Der Weg Mit Leser-wettbewerb - SBV-FSA.ch
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Inhaltsverzeichnis Editorial 3 Selbsthilfe als Geschenk an die Gemeinschaft 18 Forum 4 Verbindende Erfahrungen unter Optimierte Smartphone- Gleichaltrigen 20 Kommunikation 4 Klinische Tests im Zeichen Zehn Jahre «Regards Neufs» 5 der Selbstlosigkeit 22 «Canne blanche» 2020 für App Teil einer Gemeinschaft sein 23 «SBB Inclusive» 6 Verbandsleben 25 Menschen 7 Standpunkt 25 Marie-Pierre Assimacopoulos – Veranstaltungen 26 Getragen von Zuversicht 7 SBV-Intern 30 Schwerpunkt 11 TWS 2020 – Fahrzeuglenkenden Existentielle Triebfeder zur freien blindlings vertrauen können 30 Selbstentfaltung 11 Leserwettbewerb 31 Impressum Mitgliederzeitschrift des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands SBV im 107. Jahrgang. Sie erscheint viermal im Jahr in Grossdruck, in Braille, als Daisy-CD, im Elektronischen Kiosk und im Web sowie auf Bestellung per E-Mail (ohne Fotos) und auf VoiceNet (031 390 88 88, Rubrik 2 5 1) in Deutsch und Französisch («Clin d’œil»). In SBV-Mitgliedschaft inbegriffen. Für Nichtmitglieder: CHF 28.– (Inland), CHF 34.–. Herausgeber: Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, Könizstrasse 23, Postfach, 3001 Bern, www.sbv-fsa.ch Redaktion: SBV, 3001 Bern, 031 390 88 00, redaktion@sbv-fsa.ch, Roland Erne (rer), Hervé Richoz (hr) Übersetzungen: Apostroph Bern AG, Jolanda Schönenberger Foto Titelbild: Ist Marie-Pierre Assimacopoulos (42) in Genf – wie hier beim Ein- kaufszentrum und Stadion La Praille in Lancy – unterwegs, möchte sie ihr Smartphone wie auch ihren Langstock nicht missen. Foto: François Schaer. ISSN-Nummern: 1422-0490 (Print), 2296-2018 (Braille), 2296-2026 (Audio) Layout und Druck: Ediprim AG, Biel/Bienne Braille: Anton Niffenegger Audio: Markus Amrein, Bern Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: Freitag, 31. Oktober 2020 Druck auf umweltfreundliches 2 FSC-Papier
Editorial Liebe Leserinnen und Leser Wenn es ein Bedürfnis gibt, das unge- fragt auftritt, in schweren Zeiten in den Vordergrund tritt, ebenso reift wie die Seele und letztlich dem Leben einen Sinn verleiht, dann ist es… die Selbst- hilfe! Sie ist – nicht von ungefähr – denn auch das Schwerpunkt-Thema Hervé Richoz. dieser Ausgabe, zumal sich um diesen Foto: Isabelle mithin für Konfusion sorgenden Begriff Favre nicht wenige Missverständnisse ranken. Vereine schreiben ihn sich auf die Barrieren dieser Welt zutage. Damit Fahne, die Gesellschaft schwingt ihn Betroffene in die Lage versetzt werden, wie ein Schwert, Verbände versuchen, wieder auf eigenen Füssen zu stehen, ihn in Konzepte umzusetzen. Vor allem eigene Konzepte zu entwickeln, sich in aber gewinnt er in diesen Tagen seine die Gesellschaft und in die Arbeitswelt menschliche Dimension zurück: mit zu integrieren, sind sie auf Akzeptanz Geschichten von Menschen wie der in ihrem «Anderssein» angewiesen. porträtierten Genferin Marie-Pierre Genau dies war bei der Gründung Assimacopoulos, die im Alltag hautnah des SBV 1911 ausschlaggebend. erleben, was Selbsthilfe bedeutet. Weitere Beiträge dieses Hefts sind Unbesehen davon galt es, den Bedeu- dem 10-jährigen Bestehen von tungsinhalt der Bezeichnung «Selbst- «Regards Neufs» und der innovativen hilfe» zu klären – mit einer Umfrage Smartphone-Tastatur «help2type» unter den im Schweizer Sehbehinderten- gewidmet, die Sie in unserem Leser- wesen tätigen Organisationen und wettbewerb gewinnen können. Im Dachorganisationen. Lesen Sie die Vorfeld des TWS 2020 wiederum fundamentale Auslegeordnung dazu, unterstreicht der Präsident des flankiert von Gastbeiträgen der jungen Schweizerischen Fahrlehrerverbands Genferin Céline Witschard, der promo- mit Blick auf die für Betroffene elemen- vierten Bioethikerin Céline Moret und tare Sicherheit im Strassenverkehr von Sarah Wyss, Geschäftsleiterin die Bedeutung des derzeit revidierten Selbsthilfe Schweiz. Zudem: Hilfe Verkehrskunde-Unterrichts. oder Selbsthilfe, Wohltätigkeit oder Ich wünsche Ihnen ein sanftes Ein- Beistand, fertige Lösung oder offenes tauchen in die vielfältigen Facetten der Ohr, Dienstleistung oder Unterstützung Selbsthilfe und eine angenehme Lektüre. – jede Epoche brachte die Schwächen und auf vielerlei Weise «behindernde» Hervé Richoz 3
