerli promo Seit Januar 2020 zeichnet interimistisch Prof. Dr. Dr. Nikola Biller-Andorno Zürich. vierte 1987 in Geschichte, habilitierte Dr. Christian Ritter verantwortlich. 1966 in Walchwil (ZG) geboren 1995 an der Universität Zürich und wur- Nikola Biller-Andorno ist ordentliche promovierte und habilitierte sie an der de 1997 als Assistenzprofessor an die Semper-Sternwarte Professorin für Biomedizinische Ethik Universität Zürich. Sie forschte und ETH Zürich berufen. Er war Gast an der Das Collegium Helveticum ist in der an der Universität Zürich und leitet lehrte unter anderem an der Universität Maison des Sciences de l’Homme in sogenannten Semper-Sternwarte behei das Institut für Biomedizinische Ethik Basel, am Internationalen Kolleg für Kul- Paris (1988 und 1991), Visiting Fellow matet. Der denkmalgeschützte Bau in und Medizingeschichte der Universität turtechnikforschung und Medienphilo- der Stanford University (1992), Inves- unmittelbarer Nähe der Hauptgebäude Zürich. sophie in Weimar, am German Historical tigador visitante am Colegio de México von Universität Zürich und ETH Zürich 1971 in Nürnberg (D) geboren Institute in Washington, am Max-Planck- (1989 – 1993), Fellow am Wissenschafts- ist eng verbunden mit dem Mathe- studierte sie Medizin und Philosophie. Institut für Wissenschaftsgeschichte in kolleg zu Berlin (1993 / 94), Fellow am matiker und Astronomen Rudolf Wolf Nach der Promotion in beiden Fächern Berlin, an der McGill University in Mont- Internationalen Forschungszentrum Kul- (1816 – 1893) und dem Architekten und einem Postdoctoral Fellowship real und am Internationalen Forschungs- turwissenschaften in Wien (1994) sowie Gottfried Semper (1803 – 1879), beide an der Harvard Medical School habili- zentrum Kulturwissenschaften in Wien. Professor an der Universidad Nacional ab 1855 Professoren am Polytechnikum tierte sie im Fach Medizinethik an der Zu ihren Forschungsschwerpunk- Autónoma de México (1996). 2006 war Zürich. Die Sternwarte wurde auf Wolfs Universität Göttingen. Nach einer zwei- ten gehören die Verflechtungen der Alten er Gast des Rektors des Wissenschafts- Bestreben und nach Plänen Sempers jährigen Tätigkeit bei der Weltgesund- und Neuen Welt, die Geschichte mate kollegs zu Berlin, 2008 / 09 Senior Fellow gebaut und 1864 eingeweiht. Sie bildete heitsorganisation in Genf folgte sie einem rieller Kulturen, die Geschichte immate- des Zukunftskollegs der Universität über mehr als 100 Jahre ein weltweites Ruf an die Charité in Berlin. Seit 2005 rieller Güter, die Geschichte der Logistik Konstanz. 2014 / 15 war er Senior Fellow Zentrum der Sonnenflecken-Forschung. ist Nikola Biller-Andorno in Zürich tätig. und der Data Centers, die Geschichte am Digital Cultures Research Lab an der Die wachsende Stadt mit ihren Emis Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte des Marktes und seiner Grenzen, die Leuphana Universität Lüneburg. sionen stellte den ursprünglich länd- liegen im Bereich der narrativen Medizin Geschichte von Bild- und Tonspeichern Seine Forschungsarbeiten um lichen Standort der Sternwarte im sowie der Auswirkungen der Ökonomi- sowie die Methodologie und Theorie spannen ein breites thematisches Feld 20. Jahrhundert in Frage und führte 1980 sierung auf die medizinische Versorgung. der Geschichtswissenschaft. der Technik- und Wissenschaftsge- 8 Das Collegium Helveticum 9
schichte des 19. und 20. Jahrhunderts: PhD (1992) in Luftfahrtechnik und an- Martins Forschungsschwerpunkte er künstlerische Forschungsprojekte im Geschichte der Elektrifizierung, der gewandter Mathematik machte er sind das theoretische Verstehen von Bereich Kunst und Wissenschaft. 2016 bis kartographischen Beherrschung des na- am California Institute of Technology gesundem Altern, empirische Studien 2020 war Rickli Fellow. tionalen Raums, der Visualisierung des in Pasadena. und Längsschnittstudien; ausserdem 1959 in Bern geboren studierte menschlichen Körpers sowie der Entwick- Seine Forschung konzentriert sich stellt er Unterstützungssysteme für die er in Zürich und Karlsruhe Fotografie, lung der Technischen Hochschule. In auf die Schnittstelle zwischen Computing Entscheidungsfindung zur Verfügung, Theorie der Gestaltung und Kunst so- jüngerer Zeit sind Studien zur Geschichte und Data Sciences, insbesondere auf um die individuelle Dynamik des gesun- wie Medienkunst. Von 1988 bis 1994 rechnergestützter Suchprozeduren und deren Anwendung in der Technik und der den Älterwerdens in Alltagskontexten arbeitete er als freischaffender Fotograf Datenbanken sowie zur wissensbasierten Medizin. zu verstehen und darüber zu informie- für diverse Zeitungen und Zeitschriften Ökonomie der Rückversicherungsbran- Koumoutsakos gründete das ren. Er bedient sich dabei hauptsäch- (u.a. Neue Zürcher Zeitung, Das Magazin, che entstanden. ETH Zürich Computational Laboratory lich multidisziplinärer und partizipati- Bilanz) und ist seit 1991 als Bildender David Gugerli ist Gründungsmit- (2000 – 2007) und ist der Gründungs ver Forschungsansätze, um semantische Künstler mit Ausstellungen im In- und glied des Zentrums «Geschichte des direktor der Zurich Graduate School in Analysen zur Integration verschiedener Ausland tätig. 