DER TIERE BENENNUNG DIE - Bühnen Halle
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DIE BENENNUNG DER TIERE LEON ENGLER URAUFFÜHRUNG HELENA Bettina Schneider ALEXANDER Nils Thorben Bartling OSKAR Till Schmidt ELON MUSK Nils Andre Brünnig MSWATI III. Alexander Pensel CHIARA FERRAGNI Nora Schulte ELFRIEDE JELINEK Elke Richter Regie Ronny Jakubaschk Bühnen- und Kostümbild Anna Sörensen Musik und Kompositionen Jörg Kunze Dramaturgie Sophie Scherer Inspizienz Matthias Hlady Regieassistenz Oliver Meyer Ausstattungsassistenz Markus Neeser, Lea Wolf Soufflage Astrid Giese Regiehospitanz Raban Schuster Premiere: 10. Mai 2019 | 20 Uhr in der Kammer des neuen theaters Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde und 50 Minuten, keine Pause Aufführungsrechte: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Nils Thorben Bartling
DAS STÜCK Ein übergewichtiger Mann liegt im Gleisbett. Er ist auf einem Leberwurstbrot ausgerutscht und kann sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Als ihn eine junge Frau entdeckt und den U-Bahn-Wächter zu Hilfe ruft, beginnen sich Prioritäten zu verschieben. Anstatt die Rettungsaktion einzuleiten, diskutieren die potenziellen Helfer darüber, ob der Gestürzte ein Mensch oder Tier ist. Nur wenn er sich als heiliger Wal entpuppt und den Menschen, wie einst im Alten Testament, zu einem besseren Leben verhelfen kann, scheint Hilfe überhaupt lohnenswert. Und wie so oft bei schwierigen Rettungseinsätzen geht das Gan- ze nicht ohne Zaungäste vonstatten. Technologievisionär und Firmengründer Elon Musk schaut vorbei, doch er ist zu fortschrittsvernarrt, um sich mit derartigen Kleinigkeiten zu beschäftigen. Auch der wohlhabende König von Swasiland kann nicht helfen, denn er hat eigene Probleme die Dichte seines Haupthaares betreffend. Und während die Super- reichen, Superschönen und Superintellektuellen lieber untereinander bleiben und am Bahnsteig ihre Flucht auf den Mars planen, erkennen die »einfachen Leute«, dass sie für ihr Glück selbst verantwortlich sind. ARBEIT AM STÜCK Wenn sich ein Theater und sein Ensemble einem dramatischen Stoff widmen, der zuvor noch nie das Scheinwerferlicht der Bühnenwelt erblickt hat, ist das immer besonders reizvoll, ein Wagnis und Chance zugleich. Unbekanntes Terrain, für das es noch keinen Lageplan gibt. Man selbst muss einen Weg bereiten, ihn in Gesprächen und Proben frei- machen und entdecken, wo sich Lichtungen auftun, oder Falltüren. Bei einem Stück wie Leon Englers » Die Benennung der Tiere« ist das besonders haarig, denn der Autor hat uns ein genre-hybrides Wesen hinterlassen, das Komödie, Zaubershow, Bibelstunde, Tier- doku, Groteske und Sozialstudie sein kann. Wie fängt man nun all jene Informationen, Anspielungen und Motive in der Probenzeit ein? Das Ergebnis steht vor Ihnen, als Bündel von acht Schauspieler_innen, die sich denkend, fühlend, singend und sprechend durch einen Raum bewegen, oder in ihm stillgelegt werden, so wie unsere Hauptfigur, der Wal. In meiner Funktion als Dramaturgin habe ich versucht, Englers Kosmos theoretisch zu er- gründen. Der Autor richtet sein Theaterglas auf die Menschen. Wie ein geduldiger Tierfil- mer liegt er auf der Lauer, beobachtet unsere Verhaltensweisen und erschafft mit seinem Stück »Die Benennung der Tiere« eine Soziologie der Krisenbewältigung: Mit welchem Selbstverständnis strukturieren wir unsere Welt? Welche Errungenschaften sind uns wich- tig? Wie reagieren wir in Ausnahmesituationen und an wen hängen wir unsere Hoffnung? Davon handeln die hier versammelten Texte, als Anregung für jene, die nach dem Theater- besuch Lust auf Lektüre und Recherche haben. Viel Spaß beim Lesen! Alexander Pensel, Nils Andre Brünnig
DIE STARS IM STÜCK ELON MUSK CHIARA FERRAGNI - Unternehmensgründer und Multimilliardär - digitale Unternehmerin und erfolgreichste - Forschungsfelder: Weltraumfahrt, Autotechnik, Influencerin der Welt Energieversorgung, künstliche Intelligenz - geboren 1987 in Italien - geboren 1971 in Südafrika - Abbruch des Studiums der Rechtswissenschaften - mit 12 Jahren entwickelt er sein erstes Computerspiel - 2009 Gründung des Mode-Blogs »The Blonde Salad« und verkauft es an eine Fachzeitschrift - 2014 verzeichnet Ferragni damit 8 Millionen Dollar - mit 17 Jahren wandert er nach Nordamerika aus Umsatz - Studium der Wirtschaft und Physik - Ferragni steht für authentisches Produktwerben: - 1995 erstes Start-Up-Unternehmen Person plus Produkt in einem inszenierten - 1999 verkauft er diese Firma und steckt das Geld in Lebensumfeld sein nächstes Projekt, den Internetbezahldienst - Lifestyle und Oberfläche als Geschäftsmodell x.com, aus dem später paypal hervorgeht - sie wirbt für Marken, hat eigene Kollektionen und - 2002 kauft ebay paypal für 1,5 Milliarden Dollar Pop-Up-Stores - 250 Millionen Dollar gehen an Elon Musk - Kooperation mit Levi’s, Gucci, Benetton, Amazon, Dior - davon steckt er 100 Millionen Dollar in die Gründung - 16,4 Mio Instagram-Follower (Stand: April 2019) von SpaceX - ihre Bulldogge hat