GRAZER WOHN-VISIONEN - Mehr als nur vier Lückenfüller Anke Strüver, Andrea Jany (Hrsg.) - unipub
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Herausgeberinnen Anke Strüver, Andrea Jany Schriftleitung Gerhard Lieb Layout und Satz Daniel Blazej Cover Andrea Jany Grafiken von Teresa Böhm, Lukas Meisinger, Julia Fressner, Birgit Penzenauer Institut für Geographie und Raumforschung der Karl-Franzens-Universität Graz Heinrichstraße 36 A-8010 Graz Telefon: + 43 316/380/5137 Fax: + 43 316/380/9886 E-Mail: geographie@uni-graz.at Web: geographie.uni-graz.at
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung Band 50 GRAZER WOHNVISIONEN - MEHR ALS NUR VIER LÜCKENFÜLLER Anke Strüver, Andrea Jany (Hrsg.) Graz 2021
Inhalt 1 Andrea Jany, Anke Strüver Einführung: Wohnen, das [schwaches Verb]: Wohnen als (starke) Frage in der Humangeographie 07 2 Teresa Böhm, Melanie Häusel, Philipp Hochegger, Nina Mally, Susanna Rauscher Selbstbestimmter Lückenschluss: Wohnen am Ruckerlberggürtel 13 3 Johannes Auer, Lino Kupper, Lukas Meisinger, Franziska Scherrer, Maren Vallant Wohnen an der Ecke: Kopernikusgasse/Kronesgasse 29 4 Valentina Blechl, Julian Elfering, Michele Felfernig, Julia Fressner, Matthias Gorgomiti, Belinda Rodleitner Bee Graz! Wohnen in der Bienengasse 45 5 Birgit Formanek, Barbara Hemetsberger, Florian Hitzelberger, Carmen Kern, Birgit Penzenauer, Klara Ulreich Wohnen mit Vorbelastung: Der Grünanger 63 5
1 EINFÜHRUNG: WOHNEN, DAS [SCHWACHES VERB] 1 Andrea Jany & Anke Strüver Wohnen, das [schwaches Verb]: Wohnen als (starke) Frage in der Humangeographie Das urbane Wohnen – als Tätigkeit und als das Erleben des Wohnens – und die Routine- Teil von Alltagsroutinen – spielt in der deutsch- tätigkeit Wohnen – gleichermaßen multipliziert sprachigen Humangeographie eigentlich keine wie radikalisiert; und sie hat auch die gesell- eigenständige Rolle. Wenn es thematisiert wird, schaftskritische Debatte um das Wohnen bzw. dann als das Wohnen von bestimmten Bevölke- gesellschaftliche Ungleichheiten des Wohnens rungsgruppen wie Wohnungslosen (siehe bspw. (neu) inspiriert (siehe die Debatte um „Pande- Marquardt 2015; Scholtz/Strüver 2017), Ge- mie, Digitalisierung und planetarische Enturba- flüchteten (siehe Friedrichs et al. 2019) oder nisierung“ in: sub\urban. zeitschrift für kritische auch Frauen (Strüver 2020) – oder aus der Per- stadtforschung 9/1-2 (https://zeitschrift-sub- spektive zentraler geographischer „Nachbar- urban.de/sys/index.php/suburban/debatte19). disziplinen“, wie bspw. Architektur (Jany 2019) Neben der „Coronakrise“ fand unsere Lehr- oder Soziale Arbeit (Beck 2021). Im Fokus in veranstaltung aber auch vor der Folie der sich der Stadt-Geographie (und auch -Soziologie) verschärfenden Klimakrise statt. Im Sinne letz- stehen vielmehr die Dauerbrenner Segregation terer wäre bspw. urbane „Nachverdichtung“ ab- und Gentrifizierung, Wohnumfeldinfrastruktu- solut notwendig – und zu einer der Hochzeiten ren und in jüngerer Zeit Wohnungsmärkte bzw. der Coronakrise im Februar 2021 wurde u.a. das Immobilienmärkte, ihre Vermarktlichung und Verbot des Einfamilienhaus-Neubaus europa- Finanzialisierung (für einen aktuellen Überblick, weit diskutiert. Allein dieser Widerspruch macht siehe Schipper/Vollmer 2020). deutlich, dass der Wohnraum als Ort und das Vor dem Hintergrund dieser Unterthema- Wohnen als Tätigkeit aus einem multiplen Be- tisierung haben wir uns als Teil des Masterstu- ziehungsgeflecht ökologischer, ökonomischer dienganges nachhaltige Stadt- und Regional- und sozialer Aspekte bestehen. In Kombination entwicklung am Institut für Geographie und mit alltäglichen Aktivitäten außerhalb der Woh- Raumforschung der Universität Graz im Herbst nung definiert er maßgeblich den Lebensort. 2020 dem Thema bzw. der Tätigkeit Wohnen Die Wechselwirkungen zwischen gebauten intensiver gewidmet und uns zunächst verschie- Wohnstrukturen, der Konzeptionierung und dene Wohntypologien angeschaut; anschließend Planung sowie die Auswirkungen auf Alltags- wurden vier verschiedene Wohnvisionen für praxis und Lebensqualität der Bewohner*innen Grazer (Bau-)Lücken entwickelt (s.u.). Massiv stellen einen zentralen Pfeiler in der nachhalti- unterstützt wurden unsere Diskussionen durch gen Ausgestaltung österreichischer Städte und die Erfahrungen aus den ersten zwei Lockdowns Siedlungen dar. Die Beziehung zum Wohnraum als Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19 hat sich jedoch seit einigen Jahren verändert: Pandemie. Alle, studentische Teilnehmer*in- Ursprünglich stellt die selbst genutzte Wohn- nen wie die zwei Lehrenden, befanden sich in immobilie ein Gebrauchsgut dar (Heeg 2013a). einer Art ungeplantem (und vor allem: schlecht In diesem Zusammenhang dient sie der persön- organisierten) „Reallabor“ für den angeordne- lichen Grundbedürfnisbefriedigung u.a. nach ten Rückzug in den privaten Wohnraum, das Erholung, Schutz und Sicherheit. Im Gegensatz Arbeiten im provisorischen Homeoffice (in Kel- zum Gebrauchsgut zielen Investitionsgüter da- ler, Küche oder Klo) und zur Erfahrung der Ver- rauf ab, Vermögen durch regelmäßige Erträge dichtung der Körper zu Hause. Die Pandemie zu vermehren. Die Betrachtung des Wohnraums als Verdichtung der Körper im Wohnraum hat als Investitionsgut bzw. Ware, also die Kommo- 7
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 difizierung dessen, schreitet seit geraumer Zeit stetig voran. Die Rückkehr der Wohnfrage als Wohnungsfrage wird daher angesichts beständig steigender Wohnimmobilienpreise im nächsten Abschnitt kurz diskutiert. NEOLIBERALER STADTUMBAU UND KOMMODIFIZIERUNG VON WOHNEN Im Kontext der kritischen Stadtgeographie fin- det „urbanes Wohnen“ seit fünfzig Jahren Beach- Abb. 1.1: Geförderter und nicht-geförderter (= freifinanzierter) Neubau in Österreich 1992-2017, tung. Allerdings kaum im Sinne der oben ange- Quelle: Kadi et al. 2020 deuteten Alltagstätigkeit des Wohnens, sondern als Wohnungsmarkt. Bereits 1989 kritisierte Da- prekarisierter Haushalte und Bevölkerungsgrup- vid Harvey prominent die neoliberalen Entwick- pen aus innenstadtnahen bzw. anderweitig be- lungen zur Unternehmerischen Stadt, zu deren gehrten Wohnlagen. Programmpunkten u.a. die Deregulierung und Während sich die Argumentation zur De- Privatisierung sowie die Markt- und Wettbe- ckung des quantitativen Bedarfs an Wohnraum werbsorientierung gehören. Die sozialwissen- meist um die bauliche Verdichtung des städti- schaftlichen Auseinandersetzungen griffen diese schen Gefüges entwickelte, standen (und stehen) Themen zum Umbau wohlfahrtsstaatlicher So- zeitgleich immer weniger öffentliche Finanz- zialsysteme