Der Blick aus dem Winkel - in den Alltag - kiss. magazin von selbsthilfegruppen in mittelfranken - Kiss Mittelfranken
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kiss. Ausgabe 2019 www.kiss-mfr.de magazin von selbsthilfegruppen in mittelfranken Der Blick aus dem Winkel in den Alltag
2 3 Liebe Leserinnen, liebe Leser, Alltag zwischen Lust und Frust Zugegeben, der Begriff Alltag enthält immer ein bisschen was von Lange- Geschäftsstelle: weile. Es passiert nichts Neues in Zeiten optimierter Lebens- und/ oder Arbeits- Selbsthilfekontaktstellen Kiss Mittelfranken e. V. abläufe. Alltag bedeutet oftmals Monotonie. Es gibt Menschen, für die ist das Am Plärrer 15 90443 Nürnberg Wort Alltag immer mit „grau“ verbunden: eine Schreckensvision immer gleicher Telefon 0911 234 94 49 Abläufe und (innerem) Stillstand. Gefangen in einem Alltag, der für viele immer Fax 0911 234 94 48 ähnlich aussieht. www.kiss-mfr.de magazin@kiss-mfr.de Aber glücklicherweise ist das nur die eine Seite der Medaille. Denn Alltag kann auch das Gegenteil bedeuten, wie z. B. Sicherheit oder liebgewonnene Ver- trautheiten, schöne Rituale und schafft Routinen in (Arbeits-) Abläufen, die dann für mehr Zeit für nicht-all-tägliche Dinge sorgen. Dinge, die uns persönlich wichtig sind, die uns bereichern und Freude bereiten. Und manchmal braucht es auch einen Schubser des Schicksals, um den Alltag wieder aus einer anderen Perspektive betrachten zu können: ein gebrochener Fuß – das ist doch kein Beinbruch – dachte ich zunächst, als ich Anfang des Jahres diese Diagnose erhielt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Foto: A. Behrenhoff eine relativ einfache Diagnose solch weitreichende Auswirkungen auf mich haben würde. Neben all den wirklich super unangenehmen Folgen für mich als Impressum leidenschaftliche Schnellläuferin, hat es immerhin den Effekt, meine Wahrneh- kiss.magazin von selbsthilfegruppen mungsfähigkeit im Hinblick auf Bodenbeschaffenheiten ungemein zu schärfen. in mittelfranken Jahrgang 13 / Juli 2019 Außerdem bin ich beim langsamen Laufen sehr viel aufmerksamer, was die Herausgeber: Selbsthilfekontaktstellen Ein Haiku Flora und Fauna am Wegesrand anbelangt. Kiss Mittelfranken e. V. Am Plärrer 15, 90443 Nürnberg Japanische Gedichtform nach Silben 5-7-5 Also ist es doch alles eine Frage der Perspektive mit dem Alltag? Oder wie es Telefon 0911 234 94 49 Fax 0911 234 94 48 Ernst Ferstl formuliert: „Die einfachste Möglichkeit, den Alltag von seiner All- www.kiss-mfr.de Blicke und Winkel täglichkeit zu befreien, ist ein sonntägliches Gemüt an den Tag zu legen.“ magazin@kiss-mfr.de Blickwinkel verändern sich In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine interessante, inspirierende Lektüre, Chefredakteurin: Gabriele Lagler Redaktionelle Mitarbeit: Corinna vielleicht auch mit dem einen oder anderen Perspektivenwechsel. Reumschüssel und Teilnehmende So wie du dich auch aus Selbsthilfegruppen Manuskripte sind nach Absprache mit der Redaktion Von jung zu älter Herzlichst, willkommen. Rücksendung nur gegen Rückporto. Namentlich Gelebter Reifeprozess Ihre Gabriele Lagler gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Verändert auch dich Redaktion wieder. Titelbild: Franziska Möbius Rückseite: Fam. Behrenhoff Erlebter Alltag Gestaltung: www.gillitzer.net Druck: Nova Druck Goppert GmbH Von Generationen Auflage: 4000 Anschauungswürdig kiss.magazin ist kostenlos und erscheint in loser Folge. Christa B.
4 5 Alle Tage ist kein Sonntag oder Der enttäuschte Blick in die Zukunft Liebes Hildchen, Auch am Abend eh du einschläfst, aber weinen darfst ich weiß gar nicht, wie ich dir beschreiben du nicht soll, was mir gestern Abend passiert ist, es war so Oh nein, noch ein Befehl, nicht mal weinen dür- peinlich! Stell dir vor, ich war gerade dabei, meinen fen, wenn einem danach wäre? Oh, diese Enttäu- Fensterladen zu schließen, als ein Steinchen an schung. die Scheibe geworfen wurde. Ich lugte hinter dem Das Lied war zu Ende, rundum erklang Beifall, sogar Vorhang hervor und sah Heinrich (du weißt schon, ein „da capo“ war zu hören. Diese Schmach! Am mein heimlicher Verlobter) mit einer Laute unten ganzen Leib zitternd stand ich hinter der Gardine. stehen, er flüsterte ziemlich vernehmlich: „Lottchen, Ich fühlte Zorn in mir aufsteigen, wie konnte er komm ans Fenster, horch, was ich dir sagen will“. mir das nur antun? Ja, ich weiß, er meinte es gut Und schon begann er eine bekannte Melodie zu und war sicher stolz auf seine Überraschung. Aber klimpern. Bei einigen Nachbarn wurden die Läden erfreut hat er damit nur die Nachbarn. Kurz erwog wieder geöffnet, sie wollten sich wohl so ein Ereig- ich, einen Blumentopf hinunterzuwerfen. Aber nein, nis wie ein Ständchen nicht entgehen lassen. Da das wäre dann doch zu peinlich gewesen. Noch ein begann er zu singen, leider war seine Stimme nur laut geflüstertes „Lottchen“ tönte herauf, aber ich recht mittelmäßig, etwas quäkend in den Höhen. gab kein Zeichen. Nein, es war zu schlimm. Nun ja (aber hatte er mir nicht erzählt, er wäre der Lange konnte ich keinen Schlaf finden, lange führende Tenor in seinem Chor? Ich hatte ihn ja ging mir der Text im Kopf herum. Soviel muss und bisher noch nicht gehört). Aber jetzt horchte ich auf soll, was wenn er in der Ehe wirklich so sein würde? den Text: In unseren Gesprächen während der wenigen, Alle Tage ist kein Sonntag, alle Tag gibt’s keinen Wein heimlichen Spaziergänge waren wir uns einig Na ja, dachte ich, das ist ja auch gut so, denn gewesen, jeder sollte geben und nehmen können, ich hatte schon manches Mal den Verdacht, dass von gegenseitiger Zuneigung war die Rede. Ich war Heinrich etwas zu tief ins Glas schaut. bitterlich enttäuscht und manche Träne tropfte auf Aber du sollst alle Tage recht lieb zu mir sein mein Kissen. Erst spät fiel ich in einen unruhigen Oho, was sollte denn das heißen? Ich soll alle Schlummer. Am Morgen fasste ich einen Entschluss. Tage lieb sein? Und er? Das gab mir zu denken, Ich setzte mich an mein Schreibpult und verfasste wenn wir mal verheiratet wären. Ein nachdenklicher einen Brief an Heinrich, in welchem ich unsere Seufzer entrang sich meiner Brust. Und schon kam Verlobung löste. Ich verschloss den Brief mit einer der nächste Vers, fast einer Drohung gleich: Oblate und schickte gleich meine treue Magd los Und wenn ich dann tot bin, sollst du denken an mich und trug ihr auf, den Brief nur an Heinrich persön- Ach Hildchen, noch nicht mal verheiratet und lich auszuhändigen. Foto: R. Gebhardt schon vom Tod reden und immer an ihn denken Hildchen sag mir, habe ich recht getan? müssen, ob ich das überhaupt fertigbringen würde? Dein erleichtertes, wenn auch etwas unglückli- Ein Schauder lief mir über den Rücken. ches Lottchen Ingrid J. Ich verschloss den Brief mit einer Oblate und schickte gleich meine treue Magd los und trug ihr auf, den Brief nur an Heinrich persönlich auszuhändigen.