einen eigenen Account - SpaceX verkauft (noch) unbemannte Raumflüge zur - ihr Business-Konzept wird in Harvard in Seminaren Versorgung von Raumstationen und kooperiert mit gelehrt dem US-Militär - sie zählte laut Forbes zu den 30 einflussreichsten - Musk öffnet den Weltraum für die Privatwirtschaft Personen unter 30 - 2003 gründet er den Autobauer Tesla - auch hier dominiert die Idee, ein teures Produkt massentauglich zu machen MSWATI III. - niedrigste Lebenserwartung der Welt - 70% der Bevölkerung leben von weniger als einem - letzter absolutistischer Monarch in Afrika Euro pro Tag - regiert Swasiland (Eswatini) seit 1986 - die Arbeitslosigkeit liegt bei 46% - geschätztes Vermögen: 50 Millionen Dollar - Mswati regiert per Dekret - ist verheiratet mit 15 Frauen - er kann Premierminister und Richter ernennen und - Swasiland (Eswatini) hat etwa 1,4 Millionen Einwohner entlassen, das Parlament auflösen, Zeitungen - das Land ist so groß wie Sachsen, umschlossen von verbieten und sogar ein Sexverbot für Mädchen Südafrika und Mosambik aussprechen, die jünger sind als 19 Jahre - es ist das Land mit der höchsten Aidsrate weltweit - Mswati III. hob dieses Verbot wieder auf, weil er - welthöchste Tuberkulose-Infektionsrate eine 17-Jährige als 13. Braut haben wollte
ELFRIEDE JELINEK MARS - Schriftstellerin - 230 Millionen Kilometer von der Erde entfernt - geboren 1946 in Mürzzuschlag/Steiermark - die Temperatur schwankt zwischen minus 133 Grad - mit sechs Jahren erhielt sie Klavierunterricht, mit und plus 27 Grad Celsius 9 Jahren Unterricht in Blockflöte und Geige - der Mars ist etwa halb so klein wie die Erde - hatte bereits in der Grundschule einen Terminplaner - die Atmosphäre ist zu dünn zum Atmen, die wie eine Berufsmusikerin Sonnenstrahlen werden kaum gefiltert - Mutter drillte das Kind zur Exklusivität - der Mars braucht 687 Tage, um die Sonne zu - mit 13 kam Jelinek als jüngste Studentin an die umrunden, die Jahreszeiten sind doppelt so lang Hochschule in Wien wie auf der Erde - die Folge ihres frühen Arbeitspensums waren - kürzlich hat die Nasa zum ersten Mal Hinweise Angstzustände und selbstverletzendes Verhalten auf Wasser gefunden - sie konnte teilweise das Haus nicht mehr verlassen, - Raumfahrtexperten halten die Besiedelung des nicht Straßenbahn fahren, keinen Unterricht mehr Mars, wie sie Elon Musk vorschwebt, für extrem wahrnehmen unrealistisch - erste Gedichte in ihrer Gymnasialzeit - erste unbemannte Flüge sind für das Jahr 2022 - 1967 Erstveröffentlichung eines Gedichtbands geplant - Lyriker Ernst Jandl wurde aufmerksam auf sie - diese sollen die Suche nach Wasser und - Jelineks Musikalität ist ein Markenzeichen ihrer Dramatik Rohstoffen vorbereiten und potenzielle Gefahren - begann früh, die Gewohnheiten von Theater in Frage stellen für Menschen kartieren - übernahm Strategien, die in der Performance-Kunst - 2025 sollen laut SpaceX die ersten Menschen zum verwendet wurden Mars reisen - keine psychologische Entfaltung von Handlung und - die Reise dorthin betrüge etwa ein halbes Jahr Charakter in ihren Stücken - Themenvielfalt, andauernder Perspektivwechsel, - Samplen von Motiven, Zitieren von Geschichten und Ereignissen, ein Nebeneinander von Inhalten und Formen - 2004 bekommt sie den Literaturnobelpreis, als erste Österreicherin, als zehnte Frau, als zweite Deutschsprachige (nach Nelly Sachs) »Lass uns irgendwohin, wo die Leute arm, aber glücklich sind, wo die »Die Leute denken, Aids wäre hart, aber die sollen mal ihre Autoreifen brennen und die Kinder auf Mülldeponien tanzen.« Haare verlieren.«
ÜBER DIE BENENNUNG IN Die Macht, Objekte zu benennen, strukturiert die menschliche Wahrnehmung. Und eigentlich haben Oskar und Helena an dieser Stelle etwas Wichtiges getan, sie haben den Versuch einer ersten Emanzipation unternommen. Diese Verantwortung geben sie »DIE BENENNUNG DER TIERE« dann im Verlauf des Stückes wieder ab und versuchen, die Hilfe auszulagern, indem sie vermeintliche Experten konsultieren. Am Ende sind diese Experten vielmehr an der eigenen Rettung interessiert, sie konzentrieren sich so sehr auf Einzelheiten, dass sie das Ausgangsproblem aus den Augen verlieren. Helena und Oskar besinnen sich also auf ihre Ausgangsidee: Sie benennen das Objekt, um ihre eigene Rettung bzw. einen Neuanfang einzuleiten, um ins Paradies zu gelangen. Denn auch im Alten Testament fand Adams Unsere Hauptfigur Alexander dient als Projektionsfläche. Gerade weil er so beleibt und Benennung der Tiere noch vor der Erschaffung Evas, im absoluten Paradies, statt. Es han- großflächig ist. Und weil er sich nicht bewegen kann. Wer Hilfe braucht, ist angewiesen delt sich sozusagen um den Nullpunkt der Menschheitsgeschichte, den Helena und Oskar auf die Einschätzung anderer. Deshalb lässt Alexander sich auch als Wal beschreiben. Weil einleiten. Doch warum tun sie das? Hält man es mit dem französischen Psychoanalytiker ein Hierarchiegefälle in der Ausgangssituation besteht: einer der unten liegt, zwei die Jacques Lacan ist die Benennung in