2004 wurde er mit dem Wissens», das von der ETH Zürich und Computational Science. Er war Vorsitzen- Informationsebenen und -formen zu ent- Prix Meret Oppenheim des Eidgenös der Universität Zürich getragen wird. der des wissenschaftlichen Steuerungs- wickeln und damit individuelle gesund- sischen Bundesamts für Kultur ausge- Er war Vorsteher des Departements ausschusses der europäischen High- heitsbezogene Daten zu interpretieren. zeichnet. für Geistes-, Sozial- und Staatswissen Performance-Computing-Infrastruktur Er ist an Kompetenzzentren zu Schwerpunkte seiner Forschung schaften (D-GESS), Mitglied der For- und ist im Moment Vorsitzender des den Themen Gerontologie, Plastizitäts- und Lehre sind der instrumentelle Me- schungskommission und von 2009 bis Access Committee. Er wurde zum Fellow forschung, Multimorbidität und Dynamik dien- und Raumgebrauch, die Materialität 2016 Präsident der Strategiekommis- der American Society of Mechanical des gesunden Älterwerdens beteiligt. des Digitalen sowie die Medienökologie. sion der ETH Zürich. Gugerli ist ausser- Engineers, der American Physical Society Er ist Teil der Steuerungsgruppe der na- Forschungsprojekte: «Computersignale. dem Mitglied des Turing Centre der und der Society for Industrial and Applied tionalen Plattform «alternde Gesellschaft» Kunst und Biologie im Zeitalter ihres ETH Zürich. Mathematics gewählt. Er erhielt den und ist Vorsitzender der UZH-Senioren- digitalen Experimentierens» (2012 – 2015 Advanced Investigator Grant des Europä Universität Zürich. Martin war mit seinen und 2017–2021) und «Überschuss. ischen Forschungsrates und führte das Empfehlungen hinsichtlich der Ethik Videogramme des Experimentierens» Team an, das 2013 den ACM Gordon Bell neuer Datenformen (Globales Wissen- (2007 – 2009), gefördert vom Schweizeri- Prize in Supercomputing gewann. schaftsforum der OECD), Big Data und schen Nationalfonds SNF. Die Resul- Gesundheit (Schweizer Akademie der tate seiner Forschungen werden national Naturwissenschaften) am Weltbericht und international in Ausstellungen, über Altern und Gesundheit 2015 und Buchpublikationen und an Tagungen ver- 2020 der Weltgesundheitsorganisation öffentlicht. Prof. Dr. Petros Koumoutsakos (WHO) beteiligt. Petros Koumoutsakos war von 2000 bis 2020 Professor für Computational Sciences an der ETH Zürich. Seit Herbst Prof. Dr. Mike Martin 2020 ist er Professor für Computing in Science and Engineering an der Har- Mike Martin ist seit 2002 ordentlicher vard University. Professor für Gerontopsychologie und Koumoutsakos wurde 1963 in Gerontologie an der Universität Zürich. Prof. Dr. Renate Schubert Gythio, Laconia in Griechenland geboren Martin wurde 1965 in Mainz ge- Prof. Hannes Rickli und studierte Schiffbau an der Natio- boren. Er studierte Psychologie in Mainz Renate Schubert war bis 2020 ordentliche nalen Technischen Universität Athen und in Georgia (USA), wo er seinen Hannes Rickli ist Bildender Künstler Professorin für Nationalökonomie an (Diplom 1986) und an der Universität Masterabschluss machte. Seinen Dok und lehrt seit 2004 als Professor an der ETH Zürich. Michigan in Ann Arbor, USA (Master- torgrad erwarb er an der Universität der Zürcher Hochschule der Künste Schubert studierte Wirtschafts- abschluss 1987). Seinen Masterabschluss Mainz, und er habilitierte 2001 an der ZHdK. Am dortigen Institut für Gegen- wissenschaften an der Universität Mainz, (1988) in Luftfahrtechnik und seinen Universität Heidelberg. wartskunst IFCAR initiiert und leitet wurde an der Universität Tübingen pro 10 Das Collegium Helveticum 11
moviert und habilitierte an der Techni- schen Universität Darmstadt. Nach einer Die assoziierten Joachim Buhmann wirkte als Studien- direktor (2008 – 2013) und als Prorektor später wechselte sie an das Geographi- sche Institut der University of California, Professur an der Universität Regensburg Fellows Studium der ETH Zürich (2014 – 2017). Santa Barbara in Kalifornien (USA), wechselte sie an die Universität Tü- Seit 2017 vertritt er das Gebiet Data wo sie von 2000 bis 2005 als Assistenz- bingen. 1992 kam Schubert an die ETH Science als Forschungsrat im Schweizer professorin im Bereich GIScience und Zürich. Zwischen 1993 und 2006 war Nationalfonds. Die Deutsche Arbeits- Kartographie lehrte und forschte. Im Jahr sie dort Leiterin des Instituts für Wirt- gemeinschaft für Mustererkennung, 2005 wurde sie zur ausserordentlichen schaftsforschung. 2006 gründete sie die Buhmann von 2009 bis 2015 leitete, Professorin an das Geographische Institut das interdisziplinäre Institut für Umwelt- verlieh ihm 2017 die Ehrenmitglied- der Universität Zürich berufen. entscheidungen (IED) an der ETH Zürich, schaft. Im selben Jahr wurde er auch in Fabrikants Forschungsinteressen das sie bis 2014 leitete. die Schweizer Akademie der Technischen umfassen geographische Informations Schuberts Forschungsschwer Prof. Dr. Joachim M. Buhmann Wissenschaften SATW gewählt. 