Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch

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Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch
der Weg
              Mitgliedermagazin
              September 2020 • Nr. 3

 Mit Leser-
wettbewerb

                                  Schwerpunkt:
                                  Selbsthilfe
Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch
Inhaltsverzeichnis

Editorial                                 3    Selbsthilfe als Geschenk an die
                                               Gemeinschaft                                18
Forum                                     4
                                               Verbindende Erfahrungen unter
Optimierte Smartphone-
                                               Gleichaltrigen                              20
Kommunikation                             4
                                               Klinische Tests im Zeichen
Zehn Jahre «Regards Neufs»                5
                                               der Selbstlosigkeit                         22
«Canne blanche» 2020 für App
                                               Teil einer Gemeinschaft sein                23
«SBB Inclusive»                           6
                                               Verbandsleben                               25
Menschen                                  7    Standpunkt                                  25
Marie-Pierre Assimacopoulos –                  Veranstaltungen                             26
Getragen von Zuversicht                   7
                                               SBV-Intern                                  30
Schwerpunkt                              11    TWS 2020 – Fahrzeuglenkenden
Existentielle Triebfeder zur freien            blindlings vertrauen können                 30
Selbstentfaltung                         11    Leserwettbewerb                             31

Impressum
Mitgliederzeitschrift des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands SBV
im 107. Jahrgang. Sie erscheint viermal im Jahr in Grossdruck, in Braille, als Daisy-CD,
im Elektronischen Kiosk und im Web sowie auf Bestellung per E-Mail (ohne Fotos) und
auf VoiceNet (031 390 88 88, Rubrik 2 5 1) in Deutsch und Französisch («Clin d’œil»).
In SBV-Mitgliedschaft inbegriffen. Für Nichtmitglieder: CHF 28.– (Inland), CHF 34.–.

Herausgeber:        Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband SBV,
                    Könizstrasse 23, Postfach, 3001 Bern, www.sbv-fsa.ch
Redaktion:          SBV, 3001 Bern, 031 390 88 00, redaktion@sbv-fsa.ch,
                    Roland Erne (rer), Hervé Richoz (hr)
Übersetzungen:      Apostroph Bern AG, Jolanda Schönenberger
Foto Titelbild:	Ist Marie-Pierre Assimacopoulos (42) in Genf – wie hier beim Ein-
                 kaufszentrum und Stadion La Praille in Lancy – unterwegs, möchte
                 sie ihr Smartphone wie auch ihren Langstock nicht missen.
                 Foto: François Schaer.
ISSN-Nummern:       1422-0490 (Print), 2296-2018 (Braille), 2296-2026 (Audio)
Layout und Druck: Ediprim AG, Biel/Bienne
Braille:            Anton Niffenegger
Audio:              Markus Amrein, Bern
Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: Freitag, 31. Oktober 2020

                                           Druck auf umweltfreundliches
2                                          FSC-Papier
Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser
Wenn es ein Bedürfnis gibt, das unge-
fragt auftritt, in schweren Zeiten in den
Vordergrund tritt, ebenso reift wie die
Seele und letztlich dem Leben einen
Sinn verleiht, dann ist es… die Selbst-
hilfe! Sie ist – nicht von ungefähr –
denn auch das Schwerpunkt-Thema                                    Hervé Richoz.
dieser Ausgabe, zumal sich um diesen                               Foto: Isabelle
mithin für Konfusion sorgenden Begriff                             Favre
nicht wenige Missverständnisse ranken.
Vereine schreiben ihn sich auf die          Barrieren dieser Welt zutage. Damit
Fahne, die Gesellschaft schwingt ihn        Betroffene in die Lage versetzt werden,
wie ein Schwert, Verbände versuchen,        wieder auf eigenen Füssen zu stehen,
ihn in Konzepte umzusetzen. Vor allem       eigene Konzepte zu entwickeln, sich in
aber gewinnt er in diesen Tagen seine       die Gesellschaft und in die Arbeitswelt
menschliche Dimension zurück: mit           zu integrieren, sind sie auf Akzeptanz
Geschichten von Menschen wie der            in ihrem «Anderssein» angewiesen.
porträtierten Genferin Marie-Pierre         Genau dies war bei der Gründung
Assimacopoulos, die im Alltag hautnah       des SBV 1911 ausschlaggebend.
erleben, was Selbsthilfe bedeutet.          Weitere Beiträge dieses Hefts sind
Unbesehen davon galt es, den Bedeu-         dem 10-jährigen Bestehen von
tungsinhalt der Bezeichnung «Selbst-        «Regards Neufs» und der innovativen
hilfe» zu klären – mit einer Umfrage        Smartphone-Tastatur «help2type»
unter den im Schweizer Sehbehinderten-      gewidmet, die Sie in unserem Leser-
wesen tätigen Organisationen und            wettbewerb gewinnen können. Im
Dachorganisationen. Lesen Sie die           Vorfeld des TWS 2020 wiederum
fundamentale Auslegeordnung dazu,           unterstreicht der Präsident des
flankiert von Gastbeiträgen der jungen      Schweizerischen Fahrlehrerverbands
Genferin Céline Witschard, der promo-       mit Blick auf die für Betroffene elemen-
vierten Bioethikerin Céline Moret und       tare Sicherheit im Strassenverkehr
von Sarah Wyss, Geschäftsleiterin           die Bedeutung des derzeit revidierten
Selbsthilfe Schweiz. Zudem: Hilfe           Verkehrskunde-Unterrichts.
oder Selbsthilfe, Wohltätigkeit oder        Ich wünsche Ihnen ein sanftes Ein-
Beistand, fertige Lösung oder offenes       tauchen in die vielfältigen Facetten der
Ohr, Dienstleistung oder Unterstützung      Selbsthilfe und eine angenehme Lektüre.
– jede Epoche brachte die Schwächen
und auf vielerlei Weise «behindernde»       Hervé Richoz

                                                                                    3
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Optimierte Smartphone-Kommunikation
Roland Erne, Redaktor «der Weg»

Mit «help2type» hat Marcel Roesch,       allen Smartphones (iOS und Android)
seit seiner Kindheit nahezu blind,       anbringen lässt. Die nach einer Test-
im Zeichen exemplarischer Selbst-        phase mit sechs verschiedenen 3D-
hilfe eine flexible Tastatur mit fühl-   Druck-Layouts evaluierte Endversion
barem Feedback entwickelt, die das       enthält sämtliche Funktionen einer
Schreiben auf dem Smartphone             Laptop-Tastatur, darunter eine Funk-
erleichtert – schnell und überall.       tions- und Command- (für Sonder-
                                         zeichen etc.) sowie eine Enter- und
Smartphones sind aus dem Alltag          Lösch-Taste, wobei fast alle Tasten
nicht mehr wegzudenken und haben         dreifach belegt sind (siehe Tutorials
sich für Menschen mit einer Sehbeein-    auf www.help2type.ch).
trächtigung längst als unerlässlich      Forschung und Design für «help2type»
erwiesen. Dennoch haben sich Defizite    begleitet hat das Bieler Innovations-
erhalten. Ein Beispiel: Das Tippen auf   unternehmen Creaholic SA des Swatch-
einer Touch-Tastatur ist fraglos müh-    Miterfinders Elmar Mock. Die von wei-
selig geblieben. Und Sprachnachrichten   teren Geschäftspartnern mitgetragene
sind kaum vom Nachteil der leicht        Entwicklung der innovativen Tastatur
einmal geritzten Privatsphäre zu ent-    möglich gemacht hat auch die Unter-
koppeln. Genau da setzt die vom lang-    stützung des Arbeitgebers: zum einen
jährigen SBV-Mitglied Marcel Roesch      durch ein Swisscom-Startup-Förde-
entwickelte Tastatur «help2type» an.     rungsprogramm, zum anderen durch
Der 41-jährige Leiter des für interne    firmeneigenes Sponsoring. Das Pro-
Videoproduktionen verantwortlichen       jekt sei quasi sein «Hobby», versichert
Swisscom-Filmteams weiss aufgrund        Marcel Roesch, neben seiner Tätigkeit
seines Sehverlusts aus eigener Er-       in der Unternehmenskommunikation
fahrung, worauf es ankommt.              der Swisscom inzwischen auch CEO
                                         der «help2type»-GmbH. Eine soge-
Für iOS und Android                      nannte Bildungsreise schliesslich hat
Kernelemente seiner bis Ende 2019        ihn im Frühjahr 2019 nach Shenzhen in
zum Prototyp gereiften Lösung für        China geführt, wo er mit Jack Lee einen
diverse Sprachen sind eine per Blue-     in der Smartphone-Konzeptionierung
tooth verbundene Tastatur mit für die    erfahrenen Hersteller fand. Die mobile
Texteingabe haptischem Feedback,         Smartphone-Tastatur (siehe auch Seite
die sich mittels magnetischer Haftung    31) ist für 229 Franken erhältlich, für
und einem Uhrenband-System auf           die ersten 50 Online-Bestellungen von

4
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SBV-Mitgliedern mit Erscheinen dieser     (statt 59) Franken.Wichtig: Bei der
Ausgabe zum um 15% reduzierten            Bestellung im Kontaktformular unter
Sonderpreis von 195 Franken, die          «Unternehmen» die Angabe «SBV-
passende Schutzhülle aus Kork für 49      Mitgliedermagazin» vermerken.

Die bemerkenswert ausgeklügelte Tastatur «help2type» im Kurztest
Irgendwo zwischen Faulheit und Pflicht fasziniert von einer neuen Heran-
gehensweise zur Nutzung von Smartphones, wurde mir eine Demo für die Be-
dienung von «help2type» gewährt. Als ich
dann zusehen konnte, wie die beiden
Daumen des Nutzers lebendig wurden
und sich äusserst flink auf dieser kleinen
physischen Tastatur bewegten, die so
leicht und einfach zu installieren ist, ver-
stand ich das Interesse von (neu) Betrof-
fenen sofort. Zumal ich – selbst seh-

                                                                                Foto: Roland Erne
behindert – aus eigener Erfahrung weiss,
dass es angenehmer ist, auf einem Touch-
screen nicht mühselig auf Buchstaben
zielen oder aber zuhören zu müssen. Insbesondere junge Generationen
haben so endlich die Möglichkeit, völlig gleichberechtigt Facebook «live»
oder «Chats» im Fernunterricht nutzen zu können.                         hr

Zehn Jahre «Regards Neufs»
Als der Kurzfilm-Spezialist Bruno Quiblier 2010 dem Lausanner Verein
«Base-Court» beitrat und die Welt der Blinden und Sehbehinderten ent-
deckte, wusste er noch nicht, wie sehr Betroffene in der Deutsch- und
Westschweiz auf ihn gewartet hatten, um dank «Regards Neufs» Film-
vorführungen im Kino miterleben zu können.

Kinofilme spiegeln unsere Gesellschaft    form «Base-Court» zu übernehmen
und Menschheit – und die Bedeutung        und so seit nunmehr zehn Jahren
eines Spiegels ist darin begründet, was   blinden und sehbehinderten Kinofans
er zeigt. Genau dies hat Bruno Quiblier   zu ermöglichen, sich in Filme hineinzu-
dazu animiert, das Vorreiterprojekt       versetzen und unvergessliche Momente
«Regards Neufs» der Kurzfilm-Platt-       in den Schweizer Kinos zu erleben.

                                                                                              5
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«Regards Neufs» steht für Zugänglich-      gemeinsam einen Film auf der grossen
keit im Kino und erbringt umfangreiche     Kinoleinwand mitzuverfolgen, die Bilder
Dienstleistungen in den Bereichen          dank Audiodeskription quasi ins Auge
Audiodeskription und Untertitelung.        vordringen zu
35-mm-Film, Audiodeskription im            lassen»,
Kino und nun auch als Download auf         schwärmt Bruno
dem Smartphone: Bruno Quiblier, in der     Quiblier, um
Filmszene bestens vernetzt, hat diese      gerührt auch eine
Entwicklung mitgeprägt, die Sehbehin-      Dankeskarte zu
derte den Film und den Vorführungsort      zeigen, die ihm
frei wählen lässt. Entscheidend war        Kinder des
dabei auch der Austausch mit Mentoren      Centre Pédago-

                                                                                 Foto: zVg
wie Claudine Damay oder Urs Lüscher        gique pour Han-
sowie die Beiträge von Freiwilligen, die   dicapés de la Vue (CPHV) nach einer
dazu beitrugen, was «Regards Neufs»        für sie organisierten Filmvorführung von
heute ist. «Ob im Kinosaal oder unter      «Regards Neufs» übergeben haben – in
freiem Himmel – nichts ist so toll, wie    Bann gezogen von einer Art Magie. hr

«Canne blanche» 2020 für App «SBB Inclusive»
Entschieden hat erstmals ein Publikums-    Zugabteil sie eingestiegen sind oder
voting: Der zum achten Mal vom             welcher nächste Bahnhof erreicht wird.
SZBLIND vergebene Preis «Canne             Zwischen Mai und November 2019
blanche» geht an die Kundeninforma-        wurde die App von rund 50 Betroffenen
tions-App «SBB Inclusive», die 1’252       getestet. Besonders geschätzt wurde,
Stimmen auf sich vereinigen konnte.        dass sie einfach aufgebaut ist und für
Eine Fachjury hatte zuvor aus 25           VoiceOver optimiert wurde, wie Rolf
eingereichten Projekten deren drei für     Roth, Mitarbeiter der SBV-Fachstelle
die finale Wahl der Publikumsjury          T&I, bestätigt. SZBLIND- und Jury-
ausgewählt. Mit der ab dem nächsten        Präsident Thomas Dietziker zeigt sich
Fahrplanwechsel von Mitte Dezember         denn auch davon überzeugt, «dass
2020 eingeführten App können sich          diese digitale Kundeninformation eine
blinde und sehbehinderte Menschen          grosse Hilfe ist und das selbstständige
etwa den Abfahrtsanzeiger auf ihrem        Reisen blinder und sehbehinderter
Smartphone via VoiceOver vorlesen          Menschen nutzbringend unterstützt».
lassen oder sich informieren, auf wel-     Der Preis «Canne blanche» 2020
chem Perron sie sich gerade befinden,      wird am 17. September in Zürich über-
welcher Zug einfährt, in welches           geben.                              rer

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Menschen

Marie-Pierre Assimacopoulos
Getragen von Zuversicht
Hervé Richoz, Redaktor «Clin d’œil»

Als beherzt positive moderne Frau beeindruckt Marie-Pierre Assimaco-
poulos im Berufs- und Privatleben mit ihrer Charakterstärke und ihrer ein-
nehmenden Persönlichkeit – geprägt von jener frappierenden Empfind-
samkeit, die empathisches Zuhören und kommunikative Balance
einschliesst. Eine Porträt-Begegnung mit der blinden 42-jährigen Genferin
im Zentrum ihres Lebensmittelpunkts.

Kaum ist Marie-Pierre Assimacopou-
los im vergleichsweise ruhigen Genfer
Quartier Onex mit unverkennbarer
Eleganz aus dem Bus gestiegen,
«scannt» sie mit ihrem weissen Stock
das Trottoir nach Erkennungszeichen,
die ihr den Weg zum Collège du
Marais – einer ihrer beiden Arbeitsorte
als Psychologin und Beraterin im
beruflichen wie auch schulischen
Bereich – weisen. Wenn alles gut
läuft, kann sie erst einmal verschnau-
fen, zumal ihre Arbeitstage aufgrund
ihrer Sehbehinderung je nach Jahres-
zeit und Verkehrssituation jeweils
lange vor der Ankunft im Büro be-
ginnen. An diesem Morgen fällt ihr
das leichter als sonst, denn am ersten
Tag der Sommerferien stehen keine
Beratungstermine an. Am Abend
zuvor aber ist es spät geworden:
Gemeinsam mit ihren Kolleginnen           Fokussierte Konzentration:
und Kollegen hat sie beim Apéro das       Marie-Pierre Assimacopoulos beim
Schuljahr ausklingen lassen. Fraglos      Eingang des Collège du Marais,
schätzt sie das Zusammensein, ge-         einem ihrer beiden Arbeitsorte.
knüpft an ansteckende Lebensfreude.       Foto: François Schaer

                                                                             7
Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch
Menschen

Gestärkte Resilienz                        war, hat meine Mutter immer viel mit
Als Töchter eines Arztes, Experte für      mir gesprochen. Beim Anziehen
Medizin-Informatik, und einer Grund-       benannte sie alle Körperteile und
lagenforscherin kamen Marie-Pierre         Kleidungsstücke. Dabei habe ich viel
Assimacopoulos und ihre Zwillings-         gelernt.» Womöglich ist damals auch
schwester viel zu früh zur Welt: «Papa     schon ihre Leidenschaft für die Spra-
hielt jede von uns auf je einer Hand!»     che(n) und das Lesen erwacht. Ein
Bis heute eine bewegende Erinnerung.       Lächeln huscht über ihr Gesicht, ehe
Sauerstoff ist für das Überleben von       sie anmerkt: «Mit einer sehenden Zwil-
Frühchen unverzichtbar, verengt            lingsschwester kommt es unweigerlich
jedoch die Blutgefässe und kann die        zu Vergleichen. Wir sind ziemlich ver-
Netzhaut schädigen. Gegen die so-          schieden, aber wir haben zusammen
genannte Frühgeborenen-Retinopathie        immer viel gelacht und uns gegenseitig
war die Medizin damals noch machtlos.      geholfen.» Nicht zuletzt, um das Femi-
Eine Operation hätte ihr Augenlicht        nine, Selbstständigkeit und Selbst-
vielleicht teilweise erhalten, aber auch   bewusstsein sowie Resilienz anhaltend
schiefgehen können. Ihre Eltern ent-       zu stärken.
schieden sich mit der Unterstützung        Hat sie sich denn früh schon für
von Spezialisten dafür, «der Natur ihren   Psychologie interessiert? «Überhaupt
Lauf zu lassen», und sorgten letztlich     nicht! Als Teenager wollte ich zunächst
dafür, dass Marie-Pierre Assimacopou-      Bildhauerin, dann Schriftstellerin oder
los sich so entwickelte, wie sie heute     Journalistin werden», gesteht Marie-
ist – getragen von Zuversicht.             Pierre Assimacopoulos lachend. Erst
«Abgesehen von der Sehkraft, ist es        im Gymnasium habe sie realisiert, dass
die Erziehung, die den Unterschied         alle spontan mit ihr reden mochten und
ausmacht», hält sie unmissverständlich     sie selbst gerne zuhört. Statt weiterhin
fest und erzählt: «Als ich noch klein      gut gemeinte Ratschläge zu erteilen,

Erprobte Autonomie: Marie-Pierre Assimacopoulos macht sich für einen
weiteren Arbeitstag bereit, findet sich mit Unterstützung im Kleidergeschäft
zurecht und vertraut im Büro auf eine Braille-Zeile. Fotos: François Schaer

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Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch
Menschen

habe sie irgendwann schlicht erkannt,       hat sie zuletzt via Facebook auch einer
dass fast alle «einfach mal ihr Herz        Genfer Walking-Gruppe zugeführt, die
ausschütten müssen, damit sie selbst        von ihr sogleich darüber aufgeklärt
auf Lösungen kommen». Zudem gehe            wurde: Sie sei blind und bedürfe eines
es in der Psychologie grundsätzlich oft     Guides, dessen Anleitung sie gerne
einfach darum, Probleme in Worte zu         übernehme. So läuft es bei Marie-
fassen. Nach Studien in Genf und            Pierre Assimacopoulos stets – auch
später in Lausanne für Berufs-, Studien-    im Groupement Romand de Skieurs
und Laufbahnberatung sowie klienten-        Aveugles et Malvoyants (GRSA), wo
zentrierter Psychotherapie begleitet sie    sie sich für die Ausbildung von Tandem-
inzwischen Schülerinnen und Schüler         Guides engagiert und dabei nicht müde
in praktischen, aber auch persönlichen      wird, die Bedeutung der für die Teil-
Fragen. Ab und an habe es dabei Vor-        habe am gesellschaftlichen Leben
behalte wegen ihrer Sehbehinderung          elementaren Selbsthilfe zu betonen.
gegeben, oftmals sei ihr dies aber auch     Auch wenn sie ihre eigenen Erfahrungen
entgegengekommen: «Wer eher etwas           niemandem aufdrängen will, verkörpert
gehemmt ist, fühlt sich im Gespräch –       die vife Genferin als langjähriges
quasi unsichtbar – oft wohler, weil nicht   SBV-Mitglied gleichsam jene wahre
unter Beobachtung.» Daneben widmet          Selbsthilfe, die befreit, ermutigt, ver-
sie sich auch der Beratung für Erwach-      netzt und Zusammenhalt schafft – im
sene, die sich während ihrer Sprech-        Unterschied zur bisweilen stigmatisie-
stunden am Empfang der Cité des             renden verkappten Hilfe, die Betroffene
Métiers melden können.                      insbesondere aufgrund projizierter
                                            Vorstellungen und Anerkennung er-
Gelebte Selbsthilfe                         heischender Bedürfnisse in die
Neben ihrer beruflichen Tätigkeit im        Schranken weist. Eben diese falsch
Rahmen in etwa eines 60-Prozent-            verstandene Unterstützung meint
Pensums achtet Marie-Pierre Assima-         Marie-Pierre Assimacopoulos, wenn
copoulos auf nicht weniger nährenden        sie sagt: «Genau da spüre ich meine
Ausgleich beim Rudern, Singen, Ski-         als Last definierte Behinderung, die
fahren und Wandern oder mit Pilates         uns die Gesellschaft aufgrund unseres
und der ihren Wissensdurst stillenden       Handicaps aufbürdet.» Im Lockdown
Lektüre von Büchern. Generell mag           wiederum schätzte Marie-Pierre
sie mit ihrem Leben nicht hadern,           Assimacopoulos diverse spontan
sondern ist sich vielmehr bewusst,          entstandene WhatsApp-Gruppen,
dass sie mit noch weit schlimmeren          die buchstäblich der Selbsthilfe mit
Konsequenzen behaftet sein könnte.          erweiterten Kontakten entsprachen.
Ihr in ihrem Umfeld immer wieder res-       Beispielsweise für ihr dienliche Koch-
pektvoll wahrgenommener Optimismus          tipps, für die sie sich mit Lektüre-

                                                                                  9
Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch
Menschen                                   Inserat

Empfehlungen zu revanchieren wusste.
Dies ist mit ein Grund dafür, dass sie
sich seitens SBV für die Mitglieder in
Sachen Selbsthilfe künftig mehr Prä-                 Ihre Brille kann lesen
senz wünscht. Zumal sie sich nament-
lich vom «Réseau des iPhoniens» der          verbesserte Version!
Apfelschule beeindruckt zeigt.

Geschätzte Hilfsmittel
Überhaupt ist Marie-Pierre Assimaco-
poulos sehr wohl bewusst, dass tech-
nische Hilfsmittel ihr den Alltag mass-
gebend erleichtern – getreu der
Devise: «Niemals ohne mein iPhone!»          Lassen Sie sich von Ihrer Brille
So freut sie sich denn auch darauf, die      Texte vorlesen, das Gesicht Ihres
für Blinde im Wortsinn wegweisenden          Gegenübers, Produkte, Banknoten
                                             und Farben erkennen!
GPS-Funktionen in anstehenden Kur-
sen noch besser zu beherrschen, um           Zeigen Sie einfach mit Ihrem
                                             Finger auf gedruckten Text in
sich autonomer in der Stadt bewegen          Zeitungen, Zeitschriften, Büchern,
zu können. Da sie allein lebt, vertraut      auf Speisekarten, Beschriftungen
sie überdies oft auf die App «Be My          auf Produkten, Bezeichnungen auf
                                             Strassenschildern usw.
Eyes» und hat damit schon so manche
                                             OrCam MyEye spricht Ihnen den
Situation gemeistert. Selbstredend
                                             Text über einen kleinen Laut-
nutzt sie auch soziale Netzwerke, um         sprecher direkt ins Ohr.
sich im Bekannten- und Freundeskreis         OrCam MyEye ist eine kleine
auszutauschen. Klar für sie aber bleibt:     Kamera, die am Bügel einer Brille
«Kein Smartphone ersetzt den weis-           befestigt werden kann.
sen Stock oder die helfende Hand. Der        OrCam MyEye ist neu in Deutsch,
                                             Französisch, Italienisch und
Langstock garantiert uns Sicherheit,         Englisch erhältlich.
macht uns sicht- und unsere Sehbe-
                                             Testen Sie OrCam MyEye in Ihrer
hinderung erkennbar.» Auch die einen         Beratungsstelle, bei Accesstech
sanfteren Zugang zur Literatur und           oder in einer der Filialen der
zum Wissen garantierende Braille-            Stiftung AccessAbility.
Lektüre möchte Marie-Pierre Assima-          Informieren Sie sich
                                             Luzern                     041 552 14 52
copoulos keineswegs missen. So kann
                                             St. Gallen                 071 552 14 52
sie bei Bedarf den PC-Bildschirm und         Bern                       031 552 14 52
Sprachansagen hinter sich lassen und         Neuchâtel                  032 552 14 52
sich stattdessen der haptischen Intimi-      www.accessability.ch   info@accessability.ch
tät der Worte zuwenden.

10
Schwerpunkt

Existentielle Triebfeder zur freien Selbstentfaltung
Roland Erne, Redaktor «der Weg»

Was beinhaltet und meint Selbsthilfe, was nicht und weshalb? Wir haben bei
den Verantwortlichen auf strategischer Ebene der im Sehbehindertenwesen
tätigen Organisationen Schweizerische Caritasaktion der Blinden (CAB),
Retina Suisse, Schweizerischer Blindenbund (SBb) und Schweizerischer
Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) – unter Einbezug von Vorstand
und Sektionenrat – sowie der beiden Dachorganisationen Agile.ch und
Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) nach-
gefragt. Eine auf grundlegende Erkenntnisse gestützte Erhebung, deren
Ergebnis sich weiter zu verfolgen empfiehlt.

Selbsthilfe – ein grosses Wort gelas-
sen ausgesprochen, könnte sich in
Anlehnung an Goethe zumindest ver-
muten lassen. Was aber dürfte Selbst-
hilfe im Kern bedeuten? Einer Sach-
lichkeit verpflichtet, die nicht an einen
inflationären Gebrauch oder gar eine
bisweilen ideologische Einfärbung des
Begriffs geknüpft ist. Aus der Sicht des
Einzelnen zentral ist zunächst der indi-
viduelle Antrieb, sich selbst helfen zu
wollen, insbesondere in der Bewälti-
gung von Problemen, Schwierigkeiten,
Unannehmlichkeiten oder Hindernis-
sen. Ein elementares Bedürfnis, das
gemeinsam fraglos zielgerichteter           Zentraler Antrieb: der Wille, sich
einzulösen ist als allein.                  selbst zu helfen. Foto: Patrick Lüthy
Kollektive Selbsthilfe ist demnach ge-
kennzeichnet von wechselseitiger Hilfe      strukturierte Verein als «die best-
und Unterstützung – im Zeichen des          mögliche Variante der Umsetzung
Identitätsprinzips. In organisatorischer    der Selbsthilfe entpuppt». Dies mithin
Hinsicht hat sich für den SZBLIND als       im Unterschied zu Organisationen
Selbsthilfe- und Dachorganisation im        wie Stiftungen, die in der Regel keine
Schweizer Blinden- und Sehbehinderten-      Mitgliedschaften und folglich keine
wesen dabei der mitgliedschaftlich          Delegiertenversammlung kennen.

                                                                                 11
Schwerpunkt

                                    Stärkendes Kollektiv
                                    Im Unterschied zur Fachhilfe, die von
                                    meist nicht selbst betroffenen Fach-
                                    personen getragen wird, setzt Selbst-
                                    hilfe vielmehr auf das Miteinander von
                                    Betroffenen, die ihre Geschicke selbst
                                    an die Hand nehmen und sich in ihrer
                                    Eigenständigkeit, Entscheidfindung
                                    und Selbstverantwortung gegenseitig
                                    stärken. Ihr Kollektiv entspricht so
                                    einem Forum für die eigenen Anliegen
                                    und Interessen, das den Austausch
                                    wie auch Kontakte auf Augenhöhe
                                    ermöglicht und die Bewältigung des
                                    Alltags erleichtert.
                                    Agile.ch, vorab in der Politik und der
                                    Interessenvertretung engagierter
                                    Dachverband der Behinderten-Selbst-
                                    hilfeorganisationen in der Schweiz,
                                    verweist in diesem Zusammenhang
                                    auf eine grundsätzliche Erkenntnis:
                                    «Wir reduzieren uns nicht auf das, was
                                    wir nicht (mehr) können, sondern sehen
                                    uns als Menschen, die nicht wenig
                                    schaffen können und wollen.» Die
                                    Vertretung der Interessen von Men-
                                    schen mit Behinderungen gegenüber
                                    der Politik, Verwaltung, Wirtschaft und
                                    Öffentlichkeit ist dabei explizit etwa an
                                    die Teilnahme an Vernehmlassungen
                                    zu Gesetzesentwürfen und Anhörungen
                                    oder das Lobbyieren im Parlament
                                    gebunden. Die für Agile.ch zentralen
                                    Tätigkeiten sind denn auch mit dem
                                    Begriff «Selbstvertretung» zu fassen.
In Tandems sich zurechtfinden mit   Konkret: «Wir Menschen mit Behinde-
Langstock, TOM-POUCE®-Stock und     rungen sprechen für uns selbst, statt
im Vertrauen auf einen Blinden-     andere für uns sprechen zu lassen.
führhund. Fotos: Hervé Richoz       Wir reden mit, wirken und bestimmen

12
Schwerpunkt

mit, wo es um uns geht. Wir kennen
unsere Rechte und fordern sie ein.»
Nicht zuletzt aus Kapazitätsgründen
verzichtet wird hingegen auf Rechts-
beratung und Therapiegruppen.

Hilfe versus Selbsthilfe
Als nationale Selbsthilfeorganisation
sieht sich der SBV prioritär der gesell-
schaftlichen Inklusion und beruflichen
Integration verpflichtet. Nicht von un-
gefähr ist ihm an einer Differenzierung    Mit einem Sektionsausflug ins
zwischen Hilfe und Selbsthilfe gelegen:    Sensorium im Rüttihubelbad gemein-
«Direkte finanzielle Hilfen oder mit der   sam die Sinne schärfen. Foto: hr
Giesskanne verteilte Geldleistungen
sowie die Unterstützung von Freizeit-      setzt sich als Selbsthilfeorganisation
aktivitäten gehören nur bedingt dazu.      dafür ein, dass Patientinnen und
Ein hoher Prozentsatz der Betroffenen      Patienten mit Retinitis pigmentosa,
leidet unter finanziellen Schwierig-       Makuladegeneration, Usher Syndrom
keiten und Engpässen, die ihnen den        und anderen Erkrankungen des
Zugang zu Freizeitaktivitäten, Urlaub,     Augenhintergrundes eine präzise Dia-
Reisen und Hobbys verwehren. Dabei         gnose, Behandlung und Rehabilitation
geht es jedoch nicht um Selbsthilfe,       erhalten. Zwecks dieser Aufklärung
sondern um Hilfe.» Zudem ist für den       und Begleitung nutzt Retina Suisse die
Verbandsvorstand klar, dass der Ein-       Selbsthilfe als Schnittstelle zwischen
satz für integrative Gesetze noch lange    Medizin, Forschung und Wissenschaft
nicht abgeschlossen ist. Entsprechende     sowie Patientinnen und Patienten, um
Resultate würden sich überdies weit        deren Interessen gegenüber Gesell-
umfassender auswirken als finanzielle      schaft und Politik zu vertreten. Derweil
oder sonstige Unterstützung, die der       bekräftigt die CAB: «Wir nutzen die
Verband leisten kann. Ein gemeinhin        Möglichkeit, uns selbst zu helfen und
unterschätztes Engagement: «Leider         Entscheidungen zu treffen, die unserer
erkennen Mitglieder darin nicht immer      Behinderung entsprechen.»
den unmittelbaren Nutzen, den sie
sich wünschen.» Der Sektionenrat           Vielfalt der Selbsthilfe und Ziele
seinerseits betont: «Vordringlich bleibt   Wie aber ist die Vielfalt der Selbsthilfe-
die Aufwertung von Betroffenen, die        organisationen für Blinde und Seh-
sich sonst isoliert und nutzlos fühlen     behinderte in der Schweiz zu erklären?
würden.» Retina Suisse wiederum            Gründe dafür sind selbstredend

