Der Blick aus dem Winkel - in den Alltag - kiss. magazin von selbsthilfegruppen in mittelfranken - Kiss Mittelfranken

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kiss.
Ausgabe 2019   www.kiss-mfr.de
                                 magazin von selbsthilfegruppen in mittelfranken

               Der Blick
               aus dem
               Winkel

                                                     in den
                                                     Alltag
2                                                                                                                                                                                         3

                                                                     Liebe Leserinnen, liebe Leser,
                                                                     Alltag zwischen Lust und Frust

                                                                         Zugegeben, der Begriff Alltag enthält immer ein bisschen was von Lange-         Geschäftsstelle:

                                                                     weile. Es passiert nichts Neues in Zeiten optimierter Lebens- und/ oder Arbeits-    Selbsthilfekontaktstellen
                                                                                                                                                         Kiss Mittelfranken e. V.
                                                                     abläufe. Alltag bedeutet oftmals Monotonie. Es gibt Menschen, für die ist das       Am Plärrer 15
                                                                                                                                                         90443 Nürnberg
                                                                     Wort Alltag immer mit „grau“ verbunden: eine Schreckensvision immer gleicher
                                                                                                                                                         Telefon 0911 234 94 49
                                                                     Abläufe und (innerem) Stillstand. Gefangen in einem Alltag, der für viele immer     Fax 0911 234 94 48

                                                                     ähnlich aussieht.                                                                   www.kiss-mfr.de
                                                                                                                                                         magazin@kiss-mfr.de
                                                                     Aber glücklicherweise ist das nur die eine Seite der Medaille. Denn Alltag kann
                                                                     auch das Gegenteil bedeuten, wie z. B. Sicherheit oder liebgewonnene Ver-
                                                                     trautheiten, schöne Rituale und schafft Routinen in (Arbeits-) Abläufen, die
                                                                     dann für mehr Zeit für nicht-all-tägliche Dinge sorgen. Dinge, die uns persönlich
                                                                     wichtig sind, die uns bereichern und Freude bereiten.
                                                                     Und manchmal braucht es auch einen Schubser des Schicksals, um den Alltag
                                                                     wieder aus einer anderen Perspektive betrachten zu können: ein gebrochener
                                                                     Fuß – das ist doch kein Beinbruch – dachte ich zunächst, als ich Anfang des
                                                                     Jahres diese Diagnose erhielt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass

                                               Foto: A. Behrenhoff
                                                                     eine relativ einfache Diagnose solch weitreichende Auswirkungen auf mich
                                                                     haben würde. Neben all den wirklich super unangenehmen Folgen für mich als          Impressum

                                                                     leidenschaftliche Schnellläuferin, hat es immerhin den Effekt, meine Wahrneh-       kiss.magazin von
                                                                                                                                                         selbsthilfegruppen
                                                                     mungsfähigkeit im Hinblick auf Bodenbeschaffenheiten ungemein zu schärfen.          in mittelfranken
                                                                                                                                                         Jahrgang 13 / Juli 2019
                                                                     Außerdem bin ich beim langsamen Laufen sehr viel aufmerksamer, was die              Herausgeber:
                                                                                                                                                         Selbsthilfekontaktstellen
    Ein Haiku                                                        Flora und Fauna am Wegesrand anbelangt.                                             Kiss Mittelfranken e. V.
                                                                                                                                                         Am Plärrer 15, 90443 Nürnberg
    Japanische Gedichtform nach Silben 5-7-5                         Also ist es doch alles eine Frage der Perspektive mit dem Alltag? Oder wie es       Telefon 0911 234 94 49
                                                                                                                                                         Fax 0911 234 94 48
                                                                     Ernst Ferstl formuliert: „Die einfachste Möglichkeit, den Alltag von seiner All-
                                                                                                                                                         www.kiss-mfr.de
    Blicke und Winkel                                                täglichkeit zu befreien, ist ein sonntägliches Gemüt an den Tag zu legen.“          magazin@kiss-mfr.de

    Blickwinkel verändern sich                                       In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine interessante, inspirierende Lektüre,         Chefredakteurin: Gabriele Lagler
                                                                                                                                                         Redaktionelle Mitarbeit: Corinna
                                                                     vielleicht auch mit dem einen oder anderen Perspektivenwechsel.                     Reumschüssel und Teilnehmende
    So wie du dich auch                                                                                                                                  aus Selbsthilfegruppen

                                                                                                                                                         Manuskripte sind nach
                                                                                                                                                         Absprache mit der Redaktion
    Von jung zu älter                                                Herzlichst,                                                                         willkommen. Rücksendung nur
                                                                                                                                                         gegen Rückporto. Namentlich
    Gelebter Reifeprozess                                            Ihre Gabriele Lagler                                                                gekennzeichnete Artikel geben
                                                                                                                                                         nicht unbedingt die Meinung der
    Verändert auch dich                                                                                                                                  Redaktion wieder.

                                                                                                                                                         Titelbild: Franziska Möbius
                                                                                                                                                         Rückseite: Fam. Behrenhoff
    Erlebter Alltag                                                                                                                                      Gestaltung: www.gillitzer.net
                                                                                                                                                         Druck: Nova Druck Goppert GmbH
    Von Generationen                                                                                                                                     Auflage: 4000

    Anschauungswürdig                                                                                                                                    kiss.magazin ist kostenlos und
                                                                                                                                                         erscheint in loser Folge.

    Christa B.
4                                                                                                                                                          5

                      Alle Tage ist kein Sonntag oder
                      Der enttäuschte Blick in die Zukunft

                          Liebes Hildchen,                                      Auch am Abend eh du einschläfst, aber weinen darfst
                          ich weiß gar nicht, wie ich dir beschreiben           du nicht
                      soll, was mir gestern Abend passiert ist, es war so           Oh nein, noch ein Befehl, nicht mal weinen dür-
                      peinlich! Stell dir vor, ich war gerade dabei, meinen     fen, wenn einem danach wäre? Oh, diese Enttäu-
                      Fensterladen zu schließen, als ein Steinchen an           schung.
                      die Scheibe geworfen wurde. Ich lugte hinter dem          Das Lied war zu Ende, rundum erklang Beifall, sogar
                      Vorhang hervor und sah Heinrich (du weißt schon,          ein „da capo“ war zu hören. Diese Schmach! Am
                      mein heimlicher Verlobter) mit einer Laute unten          ganzen Leib zitternd stand ich hinter der Gardine.
                      stehen, er flüsterte ziemlich vernehmlich: „Lottchen,     Ich fühlte Zorn in mir aufsteigen, wie konnte er
                      komm ans Fenster, horch, was ich dir sagen will“.         mir das nur antun? Ja, ich weiß, er meinte es gut
                      Und schon begann er eine bekannte Melodie zu              und war sicher stolz auf seine Überraschung. Aber
                      klimpern. Bei einigen Nachbarn wurden die Läden           erfreut hat er damit nur die Nachbarn. Kurz erwog
                      wieder geöffnet, sie wollten sich wohl so ein Ereig-      ich, einen Blumentopf hinunterzuwerfen. Aber nein,
                      nis wie ein Ständchen nicht entgehen lassen. Da           das wäre dann doch zu peinlich gewesen. Noch ein
                      begann er zu singen, leider war seine Stimme nur          laut geflüstertes „Lottchen“ tönte herauf, aber ich
                      recht mittelmäßig, etwas quäkend in den Höhen.            gab kein Zeichen. Nein, es war zu schlimm.
                      Nun ja (aber hatte er mir nicht erzählt, er wäre der          Lange konnte ich keinen Schlaf finden, lange
                      führende Tenor in seinem Chor? Ich hatte ihn ja           ging mir der Text im Kopf herum. Soviel muss und
                      bisher noch nicht gehört). Aber jetzt horchte ich auf     soll, was wenn er in der Ehe wirklich so sein würde?
                      den Text:                                                 In unseren Gesprächen während der wenigen,
                      Alle Tage ist kein Sonntag, alle Tag gibt’s keinen Wein   heimlichen Spaziergänge waren wir uns einig
                          Na ja, dachte ich, das ist ja auch gut so, denn       gewesen, jeder sollte geben und nehmen können,
                      ich hatte schon manches Mal den Verdacht, dass            von gegenseitiger Zuneigung war die Rede. Ich war
                      Heinrich etwas zu tief ins Glas schaut.                   bitterlich enttäuscht und manche Träne tropfte auf
                      Aber du sollst alle Tage recht lieb zu mir sein           mein Kissen. Erst spät fiel ich in einen unruhigen
                          Oho, was sollte denn das heißen? Ich soll alle        Schlummer. Am Morgen fasste ich einen Entschluss.
                      Tage lieb sein? Und er? Das gab mir zu denken,            Ich setzte mich an mein Schreibpult und verfasste
                      wenn wir mal verheiratet wären. Ein nachdenklicher        einen Brief an Heinrich, in welchem ich unsere
                      Seufzer entrang sich meiner Brust. Und schon kam          Verlobung löste. Ich verschloss den Brief mit einer
                      der nächste Vers, fast einer Drohung gleich:              Oblate und schickte gleich meine treue Magd los
                      Und wenn ich dann tot bin, sollst du denken an mich       und trug ihr auf, den Brief nur an Heinrich persön-
                          Ach Hildchen, noch nicht mal verheiratet und          lich auszuhändigen.

                                                                                                                                       Foto: R. Gebhardt
                      schon vom Tod reden und immer an ihn denken               Hildchen sag mir, habe ich recht getan?
                      müssen, ob ich das überhaupt fertigbringen würde?             Dein erleichtertes, wenn auch etwas unglückli-
                      Ein Schauder lief mir über den Rücken.                    ches Lottchen

                                                                                Ingrid J.