2020 visualisierung, geovisuelle Analytik, punkte liegen in der Verhaltensökono wurde er zum Fellow der International Raumkognition, graphische Gestaltung mik, angewandt auf Umwelt- und Joachim M. Buhmann ist seit 2003 or- Association for Pattern Recognition IAPR von Anwendungsoberflächen und deren Energiethemen. dentlicher Professor an der ETH Zürich ernannt. empirische Evaluierung mit Anwen- Sie war viele Jahre Mitglied der für das Forschungsgebiet Informa- dern sowie dynamische Kartographie. Entscheidungsgremien des Schweizeri tion Science and Engineering. Er leitet Neben ihrer Forschung, Lehre schen Nationalfonds und der Deut- das Institut für Maschinelles Lernen und Tätigkeit als Co-Direktorin der UZH schen Forschungsgemeinschaft. Zwischen am Departement Informatik. Zwischen Digital Society Initiative ist sie Mitglied 2000 und 2013 war Schubert Mitglied 2017 und 2020 war er assoziierter des Schweizerischen Wissenschaftsrats des Wissenschaftlichen Beirats Globale Fellow am Collegium Helveticum. und in einer Reihe von internationa- Umweltveränderungen der deutschen Buhmann studierte Physik an len wissenschaftlichen Gremien tätig. Bundesregierung. Zwischen 2004 und der TU München und promovierte dort 2011 bis 2015 war sie Vizepräsidentin der 2008 hatte sie den Vorsitz des Gremiums 1988 mit einer Arbeit zu künstlichen Prof. Dr. Sara Irina Fabrikant Internationalen Kartographischen Ver- inne. Von 2011 bis 2019 war Schubert neuronalen Netzen. Nach Forschungsauf- einigung. Gender- und Diversitätsaspekte Vorsitzende des Aufsichtsrats des Karls- enthalten an der University of Southern Sara Irina Fabrikant ist seit 2013 ordent in einer digitalen Wissensgesellschaft im ruher Instituts für Technologie. Renate California und am Lawrence Livermore liche Professorin für Geographie an Allgemeinen und spezifisch im Bildungs- Schubert war ausserdem Mitglied und National Laboratory wirkte er als Pro- der Universität Zürich und leitet dort sektor sind Sara Irina Fabrikant besonders Leiterin mehrerer Expertengremien, die fessor für Praktische Informatik an der den Lehrstuhl Geographische Informa wichtige Anliegen. verschiedene Regierungen beraten. Seit Universität Bonn (1992 – 2003). tionsvisualisierung und Analyse am 2015 ist sie Forscherin (Principal In Buhmanns Forschungsinteressen Geographischen Institut. Als ehemaliges vestigator) in den Programmen «Future umfassen Theorie und Anwendungen Mitglied der Institutsleitung des Geo- Resilience System» und «Cooling Sin- des maschinellen Lernens und der künst graphischen Instituts war sie zuerst Ins- gapore» des Singapore-ETH-Centre in lichen Intelligenz sowie ein breites titutsleiterin (2014 – 2016) sowie Direk Singapur. Themenspektrum zur Informationsver- torin Lehre (2016 – 2018). Zwischen arbeitung in den Lebenswissenschaften, 2018 und 2020 war sie assoziierte Fellow insbesondere der Medizin. Zentral stellt am Collegium Helveticum. sich im Bereich des maschinellen Lernens Fabrikant studierte von 1990 bis Prof. Dr. Florent Thouvenin die Frage, wie komplexe Modelle und 1996 Geographie, Geschichte und Kar- Algorithmen in der Datenanalytik (Big tographie an der Universität Zürich und Florent Thouvenin ist ausserordentlicher Data) validiert werden können, wenn der ETH Zürich. Sie promovierte 2000 Professor für Informations- und Kommu- sie aus empirischen Beobachtungen in Geographie an der University of Colo- nikationsrecht an der Universität Zürich geschätzt werden. Insbesondere müssen rado in Boulder (USA) mit Schwerpunkt und war zwischen 2017 und 2020 asso dafür die Konzepte statistischer und GIScience. 1999 erfolgte der Ruf als ziierter Fellow am Collegium Helveticum. algorithmischer Komplexität und ihre Assistenzprofessorin ans Geographische Thouvenin wurde 1975 in Zürich Wechselwirkung grundsätzlich verstan- Institut der University at Buffalo (State geboren und hat an der Universität Zürich den werden. University of New York, USA). Ein Jahr studiert, doktoriert und habilitiert. Er 12 Das Collegium Helveticum 13
war wissenschaftlicher Assistent an der ETH Zürich und an der Universität Zürich, praktizierte als Rechtsanwalt in einer Zürcher Wirtschaftskanzlei und war Senior Research Fellow in einem Forschungsprojekt der Universität Zürich sowie Assistenzprofessor an der Uni versität St. Gallen. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt derzeit im Urheber- und Datenschutz- recht. Im Vordergrund steht dabei die fundamentale Frage, ob und gegebenen- falls wie das Datenschutzrecht neu ge- dacht werden muss, um die Privatsphäre der betroffenen Personen zu schützen und gleichzeitig eine möglichst weitgeh ende Nutzung von Daten zu ermöglichen. Weitere Forschungsprojekte befassen sich mit der rechtlichen Erfassung der Herausforderungen von Künstlicher Intelligenz (KI) mit Ausschliesslichkeits- rechten an und dem Zugang zu Daten und mit der zunehmenden Personalisie rung von Werbung, Verträgen und Preisen. Thouvenin ist unter anderem Vorsitzender des Leitungsausschusses des Center for Information Technology, Society, and Law, Direktor der UZH Digital Society Initiative sowie Geschäfts führer und Vorstandsmitglied des Schweizer Forums für Kommunikati Bildstrecke: Fotografien von Andrea Helbling, Arazebra. onsrecht. Fellowprojekt «Digitale Infrastrukturen» 14 Kunst am Collegium Helveticum 15