Forum Optimierte Smartphone-Kommunikation Roland Erne, Redaktor «der Weg» Mit «help2type» hat Marcel Roesch, allen Smartphones (iOS und Android) seit seiner Kindheit nahezu blind, anbringen lässt. Die nach einer Test- im Zeichen exemplarischer Selbst- phase mit sechs verschiedenen 3D- hilfe eine flexible Tastatur mit fühl- Druck-Layouts evaluierte Endversion barem Feedback entwickelt, die das enthält sämtliche Funktionen einer Schreiben auf dem Smartphone Laptop-Tastatur, darunter eine Funk- erleichtert – schnell und überall. tions- und Command- (für Sonder- zeichen etc.) sowie eine Enter- und Smartphones sind aus dem Alltag Lösch-Taste, wobei fast alle Tasten nicht mehr wegzudenken und haben dreifach belegt sind (siehe Tutorials sich für Menschen mit einer Sehbeein- auf www.help2type.ch). trächtigung längst als unerlässlich Forschung und Design für «help2type» erwiesen. Dennoch haben sich Defizite begleitet hat das Bieler Innovations- erhalten. Ein Beispiel: Das Tippen auf unternehmen Creaholic SA des Swatch- einer Touch-Tastatur ist fraglos müh- Miterfinders Elmar Mock. Die von wei- selig geblieben. Und Sprachnachrichten teren Geschäftspartnern mitgetragene sind kaum vom Nachteil der leicht Entwicklung der innovativen Tastatur einmal geritzten Privatsphäre zu ent- möglich gemacht hat auch die Unter- koppeln. Genau da setzt die vom lang- stützung des Arbeitgebers: zum einen jährigen SBV-Mitglied Marcel Roesch durch ein Swisscom-Startup-Förde- entwickelte Tastatur «help2type» an. rungsprogramm, zum anderen durch Der 41-jährige Leiter des für interne firmeneigenes Sponsoring. Das Pro- Videoproduktionen verantwortlichen jekt sei quasi sein «Hobby», versichert Swisscom-Filmteams weiss aufgrund Marcel Roesch, neben seiner Tätigkeit seines Sehverlusts aus eigener Er- in der Unternehmenskommunikation fahrung, worauf es ankommt. der Swisscom inzwischen auch CEO der «help2type»-GmbH. Eine soge- Für iOS und Android nannte Bildungsreise schliesslich hat Kernelemente seiner bis Ende 2019 ihn im Frühjahr 2019 nach Shenzhen in zum Prototyp gereiften Lösung für China geführt, wo er mit Jack Lee einen diverse Sprachen sind eine per Blue- in der Smartphone-Konzeptionierung tooth verbundene Tastatur mit für die erfahrenen Hersteller fand. Die mobile Texteingabe haptischem Feedback, Smartphone-Tastatur (siehe auch Seite die sich mittels magnetischer Haftung 31) ist für 229 Franken erhältlich, für und einem Uhrenband-System auf die ersten 50 Online-Bestellungen von 4
Forum SBV-Mitgliedern mit Erscheinen dieser (statt 59) Franken.Wichtig: Bei der Ausgabe zum um 15% reduzierten Bestellung im Kontaktformular unter Sonderpreis von 195 Franken, die «Unternehmen» die Angabe «SBV- passende Schutzhülle aus Kork für 49 Mitgliedermagazin» vermerken. Die bemerkenswert ausgeklügelte Tastatur «help2type» im Kurztest Irgendwo zwischen Faulheit und Pflicht fasziniert von einer neuen Heran- gehensweise zur Nutzung von Smartphones, wurde mir eine Demo für die Be- dienung von «help2type» gewährt. Als ich dann zusehen konnte, wie die beiden Daumen des Nutzers lebendig wurden und sich äusserst flink auf dieser kleinen physischen Tastatur bewegten, die so leicht und einfach zu installieren ist, ver- stand