Wahrheit ein »Mord am Ding«. Und endet so nicht oben stehen. auch Englers Stück? Indem Helena und Oskar ihren Artgenossen zum Wal erküren und in Leon Engler selbst verweist im Nachdenken über sein Stück »Die Benennung der Tiere« ihn eindringen, zerstören sie dessen Leben, nur um ihres zu retten. Genau diese Dialektik auf eine Parabel des Soziologen Norbert Elias. Es ist das Bild der denkenden Statuen, die ist das Wesen des Nullpunktes: Zerstörung und Neuanfang fallen ineinander. unabhängig voneinander in einem reißenden Wasserstrom stehen, nicht in der Lage, sich zu bewegen, aber immerhin mit der Fähigkeit ausgestattet zu sehen, zu hören und zu denken. Sie sehen einander nicht, können nicht in Kontakt miteinander treten, wissen jedoch immerhin um die Existenz der anderen Statuen. Das, was jeder einzelnen Statue also bleibt, ist, sich ein Bild zu machen von den anderen. Inwieweit die eigenen Vor- stellungen zutreffen, bleibt ungewiss. Leon Engler, der Autor des Stücks, zieht aus der Parabel die Vorstellung einer Gesellschaft, die kein Zusammen und kein Miteinander mehr beinhaltet: »Die Menschen sind erhärtet und können sich nicht aufeinander zubewegen.«, so Englers Deutung, die er auf sein Stück übertragen will. Norbert Elias verdeutlicht mit seinem Statuen-Bild allerdings noch etwas anderes, näm- lich wie sehr die Definition eines jeden Individuums von den Bezügen zu anderen Men- schen und deren Definitionen abhängt. Ein Individuum kann nur im gesellschaftlichen Kontext »individuell« werden. Diese Deutung ist der Stückinterpretation vielleicht noch zuträglicher als Englers melancholisches Bild der Vereinzelung. Denn so hat eben auch der Produkttester Alexander nicht die alleinige Hoheit darüber, wer er ist, auch wenn er immer wieder darauf verweist, Produkttester zu sein. Sein Umfeld schreibt ihm ein ande- res Wesen und andere Funktionen zu. Helena und Oskar ernennen Alexander, wie Adam im Paradies einst die Tiere benannte, zum Wal. Helena und Oskar tun damit etwas dem Menschen sehr eignes: Sie benennen etwas oder jemanden und mit dieser Benennung gehen auch Zuordnung und Bewertung des Benannten einher. Wenn Alexander ein Wal sein soll, so muss er zwangsläufig auch heilige Fähigkeiten besitzen, Oskar und Helena erlösen und ihnen zur Wiedergeburt verhelfen können. Auch wenn diese Zuschreibungen Elke Richter, Nils Thorben Bartling nicht der Vorstellung entsprechen, die Alexander von sich selbst zu haben scheint, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Fremdzuschreibungen anzunehmen: »Ein Wal bin ich, wenn ich ein Wal sein soll.«, sagt er im Gespräch mit den beiden. In der Schöpfungsgeschichte heißt es dazu von Gott: »Denn wie der Mensch allerlei lebendige »Mir schwant, wir sind noch längst nicht am Ende unserer Tiere nennen würde, so sollten sie heißen.« Nutzlosigkeit angekommen.«
VON PROPHETEN trauern und den Tod als Teil des Lebens anzuerkennen. Sie ist eine negative Prophetin, für die Trauer und Verzweiflung eine ultimative Kritik am herrschenden System bedeuten. Nur so könne man das Ende des Arrangements der optimistischen Verleugnung und Abge- UND IKONEN IN ZEITEN stumpftheit durchdringen. Jelinek weiß, so wie der alttestamentarische Prophet Jeremia, dass die Verleugnung von Ohnmacht und Endlichkeit die menschliche Fortentwicklung blockiert. Also konfrontiert sie die Menschen immer wieder mit Gefühlen der Furcht und DER KRISE Scham, um Kräfte freizusetzen, die ein Umdenken ermöglichen. Was Jeremia im alten Tes- tament verkündet, könnte auch aus Jelineks Feder stammen: »O mein Leib, mein Leib! Ich winde mich vor Schmerz, O meines Herzens Wände. Mein Herz tobt in mir, ich kann nicht schweigen. Denn ich höre Trompetenschall und Kriegslärm.« Doch auch Jelineks Prophetie scheitert. Die Autorin fällt ihren eigenen Klagen zum Opfer, Leon Engler geht von einer Art Endzustand der Wohlstandsgesellschaft aus. Das Lebens- kann aus Angst das Haus nicht mehr verlassen und auch ihr »Körperhaus« ist nur noch gefühl dieser Gesellschaft ist von Überdruss, Langeweile und Entfremdung geprägt. Die mithilfe großer Valiummengen bewohnbar. Jelinek scheitert an den Verhältnissen, die sie einstige Vision von Mitmenschlichkeit ist ersetzt durch die Sicherung eigener Privilegien zurecht beklagt. Sie krankt an einem kranken System. Sie macht die eigene Krankheit öf- und Ausbeutung billiger Arbeitskräfte. Eine alternative Gesellschaftsform ist längst nicht fentlich. Das System hingegen verschweigt seine Krankheit und verweist immer nur auf die mehr denkbar. Die Menschen sollen dabei ihren und auch den Schmerz anderer möglichst Krankheit des Einzelnen. So verliert Elfriede Jelinek gegenüber dem System. Trotz Nobel- nicht mehr wahrnehmen, sondern durch Konsum betäuben. Die persönliche Lebenswelt preis geht sie den Leuten und sich selbst auf die Nerven. befindet sich im Stillstand. Jelinek und Musk scheitern letztlich beide in Englers Stück »Die Benennung der Tiere«. Ausdruck für diesen Zustand in »Die Benennung der Tiere« ist ein unbeweglicher