sowie von Stadtentwicklungsstra- mittel dafür zur Verfügung, so dass zunehmend tegien auf und fokussierten seitdem vermehrt private Investoren diese baulichen wie finanziel- Wohnungsfragen als Immobilienmarktfragen len Lücken füllen. Die stetig wachsende Wohn- (siehe z.B. Schipper 2018). raumproduktion löst das Problem der quanti- Außerdem intensivierte sich die bereits seit tativen wie qualitativen Wohnraumversorgung den 1970er geführte Theoriedebatte um die gleichwohl nicht auf – im Gegenteil, es verstärkt kapitalistischen Grundlagen des urbanen Woh- sie: Wohnimmobilien sind mittlerweile Finanz- nungsmarktes – aktuell diskutiert als Kommo- marktinstrumente. Ihr Zweck ist keine Wohn- difizierung und Finanzialisierung des Wohnens: raumversorgung, sondern die Erwirtschaftung Denn durch die Betonung der Rolle der ge- maximaler Renditen (Heeg 2013b; Holm 2014). bauten Umwelt bzw. (neuer) Raumproduktio- nen für die temporäre Überwindung kapitalis- DER WOHNIMMOBILIENMARKT tischer Krisen („spatio-temporal fixes“, Harvey IN ÖSTERREICH 1982/2006; siehe auch Belina 2011) gewannen Anlagenimmobilien nachhaltig an Bedeutung. Auch in Österreich zeigen sich in den letzten Vor diesem Hintergrund – sowie dem an- Jahren eine Reihe an Verschiebungen im Woh- haltenden Trend des städtischen Bevölkerungs- nungssystem und spätestens 2012 hat die so- wachstums – stellt die Wohnungsmarktfrage ziale Wohnungsfrage auch Österreich erreicht auch eine Wohnfrage dar – eine Frage, in der (Springler 2018). Der Umbau des Wohnungs- zunächst die Bereitstellung von ausreichend und Sozialsystems unterliegt seit den 1980er und angemessenem Wohnraum eine Schlüssel- Jahren einem Strukturwandel hin zu einem rolle einnimmt. Seit Anfang der 2010er Jahre marktorientierten System. Die Steuerungs- können Veränderungsprozesse der Wohnraum- macht des österreichischen Staates hat seit den versorgung beobachtet werden. Diese basieren 1990er Jahren durch die Aufhebung der Zweck- u.a. auf steigenden Miet- und Immobilienprei- bindung der Fördergelder und die Verländerung sen und sie resultieren bspw. in der Verdrängung der Wohnbauförderung im Rahmen der Wohn- 8
1 EINFÜHRUNG: WOHNEN, DAS [SCHWACHES VERB] bauförderung stark abgenommen. Eine ausrei- dadurch – bei einer sehr moderaten Ausgangsla- chende Versorgung mit Wohnraum für untere ge – zu den Ländern mit den größten Preisstei- und mittlere Einkommensgruppen in urbanen gerungen am Wohnungsmarkt im europäischen Regionen wird zunehmend schwieriger (Kadi et Vergleich zwischen 2010 bis 2019 nach Estland, al. 2020). Die Steuerungsmacht des Staates im Ungarn, Lettland und Luxemburg (Vgl. Abb. Rahmen geförderter Wohneinheiten und somit 1.2, Eurostat 2021). der Vorgaben von Rahmenbedingungen wurde Steigende Wohnungsimmobilienpreise führen seit den 1990er Jahren zugunsten freifinanzier- zu einer Wohnkostenüberbelastung in Haushal- ter Einheiten abgebaut. Die damit verbunde- ten. Die Quote der Wohnkostenüberbelastung nen Lenkungseffekte des Staates bezogen auf misst den Anteil der Bevölkerung, der in einem einen sozialen gerechten und fairen Zugang für Haushalt lebt, in dem die gesamten Wohnkosten alle zum Wohnen sanken hiermit ebenso (Vgl. mehr als 40% des verfügbaren Haushaltsein- Abb. 1.1; Kadi et al. 2020). kommens übersteigen. Im EU27-Durchschnitt Mit dem verstärkten Bau von freifinanzierten lag dieser Wert für 2019 für die städtische Be- Wohnimmobilien steigen gleichzeitig die Wohn- völkerung bei 11,8% im Vergleich dazu in immobilienpreise. Die österreichische Entwick- Deutschland bei 16,2%. Im gleichen Jahr traf lung der Wohnimmobilienpreise im Vergleich eine Wohnkostenüberbelastung in Österreich zum europäischen Durchschnitt zwischen 2010 12,2% der städtischen Bevölkerung (Eurostat und 2019 zeigt, dass in diesem Betrachtungszeit- 2021). raum ein stetiger Aufwärtstrend zu verzeichnen In einem Vergleich der Medianeinkommen ist. Mit einem Ausgangsniveau in Österreich im der unselbstständig Beschäftigten in einem Be- Jahr 2010 von 76,8% zum Basiswert von 2015 trachtungszeitraum von 2005 bis 2017 wird dies mit 100% stiegen die Wohnungsimmobilien- ebenso deutlich mit einem nominellen Anstieg preise bis 2019 auf 126,6% an. Österreich zählt von lediglich 25%. Die untere Einkommens- Abb. 1.2: Wohnimmobilienpreisentwicklung Österreich im Vergleich mit EU27 zwischen 2010 und 2019, Quelle: Eurostat 2021 9
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 tuell setzt sich der Trend steigender Preise für Wohnimmobilien fort mit einem deutlichen An- stieg um 9,5% im 3. Quartal 2020 (ÖNB 2020). Getrieben durch die stetig steigende Wohnungs- nachfrage im städtischen Umfeld wirkt diese durch die steigenden Preise selbstverstärkend für die Anlegerseite. Die Attraktivität der Investition in Wohnimmobilien gewinnt durch anhaltende Niedrigzinsen und durch steigende Immobilien- preise und treibt sich hiermit selbst an. Immo- Abb. 1.3 Mieten, Kaufpreise und Einkommen in bilienbesitzer*innen können diese Effekte durch Österreich, Quelle: Kadi et al. 2020 Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung gruppe verzeichnet im Vergleich noch geringere positiv nutzen, während die Nachfrage nach Zuwächse. Die Kaufpreise und Mieten hingegen leistbarem Wohnraum bei unteren und mittle- stiegen deutlich an (Vgl. Abb. 1.2, Kadi et al. ren Einkommensgruppen steigt und tendenziell 2020). Zusätzlich bedingt die Eigentumsstruk- unerfüllt bleibt (Kadi et al. 2020). tur am österreichischen Wohnungsmarkt, dass steigende Immobilienpreise die Leistbarkeit von Wohnraum für die unteren Einkommensgrup- DIE LAGE IN GRAZ pen verschlechtert, bei gleichzeitigen Vermö- genszuwächsen der höheren Einkommensgrup- Graz als zweitgrößte Stadt Österreichs wächst, pen durch die steigenden Immobilienpreise. In ebenso wie andere urbane Regionen. Die Be- der Erhebung der Umverteilung durch den ös- völkerungsanzahl weist derzeit einen Perso- terreichischen Staat im Jahr 2015 ergingen Ein- nenstand mit Hauptwohnsitz von 294.236 auf nahmen aus Vermietung und Verpachtung zu (Stadt Graz, Stand: 01.01.2021). Prognosen der 82,5% an das oberste Einkommensdrittel und Stadt von 2015 gingen von einem durchschnittli- lediglich 5,2% an das unterste Einkommensdrit- chen jährlichen Anstieg von 2.000 Personen aus tel (WIFO 2019). (Referat für Statistik 2015). Neben der real steigenden Nachfrage an Nach einer Reduktion fertiggestellter Wohn- Wohnungen durch städtischen Zuzug steigt par- einheiten zwischen 2014 bis 2015 verzeichnete allel die Nachfrage nach Wohnungen als Finanz- die Stadt Graz bis 2020 einen jährlichen Woh- anlage auch in Österreich seit Jahren (Kadi et al. nungszuwachs. Für 2021 ergibt sich erstmals 2020). Gründe hierfür liegen in der Niedrigzins- wieder eine Reduktion (Vgl. Abb. 1.4). Gleich- phase am eigentlichen Kapitalmarkt und führen zeitig zeigt sich ein Zuwachs zwischen 2013 und am Immobilienmarkt zu Überbewertungen. 2016 bei der anwesenden Bevölkerung, welcher Ende 2019 lag der Fundamentalpreis-Indika- jedoch seitdem dauerhaft rückläufig ist. tor für Wohnimmobilien für Gesamtösterreich Das Grazer Stadtentwicklungskonzept STEK bei 14% und wurde seitens der Nationalbank 4.0, als oberstes Instrument der örtlichen Raum- als erstes Anzeichen für eine Überhitzung des planung 2015 in Kraft getreten, stellt die Ent- Marktes und eine potenzielle Blasenbildung ge- wicklungsgrundlage für den Grazer Raum bis deutet (ÖNB 2019). Dieser Trend schrieb sich 2030 dar. Die Grundsätze der Grazer Stadtent- für das Jahr 2020 fort mit einer Erhöhung des wicklung, als Grundlage für die Entwicklung des Indikators auf 17,4% und deutet auf eine zu- STEK 4.0, verfolgten die Ziele „die zu einer ge- nehmende Überhitzung des Wohnimmobi- steigerten Attraktivität durch eine hohe Lebens- lienmarkts hin (ÖNB 2020). Für das Jahr 2021 qualität für Bürger*innen und Investoren*innen wurde eine Überschussproduktion von 35.000 und einer sicheren Perspektive für Privatinvesti- Wohneinheiten prognostiziert (ÖNB 2019). Ak- tionen führen“ (Schöttli 2012). 10
1 EINFÜHRUNG: WOHNEN, DAS [SCHWACHES VERB] Abb. 1.4: Bevölkerungs- und Wohnungszuwachs Graz 2013 - 2020, Quelle: Pollet- Kammerlander et al. 2021, eigene Darstellung Sowohl die Prognosen als auch die reale Ent- DIE STUDIERENDENPROJEKTE wicklung und die Ausrichtung des STEK 4.0 der Stadt ziehen seit Jahren finanzmarktveran- Wohngebäude sollten vorrangig den Bewoh- kerte Investoren in die Stadt. Die Kaufpreise ner*innen und ihrem Alltag, dem Wohnen für Grazer Wohnungen steigen seit 2016 stetig. dienlich sein. Darüber hinaus müssen diverse Im Jahr 2016 wurde eine Veränderungsrate der Krisenerscheinungen, wie Klima-, Finanz- und Wohnungspreise im Vergleich zum Vorjahr um auch Coronakrise verstärkt in zukünftige Über- 6,3% verzeichnet. Im Folgejahr zwar nur mehr legungen zum Wohnen wie zum Wohnungs- um 2%, jedoch war 2018 wieder ein Anstieg um markt einfließen. Ausgehend von den skizzierten 3,8% und 2019 um 5,7% zu beobachten. Im Dynamiken am Wohnungsmarkt sowie im Zuge Jahr 2020 stiegen die Grazer Wohnungspreise der Nachhaltigkeitstransformation wurde von um 4,6% (Statistik Austria 2021). Masterstudierenden das urbane Wohnen in so- Seitens der Immobilienbranche wird auf- zialer, ökologischer und ökonomischer Hinsicht grund verstärkter Nachfrage speziell von institu- thematisiert und „ausprobiert“: Hierzu gehörten tionellen Anlegern aus dem Ausland mit einem v.a. innovative Wohnkonzepte für innerstädti- weiteren Anstieg der Preise und speziell in den sche sowie Stadt-Land-Verflechtungsräume in Innenstadtlagen am linken Murufer gerechnet. Zeiten von Wohnraumknappheit und Gentrifi- Ebenso sieht man in den ehemaligen Arbeiter- zierung – aber Pandemisierung, Digitalisierung vierteln am rechten Murufer neue Entwicklun- und Klimakrise. Ziel war es die aktuellen De- gen (Martich 2021). Gleichzeitig wird auf Seiten batten um urbane Gerechtigkeit im Kontext von der Investor*innen die zunehmende Knappheit Wohnen und nachhaltiger Stadtentwicklung zu an attraktiven Investmentmöglichkeiten in Graz diskutierten und anhand konkreter sozialer wie bemängelt (Pöltl et al. 2020), während die Seite räumlicher Beispiele zu bearbeiten. Dazu gehö- der Bürger*innen gegenwärtig einen Baustopp ren kooperatives Wohnen (Bienengasse, im sich für die Stadt fordert (Pollet-Kammerlander et al. gentrifizierenden Lend), barrierefreies Wohnen 2021). Die Initiative für ein unverwechselbares (Kopernikusgasse), junges Wohnen (am Grün- Graz als Bürger*innenbewegung gegen den fort- anger im Süden Graz) und Wohnangebote für schreitenden Identitätsverlust der Stadt verlangt wohnungslose Menschen am Ruckerlberggürtel. ein Überdenken der aktuellen Bautätigkeiten Die vorliegende Publikation stellt die Ergebnisse mittels einer Leerstandserhebung in der Stadt der vier Projekte vor und möchte hiermit Im- als Grundlage für eine Abschätzung der not- pulse zu Fragen des Wohnens in Graz sowie zur wendigen Wohnbauentwicklung (Pollet-Kam- Grazer Wohnversorgung leisten. merlander et al. 2021). 11
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 LITERATUR Beck, S. (2021): Wohnen als sozialräumliche Praxis. Zur Pollet-Kammerlander, D., Thümmel, E., Schwentner, subjektiven Bedeutung von Gemeinschaftlichem Wohnen im E., Rosmann, H., Candussi, H., Hummelbrunner, Kontext sozialen Wandels. Wiesbaden: Springer VS. R., … Binder, S. (2021): Baustopp, Die Vernichtung von Grünraum und Zerstörung alter Bausubstanz geht weiter. Ab- Belina, B. (2011): Kapitalistische Raumproduktionen und gerufen von Unverwechselbares Graz: http://www.unverwech- ökonomische Krise. Zum Begriff des spatial fix bei David Har- selbaresgraz.at/wp-content/uploads/2021/02/2021_02-22-des- vey. Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 55 (4), 239-252. halb-Baustopp.pdf Eurostat (2021): Housing in Europe. Housing cost. Abgerufen Pöltl, F., Mendel, M., Fitzek, J., & Konrad, D. (2020): von https://ec.europa.eu/eurostat/cache/digpub/housing/ Grazer Wohnungsmarktbericht, Ausgabe 2019/2020. Abgeru- bloc-2a.html?lang=en fen von EHL Investment Consulting: https://www.ehl.at/filead- min/user_upload/grazer_wohnungsmarktbericht_2020.pdf Friedrichs, J., Leßke, F., & Schwarzenberg, V. (2019): Fremde Nachbarn. Die sozialräumliche Integration Referat für Statistik (2015): Bevölkerungsprognosen 2015- von Flüchtlingen. Wiesbaden: Springer VS. 2034 für die Landeshautpstadt Graz. Abgerufen von Magistrat Graz-Referat für Statistik: http://www1.graz.at/Statistik/bevöl- Harvey, D. (1989): From Managerialism to Entrepreneu- kerung/Bevölkerungsprognose_2015_2034.pdf rialism: The Transformation in Urban Governance in Late Capitalism. Geografiska Annaler. Series B, Human Geography, Schipper, S. (2018): Wohnraum dem Markt entziehen. Woh- 71 (1), 3-17. nungspolitik und städtische soziale Bewegungen in Frankfurt und Tel Aviv. Wiesbaden: Springer VS. Harvey, D. (2006): The limits to capital. London: Verso. (Ori- ginalwerk veröffentlicht 1982) Schipper, S., & Vollmer, L. (Hrsg.). (2020): Wohnungs- forschung. Ein Reader. Bielefeld: Transcript. Heeg, S. (2013a): Wohnen als Anlageform: Vom Gebrauchs- gut zur Ware. Emanzipation, 3 (2), 5-20. Scholtz, N., & Strüver, A. (2017): Zum Auf-Spüren und Er-Leben von Atmosphären durch Obdachlose auf der Ham- Heeg, S. (2013b): Wohnungen als Finanzanlage. Auswirkun- burger Reeperbahn. Mobile Culture Studies, 3, 97-110. gen von Responsibilisierung und Finan-zialisierung im Bereich des Wohnens. sub\urban, 1 (1), 75-99. Schöttli, H. (2012): Stadtentwicklungskonzept Graz. Abge- rufen von Magistrat Graz-Stadtplanung: https://www.graz.at/ Holm, A. (2014): Gentrifizierung – mittlerweile ein Main- cms/dokumente/10311057_8115447/4047dfb1/Gesamt%20 streamphänomen? Informationen zur Raumentwicklung, 4, 4%200%20STEK_13%2006%202012_Final%20%282%29_ 277–290. test.pdf Jany, A. (2019): Experiment Wohnbau. Berlin/Graz: Jovis. Springler, E. (2018): Die Rückkehr der Wohnungsfrage: Soziale Bruchlinien in Österreich nach der Krise. Kurswechsel Kadi, J., Banabak, S., & Plank, L. (2020): Die Rückkehr 4/2018, 47-56. der Wohnungsfrage. Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen. Factsheet VII. Stadt Graz (2021): Zahlen + Fakten: Bevölkerung, Bezirke, Wirtschaft, Geografie. Abgerufen von https://www.graz.at/ Marquardt, N. (2015): Das Regieren von Emotionen in cms/beitrag/10034466/7772565/Zahlen_Fakten_Bevoelke- Räumen des betreuten Wohnens. Geographica Helvetica, 70, rung_Bezirke_Wirtschaft.html 175-184. Statistik Austria (2021): Sonderauswertung Häuserpreis- Martich, H. (2021): Marktreport 2020/2021 Graz, Wohn- & index 2021, Abgerufen von Landesentwicklung Steiermark: Geschäftshäuser, Residential Investment. Abgerufen von Engel https://www.landesentwicklung.steiermark.at/cms/dokumen- & Völkers Commercial Graz: https://www.engelvoelkers.com/ te/12822018_141976103/5fa2099d/HPI%202021%20Steier- de-de/commercial/doc/Graz_WGH_4-Seiter_2020-2021_ mark.pdf Web.pdf Strüver, A. (2020): Geschlechterordnungen des Wohnens. In ÖNB (2019): Immobilien aktuell – Österreich, Q4/19. Abgeru- F. Eckart & S. Meier (Hrsg.), Handbuch Wohnsoziologie (online fen von ÖNB: https://www.oenb.at/Publikationen/Volkswirt- first). Heidelberg: Springer VS schaft/immobilien-aktuell.html Vogelpohl, A. (2012): Die „unternehmerische Stadt“ und das ÖNB (2020): Immobilien aktuell – Österreich, Q4/20. Abgeru- „Recht aus Stadt“. DISS-Journal, 24. Abgerufen von: https:// fen von ÖNB: https://www.oenb.at/Publikationen/Volkswirt- www.diss-duisburg.de/2012/11/die-unternehmerische-stadt- schaft/immobilien-aktuell.html und-das-recht-auf-stadt/ WIFO (2019): Umverteilung durch den Staat in Österreich 2015. Verfügbar unter: https://www.wifo.ac.at/publikationen/ studien?detai l-view=yes&publikation_id=61782 12
2 SELBSTBESTIMMTER LÜCKENSCHLUSS: WOHNEN AM RUCKERLBERGGÜRTEL 2 Teresa Böhm, Melanie Häusel, Philipp Hochegger, Nina Mally, Susanna Rauscher Selbstbestimmter Lückenschluss: Wohnen am Ruckerlberggürtel 1 EINLEITUNG möchte die Stadt den Innenhof freihalten oder auflassen und stattdessen die Randbereiche ver- Die Idee eines Lückenschlusses am Grazer Ru- dichten. Der Schluss dieser Baulücke ist explizit ckerlberggürtel wurde von den Projektmitglie- im Bebauungsplan vermerkt (Stadt Graz 2020). dern zum Anlass genommen, ein nachhaltiges Wie in der Abbildung sichtbar, befindet sich Wohnkonzept für wohnungslose Menschen zu in direkter Umgebung auf der rechten Seite erstellen. Auf Basis eines Vier-Säulen-Nachhal- der Schillerplatz 7, ein 14 Meter hohes Gebäu- tigkeitsmodells wurden Kriterien festgelegt, die de, dessen Fenster zur Zeit noch zu der Baulü- in der Planung berücksichtigt worden sind. So cke hin zeigen und das straßenseitig mit einer sind Ressourcenschonung im Bau und laufenden Brandwand abschließt. Der Bebauungsplan Betrieb, wie etwa eine Regenwassernutzungsan- sieht vor, dieses Haus zu einem repräsentati- lage oder ein Dachgarten mit Photovoltaikan- ven Eckgebäude umzugestalten und im Zuge lage, sowie die soziale Nachhaltigkeit des Pro- dessen die Fenster zur Straße zu verlegen. Der jektes essenzielle Faktoren für die Umsetzung. geplante Lückenschluss wird somit keine Fens- Das bestehende Erdgeschoss soll als Gemein- ter verbauen. Zur linken Seite befindet sich der schaftsraum für Bewohner*innen, aber auch für 16,80 m hohe Ruckerlberggürtel 27. Das schon Nachbar*innen offen stehen und als Plattform vorhandene Erdgeschoss in der Baulücke ist 3 m für Kommunikation dienen. In der Planung der Wohneinheiten wurde ein Schwerpunkt auf Inklusion und Barrierefreiheit sowie optimale Platznutzung gelegt, um den Bewohner*innen trotz der geringen Größe der Wohnungen ideale Wohnqualität bieten zu können. Im Folgenden werden die Umsetzung des erstellten Konzeptes der Wohnungslosenhilfe und die Umsetzung der Baumaßnahmen erläutert. 2 RAHMENBEDINGUNGEN Lage und rechtliche Rahmenbedingungen Das Grundstück befindet sich am Rande von St. Leonhard, einem klassischen gründerzeitli- chen Viertel mit Blockrandbebauung, das zur Altstadtschutzzone III der Stadt Graz gehört. Es ist deswegen prinzipiell für alle Bauvorhaben ein Gutachten nötig, da die stadtbildprägenden baulichen Charakteristika weitgehend erhalten bleiben sollen. Dementsprechend gibt es auch vom Bebauungsplan bestimmte Vorschriften, die eingehalten werden müssen. Um den grün- derzeitlichen Charakter des Viertels zu stärken, Abbildung 2.1: Die Baulücke, eigene Darstellung 13
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 Abbildung 2.3: Baulücke von oben Quelle: GoogleMaps 2020 Abbildung 2.4: Foto der Baulücke, eigene Aufnahme hoch. Laut Bebauungsplan darf hier 11 m tief sowie dreistöckig gebaut werden. Zudem sind hier Satteldächer vorgesehen, bei Zu- und Um- bauten jedoch auch Flachdächer zulässig (Stadt Graz 2020). Exkurs: Gründerzeitliche Viertel Die gründerzeitlichen Viertel mit der typischen einheitlichen Blockrandbebauung und den teils üppig verzierten Fassaden sind typisch für das Abbildung 2.2: Bebauungsplan der Grazer Stadtbild. Zum Großteil in der zweiten Baulücke Quelle: Stadt Graz 2020 Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, spiegeln sich in ihnen viele gesellschaftliche Facetten die- wachstum und die damit einhergehende Woh- ser Zeit der großen Umbrüche. Die industrielle nungsnot machten mehrgeschossige Gebäude Revolution löste in ganz Europa eine stürmische erforderlich, die Stadtplanung ermöglichte die Urbanisierung aus. In vielen Städten, jahrhun- konsequente und vergleichsweise einheitliche dertelang gleich groß geblieben, verfünf- bis Umsetzung. Die lückenlosen Fassadenfronten verzehnfachte sich die Bevölkerung innerhalb mit gleichartigen Gliederungen mit Vorsprün- weniger Jahrzehnte. Zudem markierte die bür- gen, Balkonen und repräsentativen Eckgebäu- gerliche Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts den lassen eine perspektivische Wirkung ent- den Umschwung von der höfischen