                                                                                   13
Schwerpunkt

bedarfsgerecht unterschiedliche Tätig-    aktuell an einer historischen Auf-
keitsschwerpunkte und Zielgruppen         arbeitung fehle, um darauf passende
wie auch historisch bedingte Entwick-     Antworten zu geben.
lungen, die zu keineswegs ungewöhn-       Diese Diversität erklären Variationen
lichen Abspaltungen führten. «Gesamt-     von Gründungsgedanken und Zielen
haft ergänzen sich diese Organisationen   von einigermassen grosser Bandbreite.
und sind je nach Region unterschied-      Geht die Gründung des für soziale
lich stark vertreten», so die Meinung     Einbindung einstehenden respektive
des SBV-Sektionenrats. Ähnlich prag-      der Isolation entgegenwirkenden SBV
matisch äussert sich der SBb: «Alle       im Jahr 1911 auf das zu Beginn des
diese verschieden grossen und des-        20. Jahrhunderts erstarkte Bestreben
halb mehr oder weniger persönlichen       nach mehr Eigenständigkeit und
Organisationen haben wohl dasselbe        Selbstständigkeit im Gefolge der Los-
Ziel: Betroffene zu unterstützen. Und     lösung von der Gunst gutmeinender
diese können dort Mitglied sein, wo       Gönner/-innen und der Grosszügigkeit
sie sich wohl fühlen – wie bei Kranken-   von Wohlhabenden zurück, wurde der
kassen oder Versicherungen auch.»         Blindenbund 1958 aus dem Gedanken
Aus Sicht des SZBLIND schliesslich        gegründet, die finanzielle und materielle
würden häufig moralisch gefärbte          Unterstützung von Betroffenen zu
Schuldzuweisungen weder zum               stärken. Die CAB verfolgte 1933 mit
besseren Verständnis noch zur             ihrer Gründung das Ziel, Selbstbestim-
Bereitschaft beitragen, gemeinsam         mung und Selbstständigkeit sowie
Änderungen anzustreben. Zumal es          inzwischen nicht mehr nur katholisch

Die Bildungs- und Begegnungszentren (BBZ) des SBV, wie hier in Bern,
pflegen die gegenseitige Unterstützung und wechselseitige Hilfe wie auch
das Miteinander am Mittagstisch. Fotos: Markus A. Jegerlehner

14
Schwerpunkt

geprägte Integration auch in religiöser
Hinsicht zu leben. Seit 1979 befähigen
sich Retina Suisse und ihre Mitglieder
gegenseitig, ihre Anliegen der Fach-
welt und der breiten Öffentlichkeit
bekannt zu machen. 1951 als ASKIO
(Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer
Kranken- und Invaliden-Selbsthilfe-
organisationen) gegründet, engagiert
sich die daraus hervorgegangene
Dachorganisation Agile.ch heute             Selbsthilfe am Jasstisch: Mit Low-
weiterhin für die Existenzsicherung         Vision-Karten können auch Betrof-
und Gleichstellung von Menschen mit         fene mitspielen. Foto: Hervé Richoz
Behinderungen. Der SZBLIND wurde
1903 von den leitenden Vertretern der       leistungen, die von den einzelnen
damaligen Blindenorganisationen ABA         Mitgliedorganisationen zum Beispiel
und OBV (heute: obvita) gegründet –         aus Gründen der Effizienz delegiert
mit dem erstrangigen Ziel, die gemein-      werden, also etwa Koordination der
samen Interessen gegenüber dem              Interessenvertretung, Forschungs-
Bund wahrzunehmen.                          bestrebungen zu Phänomenen der
                                            Sehbehinderung, Subventionswesen
Profilierte Dienstleistungen                auf Bundesebene oder Aufrecht-
All dies spiegelt sich in profilierten      erhaltung von nationalen Fachkommis-
Dienstleistungen, seitens SBV und SBb       sionen, auch im Sinne von Qualitäts-
insbesondere mit Beratungsstellen und       zirkeln. Getreu des vordringlichen
Kursen, organisierten Aktivitäten und       Engagements auf Ebene von Politik
Ausflügen, seitens CAB ausser Kursen        und Interessenvertretung legt Agile.ch
und Beratung mit organisierten Reisen,      Gewicht auf Medien- und Öffentlich-
seitens Retina Suisse – neben der           keitsarbeit, flankiert von Veranstaltungen
zentralen Vermittlung von Informatio-       zu behindertenpolitischen Fragen.
nen zur Diagnose, Behandlung und            So gesehen, bleibt Selbsthilfe auch
Rehabilitation – auch mit Sozialberatung,   weiterhin unerlässlich. Für Agile.ch,
öffentlichen Veranstaltungen samt           «weil wir die Expertinnen und Experten
spezialisierten Referenten und mit          in eigener Sache sind und dort mitreden
Selbsthilfegruppen. Als Dachverband         wollen, wo es um uns geht». Aus Sicht
bietet der SZBLIND Leistungen an,           des SBb namentlich deshalb, «damit
welche die Interessen der einge-            sich die Betroffenen weiterhin mit ihren
bundenen Organisationen alimentieren.       Anliegen beschäftigen und sich nicht
Dazu gehören vorrangig Kollektiv-           weiter zu einer bereits bestehenden

                                                                                    15
Schwerpunkt

Art Konsumgesellschaft entwickeln».          die Glaubwürdigkeit der Behinderung,
Gänzlich unmissverständlich formuliert       damit wir die Inklusion in für sie günsti-
es der SZBLIND: «Wir erachten den            gen Gesetzen verankern können. Und
Antrieb zur Selbsthilfe als archetypische,   im Unterschied zu all jenen, die sich
existentielle menschliche Triebfeder zur     engagiert für uns stark machen, ohne
freien Selbstentfaltung. Versuche an-        eine Behinderung am eigenen Leib zu
derer, diesen Anspruch zu unterdrücken       erleben, können wir diese nicht ab-
und zu brechen, sind vielfältig und          streifen», hält der SBV-Vorstand fest.
haben allesamt totalitären Charakter.»       Derweil fragt sich der SBb, ob Inklusion
                                             wirklich realisierbar sei. Unbesehen
Selbsthilfe und Inklusion                    davon gelte es weiterhin, die Be-
Die Verknüpfung von Selbsthilfe und          hinderung zu zeigen, ohne zu jammern.
Inklusion, also gesellschaftlicher Inte-     Für Agile.ch ist Inklusion nur zu erlan-
gration, wird als nicht weniger grund-       gen, wenn neben der Politik, Verwal-
sätzlich eingestuft. «Für die Sensibili-     tung, Wirtschaft und Öffentlichkeit die
sierung von Nicht-Betroffenen gibt es        Menschen mit Behinderung selbst
keine besseren Vorbilder als Men-            aktiv dazu beitragen. Die Selbsthilfe
schen mit Behinderung, die im Alltag         unterstütze und befähige Betroffene,
fest in die Gesellschaft eingebunden         ihre Bedürfnisse und Interessen
sind. Unsere Mitglieder untermauern          durchzusetzen und fördere die Teilhabe
                                             am politischen und gesellschaftlichen
                                             Leben. Letztlich aber sei Inklusion in
                                             erster Linie eine grundlegende Haltung,
                                             die von möglichst vielen Menschen
                                             getragen und gelebt werden müsse,
                                             damit die Gesellschaft tatsächlich auch
                                             inklusiv werde. Die ungeschminkte
                                             Haltung des SZBLIND: «Die Inklusion
                                             strebt einen fliessenden Übergang der
                                             Anpassungsleistung von Nicht-Behin-
                                             derten für Behinderte und Behinderten
                                             für Nicht-Behinderte an und scheint
                                             uns ein vernünftiger Ansatz zu sein,
                                             der jenem der Selbsthilfe vermutlich
                                             kaum widerspricht.»

Unter Anleitung in einer Workshop-           Selbsthilfe der Zukunft
Gruppe die Kenntnisse einer GPS-             Vor diesem Hintergrund sind auch
App vertiefen. Foto: Hervé Richoz            zentrale Aspekte der künftigen

16
Schwerpunkt

Gestaltung und Organisation der                  •S  teigern des Stellenwerts der Selbst-
Selbsthilfe einzuordnen:                           hilfe, falls Inklusion und Integration
•B  ehinderungsübergreifende Zu-                  inklusive Umsetzung der Behinder-
   sammenarbeit der Organisationen                 tenrechtskonvention weiterhin nicht
   von Menschen mit Behinderung                    der Norm entsprechen.
   samt optimaler Arbeitsteilung.                • Ins Boot holen von jüngeren Gene-
• Analyse nicht nur der Stärken, son-             rationen der Betroffenen, die viel-
   dern auch der Schwächen und Gefah-              leicht (noch) nicht so viel von Selbst-
   ren der Selbsthilfe zwecks nüchterner           hilfe halten.
   und unbefangener Klärung des Be-              •E  inigung auf einen gemeinsamen
   griffs auf verständlichem Fundament.            Weg der verschiedenen Organisa-
• Konzentration auf den Ausbau der                tionen insbesondere im Bereich
   eidgenössischen und der kantonalen              Interessenvertretung.
   Gesetzgebung mit dem Ziel, die                •B  ündelung der gemeinsamen
   gesellschaftlichen Akteure zur                  Themen, damit letztere grösseres
   Einhaltung gewisser Vorgaben                    Gewicht erhält – getreu der Devise:
   zu verpflichten.                                «Nichts über uns ohne uns!»

Inserat

  Eile mit Weile – das beliebte
  Brettspiel neu produziert
  • Kontrastreich & taktil
  • Magnetspielfiguren (kein Verrutschen mehr möglich)
  • Hochwertige Materialien (Holzspielfiguren,
    taktile Klebefolie, robustes Spielbrett)

  Preis: CHF 45.00
  Artikelnummer: 10.112

  Bestellung unter 062 888 28 70
  oder per E-Mail: hilfsmittel@szblind.ch.

                                                                                        17
Schwerpunkt

Selbsthilfe als Geschenk an die Gemeinschaft
Hervé Richoz, Redaktor «Clin d’œil»

Oft unversehens mit visuellen Einschränkungen konfrontiert, leben die
landesweit 370’000 sehbehinderten Menschen heute in einer individuali-
sierten Welt voller Barrieren, in der ein Bild mehr als tausend Worte sagt.
Viele müssen sich lange allein «durchschlagen», bis sie eine vom SBV seit
1911 geförderte Selbsthilfe im besten Sinne kennenlernen: in der Gemein-
schaft mit Menschen mit den gleichen Problemen, die Verständnis haben,
die geben und nehmen.

Odettes Leben verlief normal, ehe           Haben sie diesen Schritt einmal getan,
sie mit 65 Jahren eine altersbedingte       werden sie an neue Ausdrucksformen
Makuladegeneration (AMD) einholte.          ihrer Ressourcen «herangeführt», in
Pierre wusste früh von seiner Netz-         für sie wichtigen Tätigkeiten «unter-
haut-Dystrophie (RP), die zunehmend         stützt», in ihrem Anderssein «be-
Leiden mit sich brachte. Marcel musste      stätigt» oder in neuen Fertigkeiten
mit über 40 Jahren akzeptieren, dass        wie dem Umgang mit modernen
seine Lebererkrankung auch seine            Technologien «geschult».
Augen schädigt. Bernadette wiederum
bereitete ihr Glaukom Augenschmerzen,       Fundamentale Solidarität
die alles überschatteten. Ist familiärer    Heute können sich sehbehinderte
Rückhalt nach desillusionierenden           Menschen überall informieren und sich
Besuchen bei Optikern und Augen-            an unzählige Fachleute, Spezialisten
ärzten an Grenzen gestossen, wird           und Organisationen wenden, die ihre
das Universum dieser Menschen mehr          Inklusion fördern und verteidigen. Man
und mehr zu einer Parallelwelt, die ihr     könnte glauben, alles sei längst in
Umfeld hilflos macht und zuweilen           bester Ordnung. Wäre da nicht daran
Herablassung oder nur um die eigenen        zu erinnern, dass dieses hilfreiche
Gefühle kreisende Unsicherheit ein-         Netzwerk erst seit Ende der 1980er
schliesst, bevor sich – vielleicht – doch   Jahre besteht. Einst waren Betroffene
Unterstützung durchsetzt. Meist ist das     auf die Gunst von Wohlmeinenden
der Moment, in dem Betroffene sich          angewiesen, die unbedingt Gutes tun
regionalen Selbsthilfegruppen zu-           wollten, ohne dabei vorhandene Fähig-
wenden und so erfahren, dass sie            keiten und Wünsche immer zu beachten.
Anspruch auf Hilfe haben, dabei ihren       Claudine Damay, früher selbst Aktivis-
Wert entdecken und lernen, wie sich         tin, bringt es lachend auf den Punkt:
vieles einfacher handhaben lässt.           «Ob jemand blind oder sehbehindert

18
Schwerpunkt

war, machte keinen Unterschied. Alle
mussten Braille lernen, weil man davon
ausging, dass sie alle irgendwann
erblinden würden.» Gerade diese Ge-
meinsamkeit schmiedete feste Bande
gegenseitiger Hilfe und Solidarität über
Generationengrenzen hinweg: «Weil
es einfach nichts gab, legte man Wert
darauf, selbst zu helfen, wenn man
Hilfe in Anspruch nehmen wollte», hält
die 66-Jährige aus Lausanne fest. Nun
hat die Covid-19-Pandemie gezeigt,
dass sich die Selbsthilfe durchaus         Unbeschwerter Austausch zur Be-
neu zu erfinden vermag (siehe Juni-        dienung von Smartphones. Foto: hr
Ausgabe 2/2020).
Für Menschen, die plötzlich mit einer      oft am hilfreichsten. Dafür sprechen
Sehbehinderung konfrontiert sind, ist      etwa die WhatsApp-Gruppe der Apfel-
der Zugang zu unterstützenden Netz-        schule («ApfelTalk») oder aber alle, die
werken nicht selten schwierig, wie         mit ihren soliden iPhone-Kenntnissen
Rania Python, Koordinatorin der Ge-        anderen beistehen.
sprächsgruppen von Retina Suisse           Nicht zuletzt bedeutet Selbsthilfe,
(siehe auch Seite 24) in der Romandie,     «konsumorientierte» Erwartungen
betont: «Neu Betroffene müssen erst        hintanzustellen, zum Beispiel in Kursen
akzeptieren, Hilfe von anderen anzu-       das Tempo anderer zu respektieren
nehmen, zu denen sie eigentlich nicht      und sich über jeden persönlichen und
gehören möchten. Und sie müssen ihr        gemeinsamen Fortschritt zu freuen.
eigenes Leiden ebenso überwinden           Für den bald 73-jährigen Genfer Gowri
wie den Wunsch, jemand anders zu           Sundaram, der als langjähriges SBV-
sein.» Die ältere Generation ihrerseits    Mitglied die Räumlichkeiten seiner
dürfe sich nicht zu Eifersüchteleien       «Maison de Bonheur» für Treffen und
und Intrigen hinreissen lassen, gibt der   Kurse zur Verfügung stellt, ist Selbst-
in Le Mont-sur-Lausanne praktizierende     hilfe denn auch ein «überaus wertvolles»
Psychologe Vincent Ducommun zu             Geschenk an die Gemeinschaft, das
bedenken, zumal Hilfsbereitschaft          einer inneren Haltung entspricht.
nicht etwa angeboren, sondern viel-        Jean-Marc Meyrat, Verantwortlicher
mehr erworben sei. Generell erweist        Apfelschule Westschweiz, schliesslich
sich die Unterstützung von Betroffe-       sagt es so: «Selbsthilfe bedeutet
nen, die ihre entscheidenden Kompe-        immer geben und nehmen – und
tenzen einbringen und teilen, überdies     nur schon ein Merci genügt!»

                                                                                19
Schwerpunkt

Verbindende Erfahrungen unter Gleichaltrigen
Céline Witschard, Mitglied der Sektion Genf

Als selbstständige Berufscoachin              ist im Sinn von «Hilfe zur Selbsthilfe»
und SBV-Mitglied (32) mit der                 eigentlich positiv konnotiert. Dennoch
initiativen Aufgabe, der jüngeren             ist mir im beruflichen und privaten
Generation der Genfer Sektion neue            Umfeld aufgefallen, dass die Endung
Impulse zu geben, beobachte ich,              «aide» Menschen mit und ohne Seh-
dass der Begriff «Selbsthilfe» von            behinderung nicht selten in die Defen-
Betroffenen dieses Alters oft nega-           sive treibt. Denn: Wer Hilfe von
tiv wahrgenommen wird. Vielmehr               anderen annimmt, zeigt damit, dass
bevorzugen Junge alternative                  er bestimmte Schwierigkeiten hat
Bezeichnungen wie «Unterstützung»             oder einer Situation womöglich nicht
oder «Begleitung», die weniger mit            gewachsen ist. Und sich dies einzu-
einer Abhängigkeit von anderen in             gestehen, ist nicht leicht.
Verbindung gebracht werden.
                                              Aktivitäten, Gespräche, Humor
Interessanterweise wird der Begriff           Im Kreis der jüngeren Mitglieder der
«Entraide» im Larousse-Wörterbuch             Sektion Genf versuchen wir, diese nicht
als «wechselseitige Hilfe» definiert und      wörtlich genommene Selbsthilfe sozu-
                                              sagen durch die Hintertür auf dem Um-
                                              weg über Aktivitäten, Gespräche und
                                              Humor zu verankern! Wenn wir uns bei
                                              einem Glas Wein oder einem Bier offen
                                              über unseren Alltag, unsere Lebens-
                                              erfahrungen, unsere Reiseerlebnisse
                                              austauschen oder lustige Begebenheiten
                                              erzählen und zusammen lachen, ist das
                                              nichts anderes als wechselseitige Hilfe
                                              zur Selbsthilfe, auch wenn wir das nie-
                                              mals so nennen würden.
                                              Man fühlt sich einfach wohler, wenn
                                              man erlebt, nicht als Einzige Situatio-
                                              nen unterworfen zu sein, die manch-
Jugendlicher Schwung in den West-             mal komisch sind, bisweilen aber auch
schweizer Sektionen: Selfie der Gen-          nicht. Nach einem Gespräch mit
ferin Céline Witschard und des Frei-          Gleichaltrigen, die noch viel schlechter
burgers Antoine Robert. Foto: zVg             sehen, aber viel gelassener und positi-

20
Inserat

ver mit ihrer Sehbehinderung um-                                           stiftung AccessAbility
gehen, lässt sich die eigene Seh-
                                                                      gemeinnützige stiftung für
schwäche jedenfalls ganz automatisch                                   sehbehinderte und blinde
leichter akzeptieren. Ohne bewusst
Vorbild sein zu wollen, helfen die                       Sie stehen als Betroffene, als
besonders selbstständigen, unter-                        Betroffener für uns im Zentrum.
nehmungslustigen jungen Betroffenen
dabei indirekt denen, die noch Mühe                      Wir sind Ihre herstellerunabhängige
                                                         Beratungsstelle für EDV- und elek-
haben, ihre Behinderung anzunehmen.                      tronische Hilfsmittel und testen für
                                                         Sie Produkte der Zukunft.
Motivierender Austausch
Was könnte motivierender sein als der                    Compact 10 HD Speech – und es
Austausch mit Gleichaltrigen, die sich                   klappt mit dem Vorlesen!
                                                         Die aufklappbare Kamera
trotz Sehbehinderung beruflichen                         ermöglicht ein einfaches Erfassen
Herausforderungen stellen, dem Sport                     eines Dokuments im A4-Format
widmen, die Welt bereisen und voller                     und sorgt somit für ein qualitativ
Ideen und Talente stecken? Allein                        einzigartiges Vorlese-Resultat.
                                                         Auch Handnotizen tätigen und
durch unser eigenes Wesen helfen                         Objekte betrachten ermöglicht Ihnen
wir uns gegenseitig ohne viele Worte,                    das neue 10-Zoll-Bildschirmlesegerät
indem wir andere, die sich mit ihrer                     von Optelec.
Sehschwäche noch nicht wirklich
abgefunden haben, dazu ermutigen,
einfach nur sie selbst zu sein und das
Potenzial ihrer vielseitigen Persönlich-
keit zur Entfaltung zu bringen!

Inserat

                                                         Testen Sie die Zukunft schon
   «Das Echte bleibt
                                                         heute in einer der Filialen der
       der Nachwelt unverloren.» (Goethe)
                                                         Stiftung AccessAbility.
 Ihr Legat oder Ihre Trauerspende wirken weiter:
 Sie helfen damit, das Schicksal von blinden und
                                                         Informieren Sie sich bei:
 sehbehinderten Menschen zu erleichtern.
                                                         Luzern                   041   552   14   52
 Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband      St. Gallen               071   552   14   52
 Könizstrasse 23, Postfach, 3001 Bern
 031 390 88 00 | spenderdienst@sbv-fsa.ch | sbv-fsa.ch
                                                         Bern                     031   552   14   52
                                                         Neuchâtel                032   552   14   52
                          Spendenkonto 30-2887-6         www.accessability.ch   info@accessability.ch

                                                                                                    21
Schwerpunkt

Klinische Tests im Zeichen der Selbstlosigkeit
Dr. Céline Moret, Bioethikerin, Universität Genf

Vor seiner Marktzulassung muss ein neues Arzneimittel in klinischen
Tests an freiwilligen Probanden getestet werden. Im Zusammenhang mit
dem Schwerpunkt-Thema dieser Ausgabe gilt es, den Stellenwert der
Selbsthilfe und ihren Platz in der medizinischen Forschung hervorzuheben
– vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie erst recht.

Die Teilnahme an einem klinischen
Versuch mit einem neuen Medikament
entspricht in erster Linie einer selbst-
losen Haltung. Ziel der medizinischen
Forschung ist es, mit streng wissen-
schaftlichen Methoden die Wirksamkeit                            Céline Moret.
einer Therapie zu prüfen und ihre                                Foto: Francine
Nebenwirkungen zu identifizieren. Ein                            del Coso
positives Ergebnis lässt sich dabei nie
garantieren. Wer die Teilnahme an            gewährleistet ist. Dabei wird in erster
einem solchen Test erwägt, sollte sich       Linie deren Nutzen im Verhältnis zu den
dessen bewusst sein, um keinen un-           Risiken bewertet, denen die Probanden
realistischen Erwartungen zu unter-          ausgesetzt sind. Die Erfahrung und die
liegen. Nützlich ist die Teilnahme von       Lebenssituation der Betroffenen werden
Probanden an einem klinischen Ver-           damit endlich als echte Kompetenzen
such allerdings immer – für alle ande-       anerkannt und kommen den anderen
ren Betroffenen, denn die Erkenntnisse       Patienten zugute.
aus der Studie sind für den Fortschritt      Einige von Ihnen werden beim Lesen
der Medizin unerlässlich. Die Freiwilli-     dieser Zeilen vielleicht denken, die Welt
gen, die sich heute dafür stark machen,      der Forschung sei weit weg von den
ermöglichen damit vielleicht die             eigenen Alltagssorgen, aber in Wahr-
Heilung der Patienten von morgen!            heit sind wir alle betroffen. Wenn zum
Seit Inkrafttreten des Humanforschungs-      Beispiel eines Tages ein Impfstoff
gesetzes (HFG) 2014 nehmen die Be-           gegen das Corona-Virus zur Verfügung
troffenen selbst Einsitz in den Ethik-       steht, dann verdanken wir ihn sorgfältig
Kommissionen der Forschung. Seite            durchgeführten klinischen Versuchen
an Seite mit Medizinern, Bioethikern         und vor allem den Freiwilligen, die ge-
und Juristen prüfen sie, ob der Schutz       sundheitliche Risiken in Kauf nehmen,
der Teilnehmenden an klinischen Tests        um unsere Gesundheit zu schützen.

22
Schwerpunkt

Teil einer Gemeinschaft sein
Sarah Wyss, Geschäftsleiterin Selbsthilfe Schweiz

Die schweizweit über 2’500 Selbst-         Werdens helfen. Aktiv in der Selbsthilfe
hilfegruppen zeichnen sich durch           zu sein bedeutet, Teil einer Gemein-
reiche Vielfalt zu über 300 verschie-      schaft zu sein. Kurz: Die Selbsthilfe lebt
denen Themen aus: von A wie Angst-         von einer gesunden Mischung zwi-
störungen bis Z wie Zöliakie – der-        schen Selbstverantwortung und Solida-
zeit vermehrt auch mit Gruppen zu          rität. Selbsthilfegruppen entsprechen
Einsamkeit und Hochsensibilität.           somit durchaus einem Abbild unserer
                                           demokratischen Gesellschaft.
In Selbsthilfegruppen schliessen sich
Menschen in gleichen oder zumindest        Aufholbedarf in der Westschweiz
ähnlichen Lebenslagen zusammen, um         In der Schweiz gibt es inzwischen 20
sich gegenseitig zu helfen. In einer       regionale Selbsthilfezentren (www.
herausfordernden Situation alltägliche     selbsthilfeschweiz.ch/regionen), die
Schwierigkeiten gemeinsam meistern         den Überblick über bestehende und
ist jedenfalls weit einfacher, als sich    geplante Selbsthilfegruppen ihres
allein auf weiter Flur durchzuschlagen.    Zuständigkeitsgebiets gewährleisten
Aufmunternde Worte, praktische Tipps,      sowie Anlauf-, Beratungs- und Infor-
insbesondere ein Gefühl des Verstanden-    mationsstellen für und über Selbsthilfe-
                                           gruppen sind. Während in der
                                           Deutschschweiz fast alle Kantone –
                                           Ausnahme ist Glarus – ein zuständiges
                                           Selbsthilfezentrum haben, sind wir in
                                           der Romandie noch nicht so weit.
                                           Die (noch) fehlende örtliche Präsenz
                                           schlägt sich denn auch in der Anzahl
                                           bereits existierender Selbsthilfegruppen
                                           nieder. So ist die Dichte der Selbst-
                                           hilfegruppen in der Deutschschweiz
                                           deutlich höher als in der Westschweiz.
                                           Eine 2017 erschienene Studie zeigt
                                           eindrücklich, dass das Entwicklungs-
                                           potential der Selbsthilfe noch lange
                                           nicht ausgeschöpft ist, zumal für
Wertvoller Austausch in einer              bestimmte Bevölkerungsgruppen
Selbsthilfegruppe. Foto: zVg               zahlreiche Zugangshürden bestehen.

                                                                                   23
Schwerpunkt

Für eben solche                             näher zu bringen. Davon werden auch
Zielgruppen hat                             mobilitätseingeschränkte Personen
Selbsthilfe                                 profitieren können. Nicht zuletzt konnte
Schweiz in ihrer                            im Sommer 2020 auch das Pilotprojekt
Funktion als nationale Dienst- und          «selbsthilfefreundliche Spitäler» abge-
Koordinationsstelle ein Projekt wie         schlossen werden, das kurz vor einer
Femmes-Tische Schweiz lanciert,             schweizweiten Implementierung steht.
welches bei den Schlüsselpersonen der       Ziel ist die Stärkung der Gesundheits-
Migrationsbevölkerung ansetzt – mit dem     kompetenz, das Aufrechterhalten des
Ziel, die sprachlichen und kulturellen      eigenen Gesundheitszustands und die
Hürden zu reduzieren. Ebenso die kon-       Verbesserung der Lebensqualität
sequent ausgebaute virtuelle Selbst-        (www.selbsthilfefreundlichkeit.ch). Dem-
hilfe, um jungen Menschen die Selbsthilfe   nach ist einiges in Gang gekommen!

 Nicht für mich oder nicht jetzt?
 Das Auftreten respektive Bewusstsein einer genetisch oder funktionell bedingten
 Beeinträchtigung der Sehkraft ist für 370'000 Menschen in der Schweiz (Daten
 SZBLIND) ein echtes Erdbeben, das in jedem Alter einen mehr oder weniger
 langen Prozess auslöst. Hauptanliegen im Zusammenhang mit dem Verlust des
 Sehvermögens ist die Notwendigkeit medizinischer und wissenschaftlicher Ant-
 worten. Betroffene mit entsprechenden Informationen auch aus der Forschung
 zu versorgen, hat sich Retina Suisse (www.retina.ch) zur prioritären Aufgabe
 gemacht. Zumal sich (neu) mit einer Sehbehinderung konfrontierte Klienten in
 diesem Stadium nicht in eine Zukunft mit unscharfen Konturen projizieren oder
 neben Menschen stehen möchten, deren relative Autonomie schwer vorstellbar
 ist. Nicht von ungefähr bestätigen Teilnehmende der «Retina»-Gesprächsgrup-
 pen, dies sei ihre erste Lebensader. Menschen in ihrer Umgebung würden die
 Chancen und das Potenzial der Selbsthilfe überdies besser wahrnehmen.
 Nicht weniger elementare Unterstützung finden «zu gegebener Zeit» gerne auf-
 genommene Betroffene beim SBV (www.sbv-fsa.ch) – im Wissen darum, dass
 jeder Weg individuell verläuft und gewissermassen einem eigenen Rhythmus
 folgt. Nach und nach geschehen so kleine oder grössere «Wunder», zum einen
 durch die verbandseigenen Beratungsstellen, deren Fachspezialisten «geniale»
 Hilfsmittel vorschlagen, zum andern durch die vielfältigen Dienstleistungen der
 regional verankerten 16 Sektionen. So vermögen Betroffene ihren Platz, ihre
 Lebensfreude und Würde zurückzugewinnen, sei es mit Sport, sei es mit der
 Teilnahme an Sektionsaktivitäten, angebotenen Kursen und Workshops samt der
 Entdeckung eines freundschaftlich hilfreichen Netzwerks. Willkommen!           hr

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Verbandsleben

Standpunkt
Monika Baumann, Präsidentin Sektion Ostschweiz

Liebe Leserin, lieber Leser
Anlässlich der diesjährigen Haupt-
versammlung unserer Sektion Ost-
schweiz durfte ich gegen Ende
Februar das Präsidium von Giuseppe
Porcu übernehmen. Bereits ab August
2019 hatte ich an den Vorstands-
sitzungen teilgenommen. Aufgrund                              Monika Baumann.
dieser Einblicke entdeckte ich eine                           Foto: SBV
neue Herausforderung. Ich selbst bin
sehbehindert, die meisten Vorstands-     Bibliothek für Blinde, Seh- und Lese-
mitglieder sind sogar blind. Nicht       behinderte in Zürich. Am PC wiederum
zuletzt dies gab mir den Mut, die        vertraue ich auf ZoomText, eine
Aufgabe als Sektionspräsidentin zu       Vergrösserungs-Software mit Sprach-
übernehmen.                              ausgabe. Beim Lesen schliesslich
Seither habe ich gelernt, meine Be-      dient mir eine elektronische Visolux-
hinderung zu akzeptieren. Im Kreis       DIGITAL-XL-FHD-Lupe auch für eine
unseres Vorstands wurde mir mehr         mobile Anwendung.
und mehr bewusst, dass es für Blinde     Blindheit und Sehbehinderung haben
und Sehbehinderte diverse Hilfsmittel    direkte Auswirkungen auf viele Bereiche
gibt, die auch mir nützen. Das Angebot   des täglichen Lebens. Oft ist es nötig
reicht von weissen Stöcken über tast-    oder aber unabdingbar, sich anders
bare und sprechende Uhren bis zu         als Sehende einzurichten und zu
Kommunikationshilfen wie benutzer-       organisieren, um ein ausgefülltes und
freundliche Telefone mit grossen         selbstbestimmtes Leben zu führen.
Tasten, kontrastreichem Bildschirm       Inzwischen ist mir klar, dass jene Selbst-
und einfacher Menüführung. Unschätz-     hilfe unerlässlich ist, die Betroffene mit
bare Vorteile bietet insbesondere        ähnlichen Lebenssituationen, denselben
das iPhone, etwa mittels VoiceOver       Problemen, einem gemeinsamen
für Fahrplan-Abfragen oder Weg-          Anliegen zwecks gegenseitiger Hilfe
beschreibungen. Zudem schätze ich        zusammenbringt. Selbstbestimmung
die App «SBS Leser Plus» (für iOS),      und Selbstverantwortung, Hilfe und
inklusive Abspiel- und Download-         Solidarität sind die wichtigsten Merk-
Möglichkeit für Hörbücher und            male dieser Selbsthilfe – getreu dem
E-Books der SBS Schweizerischen          Motto: Gemeinsam weiterkommen!

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