ich das Interesse von (neu) Betrof- fenen sofort. Zumal ich – selbst seh- Foto: Roland Erne behindert – aus eigener Erfahrung weiss, dass es angenehmer ist, auf einem Touch- screen nicht mühselig auf Buchstaben zielen oder aber zuhören zu müssen. Insbesondere junge Generationen haben so endlich die Möglichkeit, völlig gleichberechtigt Facebook «live» oder «Chats» im Fernunterricht nutzen zu können. hr Zehn Jahre «Regards Neufs» Als der Kurzfilm-Spezialist Bruno Quiblier 2010 dem Lausanner Verein «Base-Court» beitrat und die Welt der Blinden und Sehbehinderten ent- deckte, wusste er noch nicht, wie sehr Betroffene in der Deutsch- und Westschweiz auf ihn gewartet hatten, um dank «Regards Neufs» Film- vorführungen im Kino miterleben zu können. Kinofilme spiegeln unsere Gesellschaft form «Base-Court» zu übernehmen und Menschheit – und die Bedeutung und so seit nunmehr zehn Jahren eines Spiegels ist darin begründet, was blinden und sehbehinderten Kinofans er zeigt. Genau dies hat Bruno Quiblier zu ermöglichen, sich in Filme hineinzu- dazu animiert, das Vorreiterprojekt versetzen und unvergessliche Momente «Regards Neufs» der Kurzfilm-Platt- in den Schweizer Kinos zu erleben. 5
Forum «Regards Neufs» steht für Zugänglich- gemeinsam einen Film auf der grossen keit im Kino und erbringt umfangreiche Kinoleinwand mitzuverfolgen, die Bilder Dienstleistungen in den Bereichen dank Audiodeskription quasi ins Auge Audiodeskription und Untertitelung. vordringen zu 35-mm-Film, Audiodeskription im lassen», Kino und nun auch als Download auf schwärmt Bruno dem Smartphone: Bruno Quiblier, in der Quiblier, um Filmszene bestens vernetzt, hat diese gerührt auch eine Entwicklung mitgeprägt, die Sehbehin- Dankeskarte zu derte den Film und den Vorführungsort zeigen, die ihm frei wählen lässt. Entscheidend war Kinder des dabei auch der Austausch mit Mentoren Centre Pédago- Foto: zVg wie Claudine Damay oder Urs Lüscher gique pour Han- sowie die Beiträge von Freiwilligen, die dicapés de la Vue (CPHV) nach einer dazu beitrugen, was «Regards Neufs» für sie organisierten Filmvorführung von heute ist. «Ob im Kinosaal oder unter «Regards Neufs» übergeben haben – in freiem Himmel – nichts ist so toll, wie Bann gezogen von einer Art Magie. hr «Canne blanche» 2020 für App «SBB Inclusive» Entschieden hat erstmals ein Publikums- Zugabteil sie eingestiegen sind oder voting: Der zum achten Mal vom welcher nächste Bahnhof erreicht wird. SZBLIND vergebene Preis «Canne Zwischen Mai und November 2019 blanche» geht an die Kundeninforma- wurde die App von rund 50 Betroffenen tions-App «SBB Inclusive», die 1’252 getestet. Besonders geschätzt wurde, Stimmen auf sich vereinigen konnte. dass sie einfach aufgebaut ist und für Eine Fachjury hatte zuvor aus 25 VoiceOver optimiert wurde, wie Rolf eingereichten Projekten deren drei für Roth, Mitarbeiter der SBV-Fachstelle die finale Wahl der Publikumsjury T&I, bestätigt. SZBLIND- und Jury- ausgewählt. Mit der ab dem nächsten Präsident Thomas Dietziker zeigt sich Fahrplanwechsel von Mitte Dezember denn auch davon überzeugt, «dass 2020 eingeführten App können sich diese digitale Kundeninformation eine blinde und sehbehinderte Menschen grosse Hilfe ist und das selbstständige etwa den Abfahrtsanzeiger auf ihrem Reisen blinder und sehbehinderter Smartphone via VoiceOver vorlesen Menschen nutzbringend unterstützt». lassen oder sich informieren, auf wel- Der Preis «Canne blanche» 2020 chem Perron sie sich gerade befinden, wird am 17. September in Zürich über- welcher Zug einfährt, in welches geben. rer 6