Ein Labor für Transdisziplinarität Transdisziplinarität ist am Collegium Helveticum nicht nur Praxis, sie wird gleichzeitig auch zum Thema gemacht. Das Collegium Helveticum versteht sich ähnlich ambivalente Karriere hinter sich als Laboratorium für Transdisziplinarität. hat. Transdisziplinarität kann ganz unter- Sein Auftrag, so formuliert es seine Ge- schiedliche Anliegen und Methoden schäftsordnung, besteht in der Förderung bezeichnen. der Begegnung und des Dialogs zwischen Das Collegium Helveticum nimmt den Geistes- und Sozialwissenschaften, sich der transdisziplinären Forschung den Natur- und Ingenieurwissenschaften, ihrerseits als Forschungsgegenstand an. den medizinischen Wissenschaften so Ausgehend vom Thema der laufenden wie den Künsten. Dieser Grundauftrag Fellowperiode – Digital Societies – werden besteht seit der Gründung des Collegium die Herausforderungen der Transdiszipli Helveticum im Jahre 1997 und hat im narität immer wieder aufgerollt: Verlaufe seines Bestehens lediglich in Wie gestaltet man transdiszipli- der verstärkten Gewichtung der Kunst – näres Forschen? Wie stellt man sicher, seit sich die Zürcher Hochschule der dass die Fliehkräfte der Einzelwissen- Künste neben der Universität Zürich und schaften nicht das Anliegen untergraben, der ETH Zürich als dritte Trägerin des auf neue Weise zusammenzuarbeiten? Collegium Helveticum dazugesellte – eine Welcher Einsicht verdankt sich die Wert- leichte Anpassung erfahren. schätzung transdisziplinärer Ausrich- Das Collegium Helveticum legt tung? Ist es die Erfahrung, dass wichtige nicht nur Wert darauf, dass die hier Fragen ohne transdisziplinären Zuschnitt angesiedelten Forschungsprojekte der Forschung nicht identifiziert und einem transdisziplinären Ansatz folgen. entsprechende Lösungen nicht erarbeitet Es reflektiert diesen gleichzeitig mit werden können? Und was bedeutet Trans- Veranstaltungen, in denen es die Trans disziplinarität für die Disziplinarität der disziplinarität zum Thema macht, oder Wissenschaften? Erhöhen transdiszi Andrea Helbling Arazebra, Zürich indem es als transdisziplinäre Plattform plinäre Kollaborationen die wechselsei für komplexe, gesamtgesellschaftliche tige Produktivität oder führen sie – im Themen dient. Und dies immer im Gegenteil – zu Abgrenzungseffekten oder Bewusstsein, dass kaum ein Begriff der gar Rivalität? Fotostrecke: jüngeren Wissenschaftsgeschichte eine 18 19
«Forschung wird Barbara Bleisch: Viele sprechen von Transdiszipli narität, Sie leben diese in Ihren gemeinsamen Projekten vor. So sind Sie zum Beispiel nach Gondo einen persönlichen Zugang zur Wirklichkeit. Als Historikerin möchten Sie aber vermutlich wissen, wie es «wirklich» war? wieder entblättert» gereist, ein Walliser Bergdorf, das im Jahr 2000 zu ein Drittel von einem Erdrutsch zerstört wur- de und auf diese Weise traurige Berühmtheit erlangte. Sie haben sich für Gondo jedoch aus anderen Gründen interessiert. «Das ist das, was Ihr Forschungsprojekt ist exemplarisch für Hannes Rickli: Ich hatte Gondo aufgrund Forschung eigentlich transdisziplinäres Arbeiten am Collegium Hel- eines neueren Zeitungsartikels auf dem Radar. Er berichtete über eine «Bitcoin- ausmacht: ein offener veticum: Die Historikerin Monika Dommann Mine», die dort eingerichtet worden war, Prozess. Dieser ist unter anderem, weil Gondo über sehr und der Künstler Hannes Rickli im Gespräch billige Strompreise verfügt. Man muss nie abgeschlossen.» dazu wissen, dass Gondo in früheren mit Barbara Bleisch über das Projekt «Digitale Zeiten auch eine Goldmine hatte. Die Ver- Monika Dommann Infrastrukturen» und über transdisziplinäres bindung zwischen Goldschürfen, Strom und neuen Geldformen – also letztlich Arbeiten. der Digitalisierung – hat mich für das Dorf eingenommen. Dommann: Nach Reinhart Koselleck dürfen Historiker nichts behaupten, was anders Was sucht eine Historikerin an einem Ort, an dem in den Quellen steht. Das ist Regel Num- es um Bitcoin-Minen geht? mer eins. Damit kommt man gerade beim Beispiel Gondo nicht weiter. Nach den Monika Dommann: Was wir in Gondo persönlichen Gesprächen sind wir aber machten, ist das, was Historikerinnen tatsächlich ins Archiv gestiegen, in die und Historiker immer tun: «Dig where Bibliotheken, in die Medienberichtsspei- you stand!» Wir haben uns rumführen, cher. Wir merkten, dass viele Geschich- uns die ganze Szenerie, die entstehende ten kursieren; Geschichten, die sich stets Infrastruktur zeigen lassen. Wir haben ähneln und weit in die Vergangenheit mit Leuten gesprochen und im Anschluss reichen – bis zum Goldrausch im 19. Jahr- an die Gespräche tief in der Geschichte hundert. Unser Bild komplettierte und gegraben. Dabei haben wir nicht nur die verdichtete sich immer weiter. Nach zwei Schichten der letzten