Konsu- Sie lähmen oder spalten bestenfalls die Menschheit und bleiben somit nichts weiter als ment namens Alexander, der sich in eine Lage manövriert hat, aus der er allein nicht mehr Marionetten des Kapitalismus’. Die eine voller Tatendrang, die andere verzweifelt und hinaus findet. Engler installiert an dieser Stelle verschiedene Propheten. Propheten wer- widerwillig. den häufig als Wahrsager verstanden. Viel grundlegender jedoch sind sie mit gesellschaftli- Von solchen Instanzen hat Engler noch mehr zu bieten: keine Propheten mit zukunftswei- chem Wandel befasst. Ihre Aufgabe besteht darin, ein neues Wahrnehmungsvermögen und sender Kraft, sondern Ikonen. Bewusstsein zu fördern, die als Alternative zu vorherrschenden Konzepten dienen. Ikonen sind Kulturbilder. Sie verkörpern etwas, sind dabei aber extrem unbeweglich. Sie Kann der real existierende Unternehmer Elon Musk ein solcher Prophet sein? Leon Engler sind fest gegossene Körper und manifestieren einen Glauben, einen Kult, eine Vorgabe, von probiert es aus: In » Die Benennung der Tiere« will Musk die Menschen an seinem geradezu der es nicht abzuweichen gilt. Sie sind Imperative der Macht und erfüllen vor allem einen obszönen Optimismus teilhaben lassen. Für den ehrgeizigen Unternehmer liegt die wich- Zweck: Sie stellen eine Verbindung zwischen den Betrachter_innen und einem Gott her, sie tigste Fähigkeit darin, sich Neues vorzustellen und die soziale Fantasie herauszufordern. Die sind die Fenster zu Schönheit und Wirklichkeit. Gestaltungskraft jedoch liegt allein bei ihm. Nur er kann die Meilenstiefel tragen und die Engler wählt hier exemplarisch den König von Swasiland und Chiara Ferragni. Menschen gegebenenfalls auf seinen Schultern mitnehmen. Für viel Geld. Deshalb ist Musk Mswati III. und die Bloggerin bilden einen Zustand ab, aber sie bewegen nichts mehr: Chi- höchstens ein Prophet der Exklusivität. Er setzt nicht die sozialen Gestaltungskräfte frei, ara Ferragni ist ein Avatar des Kapitalismus’, eine Produktbotschafterin. Sie postuliert Bilder sondern lässt die Welt nur über seine Gestaltungspotenz staunen. Dabei lässt er das Volk eines Endzustandes von Wohlstand, Schönheit und Jugend. Mswati III. produziert als König zurück und dehnt lediglich das herrschende System aus, verändert es aber nicht grundle- der letzten absolutistischen Monarchie Afrikas ein Standbild von Reichtum, Potenz und gend, so wie es Aufgabe eines Propheten sein sollte. Elon Musk simuliert eine Prophetie. Exzess auf Kosten seines ausblutenden Volkes. Wo Chiara Ferragni Nahbarkeit suggeriert, Wie der Prophet Jesaja spricht er von einem Auszug des Volkes auf den Planeten Mars. demonstriert Mswati maximale Distanz zu seinem Publikum. Chiara spricht mehrmals täg- »Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht? lich zu ihren Followern via Instagram. Mswati III. hingegen sagt während der tagelangen Ja, ich lege einen Weg an durch die Steppe, und Straßen durch die Wüsten«, heißt es im Incwala-Zeremonie nichts, kein Wort. Und niemand darf ihn ohne Erlaubnis fotografieren. Alten Testament. Doch sind das die Sehnsüchte der Gemeinschaft? Berührt Musk mit seinen Lieder, Tänze und Rituale sind Staatsgeheimnis, dürfen weder aufgenommen, noch nie- Projekten die Menschheit wie einst Martin Luther King? Oder sind Musks Ideen Ausdruck dergeschrieben werden und bleiben damit einem kleinen royalen Kreis vorbehalten. Tag 5 einer Grandiosität ohne Kontakt zur Wirklichkeit? Sein Prinzip »Höher, Schneller, Weiter« ist der heiligen Zeremonie ist sogar der völligen Abwesenheit des Königs gewidmet. eher der maximale Ausdruck des Kapitalismus’. Beide Ikonen, der König und die Bloggerin, manifestieren auf unterschiedliche Weise das Dem gegenüber steht Leon Englers zweite Prophetin: Elfriede Jelinek. Sie kann den Men- Gleiche: den Graben zwischen Arm und Reich, zwischen Privilegierten und Benachteiligten. schen keine unmittelbare Erleichterung bringen, dafür aber die verlorene Fähigkeit zu Die Propheten und Ikonen scheitern also bei Leon Engler. Übrig bleiben die Menschen …
DAS LEIDEN DER ANDEREN. ÜBER UNTERLASSENE HILFELEISTUNG Wie reagieren wir auf das Leid anderer? Wenn ein Bekannter an Krebs erkrankt ist oder ein totes Kind an die Mittelmeerküste gespült wird? Wie verarbeiten wir Informationen über Tsunamis und Flugzeugabstürze, Genozide und Kindesmord? Betroffene Bürger hinterlassen an Orten schrecklicher Verbrechen oftmals selbstgebastelte Schilder mit der Frage nach dem »Warum«. Dieses »Warum« signalisiert dabei weniger ein aufrichtiges Verstehenwollen als vielmehr ein Überfordertsein und einen regressiven Rückzug. Manchmal wird dieser Rückzug auch aggressiv. Wenn Menschen von Informa- tionen überflutet und mit dem Leid anderer über einen längeren Zeitraum konfrontiert werden, schlägt ihr Mitgefühl entweder in Abstumpfung oder in Feindseligkeit um. So zum Beispiel in der Berichterstattung über die im Urlaub verschwundene Maddie oder die nach acht Jahren Gefangenschaft wieder aufgetauchte Natascha Kampusch. Maddies Eltern sahen sich plötzlich Vorwürfen ausgeliefert, ihr Kind selbst entführt zu haben. Natascha Kampusch musste sich Anfeindungen ob ihrer selbstbewussten Art und Weise des Umgangs mit dem eigenen Schicksal gefallen lassen. Man kann daran erkennen, dass Mitgefühl eine sehr instabile und leicht reizbare Gefühlsregung ist. Es ist derzeit sogar von Fällen die Rede, in denen Rettungsteams angegriffen werden, weil sie den Straßenverkehr aufhalten müssen, um Verletzten zu helfen. 