Menschen Marie-Pierre Assimacopoulos Getragen von Zuversicht Hervé Richoz, Redaktor «Clin d’œil» Als beherzt positive moderne Frau beeindruckt Marie-Pierre Assimaco- poulos im Berufs- und Privatleben mit ihrer Charakterstärke und ihrer ein- nehmenden Persönlichkeit – geprägt von jener frappierenden Empfind- samkeit, die empathisches Zuhören und kommunikative Balance einschliesst. Eine Porträt-Begegnung mit der blinden 42-jährigen Genferin im Zentrum ihres Lebensmittelpunkts. Kaum ist Marie-Pierre Assimacopou- los im vergleichsweise ruhigen Genfer Quartier Onex mit unverkennbarer Eleganz aus dem Bus gestiegen, «scannt» sie mit ihrem weissen Stock das Trottoir nach Erkennungszeichen, die ihr den Weg zum Collège du Marais – einer ihrer beiden Arbeitsorte als Psychologin und Beraterin im beruflichen wie auch schulischen Bereich – weisen. Wenn alles gut läuft, kann sie erst einmal verschnau- fen, zumal ihre Arbeitstage aufgrund ihrer Sehbehinderung je nach Jahres- zeit und Verkehrssituation jeweils lange vor der Ankunft im Büro be- ginnen. An diesem Morgen fällt ihr das leichter als sonst, denn am ersten Tag der Sommerferien stehen keine Beratungstermine an. Am Abend zuvor aber ist es spät geworden: Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Fokussierte Konzentration: und Kollegen hat sie beim Apéro das Marie-Pierre Assimacopoulos beim Schuljahr ausklingen lassen. Fraglos Eingang des Collège du Marais, schätzt sie das Zusammensein, ge- einem ihrer beiden Arbeitsorte. knüpft an ansteckende Lebensfreude. Foto: François Schaer 7
Menschen Gestärkte Resilienz war, hat meine Mutter immer viel mit Als Töchter eines Arztes, Experte für mir gesprochen. Beim Anziehen Medizin-Informatik, und einer Grund- benannte sie alle Körperteile und lagenforscherin kamen Marie-Pierre Kleidungsstücke. Dabei habe ich viel Assimacopoulos und ihre Zwillings- gelernt.» Womöglich ist damals auch schwester viel zu früh zur Welt: «Papa schon ihre Leidenschaft für die Spra- hielt jede von uns auf je einer Hand!» che(n) und das Lesen erwacht. Ein Bis heute eine bewegende Erinnerung. Lächeln huscht über ihr Gesicht, ehe Sauerstoff ist für das Überleben von sie anmerkt: «Mit einer sehenden Zwil- Frühchen unverzichtbar, verengt lingsschwester kommt es unweigerlich jedoch die Blutgefässe und kann die zu Vergleichen. Wir sind ziemlich ver- Netzhaut schädigen. Gegen die so- schieden, aber wir haben zusammen genannte Frühgeborenen-Retinopathie immer viel gelacht und uns gegenseitig war die Medizin damals noch machtlos. geholfen.» Nicht zuletzt, um das Femi- Eine Operation hätte ihr Augenlicht nine, Selbstständigkeit und Selbst- vielleicht teilweise erhalten, aber auch bewusstsein sowie Resilienz anhaltend schiefgehen können. Ihre Eltern ent- zu stärken. schieden sich mit der Unterstützung Hat sie sich denn früh schon für von Spezialisten dafür, «der Natur ihren Psychologie interessiert? «Überhaupt Lauf zu lassen», und sorgten letztlich nicht! Als Teenager wollte ich zunächst dafür, dass Marie-Pierre Assimacopou- Bildhauerin, dann Schriftstellerin oder los sich so entwickelte, wie sie heute Journalistin werden», gesteht Marie- ist – getragen von Zuversicht. Pierre Assimacopoulos lachend. Erst «Abgesehen von der Sehkraft, ist es im Gymnasium habe sie realisiert, dass die Erziehung, die den Unterschied alle spontan mit ihr reden mochten und ausmacht», hält sie unmissverständlich sie selbst gerne zuhört. Statt weiterhin fest und erzählt: «Als ich noch klein gut gemeinte Ratschläge zu erteilen, Erprobte Autonomie: Marie-Pierre Assimacopoulos macht sich für einen weiteren Arbeitstag bereit, findet sich mit Unterstützung im Kleidergeschäft zurecht und vertraut im Büro auf eine Braille-Zeile. Fotos: François Schaer 8