zehn Jahre abge Jahren «Grabungsarbeiten» in den Erzäh- tragen, Stichworte Erdrutsch und Bitcoin- lungen der Menschen und in Archiven Mine, sondern gelangten bis tief ins hatten wir ein anderes Bild dieses Dorfes 19. Jahrhundert, als die Wasserwirtschaft als dasjenige, das wir am Anfang hatten. im Wallis ihren Anfang nahm, deren Das ist das, was Forschung eigentlich Spuren Wirtschaft, Gesellschaft und Zu- ausmacht: ein offener Prozess. Dieser ist sammenleben im Dorf bis heute prägen. nie abgeschlossen. Was ich explizit ge- lernt habe, ist – was ich als Historikerin Als Historikerin sind Sie auf Quellen angewiesen. natürlich schon länger weiss –, dass Die meisten Historiker vergraben sich dafür in vermeintlich «objektive» Medienberichte Archiven. Sie sprechen dagegen mit Zeitzeugen vor Teil dieser Narrative sind und dass wir Ort, was Sie auch in Ihrem Buch dokumentieren. mit diesen Medienberichten sehr kritisch Wer Geschichten erzählt, wählt allerdings immer umgehen müssen. 20 Transdisziplinarität 21
Mir fällt in diesem Zusammenhang ein Zitat des dass dieser Zugang erarbeitet werden Basler Historikers Jacob Burckhardt ein, der ein muss, technisch oder durch irgendwel- ambivalentes Verhältnis zur Geschichte hatte: che Operationen. In diesem Sinn sind «Wir möchten gern die Welle kennen, auf der wir im dies durchaus unterschiedliche Zugänge. Ozean treiben – allein, wir sind diese Welle selbst.» Man möchte gern die eigene Zeitgeschichte Was haben Sie denn in Gondo in diesen verschie- verstehen und ist zugleich Teil dieser Geschichte. denen Rollen gesehen: als Berichterstatter und als Teilen Sie diesen Zugang? Künstler? Dommann: Die Metapher der Welle ist schön. Es ist wichtig, dass man den Standpunkt, den man selbst einnimmt, und sein Erkenntnisinteresse kennt oder darüber nachdenkt. Das Bild der Welle wird in der Geschichte häufig verwendet. Der französische Historiker Fernand Braudel hat das Bild des Schaums der Wellen geprägt: Der Schaum, der oben- auf schwimmt, entspricht den sichtbaren Ereignissen, zum Beispiel einer Medien- mitteilung. Braudel betonte, man müsse den Kräften, die diese Welle überhaupt in Bewegung bringen, nachgehen. Dann stösst man auf die sozialen, aber auch auf ökonomische Kräfte. Dies ist genau Hannes Rickli ist Bildender Künstler und das, was wir getan haben. Wir haben Professor an der Zürcher Hochschule Sedimente abgetragen bis ins 19. Jahr- der Künste hundert hinein und so die Geschichte der Digitalisierung in diesem Ort freigelegt. Sie haben mehrere Male vom Graben gesprochen. Sie, Herr Rickli, sind Fotograf, und sie graben Rickli: An der Oberfläche war diese Block- und gruben in Ihrer Laufbahn auf unterschiedliche chain-Mine sichtbar, die in einer Garage Arten: als «Berichterstatter» für Zeitungen, als aufgebaut ist, in der sich die «Miners» Künstler und heute auch als Wissenschaftler. Als eingemietet haben. Interessant ist, dass Berichterstatter zeigen Sie die Welt, wie sie ist, diese Garage zuvor einem Transporteur als Künstler deuten, interpretieren Sie sie. Gibt es gehört hatte, der dort seine Lastwagen für Sie als Fotograf immer verschiedene Wirklich- wartete. Es wurde also bereits die Verbin- keitszugänge? dung sichtbar zwischen Gondo als Säu merstation, als Zollstelle – und Gondo Rickli: Als Berichterstatter interessiert das, als Geldschöpfungsplatz. Und all dies in was sich auf der Oberfläche abbildet, einer Garage. Digitalität beginnt in der was als Symbol lesbar ist. Wenn ich aller- Garage. Ein konkretes und zugleich typi- dings als Künstler unterwegs bin, versu- sches Bild. che ich einen Zugang zu finden, mit dem ich sozusagen unter diese Oberfläche Dommann: Die Garage ist seit der Erfindung blicken kann. Dies bedeutet gleichzeitig, des Internets natürlich zum Sinnbild 22 Transdisziplinarität 23
der Digitalisierung geworden! Die Leute Infrastrukturen nähren. Medien, die gerade in fundamentalen Umbruchs Mit welchem Ziel? rund um Steve Jobs haben im Silicon Val- über Digitalisierungsprozesse berichten, zeiten, wo in einigen Gebieten kein Stein ley alle in Garagen vor sich hingetüftelt. suchen genau nach diesen Bildern, um auf dem anderen bleibt, wo bestehende Rickli: Primär eigentlich, um den Prozess das Unfassbare fassbar zu machen – und Technologien oder Geschäftsmodelle der digitalen Arbeit überhaupt erfahrbar Rickli: Innovation geht oft von Bastlern werden mit diesen irren Bildern selbst regelrecht zerschlagen werden (in der zu machen. Beim Errechnen von Wetter- aus, von diesen jungen, verrückten Typen. zum Hype. In dieser «Welle», um bei der Bankenwelt spricht man von Disruption), modellen von MeteoSchweiz werden Genau solche Bastler haben wir auch Metapher von vorher zu bleiben, werden laufen viele Initiativen und Ideen auch zum Beispiel täglich ungeheure Mengen in Gondo angetroffen: Gamer, die vom Bilder generiert, die wiederum zu Icons ins Leere und versickern mehr oder weni- an Daten verarbeitet, die wir anschlies- grossen Coup träumen. Diese Garage, der Digitalisierung werden. Die Garage ist ger sang- und klanglos. send