2017 rastete ein Autofahrer in Berlin aus, weil Rettungskräfte sein Auto zugeparkt hatten, um ein einjäh- riges Kind wiederzubeleben. Der Fahrer demolierte den Rettungswagen und griff einen Sanitäter an. Vor der Polizei rechtfertigte er sein Verhalten mit den Worten »Mir doch egal, wer hier gerade reanimiert wird«. Das Vorhaben, pünktlich zur Arbeit zu fahren, hatte aus seiner Perspektive in dem Moment das absolute Vorrecht. Ähnliche Mechanismen kann man in der Rassismus- und Me-too-Debatte beobachten. Wenn missbrauchte Frauen aus der Anonymität treten und übergriffige Männer in die Sichtbarkeit überführen, nehmen viele Männer (und auch Frauen) eine genervte Abwehr- haltung ein. »Es müsse auch mal wieder gut sein.« »Dann könne man ja überhaupt nicht mehr flirten.« »Das töte ja jede Sexualität.« So hallt es in den akribisch aufgezogenen Argumentationsketten vieler. Die Not anderer verweist auf die eigene Notwendigkeit, Elke Richter, Nils Thorben Bartling, Nils Andre Brünnig sich gegebenenfalls zu hinterfragen und umzudenken. Das fällt Menschen sehr schwer.
Wenn die Diskriminierungen in den Fokus rücken, stilisieren sich die Diskriminierer plötz- Lange suchen die beiden potenziellen Helfer nach Definitionen. In einer grotesken Dia- lich als Diskriminierte und verdrehen die Ausgangssituation, um Eigenverantwortlichkeit logführung diagnostizieren sie ihr Objekt wie Fachärzte. Die Zuschreibung scheint unab- abzuwenden. dingbar für die Motivation, überhaupt zu helfen. Die Energie, die in Anerkennung und Wandel investiert werden könnte, wird umgeleitet in Initialzündung ist dann für beide die mythologische Zuschreibung. Denn der Verunglück- das Verdrängen ungerechter Zustände und damit in den Erhalt des Status Quo. te scheint Helena und Oskar in eine viel umfassendere Krise zu stürzen, die nicht nur In der Flüchtlingsdebatte sind ähnliche Töne zu vernehmen. »Die können nicht alle hier den Hilfebedürftigen betrifft, sondern die eigene Hilfebedürftigkeit. Die Frage ist nicht herkommen.« »Wir haben selber nichts.« »Die Kanzlerin soll sich erstmal um ihre eige- mehr nur: Wie rette ich einen in Not geratenen, sondern: Bin ich nicht der eigentlich viel nen Schäfchen kümmern, bevor sie Fremde aufnimmt.« Bedürftigere, der endlich Rettung verdient? Und so verbinden sie die Not des Einen mit Diesem Mechanismus folgen auch die zwei Protagonist_innen Helena und Oskar. In einer der Not des Eigenen. Auf diese Weise können sie die Krisensituation in ein Glücksverspre- Situation, in der ein anderer ihre Hilfe benötigt, lenken sie die Aufmerksamkeit auf die chen für sich selbst umwidmen. Das gelingt ihnen durch die Heiligsprechung des Opfers. eigene Bedürftigkeit um. Dafür müssen sie argumentativ große Umwege gehen: sie bewegen sich von Sachverstand Aber von vorne: und Logik zurück in eine Zeit, in der die Menschen unerforschte Phänomene auf my- Helena und Oskar scheinen nicht die geborenen Altruisten zu sein, die sich aufopfernd thologische Zusammenhänge zurückgeführt haben. Helena und Oskar gehen hinter die um Bedürftige kümmern wollen. Helena bewegt sich flüchtig und scheu durch die unter- Entwicklung der Gegenwart zurück und beziehen sich auf das Alte Testament. Das zeigt irdischen Hallen der U-Bahn. Offenbar hat sie Mühe, ihre Rechnungen zu zahlen und ist auch emotionale Wirkung. Sie können sich wieder spüren, ihren Überdruss zum Ausdruck einer depressiven und misanthropischen Grundstimmung anheim gefallen. Sie scheint in bringen (»Das Leben auf der Erde geht mir auf den Sack.«), aber gleichzeitig auch wieder einem Zustand der Einsamkeit gefangen. Nun ist sie aber die einzig Anwesende und kann emotionalen Bezug zu anderen herstellen (»Eigentlich bist du mir lieber als die ganzen die Verantwortung in dem Moment des Hilferufs nicht abwenden. Sie ruft den Bahn- dämlichen Menschen auf diesem Planeten.