Menschen habe sie irgendwann schlicht erkannt, hat sie zuletzt via Facebook auch einer dass fast alle «einfach mal ihr Herz Genfer Walking-Gruppe zugeführt, die ausschütten müssen, damit sie selbst von ihr sogleich darüber aufgeklärt auf Lösungen kommen». Zudem gehe wurde: Sie sei blind und bedürfe eines es in der Psychologie grundsätzlich oft Guides, dessen Anleitung sie gerne einfach darum, Probleme in Worte zu übernehme. So läuft es bei Marie- fassen. Nach Studien in Genf und Pierre Assimacopoulos stets – auch später in Lausanne für Berufs-, Studien- im Groupement Romand de Skieurs und Laufbahnberatung sowie klienten- Aveugles et Malvoyants (GRSA), wo zentrierter Psychotherapie begleitet sie sie sich für die Ausbildung von Tandem- inzwischen Schülerinnen und Schüler Guides engagiert und dabei nicht müde in praktischen, aber auch persönlichen wird, die Bedeutung der für die Teil- Fragen. Ab und an habe es dabei Vor- habe am gesellschaftlichen Leben behalte wegen ihrer Sehbehinderung elementaren Selbsthilfe zu betonen. gegeben, oftmals sei ihr dies aber auch Auch wenn sie ihre eigenen Erfahrungen entgegengekommen: «Wer eher etwas niemandem aufdrängen will, verkörpert gehemmt ist, fühlt sich im Gespräch – die vife Genferin als langjähriges quasi unsichtbar – oft wohler, weil nicht SBV-Mitglied gleichsam jene wahre unter Beobachtung.» Daneben widmet Selbsthilfe, die befreit, ermutigt, ver- sie sich auch der Beratung für Erwach- netzt und Zusammenhalt schafft – im sene, die sich während ihrer Sprech- Unterschied zur bisweilen stigmatisie- stunden am Empfang der Cité des renden verkappten Hilfe, die Betroffene Métiers melden können. insbesondere aufgrund projizierter Vorstellungen und Anerkennung er- Gelebte Selbsthilfe heischender Bedürfnisse in die Neben ihrer beruflichen Tätigkeit im Schranken weist. Eben diese falsch Rahmen in etwa eines 60-Prozent- verstandene Unterstützung meint Pensums achtet Marie-Pierre Assima- Marie-Pierre Assimacopoulos, wenn copoulos auf nicht weniger nährenden sie sagt: «Genau da spüre ich meine Ausgleich beim Rudern, Singen, Ski- als Last definierte Behinderung, die fahren und Wandern oder mit Pilates uns die Gesellschaft aufgrund unseres und der ihren Wissensdurst stillenden Handicaps aufbürdet.» Im Lockdown Lektüre von Büchern. Generell mag wiederum schätzte Marie-Pierre sie mit ihrem Leben nicht hadern, Assimacopoulos diverse spontan sondern ist sich vielmehr bewusst, entstandene WhatsApp-Gruppen, dass sie mit noch weit schlimmeren die buchstäblich der Selbsthilfe mit Konsequenzen behaftet sein könnte. erweiterten Kontakten entsprachen. Ihr in ihrem Umfeld immer wieder res- Beispielsweise für ihr dienliche Koch- pektvoll wahrgenommener Optimismus tipps, für die sie sich mit Lektüre- 9
Menschen Inserat Empfehlungen zu revanchieren wusste. Dies ist mit ein Grund dafür, dass sie sich seitens SBV für die Mitglieder in Sachen Selbsthilfe künftig mehr Prä- Ihre Brille kann lesen senz wünscht. Zumal sie sich nament- lich vom «Réseau des iPhoniens» der verbesserte Version! Apfelschule beeindruckt zeigt. Geschätzte Hilfsmittel Überhaupt ist Marie-Pierre Assimaco- poulos sehr wohl bewusst, dass tech- nische Hilfsmittel ihr den Alltag mass- gebend erleichtern – getreu der Devise: «Niemals ohne mein iPhone!» Lassen Sie sich von Ihrer Brille So freut sie sich denn auch darauf, die Texte vorlesen, das Gesicht Ihres für Blinde im Wortsinn wegweisenden Gegenübers, Produkte, Banknoten und Farben erkennen! GPS-Funktionen in anstehenden Kur- sen noch besser zu beherrschen, um Zeigen Sie einfach mit Ihrem Finger auf gedruckten Text in sich autonomer in der Stadt bewegen Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, zu können. Da sie allein lebt, vertraut auf Speisekarten, Beschriftungen sie überdies oft auf die App «Be My auf Produkten, Bezeichnungen auf Strassenschildern usw. Eyes» und hat damit schon so manche OrCam MyEye spricht Ihnen