als Wettervorhersage konsumieren. diese Leute kann man natürlich im Bild so ein Bild. Uns ist dabei nie bewusst, wie viel Ener- festhalten. Zugleich benötigt man aber Deshalb hat es uns auch nicht Sie erforschen gemeinsam die Genese und die gie verbraucht wird und welche globalen ein anderes Medium, um die Erzählung überrascht, dass wir in Gondo nicht allein Bilder der Digitalisierung – die Digitalisierung ver- Netzwerke notwendig sind, um diese zu komplettieren. waren. Wir trafen sogar auf Journalisten ändert aber auch Ihre Arbeit. Für Sie, Herr Rickli, Daten zu generieren. des Wired Magazine, dieser amerikani- hat die Digitalisierung auch Erschwernisse mit sich schen Silicon-Valley-Digitalisierungs-Pos- gebracht. Sie interessierten sich ursprünglich in Im Zug der Pandemie werden uns die Chancen tille. Aus aller Welt reisen sie nach Gondo erster Linie für den «Abfall», also für das Bildmate der Digitalisierung vielleicht neu bewusst. Eine und fotografieren Ähnliches. Und wir rial, das nicht gebraucht wurde – etwa in Labora- Tracing-App soll etwa helfen, Infektionsherde haben festgestellt, dass auch unser torien, in denen Sie das Bildmaterial sammelten, möglichst früh zu isolieren. Ungeheure Datensätze Wunsch, nach Gondo zu reisen, wiede- das weggeworfen wurde. In diesem «Abfall» werden global ausgetauscht, um das Virus bes- rum von den entsprechenden Bildern steckten für Sie die interessantesten Geschichten. ser zu verstehen. Wie bewerten Sie die Chancen genährt wurde. Unser Interesse war dann Mit der Digitalisierung gibt es diesen Bildabfall und die Risiken der Digitalisierung? zum Schluss allerdings doch ein wissen- nicht mehr, weil bereits im Prozess des Bilderma- schaftliches, nämlich hinter diese Ober- chens geschönt, gefiltert, verbessert wird. Wo- Dommann: Es kommt gegenwärtig – und flächen zu blicken und auch hinter die mit arbeiten Sie nun? das ist interessant – zu einer Auseinan Bilder, die uns angezogen haben, denen dersetzung zwischen Wissenschaft und wir vielleicht aber auch ein bisschen Rickli: Der Abfall ist die Hohlform des- Gesellschaft. Die Gesellschaft hat das auf den Leim gegangen sind. sen, was in bestimmten Künsten den Bedürfnis nach ultimativer wissenschaft- Gegenstand ausmacht – und womit licher Wahrheit. Im Rahmen der Pan Weshalb sagen Sie «auf den Leim gegangen»? für mich die Wissenschaft beginnt. Das demie konnten wir live beobachten, dass Abfallprodukt bietet die Möglichkeit, es eben nicht die eine Wahrheit gibt, Dommann: Weil natürlich auch wir Teil das zu rekonstruieren, was das Abfall- sondern verschiedene Wahrheiten, zum Monika Dommann ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit an der einer Geschichte wurden, in der sich ein produkt sozusagen abstösst. Im digitalen Teil auch erst vorläufige Befunde: unter- Universität Zürich kleines Dorf als neuer Hub der Digitali Zeitalter werden diese Abfälle nun aber schiedliche Wahrheiten aus der Sicht von sierung präsentiert. Es ist eine attraktive gelöscht. Man könnte sie als Computer Virologen, Epidemiologinnen, Ökono- Geschichte, weil die Digitalisierung so forensiker auf den Festplatten rekonstru men, Soziologinnen und so weiter. Die unfassbar ist – und man ihre Fortschritte ieren. Aber das ist nicht die Methode, Wahrnehmung ist bis heute, dass die schon gar nicht auf dem Land in einem die mich interessiert. Ich versuche, Ab- Wissenschaftler sich nicht einig sind. Dommann: Interessant ist, dass auch in fast schon ausgestorbenen Dorf vermutet. fallprodukte auf sinnliche Art und Weise Dass die Wissenschaftler sich stritten und der Digitalisierung Bildpolitik eine «Auf den Leim gegangen» sage ich, weil erfahrbar zu machen. Im Rahmen der weiter streiten, ist für mich allerdings entscheidende Rolle spielt. Wir haben uns die Geschichten, die uns erzählt wur- Ausstellung «Wired Nation» (Oktober eine gute Nachricht. Wenn sie nämlich oft darüber diskutiert, dass sich vieles den, natürlich faszinierten. Diese Ge- bis Dezember 2020 im Collegium Hel- nicht gestritten hätten, wäre dies für und vielleicht das Wesentliche unter- schichten sind nicht falsch, sie sind sogar veticum) haben wir zum Beispiel die mich besorgniserregend gewesen. Gerade halb der sichtbaren Oberfläche abspielt. sehr richtig. Wenn man sich in der Tech- Rechenprozesse in einem Supercomputer in Krisenzeiten ist Streit, ist Kontroverse Sozusagen im Verborgenen entstehen nikgeschichte auskennt, sind sie oft beobachtet, indem wir sie abhörten. etwas Gutes. Das für mich Beeindru- riesige technische Anlagen, die zum der Anfang von Technisierungsschüben, Wir versuchten, die physische Materiali- ckende, auch Berauschende der letzten Teil nicht öffentlich sind und die das Geschichten, die von einer Zukunft er- tät des Digitalen mit einer eigenen Monate ist, dass Forschung live beobach- Bedürfnis nach Bildern dieser digitalen zählen und von neuem Aufbruch. Doch Methode hervorzuholen. tet werden kann. Zu Ihrer Frage zurück: 24 Transdisziplinarität 25