«). Sie scheinen wieder am Beginn zu stehen. wächter. Dieser ist in seiner Tätigkeit dazu verpflichtet, für einen ungestörten Ablauf zu Mit der Benennung der Tiere manövrieren sie sich an den Anfang der Menschheitsge- sorgen und Probleme zu lösen. Im Verlauf der Auseinandersetzung mausert sich Oskar von schichte zurück, um von dort aus neu starten zu können. Im Alten Testament hat Adam einem rein Pflichtbewussten zu einem Wissbegierigen, der akribisch nach Lösungen sucht. im Paradies, noch ohne Eva, auf Gottes Geheiß hin den Tieren Namen gegeben… So tut es Dabei ist er gesellschaftskritisch und ziemlich flexibel. Die inneren Überzeugungen kann er auch Oskar. Allerdings mit Helenas Zustimmung, soviel Feminismus muss sein. den äußeren Bedingungen anpassen. Das Postulat »Wir müssen das Glück von der Tech- Diese Benennung hat jedoch zerstörerisches Potenzial. Indem sie sich selbst ermächtigen nologie her denken« wird bei Oskar schnell zu der Feststellung »Die neuen Technologien und den Dingen einen Namen geben, stellen Helena und Oskar ein Machtverhältnis her. wenden sich gegen uns«. Wolfgang Priklopil, der Entführer der oben erwähnten Natascha Kampusch, gab seinem Auffällig ist, dass Helena und Oskar durch den verunglückten Alexander aus ihrer Lethargie Opfer Namen und nannte Natascha Jahre lang Bibi oder Bibiana. gerissen werden. Die Katastrophe wird ihnen zur Chance. Viele Weiße reagieren verstimmt, wenn man mit ihnen über die Bedeutung des Wortes Der Autor Leon Engler nimmt dabei eine typisch binäre Aufteilung vor: der verunfallte »Neger« diskutiert. Sie wollen sich die Freiheit erhalten, Schwarze so zu nennen, wie Alexander aktiviert bei der Frau die gefühlsbegabte Zuwendung (»Vielleicht haben die sie es bisher getan haben. Die Benennung ist ein Instrument der Macht und Fremdbe- Menschen dich nicht lieb, aber ich habe dich lieb.«), bei dem Mann hingegen die Fähigkeit, stimmung. Fakten zu sammeln und für sich umzudeuten (»Auf den Gleisen liegt eine fette Sau, die Helena und Oskar ermächtigen sich des Verunfallten. Sie instrumentalisieren ihn niemand lieb hat, weil sie so viel wiegt wie siebenundzwanzig Waschbären.«). für ihre Sehnsüchte und verlieren dessen Bedürfnisse aus dem Blick, ja sie schaden »Nichts verbirgt eine finstere Seele besser als ein strahlendes Lachen.« »Eine wirklich ungewöhnliche Idee, eine Frau mit der Lösung eines Problems zu beauftragen.«
Alexander umso mehr, wenn sie in ihn einfallen und bevölkern. Sie trampeln auf seinen Eingeweiden herum und bringen letztlich sein Herz zum Stillstand. Ähnlich barbarische Vorgänge finden noch immer in Teilen Afrikas statt, in denen Albinos überfallen, verstümmelt oder ermordet werden. Der weit verbreitete Aberglaube, Albinos hätten heilende Wirkung, veranlasst die Schlächter dazu, ihnen Gliedmaßen abzutrennen, ja sie sogar zu enthaupten. Albinos werden gejagt wie Tiere. So auch Alexander. Seine Prophetie » Die Menschen, sie fressen die Tiere und saufen die Meere. Sie fressen die Berge und saufen die Flüsse.« realisiert sich letztlich auch an ihm selbst. Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf, um es mit den Worten des Philosophen Thomas Hobbes auszudrücken. Noch passender für »Die Benennung der Tiere« bietet sich die Formulierung des römischen Komödiendichters Plautus an: »Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.« Auch König Mswati III. hat das Gefühl, verschlungen zu werden von seinem hungrigen Volk: »Die Leute gönnen einem nichts. Sie wollen alle etwas haben, sie sind so gierig. Man muss sich schützen vor diesen gefräßigen Menschen.« Im maximalen Wohlstand, das scheint Leon Engler zeigen zu wollen, schwindet das Verständnis für andere. Hingegen wächst das Bedürfnis, den eigenen Wohlstand zu sichern und auch noch den Notstand der anderen für sich selbst zu beanspruchen: »Die Leute denken, Aids wäre hart, aber die sollen mal ihre Haare verlieren.« Diese Aussage zeichnet in zynischer Überspitzung die Haltung der »Wutbürger« nach, die nicht unter- scheiden können zwischen der Lage eines HartzIV-Empfängers in Deutschland und der Lage eines syrischen Kriegsflüchtlings, der auf einem Schlauchboot ohne Schuhe über das Meer will, um irgendwo das nackte Überleben sichern zu können. Wie Mswati III. fühlen sich auch die Identitären in Europa ausgebeutet und zu kurz gekommen. Sie wollen Mauern errichten, so wie Mswati sich Maschinengewehre und gepanzerte Fahrzeuge zum eigenen Schutz kaufen will. Alles will der Wohlständler sich einverleiben: das Geld, das Glück und sogar das Unglück der Notleidenden. »Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.« (Titus Maccius Plautus) Till Schmidt, Bettina Schneider
DIE ODYSSEE DES den Erfahrungen mit der Vorstellungskraft verbunden und daraus Bildsysteme entwickelt. Bezogen auf Englers Theaterstück »Die Benennung der Tiere« wird der reiche und innova- tive Unternehmer Elon Musk als »Träumer der Menschheit« bezeichnet. Musk hat im Stück MENSCHEN: ZWISCHEN (und in der Realität) nicht nur Geschichten formuliert, die unmöglich schienen, er hat sie durch technischen Fortschritt auch praktikabel gemacht: Es ist der Möglichkeit, auf einen anderen Planeten aussiedeln zu können, ein Stück näher gekommen. Wenn es also mög- BIBEL UND MARSMISSION lich ist, auf den Mars auszusiedeln und dort zu leben, warum soll es nicht auch möglich sein, einen Wal zu besiedeln und sich dort für geraume Zeit einer Läuterung zu unterzie- hen, um anschließend wieder ein glückliches Leben auf der Erde führen zu können? Beim Lesen des Stücks hadert man kurioserweise weniger mit der Marsbesiedlung als Man geht davon aus, dass Religion und technischer Fortschritt einander ausschließen oder vielmehr mit eben dieser