6 7 Was ist denn jetzt normal? gehen. Manchmal bringt sie Dir auch Anerkennung Weder Deine Therapeutin, noch Deine Angehöri- und Bewunderung. Sie steht Dir in schwierigen Situ- gen, noch Dein Partner. Nur Du selbst kannst Dir ationen zur Seite, bietet Schutz und Geborgenheit. da raus helfen. Du musst die Opferrolle verlassen, Doch gleichzeitig zerstört sie Dein Leben. Sie nimmt die volle Verantwortung übernehmen, musst selbst Dir jede Leichtigkeit, jede Spontanität. Sie bringt Dir aktiv werden, Deinen eigenen, ganz persönlichen Zwang und Isolation. Und ehe Du Dich versiehst, ist Weg suchen. Das ist eine Art der Selbst-Hilfe. Eine nichts mehr wie es einmal war. Normaler Alltag – Selbsthilfegruppe ist eine andere Art. Eine Selbsthil- undenkbar. fegruppe kann Dich oder Deine Angehörigen nicht Das zu begreifen, ist der erste wichtige Schritt retten, sie kann Dich/ihn/sie nicht gesund machen. auf dem Weg zur Genesung. Nicht mehr die Augen Aber sie kann Dir zur Seite stehen. In einer Selbst- zu verschließen und so zu tun, als wäre alles nor- hilfegruppe sind Menschen, die Dich verstehen, die mal. Dir einzugestehen, dass Du Deinen Alltag nicht Ähnliches durchmachen oder durchgemacht haben. mehr im Griff hast, sondern die Essstörung Dich. Die hilfreiche Tipps geben können, sei es zu An- Die zweite wichtige Erkenntnis ist, dass Du Dir laufstellen, Hilfsangeboten und Kliniken oder zum Hilfe suchen darfst und solltest. Professionelle Hilfe alltäglichen Umgang mit der Erkrankung. Die über in Form eines Therapeuten, in Form eines Arztes, Jahre angesammeltes Fachwissen, Literatur- und einer Beratungsstelle oder einer psychosomatischen Kursempfehlungen weitergeben können. Menschen, Klinik. Ja, vielleicht auch in Form einer Selbsthil- die zuhören, die Dein Leid teilen und es damit ein fegruppe, in Form neuer Freunde, eines neuen kleines bisschen leichter machen. Hobbies, einer neuen Ausbildung, eines neuen Jobs. Ich selbst habe auf meinem Weg der Gene- Auf dem Weg aus der Essstörung kann Vieles helfen. sung sehr von Selbsthilfegruppen profitiert. In Jeder Weg ist so individuell wie Du selbst. Klar ist, einer Gruppe gemeinsam mit Menschen, die alle Foto: S. Weiß Du darfst und solltest Dir Hilfe suchen. Klar ist aber in irgendeiner Form von Essstörungen betroffen auch: Gehen musst Du den Weg letztlich selbst. Nie- sind: Ob selbst erkrankt, ob als Eltern, Geschwister, mand kann für Dich essen. Niemand kann für Dich Partner*in, Freund*in oder entfernter Angehörige. mit dem Erbrechen, mit dem exzessiven Sport, mit Denn genau in dieser Mischung können wir alle den Appetitzüglern und Pillen aufhören. Niemand maximal voneinander profitieren, Verständnis für Essen ist etwas Alltägliches. Essen ist ein regelmäßig ins Fitnessstudio, ernährt sich von kann für Dich die schrecklichen Gefühle und Gedan- den jeweils anderen Part aufbauen und uns gegen- menschliches Grundbedürfnis. Genau wie Schlafen Diätshakes und Eiweißriegel? Sind nicht fast alle ken aushalten, die kommen, wenn Du den Weg der seitig optimal unterstützen – gemeinsam aus der und die Toilette benutzen. Wir alle tun es. Wieder Menschen auf der Suche nach der perfekten Figur? Genesung gehst. Niemand kann Dir Deine Ängste Essstörung eben! und wieder. Jeden Tag. Meist ohne groß darüber Die sozialen Medien sind voll von Buddha Bowls nehmen, niemand das schreckliche Körpergefühl. nachzudenken – vor allem aber, ohne es wirklich in und Smoothies, an jeder Ecke erzählt uns jemand Anna F. Frage zu stellen. Es gehört einfach zum Leben dazu. vom todsicheren Weg zu ewiger Gesundheit und Wie sehr Essen jedoch unseren Alltag bestimmt, dem perfekten Körper. Wir müssen nur vegan leben, welche große Bedeutung Essen für uns alle hat, fällt low carb, clean oder paleo. Ist DAS nicht Alltag? Der erst wirklich auf, wenn es nicht mehr einfach so Grat zwischen dieser gesellschaftlich anerkannten funktioniert, wenn es zum Problem wird. Normalität und einer Essstörung ist schmal. Nicht Wenn Essen zum Problem wird, verändert das Dein selten beginnt die Erkrankung mit einer solchen Diese Erkenntnis, die Einsicht, an einer ganzes Leben. Und das Leben Deiner Eltern, das „normalen“ Ernährungsumstellung, die unbemerkt Essstörung zu leiden, ist schwer – denn welcher Leben Deiner Geschwister, Deiner Freunde und all aus dem Ruder gerät, die Dir unbemerkt entgleitet. Mensch isst schon normal? derer, die Dir nahestehen. Nicht plötzlich, nicht von Bis Dir irgendwann plötzlich auffällt, dass Essen das heute auf morgen. Nein, meist ist es ein eher schlei- Alltägliche verloren hat, dass sich plötzlich alles in chender Prozess. Stückchen für Stückchen. Bis Du Deinem Kopf nur noch um Kalorien und Gewicht, irgendwann aufwachst und feststellst, dass nichts um gesund und ungesund, nur noch um die letzte mehr ist, wie es einmal war, dass es den „norma- und die nächste Mahlzeit dreht. Plötzlich fällt Dir len Alltag“ nicht mehr gibt, dass Essen nicht mehr auf, wie viel Macht diese Gedanken über Dich ha- etwas Alltägliches ist. ben, wie sehr sie Dein Leben bestimmen – und wie Diese Erkenntnis, die Einsicht, an einer Essstö- schwer der Weg zurück zu einem normalen Alltag rung zu leiden, ist schwer – denn welcher Mensch ist. isst schon normal? Was ist überhaupt „normal“? Eine Essstörung gibt Dir zu Beginn sehr viel. Das Macht nicht jede zweite Frau da draußen gerade Gefühl von Kontrolle, das Gefühl von Macht, von Diät? Rennt nicht jeder zweite Mann da draußen Stärke. Sie hilft Dir mit negativen Gefühlen umzu-
8 9 Das Vertrauen Beim Selbstival auf dem Nürnberger Jakobs- „Da hast du vollkommen recht, das finde ich al- platz betreute ich den Erzählkiosk, eine Idee nach lerdings auch“, stimmte ich ihr zu. Ich schaute zu Hamburger Vorbild, bei der Menschen eingeladen Mama und Papa und sagte: „Also wirklich, Eltern, sind, einfach aus ihrem Leben zu erzählen. Sehr das geht ja mal gar nicht! Ihr könnt doch nicht das viele Menschen flanierten über den Platz und die Kind mit Versprechungen in die Stadt locken und Stimmung war so wunderbar fröhlich und entspannt dann haltet ihr euer Wort nicht? Ich schlage vor, ihr wie das Wetter an diesem Tag. legt jetzt zusammen eine mittägliche Pause ein, das Es war gegen 14 Uhr, als ein Elternpaar mit Selbstival „rockt“ schließlich den Platz noch bis in ihrer etwa achtjährigen Tochter auf den Erzählkiosk die Abendstunden.“ zukam. Die Kleine schien in einer Auseinanderset- Die Eltern lachten und meinten, ok, jetzt hätten zung mit ihren Eltern zu sein und wirkte ein wenig sie die Botschaft deutlich verstanden und sagten genervt. Die Familie blieb stehen, als sie das Schild zu ihrer Tochter, dass sie nun als erstes in ein nahe mit den Infos über den Erzählkiosk sah. Die Mutter gelegenes fränkisches Restaurant mit ihr zum Essen meinte zu ihrer Tochter: „Schau, hier kannst du ja gehen würden. der Frau erzählen, was dich stört“, und schob das Die drei verabschiedeten sich. Nach ein paar Mädchen ein Stückchen in meine Richtung. Die Metern drehte sich die Kleine noch einmal um und Kleine verkniff die Lippen und wusste offensichtlich winkte mir fröhlich zu. Selbstverständlich hatte nicht so recht, was sie von dieser Situation halten sie der Aussage der Eltern vertraut und ihre kleine sollte. Kinderseele klammerte sich einfach an das Ver- „Gefällt es dir wohl nicht auf dem Selbstival?“, sprechen, mittags einzukehren. Ihre Sicht auf den sprach ich sie an. Sie überlegte kurz, aber dann gemeinsamen Stadtbummel war natürlich ihre ganz sprudelte es aus ihr heraus: „Sie haben gesagt, eigene. wir fahren in die Stadt und schauen uns Nürnberg Ich habe gerne an diesem Nachmittag zugehört. und das Fest an und sie haben versprochen, dass Danke für das mir entgegen gebrachte Vertrauen. wir mittags etwas essen gehen! Und jetzt wollen sie nur eins nach dem anderen anschauen!“ „Und Angelika B. du hast bis jetzt in der Stadt noch nichts zu essen bekommen, noch nicht einmal ein Eis?“, fragte ich. „Doch“, sagte sie, „ein Eis schon – aber das ist doch kein richtiges Essen!“ Sie verschränkte empört ihre kleinen Ärmchen. Foto: A. Behrenhoff Nach ein paar Metern drehte sich die Kleine noch einmal um und winkte mir fröhlich zu.