den Situation gemeistert. Selbstredend Text über einen kleinen Laut- nutzt sie auch soziale Netzwerke, um sprecher direkt ins Ohr. sich im Bekannten- und Freundeskreis OrCam MyEye ist eine kleine auszutauschen. Klar für sie aber bleibt: Kamera, die am Bügel einer Brille «Kein Smartphone ersetzt den weis- befestigt werden kann. sen Stock oder die helfende Hand. Der OrCam MyEye ist neu in Deutsch, Französisch, Italienisch und Langstock garantiert uns Sicherheit, Englisch erhältlich. macht uns sicht- und unsere Sehbe- Testen Sie OrCam MyEye in Ihrer hinderung erkennbar.» Auch die einen Beratungsstelle, bei Accesstech sanfteren Zugang zur Literatur und oder in einer der Filialen der zum Wissen garantierende Braille- Stiftung AccessAbility. Lektüre möchte Marie-Pierre Assima- Informieren Sie sich Luzern 041 552 14 52 copoulos keineswegs missen. So kann St. Gallen 071 552 14 52 sie bei Bedarf den PC-Bildschirm und Bern 031 552 14 52 Sprachansagen hinter sich lassen und Neuchâtel 032 552 14 52 sich stattdessen der haptischen Intimi- www.accessability.ch info@accessability.ch tät der Worte zuwenden. 10
Schwerpunkt Existentielle Triebfeder zur freien Selbstentfaltung Roland Erne, Redaktor «der Weg» Was beinhaltet und meint Selbsthilfe, was nicht und weshalb? Wir haben bei den Verantwortlichen auf strategischer Ebene der im Sehbehindertenwesen tätigen Organisationen Schweizerische Caritasaktion der Blinden (CAB), Retina Suisse, Schweizerischer Blindenbund (SBb) und Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) – unter Einbezug von Vorstand und Sektionenrat – sowie der beiden Dachorganisationen Agile.ch und Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) nach- gefragt. Eine auf grundlegende Erkenntnisse gestützte Erhebung, deren Ergebnis sich weiter zu verfolgen empfiehlt. Selbsthilfe – ein grosses Wort gelas- sen ausgesprochen, könnte sich in Anlehnung an Goethe zumindest ver- muten lassen. Was aber dürfte Selbst- hilfe im Kern bedeuten? Einer Sach- lichkeit verpflichtet, die nicht an einen inflationären Gebrauch oder gar eine bisweilen ideologische Einfärbung des Begriffs geknüpft ist. Aus der Sicht des Einzelnen zentral ist zunächst der indi- viduelle Antrieb, sich selbst helfen zu wollen, insbesondere in der Bewälti- gung von Problemen, Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten oder Hindernis- sen. Ein elementares Bedürfnis, das gemeinsam fraglos zielgerichteter Zentraler Antrieb: der Wille, sich einzulösen ist als allein. selbst zu helfen. Foto: Patrick Lüthy Kollektive Selbsthilfe ist demnach ge- kennzeichnet von wechselseitiger Hilfe strukturierte Verein als «die best- und Unterstützung – im Zeichen des mögliche Variante der Umsetzung Identitätsprinzips. In organisatorischer der Selbsthilfe entpuppt». Dies mithin Hinsicht hat sich für den SZBLIND als im Unterschied zu Organisationen Selbsthilfe- und Dachorganisation im wie Stiftungen, die in der Regel keine Schweizer Blinden- und Sehbehinderten- Mitgliedschaften und folglich keine wesen dabei der mitgliedschaftlich Delegiertenversammlung kennen. 11
Schwerpunkt Stärkendes Kollektiv Im Unterschied zur Fachhilfe, die von meist nicht selbst betroffenen Fach- personen getragen wird, setzt Selbst- hilfe vielmehr auf das Miteinander von Betroffenen, die ihre Geschicke selbst an die Hand nehmen und sich in ihrer Eigenständigkeit, Entscheidfindung und Selbstverantwortung gegenseitig stärken. Ihr Kollektiv entspricht so einem Forum für die eigenen Anliegen und Interessen, das den Austausch wie auch Kontakte auf Augenhöhe ermöglicht und die Bewältigung des Alltags erleichtert. Agile.ch, vorab in der Politik und der Interessenvertretung engagierter Dachverband der Behinderten-Selbst- hilfeorganisationen in der