RÜCKBLICKE PRAXEN PERSPEKTIVEN 10 JAHRE REACHOUT - REACHOUT - OPFERBERATUNG UND BILDUNG GEGEN RECHTSEXTREMISMUS, RASSISMUS UND ANTISEMITISMUS
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Rückblicke Praxen Perspektiven 10 Jahre ReachOut ReachOut - Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus
Inhalt Herausgegeben von: 4 Vorwort | Sebastian Friedrich und Sabine Seyb ReachOut - Opferberatung und Bildung Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus 6 „Rassismus ist nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen, Oranienstr. 159 er ist dort entstanden!“ | Interview mit Biplab Basu 10969 Berlin 10 „Auf in die nächsten 10 Jahre!“ | Interview mit Riza Baran Tel.: 030-69568339 Fax: 030-69568346 13 Schwarzer Widerstand in Deutschland | Von Sharon Dodua Otoo und Tahir Della info@reachoutberlin.de 18 „Wer sagt, dass es einfach ist, gegen Herrschaft anzugehen?“ | www.reachoutberlin.de Interview mit Deniz Utlu Redaktion: 21 „Rassismus modernisiert sich“ | Ein Gespräch mit Vassilis Tsianos Sebastian Friedrich und Sabine Seyb 25 Ahmet in Wunderland | Von Sabine Schiffer (V.i.S.d.P.) ReachOut in der Praxis Gestaltung: Michael Mallé Druck: Keule Druck Titelfoto: Jörg Möller Dank Beratung 27 „Nach einem Angriff ist nichts wie zuvor“ | aus: Berliner Tatorte - Dokumente Interview mit Maria João Portugal und Helga Seyb rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt Diese Broschüre wäre ohne die Unterstüt- 32 Beratung als Politik gegen rassistische (Ohn-)Machtsstrukturen | Illustrationen: Michael Mallé zung zahlreicher Menschen und Organisa- Von Angelina Weinbender Portraitfotos: Die Rechte liegen, wenn tionen nicht möglich gewesen. Wir danken: Monitoring nicht anders gekennzeichnet bei den abgebildeten Personen. Den Autor_innen der Beiträge und den In- 36 „Für Rassismus sensibilisieren“ | Interview mit Maria João Portugal und Ulrike Müller terviewten. 40 Wozu Monitoring? | Von Liz Fekete Berlin, im Dezember 2011 Jana Proschek und Kati Becker für das Füh- ren von Interviews. Bildung Die Broschüre wurde gefördert durch das Sebastian Friedrich für die Redaktion und 45 „Wir müssen die Strukturen verändern“ | Interview mit Sanchita Basu Berliner Landesprogramm „Maßnahmen das Führen von Interviews. gegen Rechtsextremismus, Rassismus Andrea Strübe für die Endkorrekturen. 50 Social Justice und Diversity Training | und Antisemitismus“. Jörg Möller für das Titelfoto. Von Leah Carola Czollek, Gudrun Perko und Heike Weinbach Michael Mallé für die grafische Gestaltung. 56 Andi auf dem Vormarsch? | Vom Arbeitskreis Extremismusbegriff Dem Berliner Landesprogramm danken wir Mehr Fragen und Antworten für die Finanzierung. 60 „Die Verhältnisse kritisieren“ | Ein Gespräch mit Sabine Seyb Das Team von ReachOut 2 3
Vorwort Deutschland der letzten Jahrzehnte – und den Widerstand dagegen. Den Anfang macht der und warum sie an Grenzen stoßen und welche politischen Forderungen und Notwendigkeiten ReachOut-Mitarbeiter Biplab Basu. Wie sich an- sich daraus ergeben. Angelina Weinbender tirassistische Praxis seiner Meinung nach ent- vom Migrationsrat Berlin-Brandenburg (MRBB) wickelte und wie er rassistische Angriffe und stellt danach klar, warum die Unterstützung der Debatten, seine Aktivitäten und seine Arbeit Betroffenen zwangsläufig eine politische sein Sebastian Friedrich und Sabine Seyb seit Ende der 1980er Jahre einschätzt, erläu- muss. Zur Bedeutung und Notwendigkeit ihrer tert er in dem Interview. Im Anschluss geht der täglichen Recherchen und der Dokumentation Grünen-Politiker Riza Baran in der Beschrei- rechter, rassistischer und antisemitischer An- bung seiner politischen Kämpfe zurück bis zum griffe in Berlin werden die ReachOut-Mitarbei- Beginn der 1960er Jahre. Baran spricht von der terinnen Maria João Portugal und Ulrike Müller Notwendigkeit, Politik im Parlament aktiv zu befragt. Hierzu liefert Liz Fekete vom Institute betreiben, und dabei die außerparlamenta- of Race Relations (IRR) in London eine Außen- rischen Aktivitäten nicht zu vernachlässigen. perspektive. Sie plädiert in ihrem Artikel für Nach den beiden Interviews beschreiben Sha- ein unabhängiges Monitoring und nimmt dabei ron Dodua Otoo und Tahir Della aus der Pers- neben ReachOut auch Projekte in anderen eu- pektive ihrer politischen Arbeit in der Initiative ropäischen Ländern in den Blick. Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) die Zehn Jahre ReachOut! Wer hätte gedacht, dass Geburtstages schenken wir uns die Zeit, um in Geschichte und die Themen Schwarzer Kämpfe Zu den Ansätzen und Schwerpunkten ihrer Bil- es unser Projekt im Jahr 2011 immer noch ge- dieser Broschüre zurück zu schauen und aus in Deutschland. dungsarbeit bei ReachOut wird Sanchita Basu ben würde, als wir mit unserer Arbeit began- unseren Arbeitsbereichen zu berichten. Es wer- interviewt. Ihr Trainingskonzept Social Justice nen? Wir selbst jedenfalls nicht. Wir haben den aber auch Andere zurück blicken und ihre Danach beantwortet Deniz Utlu, Mitherausge- und Diversity und die Notwendigkeit, politische stets gekämpft und gestritten für die Weiterfüh- Kämpfe, Analysen und Erfahrungen vorstellen. ber des Kultur- und Gesellschaftsmagazins frei- Theorien und praktische Methoden in der Bil- rung von ReachOut und damit dafür, dass die Gleichzeitig nutzen wir die Gelegenheit, nach text, Fragen zu seinem Engagement gegen Ras- dungsarbeit zu verbinden, stellen Leah Carola Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Perspektiven und Forderungen zu fragen. sismus, seinen Aktivitäten als freier Autor, der Czollek und ihre Kolleginnen Gudrun Perko und Gewalt langfristig die Unterstützung und den Notwendigkeit, Kultur und Politik zusammen zu Heike Weinbach vor. Der Arbeitskreis Extremis- Respekt erfahren, die ihnen zustehen. Diese In dieser Broschüre geht es um Rückblicke, denken und rassistische Sprachhandlungen zu musbegriff aus Marburg setzt sich kritisch mit Auseinandersetzungen führten und führen wir Praxen und Perspektiven. Die drei Begriffe sind erkennen und auszuhebeln. Vassilis Tsianos den vom Verfassungsschutz NRW konzipierten unabhängig von den jeweiligen Regierungskon- bewusst in den Plural gesetzt. Es geht darum, von der Universität Hamburg stellt anschlie- Andi-Comics auseinander. stellationen, unabhängig auch von konjunktu- ganz verschiedene Menschen mit ihren Positi- ßend in einem Gespräch seine Analyse aktuel- rellen Betroffenheiten, die sich aus besonders onen, Analysen und Praxen zu Wort kommen ler Formen von Rassismus vor. Sabine Schiffer Anstelle eines Fazits oder Ausblicks stellt sich brutalen Angriffen ergaben, unabhängig von zu lassen. Nicht alle Positionen, die in dieser vom Institut für Medienverantwortung (IMV) die ReachOut-Mitarbeiterin Sabine Seyb den Ignoranz, die sich in ruhigeren Zeiten breit Broschüre zum Ausdruck gebracht werden, tei- rundet das erste Kapitel ab und deckt anläss- Fragen zu den Fallstricken des Projektalltages, macht, und unabhängig von den jeweils aktu- len wir. Nicht alle Positionen, die hier keinen lich eines anderen Jubiläums in satirischer Wei- den Kämpfen um die Weiterfinanzierung von ellen Förderprogrammen und den Versuchen, Platz