Walbegehung. Was soll letztere bedeuten? Gerade, da der ver- gegenläufig sind. Reiner Stach, der Biograf von Franz Kafka, hat jedoch darauf hingewiesen, meintliche Wal im Stück ja ein Mensch zu sein scheint, fällt eine Übersetzung nicht ganz dass beides miteinander in Zusammenhang stehen kann, ja dass Mystiker das Aufkommen leicht. technischer Errungenschaften und naturwissenschaftlicher Entdeckungen geradezu als Im Alten Testament ist der Wal ein von Gott gesandtes Meerwesen, das den abtrünni- Beweis für die Existenz »höherer Welten« angeführt haben. Wissenschaftliche Fortschritte gen Propheten Jona daran erinnern soll, dass alles in der Hand des Herrn liegt, dessen konnten durchaus als Bestätigung dafür dienen, dass es Dinge außerhalb rationaler Erklä- Anweisungen man sich niemals entziehen sollte. rungsmuster gibt. In »Benennung der Tiere« versuchen Oskar und Helene sich auf eben jenes Potenzial der Stach erklärt das Verständnis der Menschen, die während der Wende vom 19. zum 20. Jahr- transzendenten Botschaft zurückzubesinnen. hundert massiven technischen Fortschritt erlebten, folgendermaßen: »Wenn ich zum ersten Helene scheint von Depression und Lebensüberdruss geplagt. Oskar hingegen ist der reli- Mal ein Grammophon erlebe und die Stimme eines Sängers hören kann, der gar nicht mehr giöse Impulsgeber, der Helene darauf hinweist, dass der Wal ein heiliges Tier und in der lebt, wieso soll es dann nicht auch möglich sein, mithilfe des Tischrückens Kontakt zu einem Lage sei, sie zu verschlucken und in ein glücklicheres Leben zu spucken. Wichtige Pointe Toten aufzunehmen?« Es sei den Menschen zu der Zeit nicht ohne weiteres klar gewesen, dabei ist, dass es sich auf der diesseitigen Ebene nicht um einen Wal, sondern um einen so Stach, warum das eine geht und das andere nicht. Der »Zauber« der Technik schien also Produkttester handelt, der sein Geld damit verdient, Dinge zu »schlucken«. in seiner hochkomplexen Logik geeignet gewesen zu sein als eine Art Beweisführung für Die Superreichen Musk, Mswati und Jelinek werden ebenso geschluckt von einer riesigen Unmögliches. Rakete und später ausgespuckt in ein neues Leben auf dem Mars. Rakete und Wal sind Übertragen auf unsere technisch hoch aufgerüstete Gegenwart löst der Fortschritt aber auch Ausdrucksformen ein und derselben Sache. Sie sind ein risikoreicher Transitraum, den der Ängste aus. Wenn Wissenschaft sich in ständigem Wandel befindet, wird die Sehnsucht nach Mensch für eine bessere Form der Existenz durchqueren muss. Der Mensch kann weder Konstanz umso größer, denn wie der Philosoph und Naturwissenschaftler John William die Funktionsweise des heiligen Wals im Alten Testament noch die des hochkomplexen Draper es 1873 ausdrückte: »Faith is in its nature unchangeable, stationary.« Flugkörpers der Raumfahrt ergründen. Aber beide »Körper« sind Ausdruck einer Kraft, die Der Rückgriff auf Glaube und Religion verschwindet also nicht in Anbetracht technischen die des Menschen weit übersteigt. Beide Körper sind in der Lage, den Menschen zu über- Fortschritts, im Gegenteil: Esoterik und heilmedizinische Konzepte, die auf jahrtausendeal- führen in andere Welten, ihn dem Ort seiner Sehnsucht näher zu bringen, ihn beinahe ten Traditionen beruhen, haben in der Gegenwart enormen Zulauf, trotz und gerade wegen unsterblich zu machen. der Hypertechnologisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die beispielhafte Unterschiedlichkeit der Figuren in Englers Stück weist darauf hin, dass Gleichzeitig lässt sich behaupten, dass Glaube eine Abkehr von Fortschritt sein kann. Bevor der Wunsch nach Veränderung nichts mit dem jeweiligen Lebensentwurf zu tun hat, wir uns Wissen über etwas aneignen, glauben wir etwas darüber. Als der Mensch Wissen sondern ein dem Menschen inhärenter Impuls ist. Beide Parteien, die Superlativ-Reichen akkumulierte, etwa über Planeten und Sterne, hätte der Glaube an Götter, die die Himmels- und die »Plebejer«, wie Engler sie nennt, streben eine Art der Wiedergeburt an, eine gestirne angeblich steuerten, ja eigentlich obsolet werden können. Aber der Glaube war das Art Auferstehung, ein neues Leben. Die einen können sich dies mittels Finanzierungen Fundament menschlicher Existenz und also nicht so einfach abzuschaffen oder zu ersetzen. oder exklusiver Zugehörigkeit leisten, die anderen sind zurückgeworfen auf ihren Glau- Wissenschaft und Religion sind sich ergänzende und sich gleichzeitig in die Quere kom- ben. Was beide Parteien eint, ist der Überdruss, das diffuse Gefühl, an einem Ende mende Instrumente des Menschen, um sich zur Welt ins Verhältnis zu setzen und in ihr angelangt zu sein. An einem Ende der Geschichte? An einem Ende des Wohlstands? An zu bestehen. Im Prinzip kann man von einer Bewältigungsstrategie ausgehen, die nur einem Ende der persönlichen Freiheit? unterschiedliche Formen ausprägt: die eine Form ist die der reinen Imagination von Welt, Elfriede Jelinek hat im Stück bereits versucht, als eine andere Person wiederaufzuerstehen. die andere die des Untersuchens und der Beweisführung von Welt. In beiden Fällen wer- Sie musste jedoch feststellen, dass das Leben einer um die Welt reisenden Modebloggerin
ähnlich anstrengend ist wie das einer an ihr Zuhause geketteten Schriftstellerin. Sie zieht sich daraufhin zurück in eine durch Valium gedämpfte innere Welt. Mswati III. zieht sich zurück in einen äußerlichen Luxus, während um ihn herum (in Swasiland) das absolute Chaos herrscht: Krankheit, Armut, Tod. Den aktivsten Rückzug leitet dann der Innova- tor Elon Musk ein: Er, Mswati und Elfriede Jelinek ziehen auf den Planeten Mars. Der technische Fortschritt zieht sich damit komplett von der Erde zurück. Helene und Oskar ist dieser Rückzug aufgrund fehlender intellektueller und finanzieller Ressourcen nicht möglich. Die moderne Wissenschaft ist nur denen vorbehalten, die sie durch geistige Fähigkeiten betreiben können oder denen, die durch finanzielle Mittel in der Lage sind, Wissenschaft voranzutreiben und für sich nutzbar zu machen. Religion als Krisenbewältigungsstrategie hingegen ist allen Menschen zugänglich. Man braucht für den Glauben keine besonderen Voraussetzungen. Und so entern Helene und Oskar kraft ihres Glaubens den verunfallten Produkttester Alexander (der Name bedeutet soviel wie Beschützer), den sie anhand alter Glaubensreferenzen für einen Wal halten. Was aber, wenn der Wal kein von Gott gesandtes Wesen ist, sondern ein gewöhnlicher Produkttester? Unterziehen sich die beiden dann nicht einer Art Warentest? Ist der Pro- dukttester der neue Gott auf Erden, der die Glückseligkeit verteilt? Und bringt der Herz- stillstand des Produkttesters den Stillstand aller Existenzen mit sich? Oder ist, gemessen an religiösen Vorstellungen, der Herzstillstand des Wals das Ende göttlicher Macht? Wie kann der Mensch neu Verantwortung übernehmen, wenn ihn der Glaube verlassen hat? Worauf kann er sich stützen? Auf sich selbst? Leon Engler leitet mit seiner apokalyptischen Glückssuche das Ende gewohnter Bezugs- systeme ein: 1.) Die Technologie hat sich von der Erde fortentwickelt, der Mensch kann nicht mehr Schritt halten. 2.) Der Kapitalismus in Form des Warenfetischismus ist tot. An der Ware Mensch verschluckt er sich und erstickt. Gott in Form eines rettenden Wals ist ebenfalls tot. Der Mensch lebt. Was nun? »Uns bleibt nur der Glaube an ein besseres Leben jenseits unserer vermaledeiten Alltagsexistenzen.« Till Schmidt
QUELLEN: Die Texte im Heft sind Originalbeiträge der Dramaturgin Sophie Scherer. TECHNIK Uwe Riediger (Technischer Direktor), Jens Richter (Technischer Leiter neues theater), Gerd Lewandowsky (Bühnenmeister), Carsten Pfaff (Bühnenmeister), Roberto Riesner (Bühnenmeister), Jens Herold, Sven Horn, Peter Lange, Matthias Mandt, Kay Perlwitz, Peter Richter, Rüdiger Scheer, Jan Thurmann, Falk Wirsing, Thilo Zubiak BELEUCHTUNG Jack Boateng (Leitung), Thomas Opitz (Meister), Jan David, Volker Heidecke, André Jenske, Jens Pietzonka, Hagen Dittmar TON René Bernsdorf (Leitung), Ramon Fuentes Nieto, Maik Schibelius, Sven Ziegler REQUISITE Stefan Range (Leitung), Petra Hirschfelder, Andreas Steppan, Susanne Schaub-Aderhold, Eike Vöcks MASKE Christina Simon (Leitung), Claudia Francke-Hildebrand, Esther Karpaty, Anke Sothen, Maria Harder KOSTÜME Cordula Erlenkötter (Kostümdirektorin), Karen Liezke (Gewandmeisterin), Ines Schubert (Modistin), Tamara Janzen (Kostümbearbeitung), Janett Becker, Kathleen Hubert, Karina Koeppe, Sigrid Kuffel, Elke Linsel, Martina Meisner, Susanne Müller, Ines Neitzel, Jeannette Quandt, Silvia Radsch, Angela Scheelhaas, Bettina Stein, Jutta Wolter ANKLEIDER Claudia Hoppe (Leitung), Christel Biermann, Ingrid Hecht, Bettina Thalmann DEKORATIONSWERKSTÄTTEN Torsten Paetzold (Produktionsleitung), Thomas Kretschmar (Werkstattleitung) MALSAAL Christian Wagner (Malsaalvorstand), Wolfram Freye, Sven Moelke, Raik Bläß, Michael Kron TISCHLEREI Thomas Kretschmar (Meister), Matthias Böhm, Stephan Grätz, Karsten Gunold, Andreas Hentze, Rene Schöler, Henrik Wilke-Husmeier THEATERPLASTIK Johanna Geerkens, Julia Reinke »Jeder Mann zieht eine enge Muschi einer weitsichtigen Frau vor, SCHLOSSEREI Christian Goldacker (Meister), Andreas Winter DEKORATIONSWERKSTATT/POLSTEREI Karsten Döhring (Meister), Sebastian Brendel IMPRESSUM: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle | Geschäftsführer Stefan Rosinski | Künstlerischer Direktor neues theater Matthias Brenner | Redaktion oder Männer?« Sophie Scherer | Fotos Falk Wenzel | Gestaltung Annett Pester | Herstellung www.flyeralarm.com | Neues Theater Große Ulrichstraße 51, 06108 Halle | Kasse 0345 – 5110 777 | theaterkasse@buehnen-halle.de | www.buehnen-halle.de | Spielzeit 2018 / 2019 | Programmheft Nr. 88 | Auflage 500 | Nacheinlass für Zuspätkommende ist Inszenierungsabhängig. Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- / Bildaufnahmen unserer Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte untersagt sind.
Nils Andre Brünnig, Elke Richter, Alexander Pensel
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