10 11 Regen macht mir gar nichts aus Regenschauer, Wolkenbänke Schleier vor dem Himmelsblau Leises Frösteln, klamm und kühl Und die Sicht ist ungenau. Unverzagt, was kommen mag Geh ich vorwärts, wie ich muss Find ich, was ich finden will Finde ich mein Glück zum Schluss. Nur Geduld, es kommt die Zeit Auch für mich, ich weiß es doch Regen macht mir gar nichts aus Die Sonne scheint im Herzen doch! Birgitt K. Foto: A. Behrenhoff
12 13 Haus aus Stein mit Terrasse Goethe sagte angeblich: „Auch aus Steinen, die Kommen dann Zeiten, in denen mein imaginäres in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schö- Haus um eine Doppelgarage erweitert wird, weil nes bauen“. Stimmt, ich habe mir davon schon ein z. B. der MDK1 den gewünschten Rollstuhl ablehnt imaginäres Haus mit Gartenmauer und Terrassen- oder das SPZ2 mir und meinem Kind in einer akuten einfassung gebaut. Notsituation gerne einen Termin einräumt, der in Ich bin hauptberuflich Mama eines behinderten 5 ½ Monaten stattfindet, zehrt das schon sehr an Kindes, nebenberuflich bin ich zudem gefühlt als den Nerven. Physiotherapeutin, Übersetzerin, Rechtsanwältin, Was für eine Wohltat sind dann die Gruppentref- Sekretärin, Schulwegbegleitung, Nachhilfelehrerin, fen unserer Selbsthilfegruppe! Jeder weiß, was der Taxiunternehmerin, Psychologin und Kranken- andere gerade für einen Zentner Steine schleppt schwester tätig. und ist bereit mit anzupacken. Gemeinsam haben Auf den ersten Blick unterscheidet sich unser wir in den vergangenen sieben Jahren, in denen un- Alltag zu Hause zunächst einmal gar nicht so sehr sere Selbsthilfegruppe nun besteht, schon manche von dem einer „normalen“ Familie. Wir lachen Mauer eingerissen, lichtdurchflutete Mauerbögen gemeinsam, streiten und vertragen uns, sorgen und Fensternischen eingebaut oder aus den Steinen uns, kochen, shoppen, spielen. Genauso wie andere gemütliche Sitzecken im Garten angelegt, die im Familien auch. Nur, dass ich mich eben ein bisschen, Alltag zum Verweilen, Wohlfühlen und Austauschen manchmal auch viel mehr um mein Kind kümmern einladen! muss und das auf Jahre und nicht auf absehbare Und wenn gar nichts mehr geht, ruft bestimmt Zeit. eine Mama: „Es wird mal wieder Zeit für ein Meinen Alltag nehme ich oft fremdbestimmt Frühstück!“ Aus diesem Blickwinkel gesehen spielt wahr: Freizeit bauen wir um Arzttermine und Selbsthilfe für mich also schon eine wichtige Rolle. Therapiepläne sowie die Verfügbarkeitszeiten von Die Gruppe bringt Sonne in mein Leben! Da fällt Pflegediensten herum. Zwischen all dem Kümmern mir ein: Hauptberuflich bin ich immer noch Mama, und Organisieren von Therapie und Terminen ver- nebenberuflich aber auch Zuhörerin, Genießerin, gesse ich dabei manchmal, mich um mich selbst zu Freundin und seit heute übrigens auch noch Schrift- sorgen, Kraft zu tanken. stellerin. Kerstin H. Foto: L. Brünen Zwischen all dem Kümmern und Organisieren von Therapie und Terminen vergesse ich dabei manchmal, mich um mich selbst zu sorgen, Kraft zu tanken. Medizinischer Dienst der Krankenversicherung 1 Sozialpädiatrisches Zentrum 2
14 15 Der ver-rückte Blickwinkel Grüßt das Murmeltier immer noch täglich? Foto: B. Reitberger Foto: B. Reitberger Was bestimmt eigentlich generell deinen Blick- Staub. So ist das eben. Da fällt mir gerade ein: Es ist Alltag klang für mich irgendwie immer nach kleinen Schummeleien, die ich nur vorübergehend winkel? Natürlich in erster Linie dein Geschlecht, erwiesen, dass große Menschen häufig ein höheres Langeweile. Danach, dass jeder Tag gleich ist, einer brauche, wie ich es mir eingeredet hatte. dein Alter, deine Position in der Gesellschaft, Gehalt bekommen als kleinere. Ob sie es „verdient“ wie der andere, ohne Abwechslung. Alltag ist Nor- Alltag, das ist für mich eine hart zurückeroberte deine Religion, dein Geburtsland und nicht zuletzt haben, ist allerdings eine andere Frage. Einen ganz malität, nichts Aufregendes. Ich stehe auf, frühstü- Lebensqualität. Mal fällt es mir schwer, den Dingen die Zeit, in der du lebst. Wie ist dein Blickwinkel? tollen Blickwinkel hatte übrigens Alexander Gerst, cke, gehe arbeiten, komme heim, kümmere mich des Alltags nachzukommen, mal leicht. Dabei hilft Gehörst du zu denen, die viel haben oder musst du als er die Erde umrundete. Unser Mann im All. Einen um die Familie und gehe dann irgendwann ins Bett. mir mein Vertrauen, dass Gott es gut mit mir meint, mit wenig auskommen? Bist du oben oder unten? Blickwinkel, der sich sogar alle paar Minuten ein Und täglich grüßt das Murmeltier. Dass den Alltag die Therapie und die vielen Menschen in meinem Ist dein Blickwinkel der der Gebildeten, Belesenen wenig veränderte. Ach, da unten ist Europa, mag er in dieser Weise bewältigen zu können gar kein Leben, die mit mir kämpfen. Und so kann ich mich und Intellektuellen oder der der Anderen? Oder evtl. sich gedacht haben und wenn er ein wenig näher Grund zur Langeweile, sondern eher ein Privileg ist, über die kleinen Dinge, die für andere Menschen irgendwas dazwischen? Und im Alltag? Der bettlä- gezoomt hat, da Deutschland. Und von hier oben ist habe ich in den letzten Monaten lernen müssen. Ich und bis vor wenigen Monaten auch für mich selbst- gerige Patient erlebt vielleicht die Krankenschwes- alles so klein, unser Land und alle, die sich so wich- schreibe „müssen“, weil ich es mir sicherlich nicht verständlich waren, freuen. Aufstehen, ohne dass ter, den Arzt, die sich um ihn kümmern, von oben tig nehmen. Ver-rücke, verändere deine Position, ausgesucht hätte. Wahrscheinlich kam es schlei- der ganze Körper vor Aufregung zittert. Frühstücken herab, vielleicht sogar als dominant, trotz aller Für- deinen persönlichen Blickwinkel; vielleicht erfährst chend, für mich haben sich die Panikattacken aber und Appetit haben. Mit dem Zug zur Arbeit fahren sorge. In dieser Position bist du hilflos, oder nicht? du ja dann eine Bewusstseins-Veränderung. Nur so eher wie ein Überfall angefühlt. Heimtückisch, von und meine Termine wahrnehmen. Heimkommen Und im Straßenverkehr: An der roten Ampel hat der als Anregung. Es könnte spannend werden! hinten. Zunächst nur in einigen Situationen, z. B. im und mich um meine Familie kümmern. Und dann im SUV einen anderen Blickwinkel als der Fahrer im Wartezimmer oder im Zug. Ja, da kann man kreativ abends irgendwann ins Bett fallen und mit Gedan- Mini-Cooper daneben. Mindestens physisch gese- Christa B. werden: Zum Arzt habe ich kurzerhand eine Freun- ken an das Schöne, was heute passiert ist, einschla- hen. Was ich nicht sehe, berührt mich nicht sonder- din mitgeschleppt und beim Zugfahren telefoniert, fen. Wenn es dann irgendwann wieder so ist, – und lich. Bestes Beispiel: Der Staub auf den obersten um mich abzulenken. Besprechungen auf der Arbeit ehrlich gesagt hoffe ich darauf – dass der Alltag Möbelflächen in meinem persönlichen Umfeld habe ich vermieden, Auswärtstermine abgesagt. mich langweilt, freue ich mich auch auf Überra- tangiert mich wenig, weil ich ihn nicht permanent Doch Angst geht nicht weg, wenn sie ignoriert wird. schungen und die kleinen Abenteuer, die das Leben sehe. Vor allen Dingen nicht bei meiner Körpergrö- Im Gegenteil. Nach der heftigsten Panikattacke, so bietet. Bis dahin finde ich meinen Alltag auch so ße von knapp 165 cm. Lange Menschen bemerken die ich bis dahin erlebt hatte, habe ich kapituliert. spannend genug. diesen natürlich sofort, sie haben ja einen anderen Ich musste mir eingestehen, dass ich nicht in der Blickwinkel. Dann wird’s vielleicht peinlich beim Lage bin, meinen Alltag zu leben. Nicht mal mit den Rahel
16 17 Mein Platz – Dein Platz Der Mensch ist ein Gewohnheitstier Meine Welt Was soll ich sagen? Mein Konversationsspeicher ist leer Tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf Aber nichts was weltbewegend wäre aber nichts was interessant für Dich wäre Aber für mich tausend Nadelstiche Foto: B. Reitberger aber für mich ist es meine Welt Betti Diesen Spruch kennt jeder hier Ein neuer Blickwinkel ist doch was wert Und ja unsere Gewohnheiten Neue Eindrücke sind nie verkehrt Sind es die uns dann verleiten Von der anderen Seite zu schauen Es immer wieder gleich zu tun Sollte man sich öfters trauen Gegen Neues scheinbar recht immun Sein Gegenüber nimmt man anders wahr Warum man dafür nicht bereit? Facettenreich und wunderbar Vielleicht fühlt man Unsicherheit. Auch über Dich selbst da lernst Du was Glaub mir am Ende macht‘s auch Spaß. Ein jeder von uns kennt das Gefühl In der Menge und im Gewühl Daher an Euch alle mein Appell Aber auch bei der Sitzplatzwahl Setzt Euch in der Gruppe nicht so schnell Im Bus oder Zug – es ist nicht egal Mein Platz – Dein Platz sollt‘ es nicht geben Wo ich hocke lass ich mich nieder Immer neu gemischt kein Platz fest vergeben Nach Möglichkeiten immer wieder. Bunt wie das Leben eben! Mancher kennt das aus der Gruppe Und am Ende wirst Du sehen Diese ganz besondere Truppe Einen Platz kriegt jeder – keiner muss stehen. Jedes Mal derselbe Platz Das ist Meiner – sonst gibt’s Rabatz! Jürgen U. Natürlich nur in Gedanken Wer will schon offen Zanken! Doch selbst wer fest in seinem Stuhle thront bleibt vor Überraschungen wohl nicht verschont Dein Nachbar Deine Nachbarin Setzen sich heut mal woanders hin Dein Gegenüber setzt sich zu Dir Hilfesuchend schaust Du zur Tür.
18 19 Metamorphose im libanesischen Alltag Der Kardamon verlieh dem Kaffee, den ich Seit vier Tagen schon waren meine Studien- ganz gegen meine Gewohnheit nur mit viel Zucker freundin Ursel und ich zu Gast in einer bunt zusam- trinken konnte, eine ganz besondere Note. Wäh- mengewürfelten Frauen-WG inmitten von Tripolis. rend Uruba mir die Fingernägel lackierte, genoss Auch ohne Arabisch-Kenntnisse unterhielten wir ich bereits die dritte Tasse davon. Diese war ja auch uns blendend. Mit Händen und Füßen und ganz viel winzig klein im Vergleich zu den großen Pötten Lachen diskutierten wir alles, was ein Frauenleben zuhause. Aber dafür war sie wunderschön mit reich und interessant macht. Und diese quirligen, einem filigranen goldenen Muster auf dem weißen pfiffigen Frauen haben tatsächlich aus Ursel und mir Porzellan verziert. Auch die goldene Stickerei auf modisch gestylte Wesen entsprechend ihrem Schön- dem fliederfarbenen langen Gewand, das ich trug, heitsideal gezaubert. Leider existieren keine Fotos gefiel mir sehr. Tatsächlich habe ich mich zur Freude von dieser Mitte der achtziger Jahre des vorigen meiner temporären libanesischen WG-Mitbewoh- Jahrhunderts stattgefundenen Metamorphose. Wir nerinnen vorhin dazu überreden lassen, dieses edle hätten uns damals geschämt, solche Bilder von uns Kleid gegen meine Jeans und T-Shirt einzutauschen. den Freunden in Deutschland zu zeigen. Es erschien Und mich auch passend dazu wie eine arabische uns politisch völlig inkorrekt und ließ sich mit unse- Frau stylen zu lassen. rem damaligen Welt- und Frauenbild definitiv nicht Jetzt saß ich in gut gelaunter Frauenrunde bei vereinbaren. Heute finde ich es schade und hätte herrlichem Sonnenschein und strahlend blauem sicher einen großen Spaß daran. Himmel auf einem schattigen Balkon und spürte Ein wirklich außergewöhnliches Erlebnis war die angenehme Brise des Windes, die vom Meer her der private Hamam, den unsere arabischen Freun- Foto: Pixabay wehte. Zuhause in Deutschland hätte mir das be- dinnen mit uns in ihrem kleinen, fensterlosen stimmt keiner geglaubt, dass ich mal mit gelocktem Badezimmer zelebrierten. An den Wänden zogen Haar, perfektem Make-up und knallrot lackierten Karawanen von Kakerlaken in allen vorstellbaren Fingernägeln diese Komplett-Verwandlung meines Größen entlang. Das Wasser wurde mit Hilfe eines Typs über mich ergehen lassen würde. Kohleofens erhitzt. Mit speziellen Waschlappen rubbelten zwei Frauen meine Arme, später auch Rücken, Dekolleté und Beine ab. Ich traute meinen Augen kaum, als ich auf meiner Haut lauter kleine schwarze Würmchen sah. Überall, wo die beiden Frauen gerubbelt hatten, war meine Haut über- Ein wirklich außergewöhnliches Erlebnis sät mit diesen schwarzen Würmern. Das empfand war der private Hamam, den unsere ich als megapeinlich, hatte ich doch am Morgen arabischen Freundinnen mit uns in bereits in Gesellschaft der Kakerlaken geduscht und dachte eigentlich, sauber zu sein. Meine arabischen ihrem kleinen, fensterlosen Badezimmer Freundinnen amüsierten sich köstlich über meine zelebrierten. offensichtliche Scham. Sie erklärten mir, dass es kein Schmutz wäre, sondern lediglich abgestorbene Hautschuppen. Dies sei völlig normal, weil es bei uns in Deutschland nicht üblich sei, seinen Körper so intensiv abzurubbeln. Im Libanon, wie auch in anderen arabischen Ländern, gehört es zum Alltag, sich regelmäßig eine so intensive Behandlung und Pflege der Haut zu gönnen. Wieder etwas dazuge- lernt von diesen tollen, interessanten Frauen, die in einer so ganz anderen Welt leben als ich. Theresia H.
20 21 Im Gespräch mit dem Spiegel Ja, er hat auch einen Blickwinkel, mein Spiegel. Spieglein, Spieglein an der Wand! Wo ist heut‘ Meistens, vor allem morgens um 6 Uhr, schaut er die schlimmste Problemzone im Mialand? mir recht flüchtig, also wenig tiefgründig entge- „Du meinst neben deinem seltsamen roten gen. Wir kennen uns ja schon lange, es gibt nicht Punkt mitten auf der Nase, der mich jeden Tag blöd dauernd etwas Neues zu entdecken. Wir begegnen anstrahlt, von deinen ganzen Polstern am ganzen uns regelmäßig: Mal über dem Waschbecken im Körper verteilt mal ganz zu schweigen. Ach und Badezimmer, mal in der Ecke des Schlafzimmers, sag mal, wann sind deine Oberarme überhaupt gezwungenermaßen in Aufzügen und mit viel Wi- so unförmig und dick geworden. Und dein Po – derwillen beim Kauf von neuen Kleidungsstücken. Meeensch, schon mal an mehr Sport gedacht? Aber Jede dieser Begegnungen ist mit sehr variablen Ge- ansonsten fällt mir heute eigentlich nichts auf, was fühlen verbunden. Und wenn ich dann schaue, wie schlimmer wäre als üblich.“ der Spiegel mich anblickt, dann beschleicht mich Welch‘ charmante Antwort, mit der ich viel zu die leise Befürchtung, dass er genau weiß, wie es in oft in meinem jungen Leben konfrontiert werde. diesen Augenblicken um mich steht. Dieses blöde kleine Spiegel-Ich sagt ständig so Zum Beispiel wenn ich mich schick machen gemeine Sachen, wenn wir unter uns sind. Doch möchte, dann kommen so Andeutungen rüber dann, wenn ich manchmal jemandem mein Spiegel- wie: „Oh, die Hauptspeckader wölbt sich aber ganz Ich als Bild schicke, kommen plötzlich ganz andere schön über die Hose“ oder „Nee du, dafür bist du Blickwinkel, die so gar nicht problemzonenbezogen jetzt echt zu alt“. Dann schau ich ganz genau hin, sind, sondern mich in ein ganz anderes, freund- ob es nicht irgendwo etwas an mir gibt, das ganz in liches Licht rücken. Und dann schau ich nochmal Ordnung ist. Vielleicht meine Beine? Kann ich mich und plötzlich schaut das Spiegel-Ich mir tief in die so hinstellen, dass er mich aus einem Winkel sieht, Augen. Als wundere es sich, warum es ständig so in dem ich ganz schlank aussehe? Kann ich etwas abfällig über mich redet. „Wozu denn eigentlich anziehen, damit ich größer erscheine? Kopf hoch, all dieses Piesacken?“, fragt es mich überraschend. damit das zunehmende Doppelkinn sich strafft! „Weißt du, eigentlich hast du’s schon schwer genug, Er beeinflusst mich nun schon seit beinahe 50 ständig gegen irgendwelche dummen Kommentare Jahren und nur ganz selten kann ich ihn täuschen. zu kämpfen, die dich sowieso nur auf dein Äu- Dabei bin ich doch seit über 40 Jahren Feministin ßeres reduzieren, weil irgendwelche Medien und Foto: B. Reitberger und beschäftige mich seit über 30 Jahren mit dem Schönheitsindustrien der Welt vorgaukeln, wie die gesellschaftlichen Blick auf den Frauenkörper, der perfekte Frau aussehen müsse. Weißt du, eigentlich im öffentlichen Raum normiert, idealisiert, sexua- bist du doch ein bisschen mehr als die vermeintli- lisiert und abgewertet wird. Aus jedem Winkel der chen Makel, die dich letztendlich auch zu der Frau Medien und der Werbung springt es mich an: Du machen, die du nun mal bist. Weißt du, eigentlich bist nur schön, wenn du groß, schlank, durchtrai- hab ich’s satt ständig nur die Böse zu sein. Wollen niert, gestylt und immer selbstbewusst bist! Und wir Freundinnen sein?“. Etwas irritiert und dem dann stimmt mein Spiegel auch noch in dieses Lied Schein nicht trauend stimme ich vorsichtig zu, denn mit ein!! in Einem hat mein Spiegel-Ich vollkommen recht: Ich drehe mich weg, weg vom engen Blickwinkel Es gibt genug Gegebenheiten, Umstände und auch des Spiegels, hin zur Weite und Vielfalt des Lebens. Menschen, die nur nach dem Aussehen beurteilen Und da sind sie plötzlich wieder: die Lebendigkeit, oder kritisieren. Warum sich selbst, also den Alltag, die Lust, die Lebenskraft und die Freude am Tun auch noch durch ein schlechtgelauntes, viel zu – mit meiner Hauptspeckader, mit der schlaffer strenges Spiegel-Ich versauen? So stehen wir nun werdenden Haut, den dünnen Haaren, sprich mit nach 30 gemeinsamen Jahren und lächeln uns an. „Haut und Haaren“! An diesen friedlichen Spiegelblick-Winkel könnte ich mich doch glatt gewöhnen. Spieglein, Spieglein an der Wand! Clara Wo ist heut‘ die schlimmste Mia Problemzone im Mialand?
22 23 Aus der Schreibwerkstatt Damit es nicht vergessen wird eingestampft. Samstags wurde immer gebacken. Nachdem wir aus der Schule kamen, stand das Mittagessen auf dem Tisch. Dann, nach den Haus- Ein Wecker? Ich glaube, der Opa hatte einen. Für aufgaben, ging‘s nach draußen, mit den Nachbars- uns, nämlich Oma, Mutter, Schwester und mich, kindern auf der Gasse spielen, mit dem Hund durch war Opa der Wecker. Früh halb sieben rief er die den Garten toben. Das Lesen, mein goldener Faden mich dabei ein Stück weit selbst vergessen, aber es Treppe hinauf: „Aufstehen, Schule gehen“. Da hatte Meine Mutter fuhr des Öfteren ein paar Tage ist nicht mit Schlafen vergleichbar. Ganz im Gegen- er schon Kaffee gekocht, die Gänse zum Tor hinaus den Vater besuchen, der irgendwo stationiert war, teil, ich bin während des Lesens ganz wach und gelassen, damit sie im Gänsemarsch zu das waren wir schon gewöhnt. Alltag Mir wurde schnell klar, dass ich über das Lesen aktiv, denn alles, was zwischen diesen paar Seiten den Mainwiesen spazieren konn- eben. schreiben wollte. Das Lesen, das sich wie ein gol- bedruckten Papiers und mir geschieht, das spielt ten, die Hühner gefüttert und Wir Kinder hatten aber dener Faden durch meinen Alltag und noch mehr, sich voll und ganz in mir ab. Meine Phantasie arbei- Purzel, unser Hund, war auch schon kleine tägliche durch mein ganzes Leben zieht. Ich habe eigent- tet angeregt, in mir entstehen Bilder und Geschich- auch schon im Hof. Aufgaben: Das eigene lich immer gelesen. Es gab nur wenige Phasen in ten, meine Gefühle sind eng beteiligt und mein Oma stellte Brot, kleine Beet pflegen, meinem Leben, in denen ich nicht wenigstens ein Denken ist gefordert, wenn ich versuche, Motive Butter und Marmelade beim Jäten und Gießen Buch, manchmal auch mehrere Bücher gleichzeitig, der Handelnden, Zusammenhänge und Hintergrün- fürs Frühstück auf helfen oder die Eier gelesen habe. Waren es in meiner Kindheit die Kin- de zu verstehen. den Küchentisch. einsammeln. Wenn derbücher von Astrid Lindgren, Michael Ende und Beim Lesen kann in mir diese ganz besondere Den großen Laib die Gänse abends vielen anderen, wuchs ich in der Jugend allmählich Freude aufkommen, mitzufühlen, mitzudenken und fest an ihren Busen pünktlich um sechs in das Lesen von Abenteuer- und Liebesromanen, zu verstehen. Und wenn dann eine Saite in mir in gedrückt, schnitt am Tor schnatterten, dann in die Schul-Klassiker hinein. Heute lese ich Resonanz geht und mitklingt, wenn ich spüre, da ist sie ganz akkurat die diese reinlassen. Dass durchaus auch gerne Sachbücher, aber insbeson- ein Teil meiner Selbst angesprochen, dann entsteht Scheiben ab, Opa woll- man ab und zu von dere haben es mir Romane angetan. Besonders eine Schwingung zwischen mir und dem Buch te dickere Scheiben, wir ihnen gezwickt wurde, gern lese ich Romane, die gesellschaftliche oder und ich fühle mich ihm verbunden, fast wie einem Kinder lieber dünnere gehörte dazu, alltäglich geschichtliche sowie Familien- und Beziehungsthe- Freund, einer Freundin. und wenn uns die Rinde zu eben. Abends scheuchte men behandeln. Ich werde traurig, wenn ich mit dem Lesen hart war, schnitt Oma sie ab Oma die Hühner in den Stall. Warum bedeutet mir das Lesen nun eigentlich dann allmählich an das Ende eines solchen Buches und brockte sie in ihren Kaffee. Opa ging und verschloss sorgfäl- so viel, warum ist es zu meinem „goldenen Faden“ komme, weil es sich wie ein Abschied anfühlt, ein Danach gingen meine Schwester und tig Hof-, Scheuer-, Stall- und Haus- geworden? Ein Grund ist, dass ich Bücherliebhabe- Abschied von einem Weggefährten, einer Freundin. ich zur Schule. Elke in die richtige und ich in die tür. Nach dem Abendessen sammelte Opa alle rin bin. Ganz unabhängig davon, was darin steht, Lesen ist Teil meines Alltags – und es verschö- Kinderschule. Oma achtete immer darauf, ob auch Schuhe ein und wienerte sie auf der Bank vor dem liebe ich Bücher selbst. Ich gehe leidenschaftlich nert ihn, erweitert ihn, vertieft ihn. Natürlich kann Schleifen und Schürzen schön gebügelt waren. Ich Haus blitzblank. Für uns hieß es „ab ins Bett“ in un- gern in Buchhandlungen, Bibliotheken und Antiqua- das Lesen auch seine Schattenseiten haben. So war nicht so gerne dort, die Schwestern waren sehr sere kleine Kammer. Die Großen saßen noch in der riate, die so wunderbar zum Schmökern einladen. kann es mich in fremde Welten locken, wenn ich streng, aber es dauerte ja nur bis zum Mittag. Küche beisammen, Zeitung lesen, stricken, stopfen, Dort liebe ich es, durch die Regale zu schlendern mich eigentlich mit Aspekten meines realen Lebens Was machten derweil die Erwachsenen? Nun, nähen. Mutter ging auch ab und zu mal Bekannte und mir die Bücher einfach erst mal nur anzusehen. befassen sollte. Es bietet mir Flucht und Ausweich- Opa ging vielleicht in seinen Weinberg oder er besuchen. Hin und wieder trafen sich Oma und Opa Dann ziehe ich einzelne Bücher aus dem Regal, ich möglichkeit und kann mich vom alltäglichen Leben hatte im Garten zu tun oder auf dem Kartoffelacker. auf einen Schwatz mit den Nachbarn auf der Gasse. drehe und wende sie in meinen Händen, ich strei- durchaus auch abhalten. Ich habe die Freiheit der Am und im Haus gab es auch immer einiges zu Ganz alltäglich eben. che über den Umschlag, ich blättere langsam und Entscheidung. Das Lesen gibt mit die Möglichkeit reparieren. Opa konnte alles. Er half auch oft den genussvoll einige Seiten um. Und alle, ausnahmslos und die Freiheit, über mich und mein Leben hin- Nachbarn, zum Beispiel beim Dreschen. Oma und Ingrid J. alle Bücher strahlen diesen ganz besonderen auszugehen, zu denken, zu fühlen und zu Mutter hatten im Haus zu tun, die üblichen Haus- Zauber auf mich aus, diesen Zauber erleben. Das Buch wartet mit sei- arbeiten halt. Die große Wäsche war eine mühsame der Verheißung von einer frem- nen bedruckten Seiten völlig Angelegenheit. Je nach Jahreszeit wurde Gemüse den und geheimnisvollen unaufdringlich und leise eingeweckt, Gelee gekocht oder auch Sauerkraut Welt, die zwischen den und es überlässt es mir, Buchdeckeln verborgen wann ich bereit bin, ist. Es erübrigt sich den goldenen Fa- fast zu sagen, dass den aufzugreifen, Geliebtes Verhalten ich noch nie ein mich hinzulegen, Buch per e-Reader meine Lesebrille gelesen habe, so aufzusetzen, Gelebtes zu wiederholen, Routine, keine Überraschungen zu erwarten, sehr ich den prak- das Buch einfach wissen, wie es läuft oder muss, tischen Nutzen zur Hand zu alle Abläufe blind auszuführen dieser Geräte auch nehmen und geliebtes Verhalten, ohne zu hinterfragen anerkenne. langsam die gelegentlich innezuhalten, aber keine Abweichungen zu wollen Es ist ein wun- erste Seite auf- Störungen im Ablauf nicht zuzulassen derbares Gefühl, in zuschlagen. zufrieden zu leben die Welt des Buches Foto links: Pixabay einzutauchen. Ich kann Ulrike M. Foto rechts: L. Brünen Helmut H.
24 25 Der denkende Mensch und seine Blickwinkel „8 Blickwinkel“ heißt ein Thriller aus dem Jahr Ich bin eine „Leseratte“ und das bereits, seit 2008. Aus unterschiedlichen Perspektiven bekommt ich in der Lage war, zusammenhängende Texte zu der Zuschauer Informationen, um das Rätsel des erfassen. Als Kind habe ich bei schummrigem Licht Films zu lösen. Der Film zeigt dem Zuschauer, wie halbe Nächte durchgelesen, was ich übrigens bis unterschiedlich, persönlich und individuell unsere heute noch mache. Meine Mutter fand das damals Blickwinkel sind, aber alle zusammen zum großen nicht so lustig, wollte sie doch ihr Kind nicht mit Ganzen beitragen. dicken Augen und halb schlafend am nächsten Tag Natürlich gehört bei so viel Unterschiedlichkeit im Unterricht wissen. Wie spießig ist das denn? – sehr viel Respekt und Toleranz für die unterschied- so dachte ich damals. Als ich selbst Mutter zweier lichen Sichtweisen unserer Mitmenschen dazu. Im- Schulkinder war und diese genau mein damaliges mer nur auf den eigenen Standpunkt zu beharren, Muster wiederholten, änderte sich allerdings radikal bringt uns nämlich auch nicht weiter. Nur gemein- mein Standpunkt zu diesem Thema. sam wird das Leben bunt. Auch als mein Mann in seinen wohlverdienten Die unterschiedlichen Perspektiven der Men- Ruhestand ging, wurde mir sehr bewusst vor Augen schen zu beobachten, führt in manchen Fällen sogar geführt, wie sich meine Blickwinkel auf diverse zu unfreiwilliger Komik. Dinge in meinem Leben mit der Zeit immer wieder Vor kurzem las ich den Text zu einem Titelfoto, ändern. Bis dahin betrachtete ich mich als „Allein- welches eine verschneite Winterlandschaft zeigt: herrscherin“ in unserem Haushalt. Dann war auf „Der Winter kam diesmal spät – wir hoffen, Sie einmal der beste aller Ehemänner jeden Tag um haben ihn genießen können...“. Dieser Satz ist für mich herum. Irgendwann räumte er den Inhalt un- die meisten Leser nicht wirklich bemerkenswert. Zu serer Spülmaschine um. Staunend stand ich dane- einer Stilblüte wird er erst, wenn man weiß, dass ben. Er erläuterte mir den Vorteil dieser „Arbeitsop- er in der Zeitschrift eines Bundesverbandes steht, timierung“ und sprach über die daraus resultierende der sich mit den Spätfolgen nach der Kinderläh- Zeitersparnis, sowohl beim Einräumen als auch mung befasst. Hier sind in der Regel alle Mitglie- beim Ausräumen. Ahhh ja! Da sprach der Mann, der der in irgendeiner Form gehbehindert oder sitzen es jahrzehntelang gewohnt war, dass er in seinem im Rollstuhl. Für diesen Personenkreis ist dicker beruflichen Umfeld das Sagen hatte und effektiv Schnee kaum etwas, das sie genießen, er bremst arbeiten musste. Ich überdachte daraufhin meinen die Betroffenen in ihrem Alltag meist komplett aus! bisherigen Standpunkt in dieser Sache und übergab Der Blickwinkel auf eine dick verschneite Winter- ihm gerne und sofort diesen „Spülmaschinen-Job“. landschaft stellt sich halt aus einem Rollstuhl heraus Das Schema hat sich noch ein paar Mal wiederholt doch etwas anders dar. und so habe ich jetzt mehr Freizeit denn je – toll! Allerdings ändert sich für jeden Menschen im Laufe Ich bin total froh, dass wir freie, denkende Men- Foto: A. Behrenhoff des Lebens die Betrachtungsweise der unterschied- schen sind und deshalb in unseren Betrachtungs- lichen Ereignisse – das hoffe ich zumindest. Schließ- weisen, Standpunkten oder Perspektiven, also mit lich sind wir denkende Individuen und dürfen oder unseren Blickwinkeln, nicht festgefahren sind. sollten daher durchaus hin und wieder unsere Betrachtungsweisen oder Standpunkte modifizieren. Angelika B. „Der Winter kam diesmal spät – wir hoffen, Sie haben ihn genießen können...“.
26 27 Das Beste ist die Hubfunktion, ich sitze da wie auf ’nem Thron. Und fühle mich so wie die Queen, obwohl ich nicht blaublütig bin. Was lange Zeit unmöglich war, ist auf einmal ausführbar. Den Kühlschrank auch ganz oben nutzen, wenn nötig, mal die Fenster putzen. Das Problem mit Spinnenweben, die an Wand und Decke kleben, gibt’s nicht mehr, das ist vorbei, es wird gelöst mit Hubi 2. Alle Fächer im Kleiderschrank, nun erreichbar, Gott sei Dank. Die Lichterkette am Weihnachtsbaum hängt dann perfekt, es ist ein Traum. Bemalte Eier und Girlanden, nicht so oft am Boden landen. Mein Benjamini ist zu groß, ich fahre hoch, und lege los. Mit der Schere wird geschickt, was zu lang ist, abgezwickt. Altglas zum Container bringen, die Entsorgung wird gelingen. Neugierig über Hecken schauen, ein paar reife Kirschen klauen. Beim Howard-Carpendale-Konzert, mir niemand mehr die Sicht versperrt. Foto: B. Reitberger Zwei Funktionen kombinieren, was Verrücktes ausprobieren. Das ist mein Ernst und nicht zum Lachen – Katheterwechsel im Freien machen. Ich hoff’, mein Arzt kriegt nicht die Krise, wenn ich sag „heut auf der Wiese“. Ja, das alles und viel mehr, fällt mit Hubi bestimmt nicht schwer. Hubi 2 und F 16 Doch etwas darf ich nicht vergessen, den Rollstuhl, darauf ich gesessen. Jahrelang, von früh bis spät, war F16 mein W eggefährt. Jetzt ist er da, mein blauer Blitz, mit Hubfunktion und L iegesitz. Inzwischen hat er viel Beschwerden, die kommen halt beim Älterwerden. Tiefer gelegt und extra schmal, der passt zu mir auf jeden Fall. Jetzt schick ich ihn mitsamt Verband in den verdienten Ruhestand. Geschwindigkeit und wie spät, deutlich am Bedienteil steht. Es ist soweit, der Wechsel steht – Hubi kommt, F16 geht. Mit Beleuchtung vorn und hinten, kann ich auch nachts nach Hause finden. Marie K. Blinker, wie auch beim Auto Pflicht, sind vorhanden, ich fass es nicht. Die grauen Reifen, alle vier, pannensicher, glaubt es mir. Darüber freue ich mich sehr, denn jetzt gibt’s k einen Plattfuß mehr. Mit stärkeren Akkus, mehr PS, bin ich schneller unterwegs. Kann spontan zum Aldi düsen und die flotte Fahrt genießen. Danach noch zum Schießhausplatz, der Zenn entlang, das geht ratzfatz.
28 29 London – nur acht Teile … Alltag an der Museumsbrücke Gespräch mit Antonio Foto: B. Reitberger Foto: Pixabay Warum sollte man vor einer roten Fußgänger- bekommen. Und dass es passieren kann, wenn Wir sitzen in einem Lokal nahe seinem Stand- den eingenommen, da es vom Wetter her besser ist. ampel stehen bleiben, wenn kein Auto fährt? In diese freundlichen Fahrkartenkontrolleure schwarz- platz, dem Eingang zum Hauptmarkt. Auf dem Tisch Sein Körper hat sich an die Jahreszeiten in Deutsch- London warteten nur wir vor einer roten Ampel, alle fahrende Touristen erwischen, einfach sagen: eine Sprudelflasche und ein Glas für Antonio, der land gewöhnt. anderen Fußgänger schauten kurz und überquerten „Aber das nächste Mal bitte die richtige Fahrkarte gegen 15 Uhr mit dem Verkauf des Straßenkreuzer Manche Leute sind sehr unwirsch zu ihm, lassen rasch die Straße. Dies und andere Dinge veränder- kaufen.“ Es erweitert den Horizont, mal in einer Schluss gemacht hat. Er trinkt am liebsten Was- die Hunde vor seinem Platz das Geschäft verrichten ten meinen Blickwinkel, seit wir im Oktober letzten anderen Stadt Urlaub zu machen. Zum Beispiel ser. Das Wetter ist kühl, wir kommen schnell ins und das ärgert ihn. Er ist sehr höflich, kann aber bei Jahres eine Woche dort waren. Jetzt weiß ich auch, sahen wir keine Hundehaufen auf den Gehsteigen, Gespräch. Wir kennen uns schon mehrere Jahre solchen Kränkungen sizilianisch wütend werden. wie schwer es Touristen in einem anderen Land ha- anscheinend geht es irgendwie, die Hundebesitzer von vielen freundlichen Unterhaltungen. Antonio Er hat auch Neider, es werden Hefte geklaut, wenn ben, in dem eine andere Sprache gesprochen wird, so zu disziplinieren. Mir wurde auch bewusst, dass kommt aus der Nähe von Agrigent in Sizilien, einer er mal für kurze Zeit weg ist. Einmal war er kurz sich durch den öffentlichen Nahverkehr zu kämp- der öffentliche Nahverkehr bei uns doch ganz gut Kleinstadt mit etwa 30.000 Einwohnern. 1970 kam Kaffee trinken, in der Zwischenzeit hat jemand 15 fen. Ich bin in Zukunft freundlich zu ihnen, weil funktioniert. In London standen die Busse im Stau: er mit 14 Jahren mit der Mutter nach Katzwang, war Hefte, ohne zu bezahlen, mitgenommen. Das ist für ich die Erfahrung gemacht habe, dass es gut tut, Die Linienbusse leer und die Touristenbusse über- vorher in der Schule in Italien. Der Vater war bereits ihn ein großer finanzieller Verlust. Einige falsche wenn einem freundliche Einheimische versuchen zu füllt. Der Blickwinkel auf Londons Wetter änderte 1960 nach Deutschland gekommen und arbeitete im Straßenkreuzer-Verkäufer waren in der Stadt unter- helfen. Mir wird jetzt auch bewusst, wie freundlich sich: Den vielzitierten Regenschirm, der in London Ruhrgebiet im Bergbau, 1970 zog er nach Katzwang wegs, nun haben Antonio und die Anderen einen die Mitarbeiter in den großen Textilkaufhäusern bei unentbehrlich sei, brauchten wir nur an einem Tag. zu seiner Familie, arbeitete in Nürnberg. Antonio Ausweis bekommen, um sich als legitime Verkäufer uns sind. Ich wusste nicht, dass in London nur acht Wir stellten auch fest, dass es Vorteile hat, wenn hat drei Schwestern, die alle in Deutschland leben, ausweisen zu können. Teile mit in die Umkleidekabine genommen werden viele Gäste im Hotel sind, die aus dem gleichen zu denen er aber wenig Kontakt hat. Die Mutter ist Antonio ist anderen Menschen gegenüber dürfen. Wenn man mehr probieren möchte, muss Land kommen wie man selbst. Als es in der letzten vor Jahren krank nach Sizilien gegangen und dort tolerant, es reicht ihm, was er hat und er beneidet man sich wieder in die Schlange hinten anstellen. Nacht einen Feueralarm gab, verstanden wir schnell verstorben. Der Vater ist 2016 in Sizilien gestorben, Leute nicht, die mehr haben. Dadurch ist er un- Sitzmöglichkeiten für müde Shoppinggänger oder durch die anderen Gäste, dass es nur ein Fehlalarm beide sind dort begraben. abhängig. Sein Wunsch ist, noch einmal in seine Begleitungen gibt es nicht. Aber nicht alle Mit- war und konnten rasch wieder ins Bett gehen. Antonio ist 64 Jahre alt und da er früher feste Heimat zu kommen, aber er sagt realistisch, dass es arbeiter in Kaufhäusern waren unfreundlich: Bei Die Eindrücke des Urlaubs in London wirken bis Anstellungen, unter anderem im Kabelbau, hatte, nur ein Wunsch bleiben wird. Harrods durften wir uns in der Tax-free-Abteilung jetzt noch in unserem Alltag nach. Die wichtigste wird er nächstes Jahr seine Rente bekommen. Er hat Von anderen Menschen wünscht er sich mehr auf Stühlen sitzend ausruhen. Auch wusste ich bis Änderung des Blickwinkels ist die auf uns selbst: keine Probleme mit Anderen, allerdings auch wenig Freundlichkeit, dass sie mehr aufeinander zugehen, dahin nicht, dass es im öffentlichen Nahverkehr in Wir sind in der Lage, fast alles zu schaffen, wenn Kontakt zu den anderen Straßenkreuzer-Verkäufern. sich vertragen und auch zu ihm höflich sind und anderen Städten freundliche Fahrkartenkontrolleure wir gefordert sind. Er hat viele Stammkunden, die ihn vermissen, wenn grüßen. gibt, die nicht ihre Stimme erheben, sobald sie ei- er mal nicht an der Museumsbrücke steht. Bei nen Wagon betreten, so dass der Schwarzfahrer und Sabine N. jedem Wetter von 9 bis 15 Uhr. Vorher stand er am Helmut H. auch der zahlende Fahrgast einen Riesenschreck Narrenschiff, dann hat er den Platz unter den Arka-
30 31 was zählt was wirklich zählt ist der blick aus meinem winkel auf den alltag möchte gern gezeiten anhalten augenblicke geschickt wählen besser noch leben verwalten denn es sind die sekunden die zählen! was wirklich zählt ist der blick auf mein kurzes leben nur ich kann es wahrnehmen bewerten leben ... Lydia B. Ein Selfchen Gefühl Zwei Hände Foto: R. Gebhardt Wärme und Spannung Luftiger Raum Ruhe Ich fühle Entspannung Ingrid J.
32 33 Sehen mit allen Sinnen – und dem Herzen ... Interview mit Barbara Und wie kann ich mir deinen Alltag vorstellen? Das kiss.magazin wird mit dieser Ausgabe in grö- Meinen Alltag organisiere ich weitgehend selber, ßeren Lettern gedruckt, dazu gibt es aber auch mit meinem blinden Mann zusammen. In der „Groß- seit einigen Jahren die Möglichkeit, das Magazin stadt“ Nürnberg ist es leichter als früher auf dem am Computer* zu lesen. Was würdest Du bevor- Land, wo ich herkomme. Ich kaufe immer in den zugen? gleichen naheliegenden Läden ein, zu Fuß statt mit Ich habe es gerne in Papierform, weil ich mit mei- dem Auto oder Fahrrad. Unser Haus ist ohne großen ner Lupenbrille (meistens) gut lesen kann. Mit dem Schnickschnack eingerichtet, alles bleibt an seinem Vorleseprogramm am PC könnte ich es mir zwar angestammten Platz, damit wir uns gut zurecht fin- vorlesen lassen, aber leider überfordert das meine den. Im Garten übernimmt er die Pflanzung seiner Ohren. Bei meinem Mann wäre das wiederum ganz „duftenden Pflanzen“ und mein Part ist es, den Ra- anders, der käme mit der technischen Version gut sen zu mähen. Wenn dabei ein paar Halme stehen klar. bleiben, ist das auch unproblematisch. Das Leben „draußen“ ist völlig auf das Sehen ausgerichtet, Was möchtest Du Menschen sagen, die – im durch die technischen Errungenschaften wird alles Gegensatz zu Dir – früher normal gesehen haben immer schneller und schneller. Zum Beispiel beim und erst durch Unfall oder Erkrankung ihr Augen- Einkaufen werden die Waren gar nicht mehr mit licht eingebüßt haben? Preisen ausgezeichnet. Die (digitalen) Angaben an Versucht euch nicht mehr mit den gut sehenden den Regalen sind für mich mit Lupe meist nicht les- Menschen zu vergleichen, das könnte nur frust- bar und bis ich den Zeitaufwand betreibe, mich neu rieren. Für jeden ist es sicher ein langer Prozess: zu orientieren oder nachzufragen, nehme ich schon Loslassen, was mal war, Dankbarkeit für Gewesenes mal den höheren Preis in Kauf. Aber letztendlich empfinden, raus aus der Opferrolle, annehmen, was habe ich selten das Gefühl besonders eingeschränkt jetzt ist und mit der neuen Situation heute leben zu sein in meinem Alltag, ich kenne es nicht anders, lernen. Im Rückblick hat mir im Laufe meines Le- es fühlt sich für mich normal an. In meiner Welt bens Folgendes geholfen: Der Austausch mit Gleich- habe ich mich ganz gut eingerichtet und orientiere gesinnten im Internat für Blinde und der Bayerische Foto: A. Behrenhoff mich dabei nicht an Sehenden, das wäre fatal. Dabei Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) mit bewahre ich mir meine Unabhängigkeit in meinem Beratung und unterstützenden Hilfsmitteln. Zum eigenen Tempo, auch wenn ich eben langsamer bin. Schluss fällt mir noch der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry ein, der sagt: „Man sieht nur mit Wie ist Dein beruflicher Alltag? dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen Ich habe meinen schreibenden Job am PC aufgege- unsichtbar.“ Das kann ich aus Erfahrung bestätigen. Erst kürzlich saß mir im Bus eine junge Frau Wie heißt Deine Augenkrankheit und wie viel ben, das klappte trotz der vielen Hilfsmittel nicht mit dicker Brille gegenüber, die hatte ein großes Sehfähigkeit steht Dir zur Verfügung? mehr. Seit einiger Zeit arbeite ich als Heilpraktikerin Danke liebe Barbara, für die sympathische Ein- Loch am Knie. Ich fragte mich, ob ihre Hose mo- Die Bezeichnung heißt Iris-und Aderhautkolobom, und wende Cranio-Sacral-Therapie, eine manuelle sicht in Deine Welt. dern sei oder ob es von einem Sturz herrühren das habe ich von Geburt an. Dadurch bin ich stark Therapie, an. Aus heutiger Sicht wurde aus der Not könnte. Vielleicht ist sie auch sehbehindert? Und blendempfindlich und habe eine Sehfähigkeit von eine Tugend, die viel besser zu mir passt. Lydia B. ist gestürzt? Dabei musste ich an Dich denken, 5%. Das kann man sich in etwa so vorstellen: Was liebe Barbara, wie Du erst kürzlich erzähltest, für jemand gut Sehendes auf 100 Meter erkennbar Wie ist es mit dem Thema Hilfe? Ist dir ein Hilfs- * Das Kiss Magazin als PDF finden Sie auf unserer dass Du auf dem Wege zur Tram gegen ein Stra- ist, ist für mich erst auf auf 5 Meter zu erkennen. angebot schon mal aufgezwungen worden? Homepage unter: www.kiss-mfr.de/publikationen ßenschild gedonnert bist und zu Fall kamst. Ja, mein Mann und ich sollten uns mal in der U- Hast Du durch Deine Sehbehinderung eine ande- Bahn hinsetzen, obwohl wir es gar nicht wollten. Ja, damit muss man schon rechnen, wenn so ein re Wahrnehmung, einen anderen Blickwinkel als Wir nehmen so etwas meistens mit Humor. Etwas Verkehrsschild mitten im Weg platziert ist. Wenn Nichtbehinderte? Schwierigkeiten macht es mir schon, wenn sich ich vielleicht in Eile bin und die Lichtverhältnisse Meine Wahrnehmung ist sicherlich anders, ich sehe jemand zurückgestoßen fühlt, weil ich etwas noch recht schlecht sind, dann erkenne ich es zu spät. nicht ausschließlich mit den Augen. Meine eigene alleine machen möchte. Aber meistens kann ich die Vielleicht sollte ich für solche Fälle mit dem Stock Bezeichnung dafür ist „Kombinationssehen“: Füh- Hilfe dankend annehmen oder freundlich sagen, gehen, das habe ich als Jugendliche schon im len, wahrnehmen, hören. Und Farben kann ich ganz dass ich es alleine schaffe. Internat (Bildungszentrum für Sehbehinderte und besonders gut sehen. Also ich sehe mit verschiede- Blinde) gelernt. Das ist auch der Grund, warum ich nen Sinnen – was ich nicht missen möchte! meine Hände stets frei habe und den Rucksack an- statt der Tasche trage, um mich jederzeit abfangen zu können.
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