zur bürgerli- stehen, die Wohngebäuden ein palastähnliches chen Gesellschaft. Neue Eigentumsrechte, sowie Aussehen verleiht. Die Zinshäuser sind zwar die Liberalisierung des Marktes ermöglichten ein bürgerliches Phänomen, der höfische Prunk den Bau von Zinshäusern im großen Stil. Miete war aber weiterhin ein wichtiges Machtsymbol wurde bald die vorherrschende Wohnform und (Pirstinger 2014). Für Graz typisch sind die gro- die Zinshäuser zu einer beliebten Kapitalanlage ßen freien Innenhöfe und die kleinen Vorgärten (Sokratis 1979). Durch die ungesteuerte Expan- mit Pufferwirkung zwischen Haus und Straße. sion entwickelten sich jedoch auch Probleme. Die dadurch gewonnene Lebensqualität geht Die Wohnsituationen waren oft prekär und die allerdings auch mit einem gewissen Verlust an Hygiene- und Sicherheitsbedingungen mussten Urbanität einher (Wagner 2019). Eine Nachver- verbessert werden. dichtung an den Rändern bedeutet also einen Daraus ergab sich die Notwendigkeit zu pla- Zugewinn für die städtische Qualität des Vier- nen: die Disziplin des Städtebaus gewann an Be- tels, ohne die Stärken der lockeren Bebauung zu deutung. Aus diesen gesellschaftlichen Verände- verlieren. rungen heraus entstand die neue Wohntypologie des Blockrandbaus. Das große Bevölkerungs- 14
2 SELBSTBESTIMMTER LÜCKENSCHLUSS: WOHNEN AM RUCKERLBERGGÜRTEL 3 KONZEPT 3.2 WIE SIEHT DIE UMSETZUNG DER WOHNPERSPEKTIVE AM Die fünf Wohnungen in dem von uns entwor- RUCKERLBERGGÜRTEL AUS? fenen und konzipierten Haus werden Personen zur Verfügung gestellt, die akut obdach- oder 3.2.1 WER IST UNSERE ZIELGRUPPE? wohnungslos sind und das Bedürfnis nach einer selbstbestimmten Wohnform haben. Wir orien- Unsere Vision ist es, speziell jungen Erwachse- tieren uns inhaltlich am Housing-First-Prinzip, nen, die nach Ende des Unterstützungssystems welches im Folgenden erläutert wird. der Jugendwohlfahrt von Wohnungs- und Ob- dachlosigkeit betroffen sind, durch das Angebot 3.1 WAS IST HOUSING FIRST? einer eigenen Wohnung die Basis zu bieten, um ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben Housing First ist ein innovativer Ansatz zur zu führen. nachhaltigen Verminderung von Obdachlosig- Bei der Entscheidung, wem eine Wohnung keit, der in den 1990er Jahren in den USA seine zur Verfügung gestellt werden kann, gibt es le- Geburtsstunde hatte und als Ergänzung zu her- diglich ein wesentliches Kriterium. Die Person kömmlichen stationären Angeboten der Woh- muss über ein monatliches Einkommen ver- nungslosenhilfe gilt. Während der herkömmliche fügen oder einen Rechtsanspruch auf soziale Treatment First Ansatz auf einem Stufenmodell Transferleistungen haben, damit die regelmä- basiert, nachdem eine obdach-/wohnungslose ßige Bezahlung der Miete, Betriebskosten, Hei- Person erst mehrere stationäre Einrichtungen zung und Strom sichergestellt werden kann. durchläuft, um schrittweise an ein eigenständi- ges Wohnen herangeführt zu werden, stellt Hou- 3.2.2 WER MACHT WAS? sing First eine eigene Wohnung an erste Stelle, in der man gesichert und selbstbestimmt leben Im Konzept von Housing First sind die Verwal- kann. Housing First geht davon aus, dass eine tung des Hauses und die persönlichen Hilfen eigene Wohnung die Basis darstellt, aufgrund für die Bewohner*innen organisatorisch von- welcher Menschen sich nach einer Zeit der einander getrennt. Der Grund liegt darin, dass Wohnungslosigkeit stabilisieren können. Kom- sozialarbeiterische Unterstützung im Falle einer plexe Probleme können nur dann gelöst werden, Delogierung weiterhin in Anspruch genommen wenn dieses Grundbedürfnis nach gesichertem werden kann. Es wird außerdem vermieden, Wohnen erfüllt ist (Pleace 2016, S. 12). Housing dass Sozialarbeiter*innen in einer Doppelrolle First hat an sich nicht den Anspruch strukturelle als vermietende Partei, die u.a. Regelungen bis Probleme des freien marktwirtschaftlichen Woh- hin zu Delogierungen durchsetzen muss und an- nungsmarktes zu bekämpfen, sondern versucht dererseits als unterstützende Vertrauensperson im Rahmen der Wohnungslosenhilfe eine nach- für die Bewohner*innen fungieren muss (Neu- haltige Alternative zum bisherigen Treatment nerhaus 2011, S. 25f). First Ansatz zu bieten (Neunerhaus 2011, S. 15f). Basierend auf dieser Überlegung konzipieren auch wir die Trennung der beiden Aufgaben- felder Verwaltung und Unterstützung und emp- fehlen den Bau, die Instandhaltung und die Ver- waltung des Hauses durch eine gemeinnützige Wohnbauvereinigung abzuwickeln und die Er- füllung des Hilfsangebotes an eine NGO auszu- gliedern, die bereits in der Wohnungslosenhilfe in Graz tätig ist. 15
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 3.2.2.1 DIE GEMEINNÜTZIGE terische Tätigkeit ergibt sich aus zwei Kompo- WOHNBAUVEREINIGUNG nenten: 1. Fallunspezifische und gruppenorientierte Der Bau und die Instandhaltung des Gebäudes Angebote, dazu zählen beispielsweise die sowie die Verwaltung der Wohnungen liegt, wie Verwaltung des Gemeinschaftsraumes, Me- eben beschrieben, bei der Wohnbauvereinigung. diation bei Konflikten im Haus oder die Or- Unsere Idee ist es, das Projekt bei einer gemein- ganisation von Gruppenaktivitäten als fixe nützigen Baugesellschaft anzusiedeln, welche Aufgaben der Sozialarbeiter*innen. dieses einerseits aus Eigenkapital/Krediten 2. Individuelle Vereinbarungen mit jedem/r und andererseits über Förderungen des Landes Bewohner*in, je nachdem in welchen Be- Steiermark finanzieren kann (Land Steiermark reichen Unterstützung erforderlich ist und Wohnbau). Einnahmen können durch den Miet- wie diese gestaltet wird. Beispielsweise kann zins, welcher selbstverständlich niedrig angesetzt Hilfe angeboten werden beim Wohnungs- werden muss, lukriert werden. Entsprechend der einzug (behördliche Anmeldung, Dauerauf- Vorschriften für gemeinnützigen Wohnbau darf trag für Miete, Anmeldung von Strom und der Mietzins maximal kostendeckend angesetzt Heizung, Lukrieren von Möbeln, etc.