Ich verschloss den Brief mit einer Oblate
und schickte gleich meine treue Magd los
und trug ihr auf, den Brief nur an Heinrich
persönlich auszuhändigen.
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    Was ist denn jetzt normal?

                                                                                                                                     gehen. Manchmal bringt sie Dir auch Anerkennung           Weder Deine Therapeutin, noch Deine Angehöri-
                                                                                                                                     und Bewunderung. Sie steht Dir in schwierigen Situ-       gen, noch Dein Partner. Nur Du selbst kannst Dir
                                                                                                                                     ationen zur Seite, bietet Schutz und Geborgenheit.        da raus helfen. Du musst die Opferrolle verlassen,
                                                                                                                                     Doch gleichzeitig zerstört sie Dein Leben. Sie nimmt      die volle Verantwortung übernehmen, musst selbst
                                                                                                                                     Dir jede Leichtigkeit, jede Spontanität. Sie bringt Dir   aktiv werden, Deinen eigenen, ganz persönlichen
                                                                                                                                     Zwang und Isolation. Und ehe Du Dich versiehst, ist       Weg suchen. Das ist eine Art der Selbst-Hilfe. Eine
                                                                                                                                     nichts mehr wie es einmal war. Normaler Alltag –          Selbsthilfegruppe ist eine andere Art. Eine Selbsthil-
                                                                                                                                     undenkbar.                                                fegruppe kann Dich oder Deine Angehörigen nicht
                                                                                                                                         Das zu begreifen, ist der erste wichtige Schritt      retten, sie kann Dich/ihn/sie nicht gesund machen.
                                                                                                                                     auf dem Weg zur Genesung. Nicht mehr die Augen            Aber sie kann Dir zur Seite stehen. In einer Selbst-
                                                                                                                                     zu verschließen und so zu tun, als wäre alles nor-        hilfegruppe sind Menschen, die Dich verstehen, die
                                                                                                                                     mal. Dir einzugestehen, dass Du Deinen Alltag nicht       Ähnliches durchmachen oder durchgemacht haben.
                                                                                                                                     mehr im Griff hast, sondern die Essstörung Dich.          Die hilfreiche Tipps geben können, sei es zu An-
                                                                                                                                         Die zweite wichtige Erkenntnis ist, dass Du Dir       laufstellen, Hilfsangeboten und Kliniken oder zum
                                                                                                                                     Hilfe suchen darfst und solltest. Professionelle Hilfe    alltäglichen Umgang mit der Erkrankung. Die über
                                                                                                                                     in Form eines Therapeuten, in Form eines Arztes,          Jahre angesammeltes Fachwissen, Literatur- und
                                                                                                                                     einer Beratungsstelle oder einer psychosomatischen        Kursempfehlungen weitergeben können. Menschen,
                                                                                                                                     Klinik. Ja, vielleicht auch in Form einer Selbsthil-      die zuhören, die Dein Leid teilen und es damit ein
                                                                                                                                     fegruppe, in Form neuer Freunde, eines neuen              kleines bisschen leichter machen.
                                                                                                                                     Hobbies, einer neuen Ausbildung, eines neuen Jobs.            Ich selbst habe auf meinem Weg der Gene-
                                                                                                                                     Auf dem Weg aus der Essstörung kann Vieles helfen.        sung sehr von Selbsthilfegruppen profitiert. In
                                                                                                                                     Jeder Weg ist so individuell wie Du selbst. Klar ist,     einer Gruppe gemeinsam mit Menschen, die alle

                                                                                                                     Foto: S. Weiß
                                                                                                                                     Du darfst und solltest Dir Hilfe suchen. Klar ist aber    in irgendeiner Form von Essstörungen betroffen
                                                                                                                                     auch: Gehen musst Du den Weg letztlich selbst. Nie-       sind: Ob selbst erkrankt, ob als Eltern, Geschwister,
                                                                                                                                     mand kann für Dich essen. Niemand kann für Dich           Partner*in, Freund*in oder entfernter Angehörige.
                                                                                                                                     mit dem Erbrechen, mit dem exzessiven Sport, mit          Denn genau in dieser Mischung können wir alle
                                                                                                                                     den Appetitzüglern und Pillen aufhören. Niemand           maximal voneinander profitieren, Verständnis für
         Essen ist etwas Alltägliches. Essen ist ein        regelmäßig ins Fitnessstudio, ernährt sich von                           kann für Dich die schrecklichen Gefühle und Gedan-        den jeweils anderen Part aufbauen und uns gegen-
    menschliches Grundbedürfnis. Genau wie Schlafen         Diätshakes und Eiweißriegel? Sind nicht fast alle                        ken aushalten, die kommen, wenn Du den Weg der            seitig optimal unterstützen – gemeinsam aus der
    und die Toilette benutzen. Wir alle tun es. Wieder      Menschen auf der Suche nach der perfekten Figur?                         Genesung gehst. Niemand kann Dir Deine Ängste             Essstörung eben!
    und wieder. Jeden Tag. Meist ohne groß darüber          Die sozialen Medien sind voll von Buddha Bowls                           nehmen, niemand das schreckliche Körpergefühl.
    nachzudenken – vor allem aber, ohne es wirklich in      und Smoothies, an jeder Ecke erzählt uns jemand                                                                                    Anna F.
    Frage zu stellen. Es gehört einfach zum Leben dazu.     vom todsicheren Weg zu ewiger Gesundheit und
    Wie sehr Essen jedoch unseren Alltag bestimmt,          dem perfekten Körper. Wir müssen nur vegan leben,
    welche große Bedeutung Essen für uns alle hat, fällt    low carb, clean oder paleo. Ist DAS nicht Alltag? Der
    erst wirklich auf, wenn es nicht mehr einfach so        Grat zwischen dieser gesellschaftlich anerkannten
    funktioniert, wenn es zum Problem wird.                 Normalität und einer Essstörung ist schmal. Nicht
    Wenn Essen zum Problem wird, verändert das Dein         selten beginnt die Erkrankung mit einer solchen                                                                                                     Diese Erkenntnis, die Einsicht, an einer
    ganzes Leben. Und das Leben Deiner Eltern, das          „normalen“ Ernährungsumstellung, die unbemerkt                                                                                                      Essstörung zu leiden, ist schwer – denn welcher
    Leben Deiner Geschwister, Deiner Freunde und all        aus dem Ruder gerät, die Dir unbemerkt entgleitet.
                                                                                                                                                                                                                Mensch isst schon normal?
    derer, die Dir nahestehen. Nicht plötzlich, nicht von   Bis Dir irgendwann plötzlich auffällt, dass Essen das
    heute auf morgen. Nein, meist ist es ein eher schlei-   Alltägliche verloren hat, dass sich plötzlich alles in
    chender Prozess. Stückchen für Stückchen. Bis Du        Deinem Kopf nur noch um Kalorien und Gewicht,
    irgendwann aufwachst und feststellst, dass nichts       um gesund und ungesund, nur noch um die letzte
    mehr ist, wie es einmal war, dass es den „norma-        und die nächste Mahlzeit dreht. Plötzlich fällt Dir
    len Alltag“ nicht mehr gibt, dass Essen nicht mehr      auf, wie viel Macht diese Gedanken über Dich ha-
    etwas Alltägliches ist.                                 ben, wie sehr sie Dein Leben bestimmen – und wie
        Diese Erkenntnis, die Einsicht, an einer Essstö-    schwer der Weg zurück zu einem normalen Alltag
    rung zu leiden, ist schwer – denn welcher Mensch        ist.
    isst schon normal? Was ist überhaupt „normal“?               Eine Essstörung gibt Dir zu Beginn sehr viel. Das
    Macht nicht jede zweite Frau da draußen gerade          Gefühl von Kontrolle, das Gefühl von Macht, von
    Diät? Rennt nicht jeder zweite Mann da draußen          Stärke. Sie hilft Dir mit negativen Gefühlen umzu-
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                    Das Vertrauen

                        Beim Selbstival auf dem Nürnberger Jakobs-          „Da hast du vollkommen recht, das finde ich al-
                    platz betreute ich den Erzählkiosk, eine Idee nach      lerdings auch“, stimmte ich ihr zu. Ich schaute zu
                    Hamburger Vorbild, bei der Menschen eingeladen          Mama und Papa und sagte: „Also wirklich, Eltern,
                    sind, einfach aus ihrem Leben zu erzählen. Sehr         das geht ja mal gar nicht! Ihr könnt doch nicht das
                    viele Menschen flanierten über den Platz und die        Kind mit Versprechungen in die Stadt locken und
                    Stimmung war so wunderbar fröhlich und entspannt        dann haltet ihr euer Wort nicht? Ich schlage vor, ihr
                    wie das Wetter an diesem Tag.                           legt jetzt zusammen eine mittägliche Pause ein, das
                        Es war gegen 14 Uhr, als ein Elternpaar mit         Selbstival „rockt“ schließlich den Platz noch bis in
                    ihrer etwa achtjährigen Tochter auf den Erzählkiosk     die Abendstunden.“
                    zukam. Die Kleine schien in einer Auseinanderset-           Die Eltern lachten und meinten, ok, jetzt hätten
                    zung mit ihren Eltern zu sein und wirkte ein wenig      sie die Botschaft deutlich verstanden und sagten
                    genervt. Die Familie blieb stehen, als sie das Schild   zu ihrer Tochter, dass sie nun als erstes in ein nahe
                    mit den Infos über den Erzählkiosk sah. Die Mutter      gelegenes fränkisches Restaurant mit ihr zum Essen
                    meinte zu ihrer Tochter: „Schau, hier kannst du ja      gehen würden.
                    der Frau erzählen, was dich stört“, und schob das           Die drei verabschiedeten sich. Nach ein paar
                    Mädchen ein Stückchen in meine Richtung. Die            Metern drehte sich die Kleine noch einmal um und
                    Kleine verkniff die Lippen und wusste offensichtlich    winkte mir fröhlich zu. Selbstverständlich hatte
                    nicht so recht, was sie von dieser Situation halten     sie der Aussage der Eltern vertraut und ihre kleine
                    sollte.                                                 Kinderseele klammerte sich einfach an das Ver-
                        „Gefällt es dir wohl nicht auf dem Selbstival?“,    sprechen, mittags einzukehren. Ihre Sicht auf den
                    sprach ich sie an. Sie überlegte kurz, aber dann        gemeinsamen Stadtbummel war natürlich ihre ganz
                    sprudelte es aus ihr heraus: „Sie haben gesagt,         eigene.
                    wir fahren in die Stadt und schauen uns Nürnberg            Ich habe gerne an diesem Nachmittag zugehört.
                    und das Fest an und sie haben versprochen, dass         Danke für das mir entgegen gebrachte Vertrauen.
                    wir mittags etwas essen gehen! Und jetzt wollen
                    sie nur eins nach dem anderen anschauen!“ „Und          Angelika B.
                    du hast bis jetzt in der Stadt noch nichts zu essen
                    bekommen, noch nicht einmal ein Eis?“, fragte ich.
                    „Doch“, sagte sie, „ein Eis schon – aber das ist doch
                    kein richtiges Essen!“ Sie verschränkte empört ihre
                    kleinen Ärmchen.

                                                                                                                                    Foto: A. Behrenhoff
Nach ein paar Metern drehte sich die
Kleine noch einmal um und winkte mir
fröhlich zu.
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                           Regen macht mir gar nichts aus

                           Regenschauer, Wolkenbänke
                           Schleier vor dem Himmelsblau
                           Leises Frösteln, klamm und kühl
                           Und die Sicht ist ungenau.

                           Unverzagt, was kommen mag
                           Geh ich vorwärts, wie ich muss
                           Find ich, was ich finden will
                           Finde ich mein Glück zum Schluss.

                           Nur Geduld, es kommt die Zeit
                           Auch für mich, ich weiß es doch
                           Regen macht mir gar nichts aus
                           Die Sonne scheint im Herzen doch!

                           Birgitt K.

     Foto: A. Behrenhoff
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     Haus aus Stein mit Terrasse

         Goethe sagte angeblich: „Auch aus Steinen, die     Kommen dann Zeiten, in denen mein imaginäres
     in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schö-         Haus um eine Doppelgarage erweitert wird, weil
     nes bauen“. Stimmt, ich habe mir davon schon ein       z. B. der MDK1 den gewünschten Rollstuhl ablehnt
     imaginäres Haus mit Gartenmauer und Terrassen-         oder das SPZ2 mir und meinem Kind in einer akuten
     einfassung gebaut.                                     Notsituation gerne einen Termin einräumt, der in
         Ich bin hauptberuflich Mama eines behinderten      5 ½ Monaten stattfindet, zehrt das schon sehr an
     Kindes, nebenberuflich bin ich zudem gefühlt als       den Nerven.
     Physiotherapeutin, Übersetzerin, Rechtsanwältin,           Was für eine Wohltat sind dann die Gruppentref-
     Sekretärin, Schulwegbegleitung, Nachhilfelehrerin,     fen unserer Selbsthilfegruppe! Jeder weiß, was der
     Taxiunternehmerin, Psychologin und Kranken-            andere gerade für einen Zentner Steine schleppt
     schwester tätig.                                       und ist bereit mit anzupacken. Gemeinsam haben
         Auf den ersten Blick unterscheidet sich unser      wir in den vergangenen sieben Jahren, in denen un-
     Alltag zu Hause zunächst einmal gar nicht so sehr      sere Selbsthilfegruppe nun besteht, schon manche
     von dem einer „normalen“ Familie. Wir lachen           Mauer eingerissen, lichtdurchflutete Mauerbögen
     gemeinsam, streiten und vertragen uns, sorgen          und Fensternischen eingebaut oder aus den Steinen
     uns, kochen, shoppen, spielen. Genauso wie andere      gemütliche Sitzecken im Garten angelegt, die im
     Familien auch. Nur, dass ich mich eben ein bisschen,   Alltag zum Verweilen, Wohlfühlen und Austauschen
     manchmal auch viel mehr um mein Kind kümmern           einladen!
     muss und das auf Jahre und nicht auf absehbare             Und wenn gar nichts mehr geht, ruft bestimmt
     Zeit.                                                  eine Mama: „Es wird mal wieder Zeit für ein
         Meinen Alltag nehme ich oft fremdbestimmt          Frühstück!“ Aus diesem Blickwinkel gesehen spielt
     wahr: Freizeit bauen wir um Arzttermine und            Selbsthilfe für mich also schon eine wichtige Rolle.
     Therapiepläne sowie die Verfügbarkeitszeiten von       Die Gruppe bringt Sonne in mein Leben! Da fällt
     Pflegediensten herum. Zwischen all dem Kümmern         mir ein: Hauptberuflich bin ich immer noch Mama,
     und Organisieren von Therapie und Terminen ver-        nebenberuflich aber auch Zuhörerin, Genießerin,
     gesse ich dabei manchmal, mich um mich selbst zu       Freundin und seit heute übrigens auch noch Schrift-
     sorgen, Kraft zu tanken.                               stellerin.

                                                            Kerstin H.

                                                                                                                   Foto: L. Brünen

                                                                                                                                     Zwischen all dem Kümmern und Organisieren
                                                                                                                                     von Therapie und Terminen vergesse ich dabei
                                                                                                                                     manchmal, mich um mich selbst zu sorgen,
                                                                                                                                     Kraft zu tanken.

                                                             Medizinischer Dienst der Krankenversicherung
                                                            1

                                                             Sozialpädiatrisches Zentrum
                                                            2
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     Der ver-rückte Blickwinkel                                                                                                                                     Grüßt das Murmeltier immer noch täglich?

                                                                                                                        Foto: B. Reitberger

                                                                                                                                              Foto: B. Reitberger
          Was bestimmt eigentlich generell deinen Blick-      Staub. So ist das eben. Da fällt mir gerade ein: Es ist                                                   Alltag klang für mich irgendwie immer nach          kleinen Schummeleien, die ich nur vorübergehend
     winkel? Natürlich in erster Linie dein Geschlecht,       erwiesen, dass große Menschen häufig ein höheres                                                      Langeweile. Danach, dass jeder Tag gleich ist, einer    brauche, wie ich es mir eingeredet hatte.
     dein Alter, deine Position in der Gesellschaft,          Gehalt bekommen als kleinere. Ob sie es „verdient“                                                    wie der andere, ohne Abwechslung. Alltag ist Nor-       Alltag, das ist für mich eine hart zurückeroberte
     deine Religion, dein Geburtsland und nicht zuletzt       haben, ist allerdings eine andere Frage. Einen ganz                                                   malität, nichts Aufregendes. Ich stehe auf, frühstü-    Lebensqualität. Mal fällt es mir schwer, den Dingen
     die Zeit, in der du lebst. Wie ist dein Blickwinkel?     tollen Blickwinkel hatte übrigens Alexander Gerst,                                                    cke, gehe arbeiten, komme heim, kümmere mich            des Alltags nachzukommen, mal leicht. Dabei hilft
     Gehörst du zu denen, die viel haben oder musst du        als er die Erde umrundete. Unser Mann im All. Einen                                                   um die Familie und gehe dann irgendwann ins Bett.       mir mein Vertrauen, dass Gott es gut mit mir meint,
     mit wenig auskommen? Bist du oben oder unten?            Blickwinkel, der sich sogar alle paar Minuten ein                                                     Und täglich grüßt das Murmeltier. Dass den Alltag       die Therapie und die vielen Menschen in meinem
     Ist dein Blickwinkel der der Gebildeten, Belesenen       wenig veränderte. Ach, da unten ist Europa, mag er                                                    in dieser Weise bewältigen zu können gar kein           Leben, die mit mir kämpfen. Und so kann ich mich
     und Intellektuellen oder der der Anderen? Oder evtl.     sich gedacht haben und wenn er ein wenig näher                                                        Grund zur Langeweile, sondern eher ein Privileg ist,    über die kleinen Dinge, die für andere Menschen
     irgendwas dazwischen? Und im Alltag? Der bettlä-         gezoomt hat, da Deutschland. Und von hier oben ist                                                    habe ich in den letzten Monaten lernen müssen. Ich      und bis vor wenigen Monaten auch für mich selbst-
     gerige Patient erlebt vielleicht die Krankenschwes-      alles so klein, unser Land und alle, die sich so wich-                                                schreibe „müssen“, weil ich es mir sicherlich nicht     verständlich waren, freuen. Aufstehen, ohne dass
     ter, den Arzt, die sich um ihn kümmern, von oben         tig nehmen. Ver-rücke, verändere deine Position,                                                      ausgesucht hätte. Wahrscheinlich kam es schlei-         der ganze Körper vor Aufregung zittert. Frühstücken
     herab, vielleicht sogar als dominant, trotz aller Für-   deinen persönlichen Blickwinkel; vielleicht erfährst                                                  chend, für mich haben sich die Panikattacken aber       und Appetit haben. Mit dem Zug zur Arbeit fahren
     sorge. In dieser Position bist du hilflos, oder nicht?   du ja dann eine Bewusstseins-Veränderung. Nur so                                                      eher wie ein Überfall angefühlt. Heimtückisch, von      und meine Termine wahrnehmen. Heimkommen
     Und im Straßenverkehr: An der roten Ampel hat der        als Anregung. Es könnte spannend werden!                                                              hinten. Zunächst nur in einigen Situationen, z. B. im   und mich um meine Familie kümmern. Und dann
     im SUV einen anderen Blickwinkel als der Fahrer im                                                                                                             Wartezimmer oder im Zug. Ja, da kann man kreativ        abends irgendwann ins Bett fallen und mit Gedan-
     Mini-Cooper daneben. Mindestens physisch gese-           Christa B.                                                                                            werden: Zum Arzt habe ich kurzerhand eine Freun-        ken an das Schöne, was heute passiert ist, einschla-
     hen. Was ich nicht sehe, berührt mich nicht sonder-                                                                                                            din mitgeschleppt und beim Zugfahren telefoniert,       fen. Wenn es dann irgendwann wieder so ist, – und
     lich. Bestes Beispiel: Der Staub auf den obersten                                                                                                              um mich abzulenken. Besprechungen auf der Arbeit        ehrlich gesagt hoffe ich darauf – dass der Alltag
     Möbelflächen in meinem persönlichen Umfeld                                                                                                                     habe ich vermieden, Auswärtstermine abgesagt.           mich langweilt, freue ich mich auch auf Überra-
     tangiert mich wenig, weil ich ihn nicht permanent                                                                                                              Doch Angst geht nicht weg, wenn sie ignoriert wird.     schungen und die kleinen Abenteuer, die das Leben
     sehe. Vor allen Dingen nicht bei meiner Körpergrö-                                                                                                             Im Gegenteil. Nach der heftigsten Panikattacke,         so bietet. Bis dahin finde ich meinen Alltag auch so
     ße von knapp 165 cm. Lange Menschen bemerken                                                                                                                   die ich bis dahin erlebt hatte, habe ich kapituliert.   spannend genug.
     diesen natürlich sofort, sie haben ja einen anderen                                                                                                            Ich musste mir eingestehen, dass ich nicht in der
     Blickwinkel. Dann wird’s vielleicht peinlich beim                                                                                                              Lage bin, meinen Alltag zu leben. Nicht mal mit den     Rahel
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                                                                       Mein Platz – Dein Platz
                                                                       Der Mensch ist ein Gewohnheitstier

     Meine Welt

     Was soll ich sagen?
     Mein Konversationsspeicher ist leer

     Tausend Gedanken
     schwirren durch meinen Kopf

     Aber nichts
     was weltbewegend wäre
     aber nichts was interessant für Dich wäre

     Aber für mich
     tausend Nadelstiche

                                                 Foto: B. Reitberger
     aber für mich
     ist es meine Welt
     Betti
                                                                       Diesen Spruch kennt jeder hier                   Ein neuer Blickwinkel ist doch was wert
                                                                       Und ja unsere Gewohnheiten                       Neue Eindrücke sind nie verkehrt
                                                                       Sind es die uns dann verleiten                   Von der anderen Seite zu schauen
                                                                       Es immer wieder gleich zu tun                    Sollte man sich öfters trauen
                                                                       Gegen Neues scheinbar recht immun                Sein Gegenüber nimmt man anders wahr
                                                                       Warum man dafür nicht bereit?                    Facettenreich und wunderbar
                                                                       Vielleicht fühlt man Unsicherheit.               Auch über Dich selbst da lernst Du was
                                                                                                                        Glaub mir am Ende macht‘s auch Spaß.
                                                                       Ein jeder von uns kennt das Gefühl
                                                                       In der Menge und im Gewühl                       Daher an Euch alle mein Appell
                                                                       Aber auch bei der Sitzplatzwahl                  Setzt Euch in der Gruppe nicht so schnell
                                                                       Im Bus oder Zug – es ist nicht egal              Mein Platz – Dein Platz sollt‘ es nicht geben
                                                                       Wo ich hocke lass ich mich nieder                Immer neu gemischt kein Platz fest vergeben
                                                                       Nach Möglichkeiten immer wieder.                 Bunt wie das Leben eben!

                                                                       Mancher kennt das aus der Gruppe                 Und am Ende wirst Du sehen
                                                                       Diese ganz besondere Truppe                      Einen Platz kriegt jeder – keiner muss stehen.
                                                                       Jedes Mal derselbe Platz
                                                                       Das ist Meiner – sonst gibt’s Rabatz!            Jürgen U.
                                                                       Natürlich nur in Gedanken
                                                                       Wer will schon offen Zanken!
                                                                       Doch selbst wer fest in seinem Stuhle thront
                                                                       bleibt vor Überraschungen wohl nicht verschont
                                                                       Dein Nachbar Deine Nachbarin
                                                                       Setzen sich heut mal woanders hin
                                                                       Dein Gegenüber setzt sich zu Dir
                                                                       Hilfesuchend schaust Du zur Tür.
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                     Metamorphose im libanesischen Alltag

                         Der Kardamon verlieh dem Kaffee, den ich                Seit vier Tagen schon waren meine Studien-
                     ganz gegen meine Gewohnheit nur mit viel Zucker         freundin Ursel und ich zu Gast in einer bunt zusam-
                     trinken konnte, eine ganz besondere Note. Wäh-          mengewürfelten Frauen-WG inmitten von Tripolis.
                     rend Uruba mir die Fingernägel lackierte, genoss        Auch ohne Arabisch-Kenntnisse unterhielten wir
                     ich bereits die dritte Tasse davon. Diese war ja auch   uns blendend. Mit Händen und Füßen und ganz viel
                     winzig klein im Vergleich zu den großen Pötten          Lachen diskutierten wir alles, was ein Frauenleben
                     zuhause. Aber dafür war sie wunderschön mit             reich und interessant macht. Und diese quirligen,
                     einem filigranen goldenen Muster auf dem weißen         pfiffigen Frauen haben tatsächlich aus Ursel und mir
                     Porzellan verziert. Auch die goldene Stickerei auf      modisch gestylte Wesen entsprechend ihrem Schön-
                     dem fliederfarbenen langen Gewand, das ich trug,        heitsideal gezaubert. Leider existieren keine Fotos
                     gefiel mir sehr. Tatsächlich habe ich mich zur Freude   von dieser Mitte der achtziger Jahre des vorigen
                     meiner temporären libanesischen WG-Mitbewoh-            Jahrhunderts stattgefundenen Metamorphose. Wir
                     nerinnen vorhin dazu überreden lassen, dieses edle      hätten uns damals geschämt, solche Bilder von uns
                     Kleid gegen meine Jeans und T-Shirt einzutauschen.      den Freunden in Deutschland zu zeigen. Es erschien
                     Und mich auch passend dazu wie eine arabische           uns politisch völlig inkorrekt und ließ sich mit unse-
                     Frau stylen zu lassen.                                  rem damaligen Welt- und Frauenbild definitiv nicht
                         Jetzt saß ich in gut gelaunter Frauenrunde bei      vereinbaren. Heute finde ich es schade und hätte
                     herrlichem Sonnenschein und strahlend blauem            sicher einen großen Spaß daran.
                     Himmel auf einem schattigen Balkon und spürte               Ein wirklich außergewöhnliches Erlebnis war
                     die angenehme Brise des Windes, die vom Meer her        der private Hamam, den unsere arabischen Freun-

                                                                                                                                      Foto: Pixabay
                     wehte. Zuhause in Deutschland hätte mir das be-         dinnen mit uns in ihrem kleinen, fensterlosen
                     stimmt keiner geglaubt, dass ich mal mit gelocktem      Badezimmer zelebrierten. An den Wänden zogen
                     Haar, perfektem Make-up und knallrot lackierten         Karawanen von Kakerlaken in allen vorstellbaren
                     Fingernägeln diese Komplett-Verwandlung meines          Größen entlang. Das Wasser wurde mit Hilfe eines
                     Typs über mich ergehen lassen würde.                    Kohleofens erhitzt. Mit speziellen Waschlappen
                                                                             rubbelten zwei Frauen meine Arme, später auch
                                                                             Rücken, Dekolleté und Beine ab. Ich traute meinen
                                                                             Augen kaum, als ich auf meiner Haut lauter kleine
                                                                             schwarze Würmchen sah. Überall, wo die beiden
                                                                             Frauen gerubbelt hatten, war meine Haut über-
Ein wirklich außergewöhnliches Erlebnis                                      sät mit diesen schwarzen Würmern. Das empfand
war der private Hamam, den unsere                                            ich als megapeinlich, hatte ich doch am Morgen
arabischen Freundinnen mit uns in                                            bereits in Gesellschaft der Kakerlaken geduscht und
                                                                             dachte eigentlich, sauber zu sein. Meine arabischen
ihrem kleinen, fensterlosen Badezimmer
                                                                             Freundinnen amüsierten sich köstlich über meine
zelebrierten.                                                                offensichtliche Scham. Sie erklärten mir, dass es
                                                                             kein Schmutz wäre, sondern lediglich abgestorbene
                                                                             Hautschuppen. Dies sei völlig normal, weil es bei
                                                                             uns in Deutschland nicht üblich sei, seinen Körper
                                                                             so intensiv abzurubbeln. Im Libanon, wie auch in
                                                                             anderen arabischen Ländern, gehört es zum Alltag,
                                                                             sich regelmäßig eine so intensive Behandlung und
                                                                             Pflege der Haut zu gönnen. Wieder etwas dazuge-
                                                                             lernt von diesen tollen, interessanten Frauen, die in
                                                                             einer so ganz anderen Welt leben als ich.

                                                                             Theresia H.
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     Im Gespräch mit dem Spiegel

          Ja, er hat auch einen Blickwinkel, mein Spiegel.         Spieglein, Spieglein an der Wand! Wo ist heut‘
     Meistens, vor allem morgens um 6 Uhr, schaut er         die schlimmste Problemzone im Mialand?
     mir recht flüchtig, also wenig tiefgründig entge-            „Du meinst neben deinem seltsamen roten
     gen. Wir kennen uns ja schon lange, es gibt nicht       Punkt mitten auf der Nase, der mich jeden Tag blöd
     dauernd etwas Neues zu entdecken. Wir begegnen          anstrahlt, von deinen ganzen Polstern am ganzen
     uns regelmäßig: Mal über dem Waschbecken im             Körper verteilt mal ganz zu schweigen. Ach und
     Badezimmer, mal in der Ecke des Schlafzimmers,          sag mal, wann sind deine Oberarme überhaupt
     gezwungenermaßen in Aufzügen und mit viel Wi-           so unförmig und dick geworden. Und dein Po –
     derwillen beim Kauf von neuen Kleidungsstücken.         ­Meeensch, schon mal an mehr Sport gedacht? Aber
     Jede dieser Begegnungen ist mit sehr variablen Ge-       ansonsten fällt mir heute eigentlich nichts auf, was
     fühlen verbunden. Und wenn ich dann schaue, wie          schlimmer wäre als üblich.“
     der Spiegel mich anblickt, dann beschleicht mich             Welch‘ charmante Antwort, mit der ich viel zu
     die leise Befürchtung, dass er genau weiß, wie es in     oft in meinem jungen Leben konfrontiert werde.
     diesen Augenblicken um mich steht.                       Dieses blöde kleine Spiegel-Ich sagt ständig so
          Zum Beispiel wenn ich mich schick machen            gemeine Sachen, wenn wir unter uns sind. Doch
     möchte, dann kommen so Andeutungen rüber                 dann, wenn ich manchmal jemandem mein Spiegel-
     wie: „Oh, die Hauptspeckader wölbt sich aber ganz        Ich als Bild schicke, kommen plötzlich ganz andere
     schön über die Hose“ oder „Nee du, dafür bist du         Blickwinkel, die so gar nicht problemzonenbezogen
     jetzt echt zu alt“. Dann schau ich ganz genau hin,       sind, sondern mich in ein ganz anderes, freund-
     ob es nicht irgendwo etwas an mir gibt, das ganz in      liches Licht rücken. Und dann schau ich nochmal
     Ordnung ist. Vielleicht meine Beine? Kann ich mich       und plötzlich schaut das Spiegel-Ich mir tief in die
     so hinstellen, dass er mich aus einem Winkel sieht,      Augen. Als wundere es sich, warum es ständig so
     in dem ich ganz schlank aussehe? Kann ich etwas          abfällig über mich redet. „Wozu denn eigentlich
     anziehen, damit ich größer erscheine? Kopf hoch,         all dieses Piesacken?“, fragt es mich überraschend.
     damit das zunehmende Doppelkinn sich strafft!            „Weißt du, eigentlich hast du’s schon schwer genug,
          Er beeinflusst mich nun schon seit beinahe 50       ständig gegen irgendwelche dummen Kommentare
     Jahren und nur ganz selten kann ich ihn täuschen.        zu kämpfen, die dich sowieso nur auf dein Äu-
     Dabei bin ich doch seit über 40 Jahren Feministin        ßeres reduzieren, weil irgendwelche Medien und

                                                                                                                      Foto: B. Reitberger
     und beschäftige mich seit über 30 Jahren mit dem         Schönheitsindustrien der Welt vorgaukeln, wie die
     gesellschaftlichen Blick auf den Frauenkörper, der       perfekte Frau aussehen müsse. Weißt du, eigentlich
     im öffentlichen Raum normiert, idealisiert, sexua-       bist du doch ein bisschen mehr als die vermeintli-
     lisiert und abgewertet wird. Aus jedem Winkel der        chen Makel, die dich letztendlich auch zu der Frau
     Medien und der Werbung springt es mich an: Du            machen, die du nun mal bist. Weißt du, eigentlich
     bist nur schön, wenn du groß, schlank, durchtrai-        hab ich’s satt ständig nur die Böse zu sein. Wollen
     niert, gestylt und immer selbstbewusst bist! Und         wir Freundinnen sein?“. Etwas irritiert und dem
     dann stimmt mein Spiegel auch noch in dieses Lied        Schein nicht trauend stimme ich vorsichtig zu, denn
     mit ein!!                                                in Einem hat mein Spiegel-Ich vollkommen recht:
          Ich drehe mich weg, weg vom engen Blickwinkel       Es gibt genug Gegebenheiten, Umstände und auch
     des Spiegels, hin zur Weite und Vielfalt des Lebens.     Menschen, die nur nach dem Aussehen beurteilen
     Und da sind sie plötzlich wieder: die Lebendigkeit,      oder kritisieren. Warum sich selbst, also den Alltag,
     die Lust, die Lebenskraft und die Freude am Tun          auch noch durch ein schlechtgelauntes, viel zu
     – mit meiner Hauptspeckader, mit der schlaffer           strenges Spiegel-Ich versauen? So stehen wir nun
     werdenden Haut, den dünnen Haaren, sprich mit            nach 30 gemeinsamen Jahren und lächeln uns an.
     „Haut und Haaren“!                                       An diesen friedlichen Spiegelblick-Winkel könnte ich
                                                              mich doch glatt gewöhnen.                                                     Spieglein, Spieglein an der Wand!
     Clara                                                                                                                                  Wo ist heut‘ die schlimmste
                                                             Mia                                                                            Problemzone im Mialand?
22                                                                                                                                                                                                                                               23

     Aus der Schreibwerkstatt                                                                                        Damit es nicht vergessen wird                          eingestampft. Samstags wurde immer gebacken.
                                                                                                                                                                                Nachdem wir aus der Schule kamen, stand das
                                                                                                                                                                            Mittagessen auf dem Tisch. Dann, nach den Haus-
                                                                                                                     Ein Wecker? Ich glaube, der Opa hatte einen. Für       aufgaben, ging‘s nach draußen, mit den Nachbars-
                                                                                                                     uns, nämlich Oma, Mutter, Schwester und mich,          kindern auf der Gasse spielen, mit dem Hund durch
                                                                                                                     war Opa der Wecker. Früh halb sieben rief er die       den Garten toben.
     Das Lesen, mein goldener Faden                        mich dabei ein Stück weit selbst vergessen, aber es       Treppe hinauf: „Aufstehen, Schule gehen“. Da hatte         Meine Mutter fuhr des Öfteren ein paar Tage
                                                           ist nicht mit Schlafen vergleichbar. Ganz im Gegen-       er schon Kaffee gekocht, die Gänse zum Tor hinaus      den Vater besuchen, der irgendwo stationiert war,
                                                           teil, ich bin während des Lesens ganz wach und            gelassen, damit sie im Gänsemarsch zu                               das waren wir schon gewöhnt. Alltag
     Mir wurde schnell klar, dass ich über das Lesen       aktiv, denn alles, was zwischen diesen paar Seiten        den Mainwiesen spazieren konn-                                            eben.
     ­schreiben wollte. Das Lesen, das sich wie ein gol-   bedruckten Papiers und mir geschieht, das spielt          ten, die Hühner gefüttert und                                                     Wir Kinder hatten aber
      dener Faden durch meinen Alltag und noch mehr,       sich voll und ganz in mir ab. Meine Phantasie arbei-      Purzel, unser Hund, war                                                          auch schon kleine tägliche
      durch mein ganzes Leben zieht. Ich habe eigent-      tet angeregt, in mir entstehen Bilder und Geschich-       auch schon im Hof.                                                                 Aufgaben: Das eigene
      lich immer gelesen. Es gab nur wenige Phasen in      ten, meine Gefühle sind eng beteiligt und mein                Oma stellte Brot,                                                                kleine Beet pflegen,
      meinem Leben, in denen ich nicht wenigstens ein      Denken ist gefordert, wenn ich versuche, Motive           Butter und Marmelade                                                                  beim Jäten und Gießen
      Buch, manchmal auch mehrere Bücher gleichzeitig,     der Handelnden, Zusammenhänge und Hintergrün-             fürs Frühstück auf                                                                     helfen oder die Eier
      gelesen habe. Waren es in meiner Kindheit die Kin-   de zu verstehen.                                          den Küchentisch.                                                                        einsammeln. Wenn
      derbücher von Astrid Lindgren, Michael Ende und          Beim Lesen kann in mir diese ganz besondere           Den großen Laib                                                                         die Gänse abends
      vielen anderen, wuchs ich in der Jugend allmählich   Freude aufkommen, mitzufühlen, mitzudenken und            fest an ihren Busen                                                                     pünktlich um sechs
      in das Lesen von Abenteuer- und Liebesromanen,       zu verstehen. Und wenn dann eine Saite in mir in          gedrückt, schnitt                                                                       am Tor schnatterten,
      dann in die Schul-Klassiker hinein. Heute lese ich   Resonanz geht und mitklingt, wenn ich spüre, da ist       sie ganz akkurat die                                                                   diese reinlassen. Dass
      durchaus auch gerne Sachbücher, aber insbeson-       ein Teil meiner Selbst angesprochen, dann entsteht        Scheiben ab, Opa woll-                                                                 man ab und zu von
      dere haben es mir Romane angetan. Besonders          eine Schwingung zwischen mir und dem Buch                 te dickere Scheiben, wir                                                             ihnen gezwickt wurde,
      gern lese ich Romane, die gesellschaftliche oder     und ich fühle mich ihm verbunden, fast wie einem          Kinder lieber dünnere                                                              gehörte dazu, alltäglich
      geschichtliche sowie Familien- und Beziehungsthe-    Freund, einer Freundin.                                   und wenn uns die Rinde zu                                                        eben. Abends scheuchte
      men behandeln.                                           Ich werde traurig, wenn ich mit dem Lesen             hart war, schnitt Oma sie ab                                                   Oma die Hühner in den Stall.
           Warum bedeutet mir das Lesen nun eigentlich     dann allmählich an das Ende eines solchen Buches          und brockte sie in ihren Kaffee.                                          Opa ging und verschloss sorgfäl-
      so viel, warum ist es zu meinem „goldenen Faden“     komme, weil es sich wie ein Abschied anfühlt, ein         Danach gingen meine Schwester und                                    tig Hof-, Scheuer-, Stall- und Haus-
      geworden? Ein Grund ist, dass ich Bücherliebhabe-    Abschied von einem Weggefährten, einer Freundin.          ich zur Schule. Elke in die richtige und ich in die       tür. Nach dem Abendessen sammelte Opa alle
      rin bin. Ganz unabhängig davon, was darin steht,         Lesen ist Teil meines Alltags – und es verschö-       Kinderschule. Oma achtete immer darauf, ob auch        Schuhe ein und wienerte sie auf der Bank vor dem
      liebe ich Bücher selbst. Ich gehe leidenschaftlich   nert ihn, erweitert ihn, vertieft ihn. Natürlich kann     Schleifen und Schürzen schön gebügelt waren. Ich       Haus blitzblank. Für uns hieß es „ab ins Bett“ in un-
      gern in Buchhandlungen, Bibliotheken und Antiqua-    das Lesen auch seine Schattenseiten haben. So             war nicht so gerne dort, die Schwestern waren sehr     sere kleine Kammer. Die Großen saßen noch in der
      riate, die so wunderbar zum Schmökern einladen.      kann es mich in fremde Welten locken, wenn ich            streng, aber es dauerte ja nur bis zum Mittag.         Küche beisammen, Zeitung lesen, stricken, stopfen,
      Dort liebe ich es, durch die Regale zu schlendern    mich eigentlich mit Aspekten meines realen Lebens             Was machten derweil die Erwachsenen? Nun,          nähen. Mutter ging auch ab und zu mal Bekannte
      und mir die Bücher einfach erst mal nur anzusehen.   befassen sollte. Es bietet mir Flucht und Ausweich-       Opa ging vielleicht in seinen Weinberg oder er         besuchen. Hin und wieder trafen sich Oma und Opa
      Dann ziehe ich einzelne Bücher aus dem Regal, ich    möglichkeit und kann mich vom alltäglichen Leben          hatte im Garten zu tun oder auf dem Kartoffelacker.    auf einen Schwatz mit den Nachbarn auf der Gasse.
      drehe und wende sie in meinen Händen, ich strei-     durchaus auch abhalten. Ich habe die Freiheit der         Am und im Haus gab es auch immer einiges zu                Ganz alltäglich eben.
      che über den Umschlag, ich blättere langsam und      Entscheidung. Das Lesen gibt mit die Möglichkeit          reparieren. Opa konnte alles. Er half auch oft den
      genussvoll einige Seiten um. Und alle, ausnahmslos   und die Freiheit, über mich und mein Leben hin-           Nachbarn, zum Beispiel beim Dreschen. Oma und          Ingrid J.
      alle Bücher strahlen diesen ganz besonderen                     auszugehen, zu denken, zu fühlen und zu        Mutter hatten im Haus zu tun, die üblichen Haus-
      Zauber auf mich aus, diesen Zauber                                      erleben. Das Buch wartet mit sei-      arbeiten halt. Die große Wäsche war eine mühsame
      der Verheißung von einer frem-                                               nen bedruckten Seiten völlig      Angelegenheit. Je nach Jahreszeit wurde Gemüse
      den und geheimnisvollen                                                          unaufdringlich und leise      eingeweckt, Gelee gekocht oder auch Sauerkraut
      Welt, die zwischen den                                                              und es überlässt es mir,
      Buchdeckeln verborgen                                                                 wann ich bereit bin,
      ist. Es erübrigt sich                                                                    den goldenen Fa-
      fast zu sagen, dass                                                                       den aufzugreifen,                                                          Geliebtes Verhalten
      ich noch nie ein                                                                           mich hinzulegen,
      Buch per e-Reader                                                                           meine Lesebrille
      gelesen habe, so                                                                             aufzusetzen,                                                            Gelebtes zu wiederholen, Routine, keine Überraschungen zu erwarten,
      sehr ich den prak-                                                                           das Buch                                                                einfach wissen, wie es läuft oder muss,
      tischen Nutzen                                                                               zur Hand zu                                                             alle Abläufe blind auszuführen
      dieser Geräte auch                                                                           nehmen und                                                              geliebtes Verhalten, ohne zu hinterfragen
      anerkenne.                                                                                  langsam die                                                              gelegentlich innezuhalten, aber keine Abweichungen zu wollen
           Es ist ein wun-                                                                       erste Seite auf-                                                          Störungen im Ablauf nicht zuzulassen
      derbares Gefühl, in                                                                       zuschlagen.                                                                zufrieden zu leben
      die Welt des Buches
                                                                                                                     Foto links: Pixabay
      einzutauchen. Ich kann                                                               Ulrike M.                 Foto rechts: L. Brünen                                Helmut H.
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                    Der denkende Mensch und
                    seine Blickwinkel

                        „8 Blickwinkel“ heißt ein Thriller aus dem Jahr          Ich bin eine „Leseratte“ und das bereits, seit
                    2008. Aus unterschiedlichen Perspektiven bekommt         ich in der Lage war, zusammenhängende Texte zu
                    der Zuschauer Informationen, um das Rätsel des           erfassen. Als Kind habe ich bei schummrigem Licht
                    Films zu lösen. Der Film zeigt dem Zuschauer, wie        halbe Nächte durchgelesen, was ich übrigens bis
                    unterschiedlich, persönlich und individuell unsere       heute noch mache. Meine Mutter fand das damals
                    Blickwinkel sind, aber alle zusammen zum großen          nicht so lustig, wollte sie doch ihr Kind nicht mit
                    Ganzen beitragen.                                        dicken Augen und halb schlafend am nächsten Tag
                        Natürlich gehört bei so viel Unterschiedlichkeit     im Unterricht wissen. Wie spießig ist das denn? –
                    sehr viel Respekt und Toleranz für die unterschied-      so dachte ich damals. Als ich selbst Mutter zweier
                    lichen Sichtweisen unserer Mitmenschen dazu. Im-         Schulkinder war und diese genau mein damaliges
                    mer nur auf den eigenen Standpunkt zu beharren,          Muster wiederholten, änderte sich allerdings radikal
                    bringt uns nämlich auch nicht weiter. Nur gemein-        mein Standpunkt zu diesem Thema.
                    sam wird das Leben bunt.                                     Auch als mein Mann in seinen wohlverdienten
                        Die unterschiedlichen Perspektiven der Men-          Ruhestand ging, wurde mir sehr bewusst vor Augen
                    schen zu beobachten, führt in manchen Fällen sogar       geführt, wie sich meine Blickwinkel auf diverse
                    zu unfreiwilliger Komik.                                 Dinge in meinem Leben mit der Zeit immer wieder
                        Vor kurzem las ich den Text zu einem Titelfoto,      ändern. Bis dahin betrachtete ich mich als „Allein-
                    welches eine verschneite Winterlandschaft zeigt:         herrscherin“ in unserem Haushalt. Dann war auf
                    „Der Winter kam diesmal spät – wir hoffen, Sie           einmal der beste aller Ehemänner jeden Tag um
                    haben ihn genießen können...“. Dieser Satz ist für       mich herum. Irgendwann räumte er den Inhalt un-
                    die meisten Leser nicht wirklich bemerkenswert. Zu       serer Spülmaschine um. Staunend stand ich dane-
                    einer Stilblüte wird er erst, wenn man weiß, dass        ben. Er erläuterte mir den Vorteil dieser „Arbeitsop-
                    er in der Zeitschrift eines Bundesverbandes steht,       timierung“ und sprach über die daraus resultierende
                    der sich mit den Spätfolgen nach der Kinderläh-          Zeitersparnis, sowohl beim Einräumen als auch
                    mung befasst. Hier sind in der Regel alle Mitglie-       beim Ausräumen. Ahhh ja! Da sprach der Mann, der
                    der in irgendeiner Form gehbehindert oder sitzen         es jahrzehntelang gewohnt war, dass er in seinem
                    im Rollstuhl. Für diesen Personenkreis ist dicker        beruflichen Umfeld das Sagen hatte und effektiv
                    Schnee kaum etwas, das sie genießen, er bremst           arbeiten musste. Ich überdachte daraufhin meinen
                    die Betroffenen in ihrem Alltag meist komplett aus!      bisherigen Standpunkt in dieser Sache und übergab
                    Der Blickwinkel auf eine dick verschneite Winter-        ihm gerne und sofort diesen „Spülmaschinen-Job“.
                    landschaft stellt sich halt aus einem Rollstuhl heraus   Das Schema hat sich noch ein paar Mal wiederholt
                    doch etwas anders dar.                                   und so habe ich jetzt mehr Freizeit denn je – toll!
                    Allerdings ändert sich für jeden Menschen im Laufe           Ich bin total froh, dass wir freie, denkende Men-

                                                                                                                                     Foto: A. Behrenhoff
                    des Lebens die Betrachtungsweise der unterschied-        schen sind und deshalb in unseren Betrachtungs-
                    lichen Ereignisse – das hoffe ich zumindest. Schließ-    weisen, Standpunkten oder Perspektiven, also mit
                    lich sind wir denkende Individuen und dürfen oder        unseren Blickwinkeln, nicht festgefahren sind.
                    sollten daher durchaus hin und wieder unsere
                    Betrachtungsweisen oder Standpunkte modifizieren.        Angelika B.

„Der Winter kam diesmal spät
– wir hoffen, Sie haben ihn
genießen können...“.
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                                                                                                       Das Beste ist die Hubfunktion, ich sitze da wie auf ’nem Thron.
                                                                                                       Und fühle mich so wie die Queen, obwohl ich nicht blaublütig bin.
                                                                                                       Was lange Zeit unmöglich war, ist auf einmal ausführbar.

                                                                                                       Den Kühlschrank auch ganz oben nutzen, wenn nötig, mal die Fenster putzen.
                                                                                                       Das Problem mit Spinnenweben, die an Wand und Decke kleben,
                                                                                                       gibt’s nicht mehr, das ist vorbei, es wird gelöst mit Hubi 2.

                                                                                                       Alle Fächer im Kleiderschrank, nun erreichbar, Gott sei Dank.
                                                                                                       Die Lichterkette am Weihnachtsbaum hängt dann perfekt, es ist ein Traum.
                                                                                                       Bemalte Eier und ­Girlanden, nicht so oft am Boden landen.

                                                                                                       Mein Benjamini ist zu groß, ich fahre hoch, und lege los.
                                                                                                       Mit der Schere wird geschickt, was zu lang ist, abgezwickt.
                                                                                                       Altglas zum Container bringen, die Entsorgung wird gelingen.
                                                                                                       Neugierig über Hecken schauen, ein paar reife Kirschen klauen.

                                                                                                       Beim Howard-Carpendale-Konzert, mir niemand mehr die Sicht versperrt.

                                                                                 Foto: B. Reitberger
                                                                                                       Zwei Funktionen kombinieren, was ­Verrücktes ausprobieren.
                                                                                                       Das ist mein Ernst und nicht zum Lachen – Katheterwechsel im Freien machen.
                                                                                                       Ich hoff’, mein Arzt kriegt nicht die Krise, wenn ich sag „heut auf der Wiese“.
                                                                                                       Ja, das alles und viel mehr, fällt mit Hubi bestimmt nicht schwer.

     Hubi 2 und F 16
                                                                                                       Doch etwas darf ich nicht vergessen, den Rollstuhl, darauf ich gesessen.
                                                                                                       Jahrelang, von früh bis spät, war F16 mein W
                                                                                                                                                  ­ eggefährt.
     Jetzt ist er da, mein blauer Blitz, mit Hubfunktion und L­ iegesitz.
                                                                                                       Inzwischen hat er viel Beschwerden, die ­kommen halt beim Älterwerden.
     Tiefer gelegt und extra schmal, der passt zu mir auf jeden Fall.
                                                                                                       Jetzt schick ich ihn mitsamt Verband in den verdienten Ruhestand.
     ­Geschwindigkeit und wie spät, ­deutlich am Bedienteil steht.
                                                                                                       Es ist soweit, der Wechsel steht – Hubi kommt, F16 geht.
      Mit Beleuchtung vorn und hinten, kann ich auch nachts nach Hause finden.
                                                                                                       Marie K.

     Blinker, wie auch beim Auto Pflicht, sind vorhanden, ich fass es nicht.
     Die grauen Reifen, alle vier, pannensicher, glaubt es mir.
     Darüber freue ich mich sehr, denn jetzt gibt’s k­ einen Plattfuß mehr.
     Mit stärkeren Akkus, mehr PS, bin ich ­schneller unterwegs.
     Kann spontan zum Aldi düsen und die flotte Fahrt genießen.
     Danach noch zum Schießhausplatz, der Zenn entlang, das geht ratzfatz.
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     London – nur acht Teile …                                                                                                                        Alltag an der Museumsbrücke
                                                                                                                                                      Gespräch mit Antonio

                                                                                                                                Foto: B. Reitberger
                                                                                                                Foto: Pixabay
         Warum sollte man vor einer roten Fußgänger-       bekommen. Und dass es passieren kann, wenn                                                      Wir sitzen in einem Lokal nahe seinem Stand-        den eingenommen, da es vom Wetter her besser ist.
     ampel stehen bleiben, wenn kein Auto fährt? In        diese freundlichen Fahrkartenkontrolleure schwarz-                                         platz, dem Eingang zum Hauptmarkt. Auf dem Tisch         Sein Körper hat sich an die Jahreszeiten in Deutsch-
     London warteten nur wir vor einer roten Ampel, alle   fahrende Touristen erwischen, einfach sagen:                                               eine Sprudelflasche und ein Glas für Antonio, der        land gewöhnt.
     anderen Fußgänger schauten kurz und überquerten       „Aber das nächste Mal bitte die richtige Fahrkarte                                         gegen 15 Uhr mit dem Verkauf des Straßenkreuzer              Manche Leute sind sehr unwirsch zu ihm, lassen
     rasch die Straße. Dies und andere Dinge veränder-     kaufen.“ Es erweitert den Horizont, mal in einer                                           Schluss gemacht hat. Er trinkt am liebsten Was-          die Hunde vor seinem Platz das Geschäft verrichten
     ten meinen Blickwinkel, seit wir im Oktober letzten   anderen Stadt Urlaub zu machen. Zum Beispiel                                               ser. Das Wetter ist kühl, wir kommen schnell ins         und das ärgert ihn. Er ist sehr höflich, kann aber bei
     Jahres eine Woche dort waren. Jetzt weiß ich auch,    sahen wir keine Hundehaufen auf den Gehsteigen,                                            Gespräch. Wir kennen uns schon mehrere Jahre             solchen Kränkungen sizilianisch wütend werden.
     wie schwer es Touristen in einem anderen Land ha-     anscheinend geht es irgendwie, die Hundebesitzer                                           von vielen freundlichen Unterhaltungen. Antonio          Er hat auch Neider, es werden Hefte geklaut, wenn
     ben, in dem eine andere Sprache gesprochen wird,      so zu disziplinieren. Mir wurde auch bewusst, dass                                         kommt aus der Nähe von Agrigent in Sizilien, einer       er mal für kurze Zeit weg ist. Einmal war er kurz
     sich durch den öffentlichen Nahverkehr zu kämp-       der öffentliche Nahverkehr bei uns doch ganz gut                                           Kleinstadt mit etwa 30.000 Einwohnern. 1970 kam          Kaffee trinken, in der Zwischenzeit hat jemand 15
     fen. Ich bin in Zukunft freundlich zu ihnen, weil     funktioniert. In London standen die Busse im Stau:                                         er mit 14 Jahren mit der Mutter nach Katzwang, war       Hefte, ohne zu bezahlen, mitgenommen. Das ist für
     ich die Erfahrung gemacht habe, dass es gut tut,      Die Linienbusse leer und die Touristenbusse über-                                          vorher in der Schule in Italien. Der Vater war bereits   ihn ein großer finanzieller Verlust. Einige falsche
     wenn einem freundliche Einheimische versuchen zu      füllt. Der Blickwinkel auf Londons Wetter änderte                                          1960 nach Deutschland gekommen und arbeitete im          Straßenkreuzer-Verkäufer waren in der Stadt unter-
     helfen. Mir wird jetzt auch bewusst, wie freundlich   sich: Den vielzitierten Regenschirm, der in London                                         Ruhrgebiet im Bergbau, 1970 zog er nach Katzwang         wegs, nun haben Antonio und die Anderen einen
     die Mitarbeiter in den großen Textilkaufhäusern bei   unentbehrlich sei, brauchten wir nur an einem Tag.                                         zu seiner Familie, arbeitete in Nürnberg. Antonio        Ausweis bekommen, um sich als legitime Verkäufer
     uns sind. Ich wusste nicht, dass in London nur acht   Wir stellten auch fest, dass es Vorteile hat, wenn                                         hat drei Schwestern, die alle in Deutschland leben,      ausweisen zu können.
     Teile mit in die Umkleidekabine genommen werden       viele Gäste im Hotel sind, die aus dem gleichen                                            zu denen er aber wenig Kontakt hat. Die Mutter ist           Antonio ist anderen Menschen gegenüber
     dürfen. Wenn man mehr probieren möchte, muss          Land kommen wie man selbst. Als es in der letzten                                          vor Jahren krank nach Sizilien gegangen und dort         tolerant, es reicht ihm, was er hat und er beneidet
     man sich wieder in die Schlange hinten anstellen.     Nacht einen Feueralarm gab, verstanden wir schnell                                         verstorben. Der Vater ist 2016 in Sizilien gestorben,    Leute nicht, die mehr haben. Dadurch ist er un-
     Sitzmöglichkeiten für müde Shoppinggänger oder        durch die anderen Gäste, dass es nur ein Fehlalarm                                         beide sind dort begraben.                                abhängig. Sein Wunsch ist, noch einmal in seine
     Begleitungen gibt es nicht. Aber nicht alle Mit-      war und konnten rasch wieder ins Bett gehen.                                                   Antonio ist 64 Jahre alt und da er früher feste      Heimat zu kommen, aber er sagt realistisch, dass es
     arbeiter in Kaufhäusern waren unfreundlich: Bei           Die Eindrücke des Urlaubs in London wirken bis                                         Anstellungen, unter anderem im Kabelbau, hatte,          nur ein Wunsch bleiben wird.
     Harrods durften wir uns in der Tax-free-Abteilung     jetzt noch in unserem Alltag nach. Die wichtigste                                          wird er nächstes Jahr seine Rente bekommen. Er hat           Von anderen Menschen wünscht er sich mehr
     auf Stühlen sitzend ausruhen. Auch wusste ich bis     Änderung des Blickwinkels ist die auf uns selbst:                                          keine Probleme mit Anderen, allerdings auch wenig        Freundlichkeit, dass sie mehr aufeinander zugehen,
     dahin nicht, dass es im öffentlichen Nahverkehr in    Wir sind in der Lage, fast alles zu schaffen, wenn                                         Kontakt zu den anderen Straßenkreuzer-Verkäufern.        sich vertragen und auch zu ihm höflich sind und
     anderen Städten freundliche Fahrkartenkontrolleure    wir gefordert sind.                                                                        Er hat viele Stammkunden, die ihn vermissen, wenn        grüßen.
     gibt, die nicht ihre Stimme erheben, sobald sie ei-                                                                                              er mal nicht an der Museumsbrücke steht. Bei
     nen Wagon betreten, so dass der Schwarzfahrer und     Sabine N.                                                                                  jedem Wetter von 9 bis 15 Uhr. Vorher stand er am        Helmut H.
     auch der zahlende Fahrgast einen Riesenschreck                                                                                                   Narrenschiff, dann hat er den Platz unter den Arka-
30                                                                            31

                                              was zählt

                                              was wirklich zählt
                                              ist der blick aus
                                              meinem winkel
                                              auf den alltag

                                              möchte gern gezeiten anhalten
                                              augenblicke geschickt wählen
                                              besser noch leben verwalten
                                              denn es sind die sekunden
                                              die zählen!

                                              was wirklich zählt
                                              ist der blick

                                              auf mein kurzes leben
                                              nur ich kann es
                                              wahrnehmen
                                              bewerten
                                              leben ...

                                              Lydia B.

                         Ein Selfchen

                         Gefühl
                         Zwei Hände
     Foto: R. Gebhardt

                         Wärme und Spannung
                         Luftiger Raum Ruhe
                         Ich fühle
                         Entspannung
                         Ingrid J.
32                                                                                                                                                                                                                                                      33

     Sehen mit allen Sinnen –
     und dem Herzen ...
     Interview mit Barbara

                                                                                                                                        Und wie kann ich mir deinen Alltag vorstellen?            Das kiss.magazin wird mit dieser Ausgabe in grö-
                                                                                                                                        Meinen Alltag organisiere ich weitgehend selber,          ßeren Lettern gedruckt, dazu gibt es aber auch
                                                                                                                                        mit meinem blinden Mann zusammen. In der „Groß-           seit einigen Jahren die Möglichkeit, das Magazin
                                                                                                                                        stadt“ Nürnberg ist es leichter als früher auf dem        am Computer* zu lesen. Was würdest Du bevor-
                                                                                                                                        Land, wo ich herkomme. Ich kaufe immer in den             zugen?
                                                                                                                                        gleichen naheliegenden Läden ein, zu Fuß statt mit        Ich habe es gerne in Papierform, weil ich mit mei-
                                                                                                                                        dem Auto oder Fahrrad. Unser Haus ist ohne großen         ner Lupenbrille (meistens) gut lesen kann. Mit dem
                                                                                                                                        Schnickschnack eingerichtet, alles bleibt an seinem       Vorleseprogramm am PC könnte ich es mir zwar
                                                                                                                                        angestammten Platz, damit wir uns gut zurecht fin-        vorlesen lassen, aber leider überfordert das meine
                                                                                                                                        den. Im Garten übernimmt er die Pflanzung seiner          Ohren. Bei meinem Mann wäre das wiederum ganz
                                                                                                                                        „duftenden Pflanzen“ und mein Part ist es, den Ra-        anders, der käme mit der technischen Version gut
                                                                                                                                        sen zu mähen. Wenn dabei ein paar Halme stehen            klar.
                                                                                                                                        bleiben, ist das auch unproblematisch. Das Leben
                                                                                                                                        „draußen“ ist völlig auf das Sehen ausgerichtet,          Was möchtest Du Menschen sagen, die – im
                                                                                                                                        durch die technischen Errungenschaften wird alles         Gegensatz zu Dir – früher normal gesehen haben
                                                                                                                                        immer schneller und schneller. Zum Beispiel beim          und erst durch Unfall oder Erkrankung ihr Augen-
                                                                                                                                        Einkaufen werden die Waren gar nicht mehr mit             licht eingebüßt haben?
                                                                                                                                        Preisen ausgezeichnet. Die (digitalen) Angaben an         Versucht euch nicht mehr mit den gut sehenden
                                                                                                                                        den Regalen sind für mich mit Lupe meist nicht les-       Menschen zu vergleichen, das könnte nur frust-
                                                                                                                                        bar und bis ich den Zeitaufwand betreibe, mich neu        rieren. Für jeden ist es sicher ein langer Prozess:
                                                                                                                                        zu orientieren oder nachzufragen, nehme ich schon         Loslassen, was mal war, Dankbarkeit für Gewesenes
                                                                                                                                        mal den höheren Preis in Kauf. Aber letztendlich          empfinden, raus aus der Opferrolle, annehmen, was
                                                                                                                                        habe ich selten das Gefühl besonders eingeschränkt        jetzt ist und mit der neuen Situation heute leben
                                                                                                                                        zu sein in meinem Alltag, ich kenne es nicht anders,      lernen. Im Rückblick hat mir im Laufe meines Le-
                                                                                                                                        es fühlt sich für mich normal an. In meiner Welt          bens Folgendes geholfen: Der Austausch mit Gleich-
                                                                                                                                        habe ich mich ganz gut eingerichtet und orientiere        gesinnten im Internat für Blinde und der Bayerische

                                                                                                                  Foto: A. Behrenhoff
                                                                                                                                        mich dabei nicht an Sehenden, das wäre fatal. Dabei       Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) mit
                                                                                                                                        bewahre ich mir meine Unabhängigkeit in meinem            Beratung und unterstützenden Hilfsmitteln. Zum
                                                                                                                                        eigenen Tempo, auch wenn ich eben langsamer bin.          Schluss fällt mir noch der kleine Prinz von Antoine
                                                                                                                                                                                                  de Saint-Exupéry ein, der sagt: „Man sieht nur mit
                                                                                                                                        Wie ist Dein beruflicher Alltag?                          dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen
                                                                                                                                        Ich habe meinen schreibenden Job am PC aufgege-           unsichtbar.“ Das kann ich aus Erfahrung bestätigen.
         Erst kürzlich saß mir im Bus eine junge Frau       Wie heißt Deine Augenkrankheit und wie viel                                 ben, das klappte trotz der vielen Hilfsmittel nicht
     mit dicker Brille gegenüber, die hatte ein großes      Sehfähigkeit steht Dir zur Verfügung?                                       mehr. Seit einiger Zeit arbeite ich als Heilpraktikerin   Danke liebe Barbara, für die sympathische Ein-
     Loch am Knie. Ich fragte mich, ob ihre Hose mo-        Die Bezeichnung heißt Iris-und Aderhautkolobom,                             und wende Cranio-Sacral-Therapie, eine manuelle           sicht in Deine Welt.
     dern sei oder ob es von einem Sturz herrühren          das habe ich von Geburt an. Dadurch bin ich stark                           Therapie, an. Aus heutiger Sicht wurde aus der Not
     könnte. Vielleicht ist sie auch sehbehindert? Und      blendempfindlich und habe eine Sehfähigkeit von                             eine Tugend, die viel besser zu mir passt.                Lydia B.
     ist gestürzt? Dabei musste ich an Dich denken,         5%. Das kann man sich in etwa so vorstellen: Was
     liebe Barbara, wie Du erst kürzlich erzähltest,        für jemand gut Sehendes auf 100 Meter erkennbar                             Wie ist es mit dem Thema Hilfe? Ist dir ein Hilfs-        * Das Kiss Magazin als PDF finden Sie auf unserer
     dass Du auf dem Wege zur Tram gegen ein Stra-          ist, ist für mich erst auf auf 5 Meter zu erkennen.                         angebot schon mal aufgezwungen worden?                    Homepage unter: www.kiss-mfr.de/publikationen
     ßenschild gedonnert bist und zu Fall kamst.                                                                                        Ja, mein Mann und ich sollten uns mal in der U-
                                                            Hast Du durch Deine Sehbehinderung eine ande-                               Bahn hinsetzen, obwohl wir es gar nicht wollten.
         Ja, damit muss man schon rechnen, wenn so ein      re Wahrnehmung, einen anderen Blickwinkel als                               Wir nehmen so etwas meistens mit Humor. Etwas
     Verkehrsschild mitten im Weg platziert ist. Wenn       Nichtbehinderte?                                                            Schwierigkeiten macht es mir schon, wenn sich
     ich vielleicht in Eile bin und die Lichtverhältnisse   Meine Wahrnehmung ist sicherlich anders, ich sehe                           jemand zurückgestoßen fühlt, weil ich etwas noch
     recht schlecht sind, dann erkenne ich es zu spät.      nicht ausschließlich mit den Augen. Meine eigene                            alleine machen möchte. Aber meistens kann ich die
     Vielleicht sollte ich für solche Fälle mit dem Stock   Bezeichnung dafür ist „Kombinationssehen“: Füh-                             Hilfe dankend annehmen oder freundlich sagen,
     gehen, das habe ich als Jugendliche schon im           len, wahrnehmen, hören. Und Farben kann ich ganz                            dass ich es alleine schaffe.
     Internat (Bildungszentrum für Sehbehinderte und        besonders gut sehen. Also ich sehe mit verschiede-
     Blinde) gelernt. Das ist auch der Grund, warum ich     nen Sinnen – was ich nicht missen möchte!
     meine Hände stets frei habe und den Rucksack an-
     statt der Tasche trage, um mich jederzeit abfangen
     zu können.
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