Schweiz, verweist in diesem Zusammenhang auf eine grundsätzliche Erkenntnis: «Wir reduzieren uns nicht auf das, was wir nicht (mehr) können, sondern sehen uns als Menschen, die nicht wenig schaffen können und wollen.» Die Vertretung der Interessen von Men- schen mit Behinderungen gegenüber der Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Öffentlichkeit ist dabei explizit etwa an die Teilnahme an Vernehmlassungen zu Gesetzesentwürfen und Anhörungen oder das Lobbyieren im Parlament gebunden. Die für Agile.ch zentralen Tätigkeiten sind denn auch mit dem Begriff «Selbstvertretung» zu fassen. In Tandems sich zurechtfinden mit Konkret: «Wir Menschen mit Behinde- Langstock, TOM-POUCE®-Stock und rungen sprechen für uns selbst, statt im Vertrauen auf einen Blinden- andere für uns sprechen zu lassen. führhund. Fotos: Hervé Richoz Wir reden mit, wirken und bestimmen 12
Schwerpunkt mit, wo es um uns geht. Wir kennen unsere Rechte und fordern sie ein.» Nicht zuletzt aus Kapazitätsgründen verzichtet wird hingegen auf Rechts- beratung und Therapiegruppen. Hilfe versus Selbsthilfe Als nationale Selbsthilfeorganisation sieht sich der SBV prioritär der gesell- schaftlichen Inklusion und beruflichen Integration verpflichtet. Nicht von un- gefähr ist ihm an einer Differenzierung Mit einem Sektionsausflug ins zwischen Hilfe und Selbsthilfe gelegen: Sensorium im Rüttihubelbad gemein- «Direkte finanzielle Hilfen oder mit der sam die Sinne schärfen. Foto: hr Giesskanne verteilte Geldleistungen sowie die Unterstützung von Freizeit- setzt sich als Selbsthilfeorganisation aktivitäten gehören nur bedingt dazu. dafür ein, dass Patientinnen und Ein hoher Prozentsatz der Betroffenen Patienten mit Retinitis pigmentosa, leidet unter finanziellen Schwierig- Makuladegeneration, Usher Syndrom keiten und Engpässen, die ihnen den und anderen Erkrankungen des Zugang zu Freizeitaktivitäten, Urlaub, Augenhintergrundes eine präzise Dia- Reisen und Hobbys verwehren. Dabei gnose, Behandlung und Rehabilitation geht es jedoch nicht um Selbsthilfe, erhalten. Zwecks dieser Aufklärung sondern um Hilfe.» Zudem ist für den und Begleitung nutzt Retina Suisse die Verbandsvorstand klar, dass der Ein- Selbsthilfe als Schnittstelle zwischen satz für integrative Gesetze noch lange Medizin, Forschung und Wissenschaft nicht abgeschlossen ist. Entsprechende sowie Patientinnen und Patienten, um Resultate würden sich überdies weit deren Interessen gegenüber Gesell- umfassender auswirken als finanzielle schaft und Politik zu vertreten. Derweil oder sonstige Unterstützung, die der bekräftigt die CAB: «Wir nutzen die Verband leisten kann. Ein gemeinhin Möglichkeit, uns selbst zu helfen und unterschätztes Engagement: «Leider Entscheidungen zu treffen, die unserer erkennen Mitglieder darin nicht immer Behinderung entsprechen.» den unmittelbaren Nutzen, den sie sich wünschen.» Der Sektionenrat Vielfalt der Selbsthilfe und Ziele seinerseits betont: «Vordringlich bleibt Wie aber ist die Vielfalt der Selbsthilfe- die Aufwertung von Betroffenen, die organisationen für Blinde und Seh- sich sonst isoliert und nutzlos fühlen behinderte in der Schweiz zu erklären? würden.» Retina Suisse wiederum Gründe dafür sind selbstredend 13