Daten als objektive Antwort zu verstehen, solcher Schub. Wir mussten den Unter- zwischen einzelnen Menschen. Diese in dem das Bild entsteht. Dann folgt der wäre natürlich ein Missverständnis. richt an der Zürcher Hochschule der Verschränkungen berühren mich als redaktionelle Teil: die Auswahl des Bildes, Daten bedürfen der Interpretation. Und Künste digital führen: mit Studierenden, Künstler. seine Einbettung in eine Geschichte. Am Interpretation ist eben ein Aushandeln die mit konkreten Materialien arbeiten Ende sieht man dem Einzelbild diesen und ein Streiten, ein permanentes Fal und plötzlich nur noch digital kommuni Inwiefern? Prozess nicht mehr an. Das Herausschä- sifizieren. Und auch die Öffentlichkeit zieren konnten. Eine eigenartige Ver- len des Gegenstandes mittels Einnahme streitet mit. Und auch wenn es uns schiebung, die aber auch interessant war. Rickli: Daten lagern in Data Centers, in verschiedener Perspektiven ist das Wissenschaftlerinnen gehörig nervt – Und funktioniert hat! Ich frage mich, Bauten aus Stahl und Beton, die aus Si- eigentlich Interessante an der transdiszi- diese Auseinandersetzungen sind ein ob und wie wir zu den alten Unterrichts- cherheits- und Strompreisgründen meist plinären Arbeit. Zeichen von guter Wissenschaft. formen zurückkehren oder ob wir hy- weit abgelegen irgendwo auf der Welt bride Formen anwenden werden. platziert sind. Als User und vom einfach Dommann: Die wissenschaftliche Arbeits- verfügbaren Datenfluss Profitierende teilung ist eine Erfindung der frühen Dommann: Dem kann ich mich anschlies- erreichen uns die Daten drahtlos. Wir Neuzeit. Wissenschaft fächert sich immer sen. Die Digitalisierung hat eine lange entwickeln keine Vorstellung darüber, mehr in Disziplinen auf, und es entwi- Geschichte. Ihre Anfänge nimmt sie welche massiven Infrastrukturen not- ckeln sich immer mehr Spezialistinnen eigentlich schon im metrischen Denken, wendig sind, ihre Herstellung und ihren und Spezialisten, die mit unterschied- im Denken in Zahlen. Natürlich verän Transfer zu realisieren. Weltweit sind lichen Methoden und Instrumenten derte der Zweite Weltkrieg viel: Militä zum Beispiel Tausende von Kilometern arbeiten. Am Ende des Prozesses bildete rische Interessen führten zu grossen verlegte submarine und terrestrische sich in den 1980er-Jahren eine fast schon Investitionen und brachten eine geballte Kabel oder erdorbitale Satelliten notwen- romantische Sehnsucht aus, die Diszi Rechnerleistung hervor. Aus den riesigen dig, wobei deren Einrichtung und Un plinen wieder zusammenzufügen in dem, Rechenzentren wurden die immer klei terhalt meist auf fossilen Brennstoffen was man «Transdisziplinarität» nannte – neren Computer. Neben der Geschichte beruhen. Diese Lücke zwischen uns als könnte man sich dem Blick eines der Entwicklung der Gerätschaften gibt und der Umwelt – ich nenne sie, weil Leonardo da Vinci wieder annähern … es aber auch eine Geschichte des Dis hier die menschliche Wahrnehmung kurses über die digitalen Revolutionen. aussetzt, den «ästhetischen Gap» – ist Barbara Bleisch ist Philosophin Das ist mir vertraut von anderen techno- Teil unserer digitalen Unmündigkeit, und Moderatorin «Sternstunde Philo- logischen Schüben: Immer wurde Tech- so meine Behauptung. sophie» bei SRF und war zwischen 2017 und 2019 akademischer Gast am nik auch eingeordnet, ins Verhältnis zum «Das transdisziplinäre Menschen gesetzt. Ich nehme mir als Sprechen wir zum Schluss noch über Ihren trans- Collegium Helveticum Historikerin den Luxus heraus, diese Pro- disziplinären Ansatz. Wissenschaftliche Qualität Arbeiten wird erst zesse aus der Distanz zu betrachten – mit einer gewissen Unaufgeregtheit. Trotz- hat ja meist mit disziplinärer Vertiefung zu tun – nicht mit dem Verständnis der Breite. Zumindest produktiv, wenn man Wir sprechen vom «Zeitalter der Digitalisierung». dem bin ich immer wieder fasziniert, wie sehr die Entwicklung neuer Technologien wird meist nur Ersteres an den Hochschulen honoriert. Was ist aus Ihrer Perspektive der Vorteil auch in Konflikt gerät.» Stehen wir Ihrer Meinung nach noch am Anfang auch die Weltwahrnehmung prägt. des transdisziplinären Arbeitens, und wo sind Hannes Rickli dieses Zeitalters, mittendrin oder schon fast am Sie sich in die Quere gekommen? Ende? Man könnte ja auch sagen, dass die Digi- Rickli: Ich beobachte im Moment zwei talisierung bereits so sehr zu unserer Lebensform Bewegungen: Die eine zieht in Richtung Rickli: Das transdisziplinäre Arbeiten gehört, dass wir uns nicht mehr als Zugehörige Virtualität. Immer mehr wird entkörpert. wird erst produktiv, wenn man auch in eines «Zeitalters der Digitalisierung» empfinden? Zugleich hat die Digitalisierung physische Konflikt gerät. Erst dann wird man auf- Wie Universalgelehrte, die die ganze Welt über- Grundlagen und Auswirkungen. Das merksam auf andere Sichtweisen auf den blicken, wie Aristoteles … Rickli: Ich sehe die Digitalisierung als lässt sich schön beschreiben anhand der gleichen Gegenstand. Ich kenne das als Prozess. Ich weiss nicht, wann er ange Covid-19-App. Sie funktioniert über Fotograf sehr gut. Ein einzelnes Bild wird Dommann: Ja, wie sie damals aus dem Vol- fangen hat und wann er aufhören wird. nationale Datenströme, die in Infrastruk aus einem riesigen Prozess herausgegrif- len zu schöpfen, die disziplinären Gren- Man spürt allerdings, dass es Schübe gibt. turen des globalen Netzes fliessen – fen. Als Fotograf entscheide ich über den zen zu sprengen und andere Perspektiven Corona ist und war mit Sicherheit ein aber sie reagiert auf physischen Kontakt Zeitpunkt, den Standort und so weiter, einzunehmen, um letztlich mehr oder 26 Transdisziplinarität 27
lieber noch das Ganze zu sehen. Das bis heute mehr oder weniger von allen Rickli: Die zeitgenössischen Künste verbin- ist aber ein romantisches Bild, das zum Historikern geteilt wird. Der Nachteil den sich momentan mit sehr vielen Re- Scheitern verurteilt ist. Wissenschaft ist, dass träge Disziplinen Impulse von ferenzfeldern, etwa den Natur-, Technik-, funktioniert heute nur, wenn man spezi aussen brauchen. Es waren Impulse von Sozial- und Geisteswissenschaften, der alisiert ist, ein spezifisches Interesse und aussen, die die Geschichtswissenschaft VR- oder der AI-Technologie. Ebenso sind spezifische Instrumente hat. Dies ist vorangetrieben haben: die Geografen, ihre Medien fluid geworden. Malerei für mich eine erste Voraussetzung. Eine Soziologinnen und Ökonomen, und dann etwa verbindet sich mit digitalen Bildme- zweite ist, dass man seinen Standpunkt nach 1980 die Kulturanthropologinnen, dien aus dem Internet. Gleichzeitig stelle reflektiert, seine Interessen, aber auch die die Philosophen und immer wieder auch ich bei meinen Studierenden fest, dass Grenzen der eigenen Disziplin. Anders Grenzgängerinnen, die oft auch nicht sie sich verorten wollen: Was ist Malerei gesagt bin ich der Meinung, dass es diszi- als Historikerinnen ausgebildet waren heute, in welchem Verhältnis steht sie plinäre Ausbildung braucht, um über- und die Geschichte mit anderen Augen zu analogen und digitalen Bildtechniken haupt transdisziplinär arbeiten zu können. betrachteten. wie Fotografie oder Renderings? Inwie- Ansonsten entsteht nichts Produktives – Dieses Einschlagen neuer Rich fern ist es als Künstlerin legitim, in der weil es keine Reibung gibt zwischen den tungen steht aber im Widerspruch zu Recherche ethnographische Methoden verschiedenen Standpunkten. dem, was in der Wissenschaftspolitik anzuwenden, ohne dass ich sie und deren oft mit der Lancierung von grossen For- Kontext profund studiert habe? Das Be- In der Kunst wurde Transdisziplinarität oft genutzt, schungsfeldern geschieht, die fast schon dürfnis unserer Studierenden tendiert um gänzlich neue Kunstformen zu schaffen, bürokratisch verordnet werden. Die dahin, sich bereits in ihrer Ausbildung in die wiederum in die Einzeldisziplinen zurückge interessantesten transdisziplinären Arbei vielen ausserkünstlerischen Feldern zu wirkt haben. Man sieht dies zum Beispiel bei ten entstehen meist nicht «top down», bewegen, und führt sie dann meist zur Entwicklungen in der IT, die ihren Ursprung – sondern «bottom up» und oft an den komplizierten Frage zurück: Welche Me- quasi als Rückwirkung – in der Game-Industrie hat. Rändern, wo Forschende sich füreinander dienkonstellation erlaubt es am besten, Frau Dommann, lässt sich in der Geisteswissen- interessieren und bereit sind, zusam- den gewählten Gegenstandsbereich und schaft auf diese Weise ebenfalls Neues erzeugen? menzuarbeiten, auch wenn es Konflikte dessen Inhalte ästhetisch zu kommuni- gibt. Unser Projekt war nicht nur trans zieren? Dies zu beurteilen, bedarf einer – disziplinär, sondern auch intergene- und da bin ich mit Monika Dommann rationell. Das war auch für mich neu. einig – weit über eine institutionelle Aus- Unser Buch versammelt Arbeiten von bildung hinausgehenden Erfahrung. Das «Die interessantesten Bachelor-Studenten bis hin zu Beiträgen heisst, Inter- oder Transdisziplinarität von Professorinnen und Professoren. kann nicht gelehrt oder gelernt werden, transdisziplinären Das bedeutet viel Arbeit und viel Ver- sondern entwickelt sich aufgrund von Arbeiten entstehen ständigung darüber, welche Standards gelten. Dies war eine bisher unbekannte Erfahrungen. meist nicht ‹top down›, und grossartige Erfahrung für mich. Man muss allerdings auch sagen: Wir Redaktion: Barbara Bleisch und Martin Schmid Fotos: Andrea Ganz sondern ‹bottom up›.» können es uns heute leisten, transdis ziplinär zu forschen, weil wir unsere Monika Dommann Karrieren bereits etabliert haben. Von unseren jungen Kolleginnen und Kolle gen wird noch erwartet, dass sie ihre wissenschaftliche Laufbahn vorantreiben. Dommann: Ja, auf jeden Fall! Geschichte ist Und das geschieht nach wie vor meist zwar eine alte, arrivierte und auch etwas disziplinär. Wie gesagt: Es ist ja auch behäbige Disziplin. Im Laufe der letzten nicht nur schlecht, sich eine Methodolo- 170 Jahre hat sie eine unaufgeregte, aber gie à fond zu erarbeiten und zum eigenen sehr präzise Methodik erarbeitet, die Standpunkt zu finden. 28 Transdisziplinarität 29
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