- im werden (RIS Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz Rahmen der Existenzsicherung: Anträge §13). Da die Wohnungen an eine Zielgruppe auf soziale Transferleistungen, Wohnunter- vermietet werden deren Einkommenshöhe ten- stützung, Schuldenregulierung, etc.), beim denziell am Existenzminimum liegt, wäre es zu Wohnungsauszug/-wechsel, bei Konflikten überlegen, mithilfe von kommunalen Subventio- im Haus oder mit Anrainer*innen, beim nen den Mietzins deutlich unter den am Markt Formulieren, Erarbeiten und Evaluieren vorherrschenden durchschnittlichen Mietpreis persönlicher Ziele, im Krisenfall durch Kri- pro Quadratmeter zu senken. Eine andere Mög- senintervention. lichkeit wäre es den Mietzins prozentual am Die NGO erweitert durch die Umsetzung von Einkommen der einzelnen Bewohner*innen zu Housing First ihre Angebote für wohnungs- und bemessen. obdachlose Personen und setzt dadurch, neben stationären Einrichtungen, ein innovatives Pro- 3.2.2.2 DIE BETREUENDE NGO jekt um. Für die NGO sehen wir zwei mögliche Säulen der Finanzierung. Einerseits kann bei Die NGO hat die Aufgabe gemäß des Konzep- der Stadt Graz und dem Land Steiermark (bei- tes von Housing First die Bewohner*innen nach des jeweils im Sozialressort) um Subventionen individuellem Bedarf auf freiwilliger Basis zu angesucht werden. Andererseits sehen wir das unterstützen. Ziel von Seiten der NGO ist es Potenzial einen Teil der Arbeit über Spenden auf niederschwelliger Basis Beratung und Be- finanzieren zu können. gleitung anzubieten. Neben den individuellen Zielen der Personen gilt es als wesentliches Ziel, 3.2.3 WIE KOMMT EINE OBDACHLOSE die Personen dabei zu unterstützen den Verbleib PERSON ZU EINER WOHNUNG in der Wohnung zu sichern, wodurch Verpflich- UND WAS PASSIERT DANN? tungen wie z.B. die Bezahlung der Miete erfüllt werden müssen. Sobald die Instandsetzung des Hauses erfolgt ist und die Wohnungen bezugsbereit sind, wird Was umfasst die sozialarbeiterische Unterstützung? das neue Angebot Housing First in der Grazer Das Hilfsangebot wird zur Verfügung gestellt Soziallandschaft via E-Mail-Aussendung, Me- und kann von den Bewohner*innen freiwillig in dien, Webauftritt und persönlichen Kontakten Anspruch genommen werden. Die sozialarbei- bekannt gemacht. Ziel ist es, dass alle Sozialein- richtungen, die mit wohnungs- oder obdachlo- 16
2 SELBSTBESTIMMTER LÜCKENSCHLUSS: WOHNEN AM RUCKERLBERGGÜRTEL sen Personen in Kontakt stehen, von dem An- 3.3 DAS ERDGESCHOSS ALS gebot erfahren und ihre Klient*innen über das GEMEINSCHAFTSRAUM Angebot informieren. Wenn eine obdachlose Person Interesse an einer Wohnung in unserem Durch die Verbindung der Nutzungsmöglich- Haus hat, kann sie selbst mit der betreuenden keit gemeinschaftlich genutzter Räume und NGO Kontakt aufnehmen. Es folgt ein Erstge- der Rückzugsmöglichkeit und Privatheit der spräch, in dem die Rahmenbedingungen geklärt eigenen Wohnung kann die Wohnqualität ge- werden. Wenn sowohl die interessierte Person steigert werden. Der Gemeinschaftsraum im als auch die NGO einem Einzug zustimmt, wird Erdgeschoss soll als Kommunikationsplattform dies als Empfehlung an die Hausverwaltung wei- dienen und Raum für Kreativität und Zusam- tergeleitet, welche die endgültige Entscheidung menkünfte bieten. So kann beispielsweise ge- trifft und den Mietvertrag aufsetzt. Der Mietver- meinsam gekocht und gegessen werden oder trag ist als gewöhnlicher Hauptmietvertrag mit es können gemeinschaftliche Film- oder Spiele- einer Laufzeit von drei Jahren vorgesehen, was abende abgehalten werden. Die Beteiligung an impliziert, dass dieser unter das österreichische gemeinsamen Aktivitäten erfolgt auf freiwilliger Mietrechtsgesetz fällt und jegliche Rechte und Basis, der Raum kann auch für private Feier- Pflichten von Mieter*innen damit einhergehen. lichkeiten der Bewohner*innen genutzt werden. Den Personen stehen ihre eigenen Wohnungen Die Organisation der Termine und der Reini- somit als normale Mietwohnungen ohne Extra- gung übernimmt der/die Sozialarbeiter*in, die Verpflichtungen zur Verfügung. Die sozialarbei- Instandhaltung der Räumlichkeiten obliegt der terische individuelle Hilfestellung kann auf frei- Hausverwaltung. williger Basis in Anspruch genommen werden. Um die Nachbarschaft einzubinden und die Gewünscht, aber ebenso freiwillig ist die Teil- Ressourcen effizient auszuschöpfen ist es ange- nahme an gemeinsamen Aktivitäten der Haus- dacht, das Erdgeschoß zu bestimmten Zeiten gemeinschaft. für die Öffentlichkeit als Nachbarschaftscafé Vorgesehen ist, dass die Person nach Ablauf zugänglich zu machen. Dort können von Be- des Mietvertrags (drei Jahre) die Wohnung wie- wohner*innen und Nachbar*innen Workshops der verlässt. Im Optimalfall wurde bis zum Aus- zu verschiedenen Themen, je nach Fähigkeiten zug selbstständig oder mit sozialarbeiterischer und Wünschen der Teilnehmer*innen abgehal- Unterstützung eine dauerhaft gesicherte und ten werden. Auch die Nutzung als Lern- oder leistbare Wohnform gefunden, wie beispielswei- Repaircafè ist möglich. se eine Gemeindewohnung. Je nach individuel- Die Einrichtung des Gemeinschaftsraumes len Umständen kann ein Mietvertrag aber auch soll flexible Nutzungsformen ermöglichen, fixe bei Bedarf einmalig verlängert werden. Bestandteile sind eine Küchenzeile, klappbare Zusammenfassend kann festgehalten werden, Tische und Sitzmöbel. Ein „offenes Bücherre- dass unser Haus am Ruckerlberggürtel Men- gal“, wird mit Leihbüchern und -spielen für die schen die Möglichkeit gibt ihre akute Wohnungs- Gemeinschaft ausgestattet. Im Erdgeschoß be- oder Obdachlosigkeit zu beenden in dem ihnen findet sich ebenfalls ein WC, das auch von Be- ein eigener und selbstbestimmter Wohnraum sucher*innen des Nachbarschaftscafés benützt unbürokratisch und schnell zur Verfügung ge- werden kann. Ein stationärer PC mit Drucker stellt wird. Wir bedienen uns dabei einiger Me- und Internetzugang erleichtert den Bewoh- thoden und Ansätze von Housing-First, wenn- ner*innen die Vorbereitung auf diverse Amts- gleich wir nicht alle Kriterien, wie beispielsweise wege und bietet die Möglichkeit eines kosten- die dauerhafte Wohnsicherheit durch unbefris- freien Internetzugangs. tete Mietverträge, erfüllen können. Im Sinne der Ressourcenschonung wird es sowohl im Gemeinschaftsraum als auch im Kel- ler einen Pool an Leihgeräten und -werkzeugen 17
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 Abbildung 2.6 Grundriss Erdgeschoss, eigene Darstellung Abbildung 2.5: Projektentwurf, eigene Darstellung geben. Der Keller wird mit einer Werkbank für Abbildung 2.7: Grundriss erster Stock, eigene Darstellung kleine Projekte und Reparaturen sowie einer Gemeinschaftswaschmaschine ausgestattet. Stock erstreckt sich wie in Abbildung 2.7 zu 4 AUSFÜHRUNG sehen über das gesamte Stockwerk, hat zwei Zimmer und ein Bad. Das hofseitige Zimmer 4.1 UMSETZUNG DES PROJEKTS ist dabei ca. 18,9 m², das straßenseitige 18,9 m² und das Bad 4,9 m² groß. Diese Wohnung soll Das Haus soll eingeteilt werden in Keller, Erd- komplett barrierefrei gestaltet werden. geschoss, Stiegenhaus mit Aufzug, fünf Woh- nungen und Flachdach mit Dachgarten. Die Exkurs: Barrierefreies Wohnen Grundrisse in diesem Abschnitt sind als grobe Barrierefreies Wohnen kann in jeder Lebenssi- Orientierung gedacht und müssten durch einen tuation wichtig werden und soll deswegen von Architekten auf Machbarkeit überprüft werden. Beginn an bei der Planung mitgedacht werden. Zum einen, um das Wohnprojekt so inklusiv wie Keller und Erdgeschoss möglich zu gestalten (auch für Besucher*innen Wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, werden der Bewohner*innen), zum anderen, um die Nut- Keller und Erdgeschoss als Räume für die ge- zung flexibel zu halten. Teurer als barrierefrei zu meinsame Nutzung durch die Hausgemeinschaft bauen ist, barrierefrei umzubauen. Ist die Infra- errichtet. Der Keller wird in je einen Bereich für struktur schon vorhanden, steht das Gebäude Werkstatt und Waschküche unterteilt und mit für eine Vielzahl von (Nach-) Nutzungen offen. Werkzeug, Werkbank und Waschmaschine aus- Das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und gestattet. Konsumentenschutz nennt in seiner Broschüre Barriere:frei! vier Hauptkriterien, die barriere- Wohnungen freies Wohnen ermöglichen. Das sind der stufen- Insgesamt sollen sich im Gebäude fünf Wohn- lose, ebene Zugang im gesamten Wohnbereich, einheiten befinden. Die Wohnung im ersten eine ausreichende Durchgangsbreite von min- 18
2 SELBSTBESTIMMTER LÜCKENSCHLUSS: WOHNEN AM RUCKERLBERGGÜRTEL Abbildung 2.8: Beispiel eines barrierefreien Bads Abbildung 2.9: Grundriss zweiter Stock, eigene Darstellung mit ausreichender Rangiermöglichkeit Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011 destens 80 cm bei Türen, die erreichbare Höhe ne*n Architekt*in (eine Kooperation mit einem (80 - 100 cm) von Bedienelementen und ein Masterseminar der TU Graz wäre vorstellbar) Durchmesser von 150 cm bei Bewegungsflächen damit zu beauftragen, im Vorhinein platzspa- in strategischen Bereichen. Wie in Abbildung 2.8 rende Möbel und Stauraum zu entwerfen. Diese ersichtlich können sich diese Bewegungsflächen können dann gegebenenfalls schon während der beispielsweise für die verschiedenen Bereiche im Bauphase eingeplant werden. Beispiele dafür Bad auch überschneiden. Platzsparend und bar- sind Einbauregale oder Tische, die an die Wand rierefrei sind deswegen keine Widersprüche. Des hochgeklappt werden können, und somit eine weiteren gibt es viele verschiedene kleinere aber flexible Raumnutzung ermöglichen. auch wichtige Aspekte, die beachtet werden soll- ten, beispielsweise unterfahrbare Küchenmöbel, Exkurs: Nachhaltige Bauweise Verwendung des Zwei-Sinne-Prinzips, farbli- Die kommunal geprägten Handlungsfelder che Abhebung von Lichtschaltern und Türen, Energie, Wasser, Bauen und Wohnen sind ein rutschfeste Kanten bei Treppen, Treppenhand- wichtiger Bestandteil für nachhaltige Innovatio- lauf auf zwei Höhen, usw. (Bundesministerium nen. Für einen bewussten Umgang und nach- für Arbeit und Soziales 2011). Viele dieser As- haltige Versorgung mit Energie erscheinen pekte können leicht umgesetzt werden und sol- Kommunen mit lokalen Energieversorgungs- len in dem Projekt auch Anwendung finden. Ein konzepten als relevante Nische. Diese betreiben zentrales Element ist zudem der Einbau eines häufig erneuerbar gespeiste Nahwärmenetze Lifts. (in der Regel solar). Viele Konzepte setzen da- In den Geschossen zwei und drei befinden bei auch oder ausschließlich auf erneuerbare sich jeweils zwei Kleinstwohnungen (siehe Ab- Energien und fördern zudem Maßnahmen zur bildung 4.5), jede mit eigenem Bad, das ca. 3,3 Erhöhung der Energieeffizienz und Energieein- m² groß sein wird. Die hofseitige Wohnung ist sparung (Umweltberatung 2014). mit 18,5 m² dabei größer als die straßenseitige mit 14,3 m². Da diese Wohnungen sehr klein 4.1.1 BAUMATERIALIEN sind, wird hier eine komplett barrierefreie Ein- richtung nicht möglich sein, beispielsweise weil Für Nachhaltiges Bauen gilt es folgendes zu be- der Platz nicht für unterfahrbare Küchenmöbel achten: ausreicht. Trotzdem sollen so viele Aspekte der • Herstellung, Transport und Entsorgung sind Barrierefreiheit wie möglich berücksichtigt wer- energie- und schadstoffarm den. Aufgrund der geringen Größe aller Woh- • Das Material ist recycelt, recyclefähig oder nungen soll die Inneneinrichtung schon bei der kann gut repariert werden Planung berücksichtigt werden. Die Idee ist, ei- • Das Material ist regional verfügbar 19
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 • Das Material ist aus einem nachwachsenden 4.1.2 WASSERTECHNIK UND Rohstoff ABWASSERWIEDERVERWENDUNG Durch eine gute Wärmedämmung können Heizkosten gespart werden und auch die rich- Veränderte Niederschlagsregime und -mengen tigen Impulse im Hinblick auf Umweltschutz sowie regional deutlich verringerte Nutzer*in- gesetzt werden. Auf Dämmmaterialien wie Mi- nenzahlen bei gleichzeitiger Zunahme der Sied- neralwolle und Steinwolle sollte verzichtet wer- lungsfläche verändern die Rahmenbedingungen den und stattdessen natürliche Dämmstoffe zum der Wasserver- und entsorgung. Darüber hinaus Einsatz kommen. Ihre Dämmwerte und Schall- ergeben sich neue ökologische Anforderungen schutz sind gut, zudem werden sie energiespa- und Herausforderungen insbesondere in folgen- rend hergestellt. den Bereichen: • Holzfasern: Holz ist ein regionaler, nachwach- • Neuartige Sanitärsysteme (NASS-Konzepte) sender Rohstoff und hat kurze Transportwege. mit stärkerer Trennung von Abwasserteilströ- Es ist feuchtigkeitsregulierend, hat gute Wär- men, die eine Gewinnung von Energie und medämm- und Schallschutzwerte und kann eine Wiedernutzung von Wasser und Nähr- auch als Putzträger in Wärmedämmverbund- stoffen ermöglichen systemen genutzt werden. Die Herstellung von • Ein nachhaltiges bzw. integriertes Regenwas- Holzfaserplatten ist jedoch mit viel Energie sermanagement verbunden. • Zentral organisierte und betriebene, dezent- • Hanffasern: Hanf besitzt ähnlich gute Wer- rale Abwasserentsorgungskonzepte („zentraler te in der Wärmedämmung wie Holz und ist Betrieb dezentraler Anlagen“) (TRANSNIK besonders langlebig im Vergleich zu etwa Mi- 2018) neralwolle. Es eignet sich allerdings nicht als Egal wie hoch der Bedarf letztlich ist, für die Re- Putzträger für Wärmedämmverbundsysteme. genwassernutzung im Haus lässt sich ein grund- • Jutedämmung: Jute ist nicht nur sehr wider- legender Anlagenaufbau herausarbeiten. Dessen standsfähig und resistent gegen Schimmel und Basis ist ein Speichertank, welcher heute entwe- Schädlinge, sondern reguliert die Luftfeuch- der als PE- oder Betonzisterne ausgelegt ist. Die tigkeit und besitzt sehr gute Dämmwerte. Es Verbindung zur Auffangfläche für das Regen- ist allerdings etwas teurer als andere Natur- wasser wird mittels Fallrohren hergestellt. Zwi- materialien. Mit Hanffasern vermischt, ist es schen Fallrohr und Speichertank ist in der Regel dagegen eine beliebte und kostengünstigere ein Vorfilter angebracht, um grobe Schmutzpar- Alternative. tikel am Eindringen in die Zisterne zu hindern. • Schilfdämmung: Schilf ist besonders resistent Durch ein zusätzliches Rohrleitungsnetz wird gegen Schimmel und Schädlinge, feuchtig- eine Verbindung zu den Entnahmestellen und keitsregulierend und preisgünstig. Die Her- dem Hauswasserwerk geschaffen. Um Probleme stellung von Schilfdämmungen ist mit wenig bei Trockenheit oder während niederschlags- Energie verbunden. Allerdings ist Schilf ver- reicher Phasen zu verhindern, sind Anlagen gleichsweise schwer. zur Regenwassernutzung zusätzlich mit einem • Zellulosedämmung: Zellulose besteht bis zu Überlauf bzw. einer Nachspeisung ausgestattet. 90 Prozent aus Altpapier und lässt sich gut als Wenn man Regenwasser mit einem Hauswas- Einblasdämmung verwenden. Dämmwerte serwerk nutzt, ist das Sparpotenzial am größten. sind gut und der Preis ist niedrig. Auch Schall- Der Dachgarten und die Grünflächen erfreuen schutz und Feuchtigkeitsregulierung überzeu- sich der Bewässerung mit gutem, kostenlosem gen. Allerdings ist Zellulose nicht kompostier- Regenwasser. Große Wasserverbraucher, z. B. bar (Umweltberatung 2014). die Toilettenspülung und die Waschmaschi- ne, verbrauchen schon eine erhebliche Menge Trinkwasser pro Tag, die durch Regenwasser 20
2 SELBSTBESTIMMTER LÜCKENSCHLUSS: WOHNEN AM RUCKERLBERGGÜRTEL Abbildung 2.10: Verkehrslärmkataster Straße/Nacht, Quelle: Magistrat Graz 2021 Forschungsobjekt, ist hier beides zu beobachten. Laut Bebauungs- plan weist das Wohngebiet eine Be- bauungsdichte von 0,6-1,4 auf, was laut §13 des Stadtentwicklungs- konzepts 4.0 in die Kategorie eines Wohngebietes mit hoher Dichte fällt (Stadt Graz 2020). Laut Flächenwidmungsplan ist gut ersichtlich, dass das zu verdich- tende Objekt in einer Zone liegt, die maßgeblich von Lärm beein- Abbildung 2.11: Stadtklimaanalyse, Quelle Magistrat Graz 2021 flusst wird. Wie in Abbildung 2.10 zu sehen, liegt das Grundstück ersetzt werden kann. Beispielsweise könnte ein nahe an der stark befahrenen Plüddemanngas- Vier-Personen-Haushalt im Jahr durchschnitt- se. Laut Verkehrslärmkataster befindet sich das lich 40 Kubikmeter Trinkwasser durch Regen- Objekt in einem Gebiet mit einer Straßenver- wassernutzung sparen. Wird auch die Wäsche kehrslärmbelastung von 49 bis 59 dB, in der mit Regenwasser gewaschen, sind es 60 Kubik- Nacht. Diese Werte können bereits gesundheit- meter. Das spart je nach Wassergebühren rund liche Folgen haben. Im Allgemeinen geht man 160 bis 200 Euro im Jahr; 240 bis 300 Euro nachts von einem Richtwert von 55 dB aus, der jährliche Ersparnis sind möglich, wenn für das keinesfalls überschritten werden sollte (Umwelt genutzte Regenwasser keine Abwassergebühren Bundesamt 2020). erhoben werden (Energie-Fachberater 2020). Des weiteren kann man in Abbildung 2.11 er- kennen, dass der Gründerzeitgürtel, in dem das 4.1.3 BEGRÜNUNG Objekt liegt, in der Karte als Wärmeinselbereich (rot) deklariert ist. Aufgrund dessen werden im Unzählige Statistiken zeigen, dass Städte we- Bebauungsplan planerische Hinweise angeführt, sentlich stärker von Klimaveränderungen be- wie unter anderem eine Flächenentsiegelung troffen sind als das Umland. Hierbei ist vor oder die Begrünung von Straßen, Höfen oder allem der Faktor der hohen Bebauungsdichte Parks als Auflockerung. hervorzuheben, sowie auch die Höhe des Versie- Dies lässt uns zum Entschluss kommen, dass gelungsgrades. Betrachtet man das ausgewählte eine weitestgehende Begrünung des Objektes, 21
Grazer Schriften der Geographie und Raumforschung | Band 50 im speziellen der Fassade sowie des Daches, aber SDGs. Aus diesem Grund haben wir uns dafür auch die Wiederherstellung des Vorgartens, als entschieden eine grüne Oase auf dem Dach zu äußerst sinnvoll zu erachten sind. Tabelle 1 fasst verwirklichen, die Fassade einheitlich zu begrü- in aller Kürze die wesentlichen Vorteile von Be- nen und dem Vorgarten wieder Leben einzu- grünung von Objekten im Stadtgebiet zusam- hauchen. men. Wie in Tabelle 1 dargestellt, bringt der Einsatz 4.1.3.1 PHOTOVOLTAIK DACHGARTEN von Pflanzen wesentliche Vorteile mit sich, die die konkret auftretenden Probleme des Bebau- Photovoltaikanlagen liegen im Trend und kön- ungsgebiets mildern können. Die Objektbegrü- nen flexibel auf dem Dach installiert werden. nung beeinflusst das Mikroklima, schafft neuen Wenn man zudem in einen Stromspeicher in- Lebensraum für Flora und Fauna und attrakti- vestiert, kann die selbst erzeugte Energie auch viert somit den Standort wie auch die Nachbar- genutzt werden, wenn die Sonne einmal nicht schaft. Das Aufheizen des Gebäudes kann durch scheint. Zusätzliche Energie wird ins Stromnetz den gezielten Einsatz von Begrünung effektiv eingespeist - man bekommt dafür im Schnitt verringert werden und die Verdunstungsleistung zehn Cent pro Kilowattstunde (Die Umwelt Be- der Pflanzen kühlt die Luft zusätzlich ab. Im ratung 2021). Winter nutzt die Fassadenbegrünung hingegen Laut § 5 Gebäudehöhen, Gesamthöhen, Ge- als zusätzliche Wärmedämmung. Die schall- schossanzahl, Dächer im Bebauungsplan, kann absorbierende Wirkung ist ein weiterer äußerst mit einem Antrag auf Ausnahme ein Flachdach positiver Effekt (Stadt Graz 2020). Die genann- genehmigt werden (Stadt Graz 2020). Da es sich ten Vorteile sind wichtige Parameter für die Ent- hier um einen Neubau handelt, bietet es sich auf wicklung nachhaltiger, resilienter Städte. Damit jeden Fall an eine Dachbegrünung anzustreben. leisten Fassaden- und Dachbegrünungen ihren Dabei wird zwischen zwei Arten, der intensiven Beitrag zu mehreren Zielsetzungen interna- und extensiven Dachbegrünung, unterschieden. tionaler wie auch nationaler Maßnahmen, wie Da extensiv begrünte Dächer nicht direkt von zum Beispiel den österreichischen Klimazielen Menschen genutzt werden können, ist für das 2040 oder den Sustainable Development Goals, Objekt die intensive Dachbegrünung anzustre- ben. Diese sind wie Gärten nutzbar, deshalb pflegeauf- wendiger und in der Planung durch die Mehrbelastung be- sonders zu berücksichtigen. Für die Realisierung darf die Dachneigung nicht mehr als 5% betragen und es muss ein gesondertes Abwassersystem integriert werden. Der Vor- teil von Gründächern ist, dass sie eine längere Lebens- dauer als herkömmliche Dä- cher haben und als zusätzli- cher Erholungsraum genutzt werden können (Die Umwelt Beratung 2021). Einen besonders attrakti- Tabelle 1: Vorteile von Dach- und Fassadenbegrünung, ven Ansatz eines begrünten Quelle: Stadt Wien 2019 22
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