Schwerpunkt bedarfsgerecht unterschiedliche Tätig- aktuell an einer historischen Auf- keitsschwerpunkte und Zielgruppen arbeitung fehle, um darauf passende wie auch historisch bedingte Entwick- Antworten zu geben. lungen, die zu keineswegs ungewöhn- Diese Diversität erklären Variationen lichen Abspaltungen führten. «Gesamt- von Gründungsgedanken und Zielen haft ergänzen sich diese Organisationen von einigermassen grosser Bandbreite. und sind je nach Region unterschied- Geht die Gründung des für soziale lich stark vertreten», so die Meinung Einbindung einstehenden respektive des SBV-Sektionenrats. Ähnlich prag- der Isolation entgegenwirkenden SBV matisch äussert sich der SBb: «Alle im Jahr 1911 auf das zu Beginn des diese verschieden grossen und des- 20. Jahrhunderts erstarkte Bestreben halb mehr oder weniger persönlichen nach mehr Eigenständigkeit und Organisationen haben wohl dasselbe Selbstständigkeit im Gefolge der Los- Ziel: Betroffene zu unterstützen. Und lösung von der Gunst gutmeinender diese können dort Mitglied sein, wo Gönner/-innen und der Grosszügigkeit sie sich wohl fühlen – wie bei Kranken- von Wohlhabenden zurück, wurde der kassen oder Versicherungen auch.» Blindenbund 1958 aus dem Gedanken Aus Sicht des SZBLIND schliesslich gegründet, die finanzielle und materielle würden häufig moralisch gefärbte Unterstützung von Betroffenen zu Schuldzuweisungen weder zum stärken. Die CAB verfolgte 1933 mit besseren Verständnis noch zur ihrer Gründung das Ziel, Selbstbestim- Bereitschaft beitragen, gemeinsam mung und Selbstständigkeit sowie Änderungen anzustreben. Zumal es inzwischen nicht mehr nur katholisch Die Bildungs- und Begegnungszentren (BBZ) des SBV, wie hier in Bern, pflegen die gegenseitige Unterstützung und wechselseitige Hilfe wie auch das Miteinander am Mittagstisch. Fotos: Markus A. Jegerlehner 14
Schwerpunkt geprägte Integration auch in religiöser Hinsicht zu leben. Seit 1979 befähigen sich Retina Suisse und ihre Mitglieder gegenseitig, ihre Anliegen der Fach- welt und der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. 1951 als ASKIO (Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer Kranken- und Invaliden-Selbsthilfe- organisationen) gegründet, engagiert sich die daraus hervorgegangene Dachorganisation Agile.ch heute Selbsthilfe am Jasstisch: Mit Low- weiterhin für die Existenzsicherung Vision-Karten können auch Betrof- und Gleichstellung von Menschen mit fene mitspielen. Foto: Hervé Richoz Behinderungen. Der SZBLIND wurde 1903 von den leitenden Vertretern der leistungen, die von den einzelnen damaligen Blindenorganisationen ABA Mitgliedorganisationen zum Beispiel und OBV (heute: obvita) gegründet – aus Gründen der Effizienz delegiert mit dem erstrangigen Ziel, die gemein- werden, also etwa Koordination der samen Interessen gegenüber dem Interessenvertretung, Forschungs- Bund wahrzunehmen. bestrebungen zu Phänomenen der Sehbehinderung, Subventionswesen Profilierte Dienstleistungen auf Bundesebene oder Aufrecht- All dies spiegelt sich in profilierten erhaltung von nationalen Fachkommis- Dienstleistungen, seitens SBV und SBb sionen, auch im Sinne von Qualitäts- insbesondere mit Beratungsstellen und zirkeln. Getreu des vordringlichen Kursen, organisierten Aktivitäten und Engagements auf Ebene von Politik Ausflügen, seitens CAB ausser Kursen und Interessenvertretung legt Agile.ch und Beratung mit organisierten Reisen, Gewicht auf Medien- und Öffentlich- seitens Retina Suisse – neben der keitsarbeit, flankiert von Veranstaltungen zentralen Vermittlung von Informatio- zu behindertenpolitischen Fragen. nen zur Diagnose, Behandlung und So gesehen, bleibt Selbsthilfe auch Rehabilitation – auch mit Sozialberatung, weiterhin unerlässlich. Für Agile.ch, öffentlichen Veranstaltungen samt «weil wir die Expertinnen und Experten spezialisierten Referenten und mit in eigener Sache sind und dort mitreden Selbsthilfegruppen. Als Dachverband wollen, wo es um uns geht». Aus Sicht bietet der SZBLIND Leistungen an, des SBb namentlich deshalb, «damit welche die Interessen der einge- sich die Betroffenen weiterhin mit ihren bundenen Organisationen alimentieren. Anliegen beschäftigen und sich nicht Dazu gehören vorrangig Kollektiv- weiter zu einer bereits bestehenden 15
Schwerpunkt Art Konsumgesