RÜCKBLICKE PRAXEN PERSPEKTIVEN 10 JAHRE REACHOUT - REACHOUT - OPFERBERATUNG UND BILDUNG GEGEN RECHTSEXTREMISMUS, RASSISMUS UND ANTISEMITISMUS

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Rückblicke Praxen Perspektiven
10 Jahre ReachOut

ReachOut - Opferberatung und Bildung
gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
Antisemitismus
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Herausgegeben von:                                                                         4          Vorwort | Sebastian Friedrich und Sabine Seyb

ReachOut - Opferberatung und Bildung
                                                                                           Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus
gegen Rechtsextremismus, Rassismus
und Antisemitismus                                                                         6          „Rassismus ist nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen,
Oranienstr. 159                                                                                       er ist dort entstanden!“ | Interview mit Biplab Basu
10969 Berlin
                                                                                           10         „Auf in die nächsten 10 Jahre!“ | Interview mit Riza Baran
Tel.: 030-69568339
Fax: 030-69568346                                                                          13	Schwarzer Widerstand in Deutschland | Von Sharon Dodua Otoo und Tahir Della
info@reachoutberlin.de                                                                     18         „Wer sagt, dass es einfach ist, gegen Herrschaft anzugehen?“ |
www.reachoutberlin.de
                                                                                                      Interview mit Deniz Utlu

Redaktion:                                                                                 21         „Rassismus modernisiert sich“ | Ein Gespräch mit Vassilis Tsianos
Sebastian Friedrich und Sabine Seyb                                                        25         Ahmet in Wunderland | Von Sabine Schiffer
(V.i.S.d.P.)
                                                                                           ReachOut in der Praxis
Gestaltung: Michael Mallé
Druck: Keule Druck
Titelfoto: Jörg Möller                                    Dank                             Beratung
                                                                                           27         „Nach einem Angriff ist nichts wie zuvor“ |
aus: Berliner Tatorte - Dokumente
                                                                                                      Interview mit Maria João Portugal und Helga Seyb
rechter, rassistischer und antisemitischer
Gewalt                                       Diese Broschüre wäre ohne die Unterstüt-      32         Beratung als Politik gegen rassistische (Ohn-)Machtsstrukturen |
Illustrationen: Michael Mallé                zung zahlreicher Menschen und Organisa-                  Von Angelina Weinbender
Portraitfotos: Die Rechte liegen, wenn       tionen nicht möglich gewesen. Wir danken:
                                                                                           Monitoring
nicht anders gekennzeichnet bei den
abgebildeten Personen.                       Den Autor_innen der Beiträge und den In-      36         „Für Rassismus sensibilisieren“ | Interview mit Maria João Portugal und Ulrike Müller
                                             terviewten.                                   40         Wozu Monitoring? | Von Liz Fekete
Berlin, im Dezember 2011                     Jana Proschek und Kati Becker für das Füh-
                                             ren von Interviews.                           Bildung
Die Broschüre wurde gefördert durch das      Sebastian Friedrich für die Redaktion und     45         „Wir müssen die Strukturen verändern“ | Interview mit Sanchita Basu
Berliner Landesprogramm „Maßnahmen           das Führen von Interviews.
gegen Rechtsextremismus, Rassismus           Andrea Strübe für die Endkorrekturen.         50         Social Justice und Diversity Training |
und Antisemitismus“.                         Jörg Möller für das Titelfoto.                           Von Leah Carola Czollek, Gudrun Perko und Heike Weinbach
                                             Michael Mallé für die grafische Gestaltung.   56         Andi auf dem Vormarsch? | Vom Arbeitskreis Extremismusbegriff

                                             Dem Berliner Landesprogramm danken wir
                                                                                           Mehr Fragen und Antworten
                                             für die Finanzierung.
                                                                                           60         „Die Verhältnisse kritisieren“ | Ein Gespräch mit Sabine Seyb
                                             Das Team von ReachOut

  2                                                                                                                                                                                       3
Vorwort                                                              Deutschland der letzten Jahrzehnte – und den
                                                                                                       Widerstand dagegen. Den Anfang macht der
                                                                                                                                                            und warum sie an Grenzen stoßen und welche
                                                                                                                                                            politischen Forderungen und Notwendigkeiten
                                                                                                       ReachOut-Mitarbeiter Biplab Basu. Wie sich an-       sich daraus ergeben. Angelina Weinbender
                                                                                                       tirassistische Praxis seiner Meinung nach ent-       vom Migrationsrat Berlin-Brandenburg (MRBB)
                                                                                                       wickelte und wie er rassistische Angriffe und        stellt danach klar, warum die Unterstützung der
                                                                                                       Debatten, seine Aktivitäten und seine Arbeit         Betroffenen zwangsläufig eine politische sein
                                            Sebastian Friedrich und Sabine Seyb                        seit Ende der 1980er Jahre einschätzt, erläu-        muss. Zur Bedeutung und Notwendigkeit ihrer
                                                                                                       tert er in dem Interview. Im Anschluss geht der      täglichen Recherchen und der Dokumentation
                                                                                                       Grünen-Politiker Riza Baran in der Beschrei-         rechter, rassistischer und antisemitischer An-
                                                                                                       bung seiner politischen Kämpfe zurück bis zum        griffe in Berlin werden die ReachOut-Mitarbei-
                                                                                                       Beginn der 1960er Jahre. Baran spricht von der       terinnen Maria João Portugal und Ulrike Müller
                                                                                                       Notwendigkeit, Politik im Parlament aktiv zu         befragt. Hierzu liefert Liz Fekete vom Institute
                                                                                                       betreiben, und dabei die außerparlamenta-            of Race Relations (IRR) in London eine Außen-
                                                                                                       rischen Aktivitäten nicht zu vernachlässigen.        perspektive. Sie plädiert in ihrem Artikel für
                                                                                                       Nach den beiden Interviews beschreiben Sha-          ein unabhängiges Monitoring und nimmt dabei
                                                                                                       ron Dodua Otoo und Tahir Della aus der Pers-         neben ReachOut auch Projekte in anderen eu-
                                                                                                       pektive ihrer politischen Arbeit in der Initiative   ropäischen Ländern in den Blick.
                                                                                                       Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) die
Zehn Jahre ReachOut! Wer hätte gedacht, dass       Geburtstages schenken wir uns die Zeit, um in       Geschichte und die Themen Schwarzer Kämpfe           Zu den Ansätzen und Schwerpunkten ihrer Bil-
es unser Projekt im Jahr 2011 immer noch ge-       dieser Broschüre zurück zu schauen und aus          in Deutschland.                                      dungsarbeit bei ReachOut wird Sanchita Basu
ben würde, als wir mit unserer Arbeit began-       unseren Arbeitsbereichen zu berichten. Es wer-                                                           interviewt. Ihr Trainingskonzept Social Justice
nen? Wir selbst jedenfalls nicht. Wir haben        den aber auch Andere zurück blicken und ihre        Danach beantwortet Deniz Utlu, Mitherausge-          und Diversity und die Notwendigkeit, politische
stets gekämpft und gestritten für die Weiterfüh-   Kämpfe, Analysen und Erfahrungen vorstellen.        ber des Kultur- und Gesellschaftsmagazins frei-      Theorien und praktische Methoden in der Bil-
rung von ReachOut und damit dafür, dass die        Gleichzeitig nutzen wir die Gelegenheit, nach       text, Fragen zu seinem Engagement gegen Ras-         dungsarbeit zu verbinden, stellen Leah Carola
Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer   Perspektiven und Forderungen zu fragen.             sismus, seinen Aktivitäten als freier Autor, der     Czollek und ihre Kolleginnen Gudrun Perko und
Gewalt langfristig die Unterstützung und den                                                           Notwendigkeit, Kultur und Politik zusammen zu        Heike Weinbach vor. Der Arbeitskreis Extremis-
Respekt erfahren, die ihnen zustehen. Diese        In dieser Broschüre geht es um Rückblicke,          denken und rassistische Sprachhandlungen zu          musbegriff aus Marburg setzt sich kritisch mit
Auseinandersetzungen führten und führen wir        Praxen und Perspektiven. Die drei Begriffe sind     erkennen und auszuhebeln. Vassilis Tsianos           den vom Verfassungsschutz NRW konzipierten
unabhängig von den jeweiligen Regierungskon-       bewusst in den Plural gesetzt. Es geht darum,       von der Universität Hamburg stellt anschlie-         Andi-Comics auseinander.
stellationen, unabhängig auch von konjunktu-       ganz verschiedene Menschen mit ihren Positi-        ßend in einem Gespräch seine Analyse aktuel-
rellen Betroffenheiten, die sich aus besonders     onen, Analysen und Praxen zu Wort kommen            ler Formen von Rassismus vor. Sabine Schiffer        Anstelle eines Fazits oder Ausblicks stellt sich
brutalen Angriffen ergaben, unabhängig von         zu lassen. Nicht alle Positionen, die in dieser     vom Institut für Medienverantwortung (IMV)           die ReachOut-Mitarbeiterin Sabine Seyb den
Ignoranz, die sich in ruhigeren Zeiten breit       Broschüre zum Ausdruck gebracht werden, tei-        rundet das erste Kapitel ab und deckt anläss-        Fragen zu den Fallstricken des Projektalltages,
macht, und unabhängig von den jeweils aktu-        len wir. Nicht alle Positionen, die hier keinen     lich eines anderen Jubiläums in satirischer Wei-     den Kämpfen um die Weiterfinanzierung von
ellen Förderprogrammen und den Versuchen,          Platz gefunden haben, kritisieren wir. Sie sind     se die wahren Interessen auf, die hinter dem         ReachOut, den Versäumnissen von Politik und
Projekte wie ReachOut politisch unter Druck zu     Momentaufnahmen, Fragmente zum Stand der            Anwerbeabkommen der Türkei mit Deutschland           Medien und dazu, welche politischen Forderun-
setzen und ihre Unabhängigkeit anzugreifen.        Dinge, wie er sich (uns) zeigt, diskutiert und      stehen.                                              gen und Notwendigkeiten sich daraus ergeben.
Wir haben gestritten, kritisiert und skandali-     gelebt wird. – Nicht glatt, nicht frei von Wider-
siert, aber auch empfohlen und erklärt, um die     sprüchen, nicht absolut. Allerdings fokussieren     Im zweiten Kapitel der Broschüre offenba-            Diese Broschüre möchte einen kleinen Aus-
Sichtweisen und die Forderungen der Betroffe-      alle in dieser Broschüre versammelten Beiträ-       ren wir Einblicke in die Arbeitsfelder von           schnitt des vielfältigen Widerstands gegen
nen zu unterstützen und stärker in die Öffent-     ge Rassismus. Damit spiegeln sich auch der          ReachOut. Zu jedem der drei Kernbereiche Be-         Unterdrückung offenbaren und zur Diskussion
lichkeit zu bringen.                               Projektalltag in der Beratungs-, Bildungs- und      ratung, Monitoring und Bildung wird jeweils ein      stellen. Einige Beiträge mögen neue Perspekti-
                                                   Öffentlichkeitsarbeit und unsere eigenen politi-    Interview mit ReachOut-Mitarbeiterinnen mit          ven ermöglichen, andere vielleicht auf den ers-
Die Reflexion der eigenen Arbeit, der politi-      schen Lebensläufe und Aktivitäten wider.            Ansichten von außen ergänzt. Helga Seyb und          ten Blick undurchsichtig wirken – doch alle eint
schen und gesellschaftlichen Entwicklungen                                                             Maria João Portugal beschreiben zunächst, wo-        der Wunsch nach Veränderung. Es bleibt noch
kommt im Alltag häufig zu kurz, weil keine Zeit    Im ersten Kapitel der Broschüre finden sich         rum es bei der Beratung von Opfern rechter, ras-     viel zu tun!
dafür bleibt. Anlässlich unseres zehnjährigen      grundsätzliche Blicke auf Rassismus in              sistischer und antisemitischer Gewalt geht, wo

       10 Jahre ReachOut
  4                                                                                                                                                                                                     5
„Rassismus ist nicht in der                                                                    Wir hatten nun mehr Verbündete und die Men-
                                                                                                     schen aus der ehemaligen DDR verfügten über
                                                                                                                                                         und Aktionen organisiert. Außerdem waren die
                                                                                                                                                         Medien und die rassistische Berichterstattung
                                                                                                     ganz andere Perspektiven und Erfahrungen, die       ein Thema, mit dem wir uns beschäftigten. Die
        Mitte der Gesellschaft                                                                       auch in die politische Arbeit einflossen.           rassistisch motivierten Angriffe und die prakti-
                                                                                                                                                         sche Unterstützung der Betroffenen waren stets
             angekommen,                                                                             Zum anderen nahmen jedoch auch die Angrif-
                                                                                                     fe auf Migrant_innen und Flüchtlinge praktisch
                                                                                                                                                         ein Thema unserer Arbeit. Insgesamt war es un-
                                                                                                                                                         ser Ziel, Rassismus öffentlich zu thematisieren
       er ist dort entstanden!“                                                                      über Nacht massiv zu. Zu diesem Zeitpunkt
                                                                                                     wuchs zumindest das Bewusstsein für rassis-
                                                                                                                                                         und Handlungsstrategien zu finden.

                                                                                                     tische Zustände, auch wenn der Begriff Frem-        Wie würdest du die weiteren Entwicklungen
                                                                                                     den- oder Ausländerfeindlichkeit nach wie vor       seit dem Jahr 2000 beschreiben?
                                         Interview                                                   häufiger benutzt wurde.
                                                                                                                                                         Auch zu diesem Zeitpunkt kam es immer wieder
Biplab Basu ist Mitarbeiter von ReachOut                                                             In welchen Zusammenhängen hast du dich              zu teilweise pogromartigen Angriffen. Dies führ-
und aktiv bei der Kampagne für Opfer ras-                                                            zu Beginn der 1990er Jahre gegen Rassismus          te zu einer Empörung in der Gesellschaft und
                                                                                                     engagiert?                                          brachte Politiker_innen dazu einzugreifen. Ein
sistischer Polizeigewalt (KOP). Gemein-
                                                                                                                                                         staatliches Förderprogramm gegen Rechtsext-
sam mit Jana Proschek wagte er einen                                                                 Bereits Ende der 1980er Jahre, noch vor dem         remismus wurde entwickelt und entsprechende
Rückblick über Kämpfe und Bündnisse                                                                  Mauerfall, gründeten einige Leute in Berlin das     Projekte ab Mitte 2001 gefördert. So konzipier-
gegen Rassismus.                                                                                     Antirassistische Telefon. Die Idee war, dass        ten Kolleg_innen, mit denen ich auch schon
                                                                                                     Menschen, die von Rassismus betroffen waren,        vorher gegen Rassismus aktiv war, Reach-
                                                                                                     angegriffen oder diskriminiert wurden, dort an-     Out. Das damalige Förderprogramm ermöglich-
                                                       Foto: Nicole Walter                           rufen konnten, um Unterstützung und Hilfe zu        te es zum ersten Mal, die Perspektive der Opfer
                                                                                                     bekommen. Andererseits ging es darum, die           in den Vordergrund zu stellen. Bis dahin ging
                                                                                                     Angriffe und Vorfälle dokumentieren und ver-        es von Seiten der Regierung vielmehr darum,
Wann hast du mit antirassistischer Arbeit be-     bung und Politik der Nazizeit. Es war auch für     öffentlichen zu können. Dieses Antirassistische     Projekte und Einrichtungen zu finanzieren, die
gonnen?                                           mich schwierig, meinen Freund_innen und den        Telefon wurde dann in Antirassistische Initiati-    sich mit den Täter_innen beschäftigt haben,
                                                  Leuten, mit denen ich politisch aktiv war, klar-   ve umbenannt. Die Aktivist_innen setzten sich       um diese zu resozialisieren und zu integrieren.
Ich habe schon kurz nachdem ich Ende 1979 in      zumachen, dass Rassismus nicht in der Nazi-        intensiv mit Rassismus auf ganz unterschiedli-      Wir hatten es vor der Gründung von ReachOut
Deutschland angekommen bin nach Möglich-          zeit entstanden ist und nicht mit dem Ende des     chen Ebenen und mit den Menschen, die be-           immer schwer, die Perspektive der Opfer in den
keiten gesucht, mich politisch zu engagieren.     Zweiten Weltkrieges an Bedeutung verlor, son-      troffen sind, auseinander. Sie beschäftigten        Vordergrund zu stellen. Mit dem Projekt Reach-
Schon zu diesem Zeitpunkt habe ich mich mit       dern schon viel länger existiert und dass unse-    sich vor allem mit der Frage: Was kann man tun      Out erhielten wir also quasi die staatliche Legi-
Rassismus auseinander gesetzt und wollte          re heutige Gesellschaft immer noch rassistisch     und wie lässt sich der institutionelle Rassismus    timation dazu.
auch in diesem Bereich aktiv sein. So bin ich     ist. Das wurde vor allem in der Migrations- und    bekämpfen?
dann zur Flüchtlingsunterstützungsarbeit ge-      Flüchtlingspolitik sichtbar. Es gab jedoch da-                                                         Es geht uns zum einen um die Unterstützung
kommen und habe Rassismus als eines meiner        mals wenige Gruppen oder Projekte, die zum         Ich bin dann Anfang der 1990er Jahre, eher aus      der Opfer aber natürlich auch um Rassismus als
Schwerpunktthemen gesehen.                        Thema Antirassismus gearbeitet haben.              Zufall, durch Bekannte zur Antirassistischen Ini-   gesellschaftliches Phänomen. Rassismus ist
                                                                                                     tiative gekommen. Seitdem habe ich intensiv         kein Problem der Neonazis, sondern in breiten
Was waren damals deine Schwerpunktthemen          Wie ist es dann weiter gegangen? Ab wann wur-      antirassistische Politik betrieben. Dies bedeu-     Teilen der Gesellschaft zu finden. Für uns ist es
in Bezug auf Rassismus?                           de der Begriff Rassismus gesellschaftsfähig?       tete zum einen eine akademisch-intellektuelle       deshalb in unserer Arbeit wichtig, auch gegen
                                                                                                     Auseinandersetzung mit dem Thema und zum            diese Strukturen vorzugehen.
Alltagsrassismus, zu dem heute in Workshops,      Schon in den 1980er Jahren gab es Menschen,        anderen praktische politische Arbeit. Dazu
Veranstaltungen, selbst an Schulen, diskutiert    die den Begriff Rassismus benutzten und zu         gehörte das Thematisieren von rassistischen         Welche konkreten Aufgaben hast du bei Reach-
wird, war damals zwar auch ein Thema, jedoch      diesem Thema arbeiteten. Doch zu einem all-        Strukturen in der Gesellschaft. Wir haben bei-      Out und was ist dir dabei besonders wichtig?
hat man den Begriff des Rassismus nicht be-       gemeinen gesellschaftlichen Thema wurde            spielsweise zur Kopftuchdebatte an Schulen
nutzt. In Deutschland verstand man zu dieser      Rassismus erst in den 1990er Jahren, nach          und im öffentlichen Dienst oder zu rassistischen    Ich bin hauptsächlich in der Beratung tätig.
Zeit unter Rassismus die rassistische Gesetzge-   dem Mauerfall. Da änderte sich die Situation.      Übergriffen von Seiten der Polizei gearbeitet       Dabei ist es mir wichtig, dass ich Menschen,

       10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus
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die angegriffen, beleidigt und bedroht werden,     sellschaft angekommen. Rassismus war nie ein       Symbolen usw. Das gab es früher nicht. Naja,       Denkst du, dass die Arbeit von ReachOut ir-
die Chance biete, ihre Geschichte zu erzählen.     Randphänomen. Rassistische Theorien wurden         und außerdem gibt es durch die europäische         gendwann überflüssig sein wird?
Denn diese Menschen werden oft auch von            von den Intellektuellen und Akademiker_innen       Sicherheitspolitik heute viel weniger Flücht-
staatlicher Seite diskriminiert und kriminali-     aus der oberen Mittelschicht entwickelt. Um        linge in Deutschland. Flüchtlingsunterstützung     Nein, ich glaube nicht, dass das zu meinen Leb-
siert oder es wird ihnen nicht geglaubt. Mir ist   ihre Ideen zu verbreiten, brauchten sie natür-     ist heute eher Aufgabe der Flüchtlingsorgani-      zeiten passieren wird. Denn die weiße Vorherr-
es deswegen ein besonderes Anliegen, dass          lich die Unterstützung der breiten Bevölkerung.    sationen, so dass das Engagement zu diesem         schaft existiert global schon sehr lange und das
wir alle Menschen, die zu uns kommen, ernst        Rassismus ist aber in der Mitte der Gesellschaft   Thema in der linken Szene abgenommen hat.          wird sich so schnell nicht verändern. Deshalb
nehmen und dass sie sich auch ernst genom-         entstanden und noch immer Teil davon.                                                                 glaube ich nicht, dass meine Arbeit überflüssig
men fühlen.                                                                                           Wie siehst du die Entwicklung der Vernetzung?      wird.
                                                   Antimuslimischer Rassismus ist zurzeit ein
Würdest du sagen, Rassismus hat sich im Laufe      großes Thema. Du hast vorhin schon von den         Ich glaube, dass es heute viel mehr Netzwerke      Wie siehst du die Perspektiven für deine Arbeit
der letzten Jahre verändert?                       Kopftuchdebatten in den 1990er Jahren ge-          gibt. In Berlin arbeiten die verschiedenen Grup-   in den kommenden Jahren?
                                                   sprochen. Hat sich die Situation verändert?        pen und Organisationen eng zusammen und
Ich glaube nicht, dass Rassismus sich verän-                                                          unterstützen sich. Außerdem ist es gelungen,       Ich denke, dass sich immer mehr Menschen
dert hat. Ich denke nur, dass sich das Bewusst-    Ich muss sagen, dass ich und auch Andere, mit      verschiedene Themen bzw. Arbeitsfelder wie         mit Rassismus auseinander setzen und die
sein der Menschen und der Gesellschaft über        denen ich zu diesem Thema gearbeitet habe,         Homophobie oder Diskriminierung gegenüber          verschiedenen Arten gesellschaftlicher Diskri-
Rassismus verändert hat. Im Gegensatz zu           lange diese latente antimuslimische Grundhal-      behinderten Menschen zusammen zu führen.           minierung analysieren und dies auch in einen
den 1980er und 1990er Jahren wird Rassismus        tung nicht wahrgenommen bzw. thematisiert          Das sehe ich als Erfolg.                           gesellschaftlichen Kontext bringen. Und das
heute benannt und offen thematisiert und es        haben. Ich würde deshalb nicht sagen, dass es                                                         sind sehr positive Aussichten.
sind im Laufe der Zeit viele Projekte und Initi-   ein neues Phänomen ist, sondern dass es heu-       Wir von ReachOut haben zum Beispiel in ver-
ativen entstanden, die antirassistische Arbeit     te, zwei Generationen nachdem die Arbeitsmig-      schiedenen Zusammenhängen und Foren den            Und welche Forderungen hast du bezüglich
leisten. Was mich ärgert, ist jedoch die zuneh-    rant_innen nach Deutschland gekommen sind,         antimuslimischen Rassismus thematisiert, um        Rassismus an die Politik und im Hinblick auf
mende Tendenz, vor allem durch Politiker_in-       vor allem von ihren Kindern, die betroffen sind,   auf die rassistischen Tendenzen in der Ausein-     deine Arbeit?
nen, Rassismus als ein Problem der Neonazis        thematisiert wird.                                 andersetzung um das Kopftuch aufmerksam zu
zu verharmlosen. Es sind jedoch nicht nur die                                                         machen.                                            Meine Forderung ist zum einen, dass rassis-
Neonazis Rassist_innen, sondern es ist die ge-     Wie haben sich die linken Strukturen und Netz-                                                        tische Diskriminierungen gesetzlich verboten
samtgesellschaftliche Struktur, die wir in den     werke, die gegen Rassismus aktiv sind, insge-      Kommt es manchmal zu Auseinandersetzun-            werden, und zum anderen, dass Rassismus
Blick nehmen müssen.                               samt seit den 1980er Jahren entwickelt? Wel-       gen zwischen staatlich finanzierten Projekten      zum Thema in den Lehrplänen und der Lehrer_
                                                   che Tendenzen siehst du?                           und solchen, die ausschließlich „ehrenamt-         innenausbildung gemacht wird. Außerdem soll-
Würdest du sagen, dass Rassismus heute ge-                                                            lich“ und unbezahlt aktiv sind?                    te ein spezielles Curriculum für Staatsbediens-
sellschaftsfähiger geworden ist?                   Früher ging es vor allem um die Situation von                                                         tete wie zum Beispiel Polizist_innen erarbeitet
                                                   Migrant_innen und Flüchtlingen. Heute be-          Diese Frage wurde mir schon oft gestellt. Ich      werden. Vor allem jedoch muss rassistische
Nein, überhaupt nicht. Es ist komplett falsch zu   schäftigen sich linke Gruppen und Organisa-        persönlich habe noch nie ein Problem darin         Diskriminierung aufgedeckt und konsequent
sagen, heute sei Rassismus in der Mitte der Ge-    tionen viel mit der Neonaziszene und deren         gesehen und auch noch nie Ablehnung von            bestraft werden, unabhängig davon, wer die
                                                                                                      Anderen deshalb empfunden. Außerdem ist            Täter_innen sind.
                                                                                                      es ja auch so, dass die meisten Menschen,
                                                                                                      die heute in staatlich finanzierten Projekten      Außerdem muss auch das Rechtssystem be-
                                                                                                      arbeiten, früher auch selbstorganisiert und un-    greifen, in wie weit es in diesen rassistischen
                                                                                                      bezahlt gearbeitet haben bzw. anders ihr Geld      Kontext eingebunden ist. Wir brauchen Mög-
                                                                                                      verdienen mussten. In Deutschland gibt es im       lichkeiten, gegen institutionellen Rassismus
                                                                                                      Gegensatz zu den USA zum Beispiel viele staat-     insgesamt vorgehen zu können. Das sind mei-
                                                                                                      lich finanzierte Projekte. Dort übernehmen fast    ne Forderungen an die Politik. Die Beratung und
                                                                                                      ausschließlich Stiftungen die Unterstützung        Unterstützung der Opfer von Rassismus und die
                                                                                                      von Projekten und Kampagnen. Ich sehe das          konkrete Arbeit ist nicht Aufgabe der Politik,
                                                                                                      auch als Chance, mehr Zeit in politisches Enga-    das müssen wir schon selbst machen!
                                                                                                      gement zu investieren.

       10 Jahre ReachOut                                                                                                          10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus
  8                                                                                                                                                                                                  9
„Auf in die nächsten                                                                 und Kurd_innen in meinem Herkunftsland ab-
                                                                                                    gesehen, engagiere ich mich gegen Rassismus
                                                                                                                                                       desrepublik als offiziellem Einwanderungsland
                                                                                                                                                       durch die Bundesregierung 1998.
                                                                                                    seit ich 1963 nach Deutschland gekommen bin.
                     10 Jahre!“                                                                     Denn sobald man als Migrant_in hier ankommt,       Gab es ein besonderes Ereignis, das dich be-
                                                                                                    wird man auch mit Rassismus konfrontiert und       sonders geprägt hat in deinem politischen En-
                                                                                                    muss sich damit auseinandersetzen. Wie schon       gagement gegen Rassismus?
                                        Interview                                                   eben erwähnt, führte die erste kleinere Rezes-
                                                                                                    sion 1966/67 schon dazu, dass aufgrund der         Als erstes muss ich da die Entwicklung der Dis-
                                                                                                    gestiegenen Erwerbslosigkeit viele Arbeitsmi-      kussionen erwähnen, die ich fast tagtäglich in
                                           Riza Baran ist Mitglied von Bündnis 90/
                                                                                                    grant_innen von damals wieder ausgewiesen          den 1970er Jahren mit meinen Kolleg_innen
                                           Die Grünen und kämpft seit Jahrzehn-                     wurden. Überhaupt basierte das deutsch-türki-      in der Gewerkschaft hatte (IG Chemie). Es war
                                           ten in Berlin und darüber hinaus gegen                   sche Abkommen zuerst auf dem rassistischen         ein harter Kampf, die Köpfe dafür zu öffnen,
                                           Rassismus und für Demokratisierung.                      Hintergrund, dass man keine Einwanderung           dass die BRD faktisch ein Einwanderungsland
                                           Sabine Seyb sprach mit ihm über seine                    wollte und deshalb die Arbeitsmigrant_innen        geworden war! Und damit zusammenhängend
                                           reichhaltigen Erfahrungen und mögliche                   nur eine begrenzte Zeit nach Deutschland kom-      möchte ich zweitens erwähnen, dass es für
                                                                                                    men sollten, um dann wieder durch andere Ar-       mich schon sehr früh klar war, dass die Ar-
                                           Perspektiven.                                            beitsmigrant_innen ersetzt zu werden.              beitsmigrant_innen hier bleiben würden, dass
                                                                                                                                                       damit die Frage der Integration auf die Tages-
                                                                                                    Im Laufe der Zeit, auch infolge des neuen an-      ordnung gehörte, während gleichzeitig Assi-
                                                                                                    tiautoritären Zeitgeistes seit 1968 und durch      milationsforderungen eine Sackgasse waren.
Wenn du die Entwicklungen hinsichtlich des       Auch in der DDR waren diese autoritären Per-       einen kräftigen Schub durch die Streikwelle        Aber diese Analysen und Schlussfolgerungen
Rassismus gegenwärtig in Deutschland be-         sönlichkeitsstrukturen nicht nachhaltig besei-     Anfang der 1970er Jahre, gründeten sich im-        mussten immer wieder neu in die Diskussionen
trachtest, was hat sich seit Anfang der 1990er   tigt worden, da die offen rassistische Stellung-   mer mehr Initiativen und Selbsthilfegruppen,       eingebracht werden und sie sind auch heutzu-
Jahre verändert?                                 nahme einfach nur verboten wurde und sich so       um die Lebensumstände von Migrant_innen zu         tage immer noch ein Thema. Konkret prägende
                                                 im privaten Bereich festsetzen und ausbreiten      verbessern. Viele hatten ihre Familien nachge-     Ereignisse waren natürlich die rassistischen
Bis zum Mauerfall 1989 dominierte sowohl in      konnte. Und außerdem wurde die DDR durch           holt, es gab die ersten „Ausländerbeiräte“ und     Pogrome Anfang der 1990er Jahre und die Anti-
der BRD als auch in der DDR die Auffassung,      autoritär strukturierte Führungen regiert, die     vor allem der Anwerbestopp von 1973 machte         Asylrechtstendenzen der damaligen Zeit.
dass es nach dem Sieg gegen den Nationalso-      empathisch gar nicht in der Lage waren, die        schlagartig klar, dass man sich wehren musste.
zialismus 1945 und infolge der jeweiligen Ent-   althergebrachten Einstellungen und Verhal-         Denn unter der Oberfläche führten die aufge-       Du warst Abgeordneter bei Bündnis 90 / Die
nazifizierungen keinen relevanten Rassismus      tensweisen abzubauen. Diese beiden Stränge         zählten Punkte in der deutschen Bevölkerung        Grünen und Vorsteher in der Bezirksverord-
mehr in Deutschland gäbe. Dabei wurde aus-       brachen sich nach 1989 in der umjubelten Eu-       zur Zunahme von Ressentiments.                     netenversammlung (BVV) in Friedrichshain-
geblendet, dass während des Kalten Krieges       phorie der neuen nationalen Einheit ihre Bahn,                                                        Kreuzberg. Wo siehst du Möglichkeiten, wo die
oft auf Ex-Nazis zurückgegriffen wurde und die   wie ein Fisch im Wasser auflebt.                   Insofern war ich schon vor 1989 im weitesten       Grenzen parlamentarischer Politik?
Entnazifizierung längst nicht in allen gesell-                                                      Sinne antirassistisch politisch aktiv – schließ-
schaftlichen Bereichen konsequent durchge-       Durch die falsche Politik (z.B. bezüglich der      lich ist das Thema, wie das der Integration, ein   Die Entwicklung hin zum Parlamentarismus war
führt worden war. Außerdem wurde verdrängt,      Integration der Arbeitsmigrant_innen) und die      Querschnittsthema. Diese Arbeit zog sich die       historisch natürlich ein demokratischer Fort-
dass die zugrunde liegende deutsch- bzw. eu-     Verdrängungen seit 1945 in der BRD und der         ganzen 1990er Jahre hindurch und hatte ihren       schritt. Man kann dort auf einer Plattform, die
ropazentrierte autoritäre Ideologie aus vielen   DDR war die deutsche Öffentlichkeit nach dem       ersten Erfolg mit der Anerkennung der Bun-         im Fokus der Öffentlichkeit steht, Inhalte und
Köpfen natürlich immer noch nicht verschwun-     Mauerfall völlig überrascht von der Wucht der
den war. Sie wurde zwar auf den Ost-West-Kon-    radikalen nationalen Eruption und es dauerte
flikt umgedeutet, aber die 68er-Bewegung war     bis 1998, diese Welle in den Griff zu bekommen.
ja auch eine Antwort auf diese informell wei-    Die negativen Folgen für Arbeitsmigrant_innen
terhin existierende soziokulturelle politische   und Flüchtlinge haben wir alle noch vor Augen.
Psychologie im Wirtschaftswunderland. Und
schon nach der ersten kleinen konjunkturellen    Seit wann bist du gegen Rassismus aktiv?
Wachstumsdelle 1966/67 konnte die NPD bei
einer Wahl erfolgreich sein.                     Mal von der Situation zwischen Türk_innen

       10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus
  10                                                                                                                                                                                             11
Probleme thematisieren, Lösungen vorschla-
gen und versuchen, die Parlamentsmehrheiten
                                                  vermeintliche oder tatsächliche gesellschaft-
                                                  liche Probleme existieren, woraufhin beste-                    Schwarzer Widerstand
zu überzeugen und sinnvolle Gesetze zu be-        hende horizontale Unterschiede zwischen den
schließen. Aber um eine Gesellschaft wirklich     Menschen instrumentalisiert werden, um eine                       in Deutschland
zu demokratisieren und um sie offener und         nachhaltige Problemlösung zu verhindern (Bei-
toleranter zu machen, bedarf es mannigfacher      spiel Erwerbslosigkeit). Oft werden dadurch
Initiativen und Gruppen von selbstbewussten       Privilegien verteidigt und bestimmte Gruppen                           Von Sharon Dodua Otoo und Tahir Della
Bürger_innen, die ihre Macht nicht nur an die     vom Zugang zu materiellen oder nicht-materi-
Parlamente delegieren wollen, sondern die sich    ellen Ressourcen ausgeschlossen.                                                                  Sharon Dodua Otoo und Tahir Della
selbst verantwortlich für die Entwicklung ihrer
Gesellschaft fühlen. Deshalb ist es für eine_n    Also, im Vergleich zum Anfang der 1990er Jahre
                                                                                                                                                    sind Vorstandsmitglieder der Initiati-
Parlamentarier_in notwendig, den Kontakt zu       konnte die extreme Welle der nationalistischen                                                    ve Schwarze Menschen in Deutschland
diesen Basisinitiativen und den Menschen zu       Eruption gemindert werden. Trotzdem zeigen                                                        (ISD-Bund) e.V. (www.isdonline.de). Der
erhalten, um sozusagen ein Ohr am Puls der        gerade die Vorgänge und Entdeckungen um                                                           Vorstand besteht aus drei weiteren Mit-
Zeit zu haben. Denn nur so lassen sich Proble-    die Morde durch extrem Rechte in den letzten                                                      gliedern: Hadija Haruna, Jonas Berhe
me frühzeitig erkennen und nachhaltige Lösun-     Wochen, dass dort nicht nur viel zu tun ist,
                                                                                                                                                    und Yonis Ayeh.
gen entwickeln. Diese Form der vorparlamenta-     sondern, dass die Zivilgesellschaft höllisch
rischen Durchlässigkeit ist allerdings – und da   aufpassen muss, dass sich keine politisch-
müssen wir sehr wachsam bleiben – durch den       atmosphärischen Strukturen in der Bevölke-
unkontrollierten Einfluss der Lobbygruppen in     rung verfestigen, die eine Gefahr für die Demo-
Verruf geraten.                                   kratie mit sich bringen könnten.

Welche Perspektiven siehst du hinsichtlich des    Zweitens ist es in Zeiten von Welthandel, Glo-
Kampfes gegen Rassismus, Rechtsextremis-          balisierung und der zunehmenden Notwenig-
mus und Antisemitismus?                           keit, viele Probleme der Menschheit global zu
                                                  lösen, unumgänglich, sich zu einer offenen
Generell muss man sich klarmachen, aus wel-       Gesellschaft zu entwickeln, in der Rassismus
chen Grundbedingungen sich Rassismus speist       keinen Platz hat. Im Unterschied zum Anfang
und welche Funktion er in einer Gesellschaft      der 1990er Jahre möchte ich schließlich erwäh-       Widerstand ist ein wichtiger Bestandteil           und der damit verbundenen Annektierung
hat. Die beiden entscheidenden Variablen für      nen, dass der heraufbeschworene, angebliche          der Schwarzen[1] Bewegung und hat auch in          der deutschen Kolonien durch Frankreich und
die Entstehung von Rassismus sind Vorurteile      und vor allem kulturell begründete Gegensatz         Deutschland eine lange Tradition. Trotz der        England haben sich die deutschen Nachfol-
und institutionelle Macht. Letztere kann durch    zwischen Orient und Okzident mit seiner anti-        Tatsache, dass Menschen der Afrikanischen          gestaaten der Verantwortung der deutschen
eine aufmerksame Öffentlichkeit eingegrenzt       muslimischen Leit(d)kulturdiskussion genau-          Diaspora – u.a. Schwarze Deutsche – seit über      kolonialen Vergangenheit entzogen. Dies traf
werden. Rassismus als kulturelles Phänomen        so bekämpft werden muss, wie seinerzeit die          300 Jahren in dieser Region leben, versteht sich   schon für die Weimarer Republik zu. Während
basiert auf den vier Bausteinen Naturalisie-      national-ethnische Welle. Vor all diesen Hinter-     Deutschland noch immer als eine weiße Nati-        der NS-Herrschaft wurde die koloniale Vergan-
rung, Homogenisierung, Polarisierung und          gründen gibt es – wie Frau Merkel sagen wür-         on. Schwarzer Widerstand ist also in erster Li-    genheit erneut glorifiziert – zum Beispiel durch
Hierarchisierung. Wird dieses gesellschaftliche   de – zur fortschreitenden Integrationsfähigkeit      nie ein Kampf um die Anerkennung. Politische       Straßenumbenennungen und den Versuch, die
Verhältnis im politischen Kontext umzusetzen      unserer Gesellschaft keine Alternative.              Partizipation Schwarzer Bürger_innen und die       ehemaligen Kolonien „zurück zu holen“. Nur
versucht, kann man von Rechtsextremismus                                                               Verbesserung der Lebenssituation Schwar-           dem Kriegsverlauf und der bedingungslosen
sprechen.                                         Zusammengefasst heißt das für Deutschland,           zer Menschen in Deutschland ist das Ziel. Der      Niederlage Deutschlands ist es zu verdanken,
                                                  dass in den entscheidenden gesellschaftlichen        Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf dem Wi-      dass dies nicht zustande kam.
Die betreffenden und zu beobachtenden In-         Bereichen der Medien, des Bildungssystems,           derstand der letzten 30 Jahre.
stitutionen einer Gesellschaft, in denen sich     des Arbeitsmarkts, der Politik, der Justiz und der                                                      Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tru-
Rassismus verankern und reproduzieren kann,       Exekutive ein Entrassifizierungsprogramm not-        Ausgangssituation                                  gen sowohl die DDR als auch die BRD den Er-
sind die Medien, das Bildungssystem, der          wendig ist. In diesem Sinne wünsche ich Reach-                                                          fahrungen der zurückliegenden Geschichte
Arbeitsmarkt, die Politik, die Justiz und die     Out viel Kraft, Unterstützung und Erfolg für die     Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges sowie         insofern Rechnung, als dass sie allen Versu-
Exekutive (Polizei). Vorurteile entstehen, wenn   nächsten zehn Jahre!                                 der Niederlage des deutschen Kaiserreiches         chen, Deutschland erneut als Weltmacht zu

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etablieren, eine Absage erteilten, um unter Beiden Phänomenen wird mit Verschleppung,                   wie München, Stuttgart, Freiburg, Hamburg, Hanno-
Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte Relativierung und Leugnung offenkundiger Tat-                 ver, Berlin, in großen Teilen Nordrhein-Westfalens
in die Weltgemeinschaft zurückzukehren. Trotz sachen begegnet.                                          und in der Rhein-Main-Region. Nach dem Mauerfall
dieses Ansinnens hat keiner der beiden deut-                                                            kamen weitere Communities hinzu, die sich in Ost-
schen Staaten sich diesem Teil ihrer Vergan- Entstehung der jüngeren Schwarzen Bewe-                    Deutschland vernetzten.
genheit gestellt, sich offiziell entschuldigt oder gung in Deutschland
Entschädigungen an die Staaten, die aus den                                                             Es entwickelte sich eine Bewegung von Schwarzen
ehemaligen Kolonien hervorgegangen sind, Wenn heute von der jüngeren Schwarzen Be-                      Deutschen und Menschen afrikanischer Herkunft, die
geleistet. Dies wurde deutlich, als im Januar wegung gesprochen wird, so deswegen, weil                 aus jahrzehntelanger, erlebter Isolation ausbrachen,
2004, dem 100. Jahrestag des Massenmordes es schon lange vor den heute existierenden                    um sich Freiräume für Schwarze Menschen zu schaf-
an den Nama, Herero und Damara im heutigen Initiativen gesellschaftsrelevante Aktivitäten               fen und dabei nach selbstbestimmten Definitionen
Namibia, der damalige Außenminister der BRD, Schwarzer Menschen in Deutschland gab. So                  ihres Daseins und eigenen, ihnen angemessenen Le-
Joschka Fischer, zwar                                                        schlossen sich bei-        bensentwürfen zu suchen. Sie arbeiteten daran, nach
sein Bedauern über                                                           spielsweise      bereits   und nach ihre Lebenszusammenhänge und ihre Per-
                                 „Ohne Kampf gibt es keinen Fort-
den Kolonialkrieg äu-                                                        in den 1920er Jahren       spektiven und Hoffnungen zu verändern. Ein Beispiel
                                 schritt. Die, welche behaupten, für
ßerte, jedoch eine                                                           Schwarze Arbeiter_in-      dafür sind die Begriffe „Schwarze Deutsche“ und
offizielle Entschuldi-          die  Freiheit zu sein, Agitation aber        nen,      Gewerkschaf-     „Afro-Deutsche“. Sie sind Eigenbezeichnungen, die
gung ablehnte. Die            ablehnen, sind [Menschen], die ernten          ter_innen und Künst-       in den Anfängen der sich formierenden Schwarzen
Weigerung Deutsch-              wollen, ohne den Grund umzupflü-             ler_innen zusammen,        Bewegung geprägt wurden und sich durchsetzten. Sie
lands, Verantwortung           gen. Sie wollen Regen ohne Blitz und          um für ihre Rechte und     lösten sämtliche bis dato gängigen und diskriminie-
zu übernehmen, zeigte        Donner. Sie wollen den Ozean ohne das Lebensentwürfe einzu-                renden Bezeichnungen der Mehrheitsgesellschaft für
sich einmal mehr im           grässliche Tosen seiner Wassermassen. treten[2]. Etwa 60 Jahre            Schwarze Menschen ab. Sie ermöglichen seither die
September 2011 im Zu-         Der Kampf mag ein moralischer sein;            später führte der Lehr-    Ausformung eines menschenwürdigen (Selbst-)Bild-
sammenhang mit den           oder er mag physisch sein; oder er mag auftrag von Audre Lor-              nisses Schwarzer Menschen in Deutschland.
in der Berliner Charité       moralisch und physisch sein, aber ein          de an der Freien Uni-
lagernden Gebeinen                                                           versität Berlin (damals    Schwarze Perspektiven in den dominanten Diskurs
vieler der Opfer. So                  Kampf muss stattfinden.“               in West-Deutschland)       einzubringen, war und ist ein zentrales Anliegen
wurden diese zwar in             (Frederick Douglass, ehemals versklavter    zur Wiederbelebung         der ISD und ADEFRA sowie aller anderen Schwarzen
einer Zeremonie an                   Mensch und Abolitionist, 1857)          dieser Tradition. Die      Gruppen und Initiativen, die in den letzten 30 Jahren
eine Delegation aus                                                          afrikanisch-amerika-       entstanden sind. Die ISD versteht sich dabei weni-
Namibia zurückgegeben, jedoch blieb von Sei- nische Schriftstellerin und Frauenaktivistin               ger als alleinige Vertreterin Schwarzer Menschen in
ten der Bundesregierung erneut ein offizielles lernte 1984 in ihren Vorlesungen Schwarze                Deutschland, sondern vielmehr als Teil der Schwar-
Schuldeingeständnis aus.                               deutsche Frauen kennen und ermutigte sie,        zen Community in Deutschland. Besonders hervor-
                                                       ihre persönlichen Geschichten und damit die      zuheben sind jene Gruppen, die von Flüchtlingen or-
Die Gründe, warum ein Schuldeingeständnis der Schwarzen Diaspora in Deutschland aufzu-                  ganisiert werden, wie die African Refugee Association
bis heute nicht eingetreten ist, sind unter an- schreiben. Damit sollten sie der einseitig wei-         (ARA), The Voice, Refugees Emancipation und Women
derem darin zu suchen, dass nach 1945 etliche ßen Geschichtsschreibung ein eigenständiges               in Exile. Sie setzen sich für die Einhaltung der Men-
Beamt_innen des Außenministeriums des NS- Bild entgegensetzen. Im Zuge dieser Arbeit ent-               schenrechte gegenüber Flüchtlingen ein und mobili-
Regimes in der damals jungen Bundesrepublik stand das Buch „Farbe bekennen“[3], das zu den              sieren in regelmäßigen Abständen Kampagnen gegen
wieder eingestellt wurden und sich so rassis- ersten Zeugnissen Schwarzer Selbstdarstel-                Abschiebungen, Übergriffe durch Staatsorgane, die
tische Denkweisen und Vorstellungen halten lung in Deutschland zählt. Zudem gründeten                   extreme Rechte und die Residenzpflicht.
konnten und bis heute im allgemeinen Diskurs sich die Vereine Afro-Deutsche Frauen, heute
ihren Platz einnehmen. Aus dieser Entwicklung Schwarze deutsche Frauen und Schwarze Frau-               Besonders Letzteres ist ein gravierendes Beispiel für
und dem daraus abgeleiteten Verhalten lassen en in Deutschland (ADEFRA) und die Initiative              die rassistische Behandlung von Schwarzen Flüchtlin-
sich deutliche Parallelen zwischen der Haltung Schwarze Deutsche, heute Initiative Schwarze             gen und Flüchtlingen of Color. Die im Asylverfahrens-
Deutschlands zu seiner Kolonialgeschichte und Menschen in Deutschland (ISD). Die Mitglieder             gesetz geregelte Residenzpflicht besagt, dass sich
dem Umgang mit heutigem Rassismus ziehen. etablierten dabei lokale Initiativen in Städten               Flüchtlinge nur in dem ihnen zugewiesenen Bezirk

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aufhalten beziehungsweise bewegen dürfen.             Kultur & Medien: Die Wahrnehmung in der            Mitarbeit an der Erarbeitung und Einführung                 sen. So hat beispielsweise die Afrikanische
Sie sind aufgrund ihres Schwarzseins gezielte-        weiß-deutschen Kultur- und Medienlandschaft        des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetztes                  Union (AU) 2003 zusätzlich zu den bereits exis-
ren Kontrollen als weiße Menschen ausgesetzt.         ist von einer beharrlichen Deutungshoheit über     2006, die Gründung des Afrika-Rates 2005                    tierenden fünf Regionen auf dem afrikanischen
Denn durch das sogenannte „Racial Profiling“          das geprägt, was als Rassismus bezeichnet          sowie die Gründung ähnlicher Verbände sind                  Kontinent die „sechste“ Region begründet, die
ist es wahrscheinlicher, dass sie kontrolliert wer-   wird. Dies wird durch z.B. immer wieder in der     weitere Beispiele für die politische Partizipa-             der afrikanischen Diaspora die Möglichkeit
den – unabhängig vom jeweiligen Migrations-           Debatte über das an deutschen Theatern prak-       tion Schwarzer Aktivist_innen. Als weiterer Er-             gibt, für ihre Ziele und Projekte die Unterstüt-
hintergrund oder Aufenthaltsstatus. Dieses            tizierte „Blackfacing“ deutlich. Dabei handelt     folg gilt die Mitarbeit im Kampf um die Umbe-               zung der afrikanischen Staaten zu nutzen. 2011
Verfahren stellt damit eine Menschenrechtsver-        es sich um ein rassistisches „Stilmittel“, das     nennung des ehemaligen „Gröbenufers“ ins                    wurde in der Folge eines Kongresses der Orga-
letzung aller in Deutschland lebenden Schwar-         zuerst auf den Bühnen der USA der 1920er Jah-      May-Ayim-Ufer in Berlin. Otto Friedrich von der             nisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
zen Menschen dar. ISD und ADEFRA sehen das            re eingesetzt wurde, um Schwarze Menschen          Groeben (1656-1728) galt als einer der „Pionie-             Europa (OSZE) in Wien[11] ein Forderungskatalog
Thema Polizeiterror neben dem Thema All-              lächerlich zu machen und ihnen den Zugang          re“ des deutschen Kolonialismus. 1895 wurde                 zur Unterstützung der Schwarzen Community in
tagsrassismus daher als eines ihrer zentralen         zu den Bühnen zu verwehren. In der britischen      die Straße nach ihm benannt. Am 27. Februar                 Deutschland zusammengestellt.
Schwerpunkte, nicht nur, weil es bei der „Be-         und französischen Kultur gilt „Blackfacing“ als    2010 bekam die Straße ihren neuen Namen.
handlung“ von Flüchtlingen durch staatliche           Ausdruck des Rassismus in der Kolonialzeit.        Benannt nach einer verstorbenen Schwarzen                   Oberstes Ziel der ISD und verbündeter Vereine
Behörden immer wieder zu rassistisch motivier-        Aber auch in Deutschland folgt „Blackfacing“       Deutschen Poetin, die bis heute als bedeuten-               und Initiativen: Nur wenn eine starke Partizipa-
ten Menschenrechtsverletzungen kommt, son-            einer rassistischen Tradition. Als Beispiel gel-   de Impulsgeberin der Schwarzen Bewegung                     tion der Schwarzen Gemeinschaft an den politi-
dern auch, weil Schwarze Menschen, die flüch-         ten Stilmittel der frühneuzeitlichen Karne-        gilt.                                                       schen Entscheidungsprozessen in Deutschland
ten mussten, fester Bestandteil der Schwarzen         valstradition oder die Darstellung Schwarzer                                                                   erreicht wird, besteht die Chance auf eine nicht-
Gemeinschaft in Deutschland sind.                     Menschen in Defa-Filmen. Übertragen auf die        Internationale Kooperationen: Parallel zu den               rassistische Gesellschaft, die auf einem gleich-
                                                      aktuelle Situation in Deutschland – wo laut der    regionalen und nationalen Bemühungen bei                    berechtigten Miteinander beruht. Bis dahin
Ausblick                                              Erfahrungen Schwarzer Schauspieler_innen an-       der Vernetzung Schwarzer Menschen entwickelt                wird die ISD weiterhin für Fortschritte in dieser
                                                      scheinend zu wenig Rollen als für sie geeignet     sich inzwischen auch die Zusammenarbeit mit                 Richtung in Deutschland kämpfen.
Bei Fragen, die für die Schwarze Community            in Betracht gezogen werden, um sie in einem        internationalen staatlichen Zusammenschlüs-
von Relevanz sind, ist die Initiative Schwar-         Ensemble zu beschäftigen – ist „Blackfacing“
ze Menschen in Deutschland inzwischen eine            ein Ausdruck dieser Ausgrenzung. Im Novem-
bundesweite Ansprechpartnerin für Medien,             ber 2011 wurden dem Deutschen Theater in Ber-      [1]          „Schwarz“ und weiß        bis 1934 (siehe ISD 2006: Homestory      [7]          Christy     Schwundeck
Parteien und gesellschaftliche Gruppen. Im            lin die Aufführungsrechte für ein Stück wieder     sind gesellschaftlich wirkungs-        Deutschland. Schwarze Biografien in      wurde im Mai 2011 in einem Frank-
                                                                                                         volle Kategorien. Wir verwenden        Geschichte und Gegenwart, Katalog        furter Büro der Arbeitsagentur von
Folgenden werden einige Beiträge ihres Wider-         entzogen, unter anderem, weil der Autor des        „Schwarz“ (großgeschrieben) nicht,     zur Ausstellung. Berlin: Bundeszen-      einer Polizistin erschossen.
stands gegen institutionellen und strukturellen       Stückes „Blackface“ ablehnte und nicht wollte,     um eine äußerliche Zuschreibung        trale für politische Bildung).
Rassismus dargestellt.                                dass sein Stück damit in Verbindung gebracht       zu markieren, sondern als politische                                            [8]        Dank an die Initiative
                                                      wird. Schwarze Aktivist_innen, Autor_innen,        Selbstbezeichnung. Die Bezeich-        [3]         Oguntoye,       Katharina    in Gedenken an Oury Jalloh e.V.,
                                                                                                         nung weiß wird klein geschrieben       / Opitz, May (May Ayim) / Schultz,       Senegalesische Vereinigung im
Polizeigewalt und Justizsystem: Die Urteile           Produzent_innen, Künstler_innen und Schau-
                                                                                                         und in kursiv gesetzt, da es hier      Dagmar (Hg.) 1986: Farbe Bekennen.       Lande Hessen e.V., Initiative Christy
und die daraus resultierenden Kampagnen im            spieler_innen wollen sich mit dieser Situa-        ebenfalls um ein Konstrukt handelt,    Afro-deutsche Frauen auf den Spu-        Schwundeck, The VOICE Refugee Fo-
Fall von N‘deye Mareame Sarr[4], Achidi John[5],      tion nicht zufriedengeben. Daher haben sich        die aber kein Widerstandspotential     ren ihre Geschichte. Berlin: Orlanda.    rum.
Oury Jalloh[6] oder Christy Schwundeck[7] sind        zahlreiche Gruppen und Initiativen formiert, um    beinhaltet (siehe Eggers, Maureen
Beispiele dafür, wie notwendig es ist, dass die       eigene Produktionen auf die Beine zu stellen[9]    Maisha / Kilomba, Grada / Piesche,     [4]          N’deye Mareame Sarr         [9]        Zum Beispiel: YoungStar
                                                                                                         Peggy / Arndt, Susan (Hg.) 2005: My-   wurde Juli 2001 in Aschaffenburg im      Theater, Theatergruppe & Agentur
ISD auch weiterhin an diversen Kampagnen der          und weiterhin Kritik an der deutschen Kultur-      then, Masken und Subjekte. Müns-       Haus ihres Ex-Mannes von einem Po-       Label Noir, die Szenische Lesung
Schwarzen Community mitwirkt[8]. In all diesen        und Medienlandschaft auszuüben[10].                ter: Unrast Verlag, S. 13).            lizisten erschossen.                     Homestory Deutschland, AFROTAK /
Fällen sind Schwarze Menschen durch staatli-                                                                                                                                             CyberNomads.
che Organe zu Tode gekommen bzw. in Polizei-          Selbstorganisation und Politik: 2002 wurde un-     [2]         In den 1920er Jahren gab   [5]        Der 19-jährige Achidi
                                                                                                         es nichtöffentliche Treffpunkte, die   John starb im Dezember 2001 in           [10]       Der Braune Mob – Media
gewahrsam gestorben. Zwar hat die Schwarze            ter dem Motto „Selbstorganisation Schwarzer
                                                                                                         Schwarzen Menschen als wichtige        Hamburg nach einem Brechmitte-           Watch e.V.
Community erreicht, dass die Öffentlichkeit auf       Menschen in Deutschland“ eine „Community-          Orte der Kommunikation und gegen-      leinsatz.
diese Fälle aufmerksam gemacht wurde und              Tagung“ von zahlreichen Gruppen und der ISD        seitigen Arbeitsvermittlung dienten.                                            [11]         Organisation für Sicher-
der Fall Oury Jallohs zweimal vor Gericht kam,        in Löhne-Gohfeld organisiert. Ziel war es, über    1929 gründeten afrikanische Koloni-    [6]          Im Dezember 2005 kam        heit und Zusammenarbeit in Europa
trotzdem konnte bisher nicht genug Druck aus-         eine tragfähige gemeinsame Basis zu sprechen       almigrant_innen die deutsche Sekti-    Oury Jalloh durch einen Brand in ei-     – Engl. OSCE (Organisation for Secu-
                                                                                                         on der Liga zur Verteidigung der Ne-   ner Zelle des Polizeireviers in Dessau   rity and Co-operation in Europe).
geübt werden, um die Täter_innen zur Verant-          und einen Handlungsplan zu entwerfen, um die       gerrasse. Die Zeitschift „The Negro“   ums Leben. Die Umstände und deren
wortung zu ziehen.                                    Schwarze Community stärker zu vernetzen. Die       wurde 1930 gegründet und erschein      Klärung sind bis heute umstritten.

       10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus
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„Wer sagt, dass es einfach ist,                                                                      was gerecht ist und was nicht und wir deshalb
                                                                                                       lieber das messbarere Kriterium der Effizienz
                                                                                                                                                          Raum zu schaffen, in dem Kulturproduktion
                                                                                                                                                          ganz natürlich und unabhängig von Herkunft,
                                                                                                       zugrunde legen sollten. Ich bin da pragmatisch:    Ethnos, Geschlecht, Sexualität etc. entstehen
       gegen Herrschaft                                                                                Wenn eine Gruppe etwas Essentielles darf –         darf. Und dies geht eben nicht, in dem wir
                                                                                                       z. B. sich frei bewegen –, was einer anderen       sagen: „also für uns spielt das alles gar kei-
          anzugehen?“                                                                                  Gruppe per Gesetz oder durch andere Mecha-
                                                                                                       nismen verweigert wird, dann muss nicht groß
                                                                                                                                                          ne Rolle“, sondern in dem wir explizit Macht-
                                                                                                                                                          strukturen anfechten, die stillschweigend und
                                                                                                       philosophiert werden, um festzustellen, dass       normierend zu Segregationen und letztlich zur
                                                                                                       es an Gerechtigkeit fehlt. Diesen Pathos lass’     Unterdrückung bestimmter Stimmen führen.
                                         Interview                                                     ich mir nicht nehmen.
                                                                                                                                                          In unserer aktuellen Ausgabe mit dem Titel „Vi-
                                            Deniz Utlu ist freier Autor und Heraus-                    Kannst du deine Aktivitäten skizzieren, auch       brationshintergrund“, eine Wortschöpfung des
                                            geber des Kultur- und Gesellschafts-                       im Rahmen von freitext?                            Autors Selim Özdogan, haben wir uns auf un-
                                                                                                                                                          sere Art mit dem deutsch-türkischen Anwerbe-
                                            magazins freitext. Sabine Seyb sprach                      Ich bin momentan hauptsächlich im Kultur-          abkommen auseinandergesetzt. Dazu gehört
                                            mit ihm über sein Engagement gegen                         betrieb aktiv. Dazu zählt auch das Kultur- und     für uns immer auch zu schauen, was außerhalb
                                                                                                       Gesellschaftsmagazin freitext, das wir 2003 in     des Rahmens liegt. Deshalb gibt es nicht nur
                                            Rassismus, den Kulturbetrieb und
                                                                                                       Hannover gegründet haben und das heute bun-        einen Text zur deutsch-türkischen Literaturge-
                                            rassistische Sprachhandlungen.                             desweit erscheint. Ich möchte dazu erst einmal     schichte, sondern auch zu Schwarzer deutscher
                                                                                                       Folgendes festhalten: Ich mache das alles nicht    Literatur und zur vietnamesischen Arbeitsmig-
Foto: Sven Vollbrecht                                                                                  aus einer politischen Intention heraus. Meine      ration in der DDR und neuerer spanischer Ar-
                                                                                                       literarischen Arbeiten und mein Engagement,        beitsmigration.
Wenn du die Entwicklung hinsichtlich des Ras-     gement gegen Rassismus ist für mich Teil eines       wenn man das so nennen mag, im Kulturbe-
sismus in Deutschland und Europa betrach-         politischen Bewusstseins, das ich mir aktiv          trieb folgen einem Selbstzweck. Es ist eher die    Du hast im Rahmen deiner Redaktions- und
test, was hat sie sich in den vergangenen zehn    aneignen muss. Durchaus unabhängig von               Wirkmächtigkeit von Bild und Klang, von Spra-      Recherchearbeit für den Migrationsrat Berlin-
Jahren verändert?                                 persönlichen Erfahrungen und Empfindlich-            che, die mich in diesem Raum bleiben lässt.        Brandenburg (MRBB) beratend an der Entwick-
                                                  keiten. Das heißt nicht, dass ich selber keine       Aber dieser Raum ist kein Elfenbeinturm, den       lung des „Berliner Landesaktionsplans gegen
Ich denke, dass es seit zehn Jahren eine kon-     negativen Erfahrungen gemacht habe. Ich will         ich mir angemietet habe. Das darf und kann er      Rassismus und ethnische Diskriminierung“
tinuierliche Steigerung der Ressentiments gibt.   nur sagen, dass das nicht das Kriterium ist.         nicht sein. Wenn ein politisches Bewusstsein       mitgewirkt. Welche Bedeutung hat dieser für
Auf der anderen Seite institutionalisiert sich    Ich denke, es ist wichtig, einen kühlen Kopf zu      vorhanden ist und sei es auch nur der Wille        die Kämpfe gegen Rassismus?
zivilgesellschaftlich aber auch immer mehr der    bewahren und rational zu bleiben. Wenn es für        dazu, also der Versuch einer permanenten,
Kampf gegen Unterdrückungsmechanismen,            bestimmte Gruppen einen mangelnden Zugang            kritischen Selbstreflexion, dann sind die Bilder   Ich sehe das als Teil der Institutionalisierung
wie z. B. durch das Antidiskriminierungsgesetz.   zu Ressourcen gibt, ökonomisch, sozial, kultu-       und Klänge, dann ist auch die Sprache Teil des-    der Antirassismusarbeit. Meiner Meinung nach
Allerdings ist die zehn-Jahres-Marke natürlich    rell, auf dem Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, im        sen. Und damit auch politisch. Manchmal so         ist es dabei von entscheidender Bedeutung,
künstlich, verschiebt man sie, entsteht vermut-   Bildungs- und Gesundheitssystem, dann ergibt         subtil, dass nur wenige das merken, manchmal       dass maßgebliche Empfehlungen von NGOs
lich eher ein zyklisches Bild: Ich vermag nicht   sich daraus die Forderung nach Gerechtigkeit.        wütend, laut und offensichtlich.                   erarbeitet wurden – vornehmlich von „Mig-
zu beurteilen, ob der Rassismus heute so stark    Und wenn es so eine Forderung gibt, dann er-                                                            rant_innen-Selbstorganisationen“, wie sie et-
ist wie Anfang der 1990er Jahre. Dafür bin ich    zwingt das eine antirassistische Haltung. Das        Gerade ein Projekt wie freitext, das von Aus-      was kompliziert genannt werden. Auch wenn
vielleicht auch zu jung.                          Wort „Gerechtigkeit“ scheint heute mit Pathos        gabe zu Ausgabe neu konzipiert, geplant und        ein Großteil der Empfehlungen erst einmal
                                                  beladen zu sein. Ich habe das Gefühl, die Leute      recherchiert wird, bei dem also erst einmal        nicht angenommen wurde – sie wurden geäu-
Seit wann bist du gegen Rassismus aktiv? Gab      halten sich die Ohren zu, wenn das Wort fällt,       rational ein Rahmen zu setzen ist, bevor die       ßert und stehen jetzt im Raum. Das Ganze darf
es ein Ereignis, das für dich ausschlaggebend     sind peinlich berührt oder schmunzeln altklug.       Autor_innen ans Werk gehen, muss den An-           hierbei natürlich nicht stehen bleiben. Der Pro-
war?                                              Auch in der Wissenschaft ist der Begriff zum         spruch haben, das Geschehen in der Welt, in        zess, in dem die Empfehlungen erarbeitet wur-
                                                  Teil in Verruf geraten. Dies gilt vor allem in den   diesem Fall im deutschen Kulturbetrieb und         den, war, so wie ich das mitbekommen habe,
Nein, ein solches Ereignis gab es für mich        Wirtschaftswissenschaften. Dort herrscht die         der deutschen Gesellschaft, immer aus ei-          bereits schwierig und ermüdend, aber dennoch
nicht. Ich sehe das grundsätzlicher. Das Enga-    Meinung vor, dass wir nicht wissen können,           ner kritischen Distanz zu reflektieren. Konkret    hört die Aufgabe der NGOs hier längst nicht auf.
                                                                                                       heißt das, dass wir mit freitext versuchen einen   Im Gegenteil. Sie fängt hier an. Jetzt geht es da-

        10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus
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rum, die Aktualität der Empfehlungen perma-
nent zu überprüfen und weiterhin ihre institu-
                                                    sonderlich problematisch, weist im Vergleich zu
                                                    anderen Begriffen wie „Ausländer“ sogar nach                             „Rassismus
tionelle Einbindung zu verfolgen und mögliche,      vorne. Es ist vielmehr ein soziales Konzept mit
auch paternalistische, Vereinnahmungen zu           dem der Begriff gefüllt wird, das ihn so proble-                      modernisiert sich“
kritisieren und zu verhindern.                      matisch macht. Also die Differenz dessen, was
                                                    das Wort semantisch verspricht und was es im
Rassismus schlägt sich auch im Sprachge-            Sprachgebrauch meint. Das statistische Bun-                                Ein Gespräch mit Vassilis Tsianos
brauch nieder. Siehst du Veränderungsprozes-        desamt hat dabei kaum eine Definitionshoheit.
se in den letzten Jahren? Welche Kritik hast du     Begriffe definieren sich im Alltag, nicht in Fuß-
am Begriff Migrationshintergrund?                   noten. Semantisch schließt „Migrationshinter-                                                    Vassilis Tsianos ist Mitbegründer von Ka-
                                                    grund“ fast alle Menschen ein, weil es in jeder                                                  nak Attak und derzeit wissenschaftlicher
Gesellschaftliche Strukturen spiegeln sich auch     Familie eine Migrationsgeschichte gibt, wenn                                                     Mitarbeiter an der Universität Hamburg.
in der Sprache und wirken über die Sprache wie-     lange genug danach geforscht wird. Im tägli-                                                     Sebastian Friedrich von kritisch-lesen.de
der zurück auf die Gesellschaft. Und auch hier      chen Sprachgebrauch meint der Begriff aber
                                                                                                                                                     sprach mit ihm über aktuelle Formen des
tragen, wie ich finde, Migrant_innen-Selbstorga-    eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen,
nisationen, Frauenorganisationen und Queer-         meist Türk_innen und Araber_innen. Dadurch                                                       Rassismus.
Organisationen eine große Verantwortung,            ist der Begriff im besten Fall unpräzise und im
denn wenn Multiplikator_innen ihre Sprache          schlimmsten Fall perfide. Wir dürfen da nicht
nicht kritisch reflektieren, tragen sie unbewusst   faul sein und müssen solche Worte, die als
zur Verbreitung von ungewünschten Struktu-          Begriffe verkommen sind, aus unserem Sprach-
ren bei – in der Sprache und darüber hinaus.        gebrauch eliminieren, um Klarheit zu schaffen
                                                    und die Dinge beim Namen nennen zu können.
Bei einer kritischen Auseinandersetzung mit der     Manchmal muss ein ganzer Satz her oder viel-
Sprache darf aber der gesellschaftliche Kontext     leicht sogar ein Absatz, um die gemeinte Grup-      Im Manifest des antinationalistischen und          rationspolitik der Umverteilung war damals
nicht vergessen werden. Ich kritisiere den Be-      pe zu beschreiben. Das mag kompliziert klin-        antirassistischen Netzwerks Kanak Attak vom        in die Krise geraten und transformierte das
griff „Migrationshintergrund“, nicht das Wort.      gen, aber wer sagt, dass es einfach ist, gegen      November 1998 stellt ihr klar, dass ihr euch       Inklusionsversprechen in einen identitätspo-
Das Wort selbst ist abgesehen davon, dass es        Herrschaft anzugehen?                               gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Er-            litischen Stellungskrieg. Dieser Stellungskrieg
nicht besonders ästhetisch ist, zunächst nicht                                                          niedrigung auf allen Ebenen richtet. Ihr meint     war weder imstande, mit dem Konzept „Inte-
                                                                                                        damit das Feld von den ökonomischen Herr-          gration“ als einseitige Anpassungsforderung
                                                                                                        schaftsverhältnissen bis zu Alltagsrassismus       zu brechen, noch gelang es, die entstehende
                                                                                                        und ihr wendet euch dabei explizit gegen die       migrantische Mittelschicht langfristig mit dem
                                                                                                        Idee des Multikulturalismus. Auch schon vor        grünalternativen Milieu politisch zu binden.
                                                                                                        der Regierungszeit von Rot-Grün unter Kanzler      Der Mültikültüralizm bekam stattdessen den
                                                                                                        Schröder war die Rede vom Scheitern von Mul-       Ruf eines staatlich subventionierten Sandkas-
                                                                                                        ti-Kulti. Seit dem ist einiges passiert: Während   tens für Kuschelmigrant_innen, Versteher_in-
                                                                                                        und nach Ereignissen wie dem 11. September,        nen und Nebeneinanderfetischist_innen. Die
                                                                                                        der Ermordung Theo Van Goghs, der Diskussi-        Tatsache, dass der Multikulturalismusdiskurs
                                                                                                        on um die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln und      so stark von Kanak-Renegat_innen à la Kelek
                                                                                                        nicht zuletzt während der „Sarrazindebatte“        und anderen neolaizistischen Kopftuchjäger_
                                                                                                        wurde immer wieder das neuerliche Scheitern        innen à la Giordano und Sarrazin negativ an-
                                                                                                        von Multi-Kulti ausgerufen. Warum ist das für      geeignet wurde, bedeutet für mich nicht, dass
                                                                                                        Politiker_innen und Journalist_innen immer         Multi-Kulti in bester Antira-Manier reflexartig
                                                                                                        noch ein Thema? Und bist du immer noch kein        verteidigt werden soll. Denn der okzidentalis-
                                                                                                        Freund des Mültikültüralizm?                       tische Habitus einer allseits postulierten Tole-
                                                                                                                                                           ranz des „bereichernden“ Nebeneinanders war
                                                                                                        Ich bin immer noch kein Freund des Mülti-          auch in den besten Zeiten des Mültikültüralizm
                                                                                                        kültüralizm! Die sozialdemokratische Integ-        problematisch. Mültikültüralizm stand für eine

       10 Jahre ReachOut                                                                                                           10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus
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