gefunden haben, kritisieren wir. Sie sind se die wahren Interessen auf, die hinter dem ReachOut, den Versäumnissen von Politik und Projekte wie ReachOut politisch unter Druck zu Momentaufnahmen, Fragmente zum Stand der Anwerbeabkommen der Türkei mit Deutschland Medien und dazu, welche politischen Forderun- setzen und ihre Unabhängigkeit anzugreifen. Dinge, wie er sich (uns) zeigt, diskutiert und stehen. gen und Notwendigkeiten sich daraus ergeben. Wir haben gestritten, kritisiert und skandali- gelebt wird. – Nicht glatt, nicht frei von Wider- siert, aber auch empfohlen und erklärt, um die sprüchen, nicht absolut. Allerdings fokussieren Im zweiten Kapitel der Broschüre offenba- Diese Broschüre möchte einen kleinen Aus- Sichtweisen und die Forderungen der Betroffe- alle in dieser Broschüre versammelten Beiträ- ren wir Einblicke in die Arbeitsfelder von schnitt des vielfältigen Widerstands gegen nen zu unterstützen und stärker in die Öffent- ge Rassismus. Damit spiegeln sich auch der ReachOut. Zu jedem der drei Kernbereiche Be- Unterdrückung offenbaren und zur Diskussion lichkeit zu bringen. Projektalltag in der Beratungs-, Bildungs- und ratung, Monitoring und Bildung wird jeweils ein stellen. Einige Beiträge mögen neue Perspekti- Öffentlichkeitsarbeit und unsere eigenen politi- Interview mit ReachOut-Mitarbeiterinnen mit ven ermöglichen, andere vielleicht auf den ers- Die Reflexion der eigenen Arbeit, der politi- schen Lebensläufe und Aktivitäten wider. Ansichten von außen ergänzt. Helga Seyb und ten Blick undurchsichtig wirken – doch alle eint schen und gesellschaftlichen Entwicklungen Maria João Portugal beschreiben zunächst, wo- der Wunsch nach Veränderung. Es bleibt noch kommt im Alltag häufig zu kurz, weil keine Zeit Im ersten Kapitel der Broschüre finden sich rum es bei der Beratung von Opfern rechter, ras- viel zu tun! dafür bleibt. Anlässlich unseres zehnjährigen grundsätzliche Blicke auf Rassismus in sistischer und antisemitischer Gewalt geht, wo 10 Jahre ReachOut 4 5
„Rassismus ist nicht in der Wir hatten nun mehr Verbündete und die Men- schen aus der ehemaligen DDR verfügten über und Aktionen organisiert. Außerdem waren die Medien und die rassistische Berichterstattung ganz andere Perspektiven und Erfahrungen, die ein Thema, mit dem wir uns beschäftigten. Die Mitte der Gesellschaft auch in die politische Arbeit einflossen. rassistisch motivierten Angriffe und die prakti- sche Unterstützung der Betroffenen waren stets angekommen, Zum anderen nahmen jedoch auch die Angrif- fe auf Migrant_innen und Flüchtlinge praktisch ein Thema unserer Arbeit. Insgesamt war es un- ser Ziel, Rassismus öffentlich zu thematisieren er ist dort entstanden!“ über Nacht massiv zu. Zu diesem Zeitpunkt wuchs zumindest das Bewusstsein für rassis- und Handlungsstrategien zu finden. tische Zustände, auch wenn der Begriff Frem- Wie würdest du die weiteren Entwicklungen den- oder Ausländerfeindlichkeit nach wie vor seit dem Jahr 2000 beschreiben? Interview häufiger benutzt wurde. Auch zu diesem Zeitpunkt kam es immer wieder Biplab Basu ist Mitarbeiter von ReachOut In welchen Zusammenhängen hast du dich zu teilweise pogromartigen Angriffen. Dies führ- und aktiv bei der Kampagne für Opfer ras- zu Beginn der 1990er Jahre gegen Rassismus te zu einer Empörung in der Gesellschaft und engagiert? brachte Politiker_innen dazu einzugreifen. Ein sistischer Polizeigewalt (KOP). Gemein- staatliches Förderprogramm gegen Rechtsext- sam mit Jana Proschek wagte er einen Bereits Ende der 1980er Jahre, noch vor dem remismus wurde entwickelt und entsprechende Rückblick über Kämpfe und Bündnisse Mauerfall, gründeten einige Leute in Berlin das Projekte ab Mitte 2001 gefördert. So konzipier- gegen Rassismus. Antirassistische Telefon. Die Idee war, dass ten Kolleg_innen, mit denen ich auch schon Menschen, die von Rassismus betroffen waren, vorher gegen Rassismus aktiv war, Reach- angegriffen oder diskriminiert wurden, dort an- Out. Das damalige Förderprogramm ermöglich- Foto: Nicole Walter rufen konnten, um Unterstützung und Hilfe zu te es zum ersten Mal, die Perspektive der Opfer bekommen. Andererseits ging es darum, die in den Vordergrund zu stellen. Bis dahin ging Angriffe und Vorfälle dokumentieren und ver- es von Seiten der Regierung vielmehr darum, Wann hast du mit antirassistischer Arbeit be- bung und Politik der Nazizeit. Es war auch für öffentlichen zu können. Dieses Antirassistische Projekte und Einrichtungen zu finanzieren, die gonnen? mich schwierig, meinen Freund_innen und den Telefon wurde dann in Antirassistische Initiati- sich mit den Täter_innen beschäftigt haben, Leuten, mit denen ich politisch aktiv war, klar- ve umbenannt. Die Aktivist_innen setzten sich um diese zu resozialisieren und zu integrieren. Ich habe schon kurz nachdem ich Ende 1979 in zumachen, dass Rassismus nicht in der Nazi- intensiv mit Rassismus auf ganz unterschiedli- Wir hatten es vor der Gründung von ReachOut Deutschland angekommen bin nach Möglich- zeit entstanden ist und nicht mit dem Ende des chen Ebenen und mit den Menschen, die be- immer schwer, die Perspektive der Opfer in den keiten gesucht, mich politisch zu engagieren. Zweiten Weltkrieges an Bedeutung verlor, son- troffen sind, auseinander. Sie beschäftigten Vordergrund zu stellen. Mit dem Projekt Reach- Schon zu diesem Zeitpunkt habe ich mich mit dern schon viel länger existiert und dass unse- sich vor allem mit der Frage: Was kann man tun Out erhielten wir also quasi die staatliche Legi- Rassismus auseinander gesetzt und wollte re heutige Gesellschaft immer noch rassistisch und wie lässt sich der institutionelle Rassismus timation dazu. auch in diesem Bereich aktiv sein. So bin ich ist. Das wurde vor allem in der Migrations- und bekämpfen? dann zur Flüchtlingsunterstützungsarbeit ge- Flüchtlingspolitik sichtbar. Es gab jedoch da- Es geht uns zum einen um die Unterstützung kommen und habe Rassismus als eines meiner mals wenige Gruppen oder Projekte, die zum Ich bin dann Anfang der 1990er Jahre, eher aus der Opfer aber natürlich auch um Rassismus als Schwerpunktthemen gesehen. Thema Antirassismus gearbeitet haben. Zufall, durch Bekannte zur Antirassistischen Ini- gesellschaftliches Phänomen. Rassismus ist tiative gekommen. Seitdem habe ich intensiv kein Problem der Neonazis, sondern in breiten Was waren damals deine Schwerpunktthemen Wie ist es dann weiter gegangen? Ab wann wur- antirassistische Politik betrieben. Dies bedeu- Teilen der Gesellschaft zu finden. Für uns ist es in Bezug auf Rassismus? de der Begriff Rassismus gesellschaftsfähig? tete zum einen eine akademisch-intellektuelle deshalb in unserer Arbeit wichtig, auch gegen Auseinandersetzung mit dem Thema und zum diese Strukturen vorzugehen. Alltagsrassismus, zu dem heute in Workshops, Schon in den 1980er Jahren gab es Menschen, anderen praktische politische Arbeit. Dazu Veranstaltungen, selbst an Schulen, diskutiert die den Begriff Rassismus benutzten und zu gehörte das Thematisieren von rassistischen Welche konkreten Aufgaben hast du bei Reach- wird, war damals zwar auch ein Thema, jedoch diesem Thema arbeiteten. Doch zu einem all- Strukturen in der Gesellschaft. Wir haben bei- Out und was ist dir dabei besonders wichtig? hat man den Begriff des Rassismus nicht be- gemeinen gesellschaftlichen Thema wurde spielsweise zur Kopftuchdebatte an Schulen nutzt. In Deutschland verstand man zu dieser Rassismus erst in den 1990er Jahren, nach und im öffentlichen Dienst oder zu rassistischen Ich bin hauptsächlich in der Beratung tätig. Zeit unter Rassismus die rassistische Gesetzge- dem Mauerfall. Da änderte sich die Situation. Übergriffen von Seiten der Polizei gearbeitet Dabei ist es mir wichtig, dass ich Menschen, 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 6 7
die angegriffen, beleidigt und bedroht werden, sellschaft angekommen. Rassismus war nie ein Symbolen usw. Das gab es früher nicht. Naja, Denkst du, dass die Arbeit von ReachOut ir- die Chance biete, ihre Geschichte zu erzählen. Randphänomen. Rassistische Theorien wurden und außerdem gibt es durch die europäische gendwann überflüssig sein wird? Denn diese Menschen werden oft auch von von den Intellektuellen und Akademiker_innen Sicherheitspolitik heute viel weniger Flücht- staatlicher Seite diskriminiert und kriminali- aus der oberen Mittelschicht entwickelt. Um linge in Deutschland. Flüchtlingsunterstützung Nein, ich glaube nicht, dass das zu meinen Leb- siert oder es wird ihnen nicht geglaubt. Mir ist ihre Ideen zu verbreiten, brauchten sie natür- ist heute eher Aufgabe der Flüchtlingsorgani- zeiten passieren wird. Denn die weiße Vorherr- es deswegen ein besonderes Anliegen, dass lich die Unterstützung der breiten Bevölkerung. sationen, so dass das Engagement zu diesem schaft existiert global schon sehr lange und das wir alle Menschen, die zu uns kommen, ernst Rassismus ist aber in der Mitte der Gesellschaft Thema in der linken Szene abgenommen hat. wird sich so schnell nicht verändern. Deshalb nehmen und dass sie sich auch ernst genom- entstanden und noch immer Teil davon. glaube ich nicht, dass meine Arbeit überflüssig men fühlen. Wie siehst du die Entwicklung der Vernetzung? wird. Antimuslimischer Rassismus ist zurzeit ein Würdest du sagen, Rassismus hat sich im Laufe großes Thema. Du hast vorhin schon von den Ich glaube, dass es heute viel mehr Netzwerke Wie siehst du die Perspektiven für deine Arbeit der letzten Jahre verändert? Kopftuchdebatten in den 1990er Jahren ge- gibt. In Berlin arbeiten die verschiedenen Grup- in den kommenden Jahren? sprochen. Hat sich die Situation verändert? pen und Organisationen eng zusammen und Ich glaube nicht, dass Rassismus sich verän- unterstützen sich. Außerdem ist es gelungen, Ich denke, dass sich immer mehr Menschen dert hat. Ich denke nur, dass sich das Bewusst- Ich muss sagen, dass ich und auch Andere, mit verschiedene Themen bzw. Arbeitsfelder wie mit Rassismus auseinander setzen und die sein der Menschen und der Gesellschaft über denen ich zu diesem Thema gearbeitet habe, Homophobie oder Diskriminierung gegenüber verschiedenen Arten gesellschaftlicher Diskri- Rassismus verändert hat. Im Gegensatz zu lange diese latente antimuslimische Grundhal- behinderten Menschen zusammen zu führen. minierung analysieren und dies auch in einen den 1980er und 1990er Jahren wird Rassismus tung nicht wahrgenommen bzw. thematisiert Das sehe ich als Erfolg. gesellschaftlichen Kontext bringen. Und das heute benannt und offen thematisiert und es haben. Ich würde deshalb nicht sagen, dass es sind sehr positive Aussichten. sind im Laufe der Zeit viele Projekte und Initi- ein neues Phänomen ist, sondern dass es heu- Wir von ReachOut haben zum Beispiel in ver- ativen entstanden, die antirassistische Arbeit te, zwei Generationen nachdem die Arbeitsmig- schiedenen Zusammenhängen und Foren den Und welche Forderungen hast du bezüglich leisten. Was mich ärgert, ist jedoch die zuneh- rant_innen nach Deutschland gekommen sind, antimuslimischen Rassismus thematisiert, um Rassismus an die Politik und im Hinblick auf mende Tendenz, vor allem durch Politiker_in- vor allem von ihren Kindern, die betroffen sind, auf die rassistischen Tendenzen in der Ausein- deine Arbeit? nen, Rassismus als ein Problem der Neonazis thematisiert wird. andersetzung um das Kopftuch aufmerksam zu zu verharmlosen. Es sind jedoch nicht nur die machen. Meine Forderung ist zum einen, dass rassis- Neonazis Rassist_innen, sondern es ist die ge- Wie haben sich die linken Strukturen und Netz- tische Diskriminierungen gesetzlich verboten samtgesellschaftliche Struktur, die wir in den werke, die gegen Rassismus aktiv sind, insge- Kommt es manchmal zu Auseinandersetzun- werden, und zum anderen, dass Rassismus Blick nehmen müssen. samt seit den 1980er Jahren entwickelt? Wel- gen zwischen staatlich finanzierten Projekten zum Thema in den Lehrplänen und der Lehrer_ che Tendenzen siehst du? und solchen, die ausschließlich „ehrenamt- innenausbildung gemacht wird. Außerdem soll- Würdest du sagen, dass Rassismus heute ge- lich“ und unbezahlt aktiv sind? te ein spezielles Curriculum für Staatsbediens- sellschaftsfähiger geworden ist? Früher ging es vor allem um die Situation von tete wie zum Beispiel Polizist_innen erarbeitet Migrant_innen und Flüchtlingen. Heute be- Diese Frage wurde mir schon oft gestellt. Ich werden. Vor allem jedoch muss rassistische Nein, überhaupt nicht. Es ist komplett falsch zu schäftigen sich linke Gruppen und Organisa- persönlich habe noch nie ein Problem darin Diskriminierung aufgedeckt und konsequent sagen, heute sei Rassismus in der Mitte der Ge- tionen viel mit der Neonaziszene und deren gesehen und auch noch nie Ablehnung von bestraft werden, unabhängig davon, wer die Anderen deshalb empfunden. Außerdem ist Täter_innen sind. es ja auch so, dass die meisten Menschen, die heute in staatlich finanzierten Projekten Außerdem muss auch das Rechtssystem be- arbeiten, früher auch selbstorganisiert und un- greifen, in wie weit es in diesen rassistischen bezahlt gearbeitet haben bzw. anders ihr Geld Kontext eingebunden ist. Wir brauchen Mög- verdienen mussten. In Deutschland gibt es im lichkeiten, gegen institutionellen Rassismus Gegensatz zu den USA zum Beispiel viele staat- insgesamt vorgehen zu können. Das sind mei- lich finanzierte Projekte. Dort übernehmen fast ne Forderungen an die Politik. Die Beratung und ausschließlich Stiftungen die Unterstützung Unterstützung der Opfer von Rassismus und die von Projekten und Kampagnen. Ich sehe das konkrete Arbeit ist nicht Aufgabe der Politik, auch als Chance, mehr Zeit in politisches Enga- das müssen wir schon selbst machen! gement zu investieren. 10 Jahre ReachOut 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 8 9
„Auf in die nächsten und Kurd_innen in meinem Herkunftsland ab- gesehen, engagiere ich mich gegen Rassismus desrepublik als offiziellem Einwanderungsland durch die Bundesregierung 1998. seit ich 1963 nach Deutschland gekommen bin. 10 Jahre!“ Denn sobald man als Migrant_in hier ankommt, Gab es ein besonderes Ereignis, das dich be- wird man auch mit Rassismus konfrontiert und sonders geprägt hat in deinem politischen En- muss sich damit auseinandersetzen. Wie schon gagement gegen Rassismus? Interview eben erwähnt, führte die erste kleinere Rezes- sion 1966/67 schon dazu, dass aufgrund der Als erstes muss ich da die Entwicklung der Dis- gestiegenen Erwerbslosigkeit viele Arbeitsmi- kussionen erwähnen, die ich fast tagtäglich in Riza Baran ist Mitglied von Bündnis 90/ grant_innen von damals wieder ausgewiesen den 1970er Jahren mit meinen Kolleg_innen Die Grünen und kämpft seit Jahrzehn- wurden. Überhaupt basierte das deutsch-türki- in der Gewerkschaft hatte (IG Chemie). Es war ten in Berlin und darüber hinaus gegen sche Abkommen zuerst auf dem rassistischen ein harter Kampf, die Köpfe dafür zu öffnen, Rassismus und für Demokratisierung. Hintergrund, dass man keine Einwanderung dass die BRD faktisch ein Einwanderungsland Sabine Seyb sprach mit ihm über seine wollte und deshalb die Arbeitsmigrant_innen geworden war! Und damit zusammenhängend reichhaltigen Erfahrungen und mögliche nur eine begrenzte Zeit nach Deutschland kom- möchte ich zweitens erwähnen, dass es für men sollten, um dann wieder durch andere Ar- mich schon sehr früh klar war, dass die Ar- Perspektiven. beitsmigrant_innen ersetzt zu werden. beitsmigrant_innen hier bleiben würden, dass damit die Frage der Integration auf die Tages- Im Laufe der Zeit, auch infolge des neuen an- ordnung gehörte, während gleichzeitig Assi- tiautoritären Zeitgeistes seit 1968 und durch milationsforderungen eine Sackgasse waren. Wenn du die Entwicklungen hinsichtlich des Auch in der DDR waren diese autoritären Per- einen kräftigen Schub durch die Streikwelle Aber diese Analysen und Schlussfolgerungen Rassismus gegenwärtig in Deutschland be- sönlichkeitsstrukturen nicht nachhaltig besei- Anfang der 1970er Jahre, gründeten sich im- mussten immer wieder neu in die Diskussionen trachtest, was hat sich seit Anfang der 1990er tigt worden, da die offen rassistische Stellung- mer mehr Initiativen und Selbsthilfegruppen, eingebracht werden und sie sind auch heutzu- Jahre verändert? nahme einfach nur verboten wurde und sich so um die Lebensumstände von Migrant_innen zu tage immer noch ein Thema. Konkret prägende im privaten Bereich festsetzen und ausbreiten verbessern. Viele hatten ihre Familien nachge- Ereignisse waren natürlich die rassistischen Bis zum Mauerfall 1989 dominierte sowohl in konnte. Und außerdem wurde die DDR durch holt, es gab die ersten „Ausländerbeiräte“ und Pogrome Anfang der 1990er Jahre und die Anti- der BRD als auch in der DDR die Auffassung, autoritär strukturierte Führungen regiert, die vor allem der Anwerbestopp von 1973 machte Asylrechtstendenzen der damaligen Zeit. dass es nach dem Sieg gegen den Nationalso- empathisch gar nicht in der Lage waren, die schlagartig klar, dass man sich wehren musste. zialismus 1945 und infolge der jeweiligen Ent- althergebrachten Einstellungen und Verhal- Denn unter der Oberfläche führten die aufge- Du warst Abgeordneter bei Bündnis 90 / Die nazifizierungen keinen relevanten Rassismus tensweisen abzubauen. Diese beiden Stränge zählten Punkte in der deutschen Bevölkerung Grünen und Vorsteher in der Bezirksverord- mehr in Deutschland gäbe. Dabei wurde aus- brachen sich nach 1989 in der umjubelten Eu- zur Zunahme von Ressentiments. netenversammlung (BVV) in Friedrichshain- geblendet, dass während des Kalten Krieges phorie der neuen nationalen Einheit ihre Bahn, Kreuzberg. Wo siehst du Möglichkeiten, wo die oft auf Ex-Nazis zurückgegriffen wurde und die wie ein Fisch im Wasser auflebt. Insofern war ich schon vor 1989 im weitesten Grenzen parlamentarischer Politik? Entnazifizierung längst nicht in allen gesell- Sinne antirassistisch politisch aktiv – schließ- schaftlichen Bereichen konsequent durchge- Durch die falsche Politik (z.B. bezüglich der lich ist das Thema, wie das der Integration, ein Die Entwicklung hin zum Parlamentarismus war führt worden war. Außerdem wurde verdrängt, Integration der Arbeitsmigrant_innen) und die Querschnittsthema. Diese Arbeit zog sich die historisch natürlich ein demokratischer Fort- dass die zugrunde liegende deutsch- bzw. eu- Verdrängungen seit 1945 in der BRD und der ganzen 1990er Jahre hindurch und hatte ihren schritt. Man kann dort auf einer Plattform, die ropazentrierte autoritäre Ideologie aus vielen DDR war die deutsche Öffentlichkeit nach dem ersten Erfolg mit der Anerkennung der Bun- im Fokus der Öffentlichkeit steht, Inhalte und Köpfen natürlich immer noch nicht verschwun- Mauerfall völlig überrascht von der Wucht der den war. Sie wurde zwar auf den Ost-West-Kon- radikalen nationalen Eruption und es dauerte flikt umgedeutet, aber die 68er-Bewegung war bis 1998, diese Welle in den Griff zu bekommen. ja auch eine Antwort auf diese informell wei- Die negativen Folgen für Arbeitsmigrant_innen terhin existierende soziokulturelle politische und Flüchtlinge haben wir alle noch vor Augen. Psychologie im Wirtschaftswunderland. Und schon nach der ersten kleinen konjunkturellen Seit wann bist du gegen Rassismus aktiv? Wachstumsdelle 1966/67 konnte die NPD bei einer Wahl erfolgreich sein. Mal von der Situation zwischen Türk_innen 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 10 11
Probleme thematisieren, Lösungen vorschla- gen und versuchen, die Parlamentsmehrheiten vermeintliche oder tatsächliche gesellschaft- liche Probleme existieren, woraufhin beste- Schwarzer Widerstand zu überzeugen und sinnvolle Gesetze zu be- hende horizontale Unterschiede zwischen den schließen. Aber um eine Gesellschaft wirklich Menschen instrumentalisiert werden, um eine in Deutschland zu demokratisieren und um sie offener und nachhaltige Problemlösung zu verhindern (Bei- toleranter zu machen, bedarf es mannigfacher spiel Erwerbslosigkeit). Oft werden dadurch Initiativen und Gruppen von selbstbewussten Privilegien verteidigt und bestimmte Gruppen Von Sharon Dodua Otoo und Tahir Della Bürger_innen, die ihre Macht nicht nur an die vom Zugang zu materiellen oder nicht-materi- Parlamente delegieren wollen, sondern die sich ellen Ressourcen ausgeschlossen. Sharon Dodua Otoo und Tahir Della selbst verantwortlich für die Entwicklung ihrer Gesellschaft fühlen. Deshalb ist es für eine_n Also, im Vergleich zum Anfang der 1990er Jahre sind Vorstandsmitglieder der Initiati- Parlamentarier_in notwendig, den Kontakt zu konnte die extreme Welle der nationalistischen ve Schwarze Menschen in Deutschland diesen Basisinitiativen und den Menschen zu Eruption gemindert werden. Trotzdem zeigen (ISD-Bund) e.V. (www.isdonline.de). Der erhalten, um sozusagen ein Ohr am Puls der gerade die Vorgänge und Entdeckungen um Vorstand besteht aus drei weiteren Mit- Zeit zu haben. Denn nur so lassen sich Proble- die Morde durch extrem Rechte in den letzten gliedern: Hadija Haruna, Jonas Berhe me frühzeitig erkennen und nachhaltige Lösun- Wochen, dass dort nicht nur viel zu tun ist, und Yonis Ayeh. gen entwickeln. Diese Form der vorparlamenta- sondern, dass die Zivilgesellschaft höllisch rischen Durchlässigkeit ist allerdings – und da aufpassen muss, dass sich keine politisch- müssen wir sehr wachsam bleiben – durch den atmosphärischen Strukturen in der Bevölke- unkontrollierten Einfluss der Lobbygruppen in rung verfestigen, die eine Gefahr für die Demo- Verruf geraten. kratie mit sich bringen könnten. Welche Perspektiven siehst du hinsichtlich des Zweitens ist es in Zeiten von Welthandel, Glo- Kampfes gegen Rassismus, Rechtsextremis- balisierung und der zunehmenden Notwenig- mus und Antisemitismus? keit, viele Probleme der Menschheit global zu lösen, unumgänglich, sich zu einer offenen Generell muss man sich klarmachen, aus wel- Gesellschaft zu entwickeln, in der Rassismus chen Grundbedingungen sich Rassismus speist keinen Platz hat. Im Unterschied zum Anfang und welche Funktion er in einer Gesellschaft der 1990er Jahre möchte ich schließlich erwäh- Widerstand ist ein wichtiger Bestandteil und der damit verbundenen Annektierung hat. Die beiden entscheidenden Variablen für nen, dass der heraufbeschworene, angebliche der Schwarzen[1] Bewegung und hat auch in der deutschen Kolonien durch Frankreich und die Entstehung von Rassismus sind Vorurteile und vor allem kulturell begründete Gegensatz Deutschland eine lange Tradition. Trotz der England haben sich die deutschen Nachfol- und institutionelle Macht. Letztere kann durch zwischen Orient und Okzident mit seiner anti- Tatsache, dass Menschen der Afrikanischen gestaaten der Verantwortung der deutschen eine aufmerksame Öffentlichkeit eingegrenzt muslimischen Leit(d)kulturdiskussion genau- Diaspora – u.a. Schwarze Deutsche – seit über kolonialen Vergangenheit entzogen. Dies traf werden. Rassismus als kulturelles Phänomen so bekämpft werden muss, wie seinerzeit die 300 Jahren in dieser Region leben, versteht sich schon für die Weimarer Republik zu. Während basiert auf den vier Bausteinen Naturalisie- national-ethnische Welle. Vor all diesen Hinter- Deutschland noch immer als eine weiße Nati- der NS-Herrschaft wurde die koloniale Vergan- rung, Homogenisierung, Polarisierung und gründen gibt es – wie Frau Merkel sagen wür- on. Schwarzer Widerstand ist also in erster Li- genheit erneut glorifiziert – zum Beispiel durch Hierarchisierung. Wird dieses gesellschaftliche de – zur fortschreitenden Integrationsfähigkeit nie ein Kampf um die Anerkennung. Politische Straßenumbenennungen und den Versuch, die Verhältnis im politischen Kontext umzusetzen unserer Gesellschaft keine Alternative. Partizipation Schwarzer Bürger_innen und die ehemaligen Kolonien „zurück zu holen“. Nur versucht, kann man von Rechtsextremismus Verbesserung der Lebenssituation Schwar- dem Kriegsverlauf und der bedingungslosen sprechen. Zusammengefasst heißt das für Deutschland, zer Menschen in Deutschland ist das Ziel. Der Niederlage Deutschlands ist es zu verdanken, dass in den entscheidenden gesellschaftlichen Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf dem Wi- dass dies nicht zustande kam. Die betreffenden und zu beobachtenden In- Bereichen der Medien, des Bildungssystems, derstand der letzten 30 Jahre. stitutionen einer Gesellschaft, in denen sich des Arbeitsmarkts, der Politik, der Justiz und der Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tru- Rassismus verankern und reproduzieren kann, Exekutive ein Entrassifizierungsprogramm not- Ausgangssituation gen sowohl die DDR als auch die BRD den Er- sind die Medien, das Bildungssystem, der wendig ist. In diesem Sinne wünsche ich Reach- fahrungen der zurückliegenden Geschichte Arbeitsmarkt, die Politik, die Justiz und die Out viel Kraft, Unterstützung und Erfolg für die Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges sowie insofern Rechnung, als dass sie allen Versu- Exekutive (Polizei). Vorurteile entstehen, wenn nächsten zehn Jahre! der Niederlage des deutschen Kaiserreiches chen, Deutschland erneut als Weltmacht zu 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 12 13
etablieren, eine Absage erteilten, um unter Beiden Phänomenen wird mit Verschleppung, wie München, Stuttgart, Freiburg, Hamburg, Hanno- Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte Relativierung und Leugnung offenkundiger Tat- ver, Berlin, in großen Teilen Nordrhein-Westfalens in die Weltgemeinschaft zurückzukehren. Trotz sachen begegnet. und in der Rhein-Main-Region. Nach dem Mauerfall dieses Ansinnens hat keiner der beiden deut- kamen weitere Communities hinzu, die sich in Ost- schen Staaten sich diesem Teil ihrer Vergan- Entstehung der jüngeren Schwarzen Bewe- Deutschland vernetzten. genheit gestellt, sich offiziell entschuldigt oder gung in Deutschland Entschädigungen an die Staaten, die aus den Es entwickelte sich eine Bewegung von Schwarzen ehemaligen Kolonien hervorgegangen sind, Wenn heute von der jüngeren Schwarzen Be- Deutschen und Menschen afrikanischer Herkunft, die geleistet. Dies wurde deutlich, als im Januar wegung gesprochen wird, so deswegen, weil aus jahrzehntelanger, erlebter Isolation ausbrachen, 2004, dem 100. Jahrestag des Massenmordes es schon lange vor den heute existierenden um sich Freiräume für Schwarze Menschen zu schaf- an den Nama, Herero und Damara im heutigen Initiativen gesellschaftsrelevante Aktivitäten fen und dabei nach selbstbestimmten Definitionen Namibia, der damalige Außenminister der BRD, Schwarzer Menschen in Deutschland gab. So ihres Daseins und eigenen, ihnen angemessenen Le- Joschka Fischer, zwar schlossen sich bei- bensentwürfen zu suchen. Sie arbeiteten daran, nach sein Bedauern über spielsweise bereits und nach ihre Lebenszusammenhänge und ihre Per- „Ohne Kampf gibt es keinen Fort- den Kolonialkrieg äu- in den 1920er Jahren spektiven und Hoffnungen zu verändern. Ein Beispiel schritt. Die, welche behaupten, für ßerte, jedoch eine Schwarze Arbeiter_in- dafür sind die Begriffe „Schwarze Deutsche“ und offizielle Entschuldi- die Freiheit zu sein, Agitation aber nen, Gewerkschaf- „Afro-Deutsche“. Sie sind Eigenbezeichnungen, die gung ablehnte. Die ablehnen, sind [Menschen], die ernten ter_innen und Künst- in den Anfängen der sich formierenden Schwarzen Weigerung Deutsch- wollen, ohne den Grund umzupflü- ler_innen zusammen, Bewegung geprägt wurden und sich durchsetzten. Sie lands, Verantwortung gen. Sie wollen Regen ohne Blitz und um für ihre Rechte und lösten sämtliche bis dato gängigen und diskriminie- zu übernehmen, zeigte Donner. Sie wollen den Ozean ohne das Lebensentwürfe einzu- renden Bezeichnungen der Mehrheitsgesellschaft für sich einmal mehr im grässliche Tosen seiner Wassermassen. treten[2]. Etwa 60 Jahre Schwarze Menschen ab. Sie ermöglichen seither die September 2011 im Zu- Der Kampf mag ein moralischer sein; später führte der Lehr- Ausformung eines menschenwürdigen (Selbst-)Bild- sammenhang mit den oder er mag physisch sein; oder er mag auftrag von Audre Lor- nisses Schwarzer Menschen in Deutschland. in der Berliner Charité moralisch und physisch sein, aber ein de an der Freien Uni- lagernden Gebeinen versität Berlin (damals Schwarze Perspektiven in den dominanten Diskurs vieler der Opfer. So Kampf muss stattfinden.“ in West-Deutschland) einzubringen, war und ist ein zentrales Anliegen wurden diese zwar in (Frederick Douglass, ehemals versklavter zur Wiederbelebung der ISD und ADEFRA sowie aller anderen Schwarzen einer Zeremonie an Mensch und Abolitionist, 1857) dieser Tradition. Die Gruppen und Initiativen, die in den letzten 30 Jahren eine Delegation aus afrikanisch-amerika- entstanden sind. Die ISD versteht sich dabei weni- Namibia zurückgegeben, jedoch blieb von Sei- nische Schriftstellerin und Frauenaktivistin ger als alleinige Vertreterin Schwarzer Menschen in ten der Bundesregierung erneut ein offizielles lernte 1984 in ihren Vorlesungen Schwarze Deutschland, sondern vielmehr als Teil der Schwar- Schuldeingeständnis aus. deutsche Frauen kennen und ermutigte sie, zen Community in Deutschland. Besonders hervor- ihre persönlichen Geschichten und damit die zuheben sind jene Gruppen, die von Flüchtlingen or- Die Gründe, warum ein Schuldeingeständnis der Schwarzen Diaspora in Deutschland aufzu- ganisiert werden, wie die African Refugee Association bis heute nicht eingetreten ist, sind unter an- schreiben. Damit sollten sie der einseitig wei- (ARA), The Voice, Refugees Emancipation und Women derem darin zu suchen, dass nach 1945 etliche ßen Geschichtsschreibung ein eigenständiges in Exile. Sie setzen sich für die Einhaltung der Men- Beamt_innen des Außenministeriums des NS- Bild entgegensetzen. Im Zuge dieser Arbeit ent- schenrechte gegenüber Flüchtlingen ein und mobili- Regimes in der damals jungen Bundesrepublik stand das Buch „Farbe bekennen“[3], das zu den sieren in regelmäßigen Abständen Kampagnen gegen wieder eingestellt wurden und sich so rassis- ersten Zeugnissen Schwarzer Selbstdarstel- Abschiebungen, Übergriffe durch Staatsorgane, die tische Denkweisen und Vorstellungen halten lung in Deutschland zählt. Zudem gründeten extreme Rechte und die Residenzpflicht. konnten und bis heute im allgemeinen Diskurs sich die Vereine Afro-Deutsche Frauen, heute ihren Platz einnehmen. Aus dieser Entwicklung Schwarze deutsche Frauen und Schwarze Frau- Besonders Letzteres ist ein gravierendes Beispiel für und dem daraus abgeleiteten Verhalten lassen en in Deutschland (ADEFRA) und die Initiative die rassistische Behandlung von Schwarzen Flüchtlin- sich deutliche Parallelen zwischen der Haltung Schwarze Deutsche, heute Initiative Schwarze gen und Flüchtlingen of Color. Die im Asylverfahrens- Deutschlands zu seiner Kolonialgeschichte und Menschen in Deutschland (ISD). Die Mitglieder gesetz geregelte Residenzpflicht besagt, dass sich dem Umgang mit heutigem Rassismus ziehen. etablierten dabei lokale Initiativen in Städten Flüchtlinge nur in dem ihnen zugewiesenen Bezirk 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 14 15
aufhalten beziehungsweise bewegen dürfen. Kultur & Medien: Die Wahrnehmung in der Mitarbeit an der Erarbeitung und Einführung sen. So hat beispielsweise die Afrikanische Sie sind aufgrund ihres Schwarzseins gezielte- weiß-deutschen Kultur- und Medienlandschaft des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetztes Union (AU) 2003 zusätzlich zu den bereits exis- ren Kontrollen als weiße Menschen ausgesetzt. ist von einer beharrlichen Deutungshoheit über 2006, die Gründung des Afrika-Rates 2005 tierenden fünf Regionen auf dem afrikanischen Denn durch das sogenannte „Racial Profiling“ das geprägt, was als Rassismus bezeichnet sowie die Gründung ähnlicher Verbände sind Kontinent die „sechste“ Region begründet, die ist es wahrscheinlicher, dass sie kontrolliert wer- wird. Dies wird durch z.B. immer wieder in der weitere Beispiele für die politische Partizipa- der afrikanischen Diaspora die Möglichkeit den – unabhängig vom jeweiligen Migrations- Debatte über das an deutschen Theatern prak- tion Schwarzer Aktivist_innen. Als weiterer Er- gibt, für ihre Ziele und Projekte die Unterstüt- hintergrund oder Aufenthaltsstatus. Dieses tizierte „Blackfacing“ deutlich. Dabei handelt folg gilt die Mitarbeit im Kampf um die Umbe- zung der afrikanischen Staaten zu nutzen. 2011 Verfahren stellt damit eine Menschenrechtsver- es sich um ein rassistisches „Stilmittel“, das nennung des ehemaligen „Gröbenufers“ ins wurde in der Folge eines Kongresses der Orga- letzung aller in Deutschland lebenden Schwar- zuerst auf den Bühnen der USA der 1920er Jah- May-Ayim-Ufer in Berlin. Otto Friedrich von der nisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in zen Menschen dar. ISD und ADEFRA sehen das re eingesetzt wurde, um Schwarze Menschen Groeben (1656-1728) galt als einer der „Pionie- Europa (OSZE) in Wien[11] ein Forderungskatalog Thema Polizeiterror neben dem Thema All- lächerlich zu machen und ihnen den Zugang re“ des deutschen Kolonialismus. 1895 wurde zur Unterstützung der Schwarzen Community in tagsrassismus daher als eines ihrer zentralen zu den Bühnen zu verwehren. In der britischen die Straße nach ihm benannt. Am 27. Februar Deutschland zusammengestellt. Schwerpunkte, nicht nur, weil es bei der „Be- und französischen Kultur gilt „Blackfacing“ als 2010 bekam die Straße ihren neuen Namen. handlung“ von Flüchtlingen durch staatliche Ausdruck des Rassismus in der Kolonialzeit. Benannt nach einer verstorbenen Schwarzen Oberstes Ziel der ISD und verbündeter Vereine Behörden immer wieder zu rassistisch motivier- Aber auch in Deutschland folgt „Blackfacing“ Deutschen Poetin, die bis heute als bedeuten- und Initiativen: Nur wenn eine starke Partizipa- ten Menschenrechtsverletzungen kommt, son- einer rassistischen Tradition. Als Beispiel gel- de Impulsgeberin der Schwarzen Bewegung tion der Schwarzen Gemeinschaft an den politi- dern auch, weil Schwarze Menschen, die flüch- ten Stilmittel der frühneuzeitlichen Karne- gilt. schen Entscheidungsprozessen in Deutschland ten mussten, fester Bestandteil der Schwarzen valstradition oder die Darstellung Schwarzer erreicht wird, besteht die Chance auf eine nicht- Gemeinschaft in Deutschland sind. Menschen in Defa-Filmen. Übertragen auf die Internationale Kooperationen: Parallel zu den rassistische Gesellschaft, die auf einem gleich- aktuelle Situation in Deutschland – wo laut der regionalen und nationalen Bemühungen bei berechtigten Miteinander beruht. Bis dahin Ausblick Erfahrungen Schwarzer Schauspieler_innen an- der Vernetzung Schwarzer Menschen entwickelt wird die ISD weiterhin für Fortschritte in dieser scheinend zu wenig Rollen als für sie geeignet sich inzwischen auch die Zusammenarbeit mit Richtung in Deutschland kämpfen. Bei Fragen, die für die Schwarze Community in Betracht gezogen werden, um sie in einem internationalen staatlichen Zusammenschlüs- von Relevanz sind, ist die Initiative Schwar- Ensemble zu beschäftigen – ist „Blackfacing“ ze Menschen in Deutschland inzwischen eine ein Ausdruck dieser Ausgrenzung. Im Novem- bundesweite Ansprechpartnerin für Medien, ber 2011 wurden dem Deutschen Theater in Ber- [1] „Schwarz“ und weiß bis 1934 (siehe ISD 2006: Homestory [7] Christy Schwundeck Parteien und gesellschaftliche Gruppen. Im lin die Aufführungsrechte für ein Stück wieder sind gesellschaftlich wirkungs- Deutschland. Schwarze Biografien in wurde im Mai 2011 in einem Frank- volle Kategorien. Wir verwenden Geschichte und Gegenwart, Katalog furter Büro der Arbeitsagentur von Folgenden werden einige Beiträge ihres Wider- entzogen, unter anderem, weil der Autor des „Schwarz“ (großgeschrieben) nicht, zur Ausstellung. Berlin: Bundeszen- einer Polizistin erschossen. stands gegen institutionellen und strukturellen Stückes „Blackface“ ablehnte und nicht wollte, um eine äußerliche Zuschreibung trale für politische Bildung). Rassismus dargestellt. dass sein Stück damit in Verbindung gebracht zu markieren, sondern als politische [8] Dank an die Initiative wird. Schwarze Aktivist_innen, Autor_innen, Selbstbezeichnung. Die Bezeich- [3] Oguntoye, Katharina in Gedenken an Oury Jalloh e.V., nung weiß wird klein geschrieben / Opitz, May (May Ayim) / Schultz, Senegalesische Vereinigung im Polizeigewalt und Justizsystem: Die Urteile Produzent_innen, Künstler_innen und Schau- und in kursiv gesetzt, da es hier Dagmar (Hg.) 1986: Farbe Bekennen. Lande Hessen e.V., Initiative Christy und die daraus resultierenden Kampagnen im spieler_innen wollen sich mit dieser Situa- ebenfalls um ein Konstrukt handelt, Afro-deutsche Frauen auf den Spu- Schwundeck, The VOICE Refugee Fo- Fall von N‘deye Mareame Sarr[4], Achidi John[5], tion nicht zufriedengeben. Daher haben sich die aber kein Widerstandspotential ren ihre Geschichte. Berlin: Orlanda. rum. Oury Jalloh[6] oder Christy Schwundeck[7] sind zahlreiche Gruppen und Initiativen formiert, um beinhaltet (siehe Eggers, Maureen Beispiele dafür, wie notwendig es ist, dass die eigene Produktionen auf die Beine zu stellen[9] Maisha / Kilomba, Grada / Piesche, [4] N’deye Mareame Sarr [9] Zum Beispiel: YoungStar Peggy / Arndt, Susan (Hg.) 2005: My- wurde Juli 2001 in Aschaffenburg im Theater, Theatergruppe & Agentur ISD auch weiterhin an diversen Kampagnen der und weiterhin Kritik an der deutschen Kultur- then, Masken und Subjekte. Müns- Haus ihres Ex-Mannes von einem Po- Label Noir, die Szenische Lesung Schwarzen Community mitwirkt[8]. In all diesen und Medienlandschaft auszuüben[10]. ter: Unrast Verlag, S. 13). lizisten erschossen. Homestory Deutschland, AFROTAK / Fällen sind Schwarze Menschen durch staatli- CyberNomads. che Organe zu Tode gekommen bzw. in Polizei- Selbstorganisation und Politik: 2002 wurde un- [2] In den 1920er Jahren gab [5] Der 19-jährige Achidi es nichtöffentliche Treffpunkte, die John starb im Dezember 2001 in [10] Der Braune Mob – Media gewahrsam gestorben. Zwar hat die Schwarze ter dem Motto „Selbstorganisation Schwarzer Schwarzen Menschen als wichtige Hamburg nach einem Brechmitte- Watch e.V. Community erreicht, dass die Öffentlichkeit auf Menschen in Deutschland“ eine „Community- Orte der Kommunikation und gegen- leinsatz. diese Fälle aufmerksam gemacht wurde und Tagung“ von zahlreichen Gruppen und der ISD seitigen Arbeitsvermittlung dienten. [11] Organisation für Sicher- der Fall Oury Jallohs zweimal vor Gericht kam, in Löhne-Gohfeld organisiert. Ziel war es, über 1929 gründeten afrikanische Koloni- [6] Im Dezember 2005 kam heit und Zusammenarbeit in Europa trotzdem konnte bisher nicht genug Druck aus- eine tragfähige gemeinsame Basis zu sprechen almigrant_innen die deutsche Sekti- Oury Jalloh durch einen Brand in ei- – Engl. OSCE (Organisation for Secu- on der Liga zur Verteidigung der Ne- ner Zelle des Polizeireviers in Dessau rity and Co-operation in Europe). geübt werden, um die Täter_innen zur Verant- und einen Handlungsplan zu entwerfen, um die gerrasse. Die Zeitschift „The Negro“ ums Leben. Die Umstände und deren wortung zu ziehen. Schwarze Community stärker zu vernetzen. Die wurde 1930 gegründet und erschein Klärung sind bis heute umstritten. 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 16 17
„Wer sagt, dass es einfach ist, was gerecht ist und was nicht und wir deshalb lieber das messbarere Kriterium der Effizienz Raum zu schaffen, in dem Kulturproduktion ganz natürlich und unabhängig von Herkunft, zugrunde legen sollten. Ich bin da pragmatisch: Ethnos, Geschlecht, Sexualität etc. entstehen gegen Herrschaft Wenn eine Gruppe etwas Essentielles darf – darf. Und dies geht eben nicht, in dem wir z. B. sich frei bewegen –, was einer anderen sagen: „also für uns spielt das alles gar kei- anzugehen?“ Gruppe per Gesetz oder durch andere Mecha- nismen verweigert wird, dann muss nicht groß ne Rolle“, sondern in dem wir explizit Macht- strukturen anfechten, die stillschweigend und philosophiert werden, um festzustellen, dass normierend zu Segregationen und letztlich zur es an Gerechtigkeit fehlt. Diesen Pathos lass’ Unterdrückung bestimmter Stimmen führen. Interview ich mir nicht nehmen. In unserer aktuellen Ausgabe mit dem Titel „Vi- Deniz Utlu ist freier Autor und Heraus- Kannst du deine Aktivitäten skizzieren, auch brationshintergrund“, eine Wortschöpfung des geber des Kultur- und Gesellschafts- im Rahmen von freitext? Autors Selim Özdogan, haben wir uns auf un- sere Art mit dem deutsch-türkischen Anwerbe- magazins freitext. Sabine Seyb sprach Ich bin momentan hauptsächlich im Kultur- abkommen auseinandergesetzt. Dazu gehört mit ihm über sein Engagement gegen betrieb aktiv. Dazu zählt auch das Kultur- und für uns immer auch zu schauen, was außerhalb Gesellschaftsmagazin freitext, das wir 2003 in des Rahmens liegt. Deshalb gibt es nicht nur Rassismus, den Kulturbetrieb und Hannover gegründet haben und das heute bun- einen Text zur deutsch-türkischen Literaturge- rassistische Sprachhandlungen. desweit erscheint. Ich möchte dazu erst einmal schichte, sondern auch zu Schwarzer deutscher Folgendes festhalten: Ich mache das alles nicht Literatur und zur vietnamesischen Arbeitsmig- Foto: Sven Vollbrecht aus einer politischen Intention heraus. Meine ration in der DDR und neuerer spanischer Ar- literarischen Arbeiten und mein Engagement, beitsmigration. Wenn du die Entwicklung hinsichtlich des Ras- gement gegen Rassismus ist für mich Teil eines wenn man das so nennen mag, im Kulturbe- sismus in Deutschland und Europa betrach- politischen Bewusstseins, das ich mir aktiv trieb folgen einem Selbstzweck. Es ist eher die Du hast im Rahmen deiner Redaktions- und test, was hat sie sich in den vergangenen zehn aneignen muss. Durchaus unabhängig von Wirkmächtigkeit von Bild und Klang, von Spra- Recherchearbeit für den Migrationsrat Berlin- Jahren verändert? persönlichen Erfahrungen und Empfindlich- che, die mich in diesem Raum bleiben lässt. Brandenburg (MRBB) beratend an der Entwick- keiten. Das heißt nicht, dass ich selber keine Aber dieser Raum ist kein Elfenbeinturm, den lung des „Berliner Landesaktionsplans gegen Ich denke, dass es seit zehn Jahren eine kon- negativen Erfahrungen gemacht habe. Ich will ich mir angemietet habe. Das darf und kann er Rassismus und ethnische Diskriminierung“ tinuierliche Steigerung der Ressentiments gibt. nur sagen, dass das nicht das Kriterium ist. nicht sein. Wenn ein politisches Bewusstsein mitgewirkt. Welche Bedeutung hat dieser für Auf der anderen Seite institutionalisiert sich Ich denke, es ist wichtig, einen kühlen Kopf zu vorhanden ist und sei es auch nur der Wille die Kämpfe gegen Rassismus? zivilgesellschaftlich aber auch immer mehr der bewahren und rational zu bleiben. Wenn es für dazu, also der Versuch einer permanenten, Kampf gegen Unterdrückungsmechanismen, bestimmte Gruppen einen mangelnden Zugang kritischen Selbstreflexion, dann sind die Bilder Ich sehe das als Teil der Institutionalisierung wie z. B. durch das Antidiskriminierungsgesetz. zu Ressourcen gibt, ökonomisch, sozial, kultu- und Klänge, dann ist auch die Sprache Teil des- der Antirassismusarbeit. Meiner Meinung nach Allerdings ist die zehn-Jahres-Marke natürlich rell, auf dem Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, im sen. Und damit auch politisch. Manchmal so ist es dabei von entscheidender Bedeutung, künstlich, verschiebt man sie, entsteht vermut- Bildungs- und Gesundheitssystem, dann ergibt subtil, dass nur wenige das merken, manchmal dass maßgebliche Empfehlungen von NGOs lich eher ein zyklisches Bild: Ich vermag nicht sich daraus die Forderung nach Gerechtigkeit. wütend, laut und offensichtlich. erarbeitet wurden – vornehmlich von „Mig- zu beurteilen, ob der Rassismus heute so stark Und wenn es so eine Forderung gibt, dann er- rant_innen-Selbstorganisationen“, wie sie et- ist wie Anfang der 1990er Jahre. Dafür bin ich zwingt das eine antirassistische Haltung. Das Gerade ein Projekt wie freitext, das von Aus- was kompliziert genannt werden. Auch wenn vielleicht auch zu jung. Wort „Gerechtigkeit“ scheint heute mit Pathos gabe zu Ausgabe neu konzipiert, geplant und ein Großteil der Empfehlungen erst einmal beladen zu sein. Ich habe das Gefühl, die Leute recherchiert wird, bei dem also erst einmal nicht angenommen wurde – sie wurden geäu- Seit wann bist du gegen Rassismus aktiv? Gab halten sich die Ohren zu, wenn das Wort fällt, rational ein Rahmen zu setzen ist, bevor die ßert und stehen jetzt im Raum. Das Ganze darf es ein Ereignis, das für dich ausschlaggebend sind peinlich berührt oder schmunzeln altklug. Autor_innen ans Werk gehen, muss den An- hierbei natürlich nicht stehen bleiben. Der Pro- war? Auch in der Wissenschaft ist der Begriff zum spruch haben, das Geschehen in der Welt, in zess, in dem die Empfehlungen erarbeitet wur- Teil in Verruf geraten. Dies gilt vor allem in den diesem Fall im deutschen Kulturbetrieb und den, war, so wie ich das mitbekommen habe, Nein, ein solches Ereignis gab es für mich Wirtschaftswissenschaften. Dort herrscht die der deutschen Gesellschaft, immer aus ei- bereits schwierig und ermüdend, aber dennoch nicht. Ich sehe das grundsätzlicher. Das Enga- Meinung vor, dass wir nicht wissen können, ner kritischen Distanz zu reflektieren. Konkret hört die Aufgabe der NGOs hier längst nicht auf. heißt das, dass wir mit freitext versuchen einen Im Gegenteil. Sie fängt hier an. Jetzt geht es da- 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 18 19
rum, die Aktualität der Empfehlungen perma- nent zu überprüfen und weiterhin ihre institu- sonderlich problematisch, weist im Vergleich zu anderen Begriffen wie „Ausländer“ sogar nach „Rassismus tionelle Einbindung zu verfolgen und mögliche, vorne. Es ist vielmehr ein soziales Konzept mit auch paternalistische, Vereinnahmungen zu dem der Begriff gefüllt wird, das ihn so proble- modernisiert sich“ kritisieren und zu verhindern. matisch macht. Also die Differenz dessen, was das Wort semantisch verspricht und was es im Rassismus schlägt sich auch im Sprachge- Sprachgebrauch meint. Das statistische Bun- Ein Gespräch mit Vassilis Tsianos brauch nieder. Siehst du Veränderungsprozes- desamt hat dabei kaum eine Definitionshoheit. se in den letzten Jahren? Welche Kritik hast du Begriffe definieren sich im Alltag, nicht in Fuß- am Begriff Migrationshintergrund? noten. Semantisch schließt „Migrationshinter- Vassilis Tsianos ist Mitbegründer von Ka- grund“ fast alle Menschen ein, weil es in jeder nak Attak und derzeit wissenschaftlicher Gesellschaftliche Strukturen spiegeln sich auch Familie eine Migrationsgeschichte gibt, wenn Mitarbeiter an der Universität Hamburg. in der Sprache und wirken über die Sprache wie- lange genug danach geforscht wird. Im tägli- Sebastian Friedrich von kritisch-lesen.de der zurück auf die Gesellschaft. Und auch hier chen Sprachgebrauch meint der Begriff aber sprach mit ihm über aktuelle Formen des tragen, wie ich finde, Migrant_innen-Selbstorga- eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen, nisationen, Frauenorganisationen und Queer- meist Türk_innen und Araber_innen. Dadurch Rassismus. Organisationen eine große Verantwortung, ist der Begriff im besten Fall unpräzise und im denn wenn Multiplikator_innen ihre Sprache schlimmsten Fall perfide. Wir dürfen da nicht nicht kritisch reflektieren, tragen sie unbewusst faul sein und müssen solche Worte, die als zur Verbreitung von ungewünschten Struktu- Begriffe verkommen sind, aus unserem Sprach- ren bei – in der Sprache und darüber hinaus. gebrauch eliminieren, um Klarheit zu schaffen und die Dinge beim Namen nennen zu können. Bei einer kritischen Auseinandersetzung mit der Manchmal muss ein ganzer Satz her oder viel- Sprache darf aber der gesellschaftliche Kontext leicht sogar ein Absatz, um die gemeinte Grup- Im Manifest des antinationalistischen und rationspolitik der Umverteilung war damals nicht vergessen werden. Ich kritisiere den Be- pe zu beschreiben. Das mag kompliziert klin- antirassistischen Netzwerks Kanak Attak vom in die Krise geraten und transformierte das griff „Migrationshintergrund“, nicht das Wort. gen, aber wer sagt, dass es einfach ist, gegen November 1998 stellt ihr klar, dass ihr euch Inklusionsversprechen in einen identitätspo- Das Wort selbst ist abgesehen davon, dass es Herrschaft anzugehen? gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Er- litischen Stellungskrieg. Dieser Stellungskrieg nicht besonders ästhetisch ist, zunächst nicht niedrigung auf allen Ebenen richtet. Ihr meint war weder imstande, mit dem Konzept „Inte- damit das Feld von den ökonomischen Herr- gration“ als einseitige Anpassungsforderung schaftsverhältnissen bis zu Alltagsrassismus zu brechen, noch gelang es, die entstehende und ihr wendet euch dabei explizit gegen die migrantische Mittelschicht langfristig mit dem Idee des Multikulturalismus. Auch schon vor grünalternativen Milieu politisch zu binden. der Regierungszeit von Rot-Grün unter Kanzler Der Mültikültüralizm bekam stattdessen den Schröder war die Rede vom Scheitern von Mul- Ruf eines staatlich subventionierten Sandkas- ti-Kulti. Seit dem ist einiges passiert: Während tens für Kuschelmigrant_innen, Versteher_in- und nach Ereignissen wie dem 11. September, nen und Nebeneinanderfetischist_innen. Die der Ermordung Theo Van Goghs, der Diskussi- Tatsache, dass der Multikulturalismusdiskurs on um die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln und so stark von Kanak-Renegat_innen à la Kelek nicht zuletzt während der „Sarrazindebatte“ und anderen neolaizistischen Kopftuchjäger_ wurde immer wieder das neuerliche Scheitern innen à la Giordano und Sarrazin negativ an- von Multi-Kulti ausgerufen. Warum ist das für geeignet wurde, bedeutet für mich nicht, dass Politiker_innen und Journalist_innen immer Multi-Kulti in bester Antira-Manier reflexartig noch ein Thema? Und bist du immer noch kein verteidigt werden soll. Denn der okzidentalis- Freund des Mültikültüralizm? tische Habitus einer allseits postulierten Tole- ranz des „bereichernden“ Nebeneinanders war Ich bin immer noch kein Freund des Mülti- auch in den besten Zeiten des Mültikültüralizm kültüralizm! Die sozialdemokratische Integ- problematisch. Mültikültüralizm stand für eine 10 Jahre ReachOut 10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus 20 21
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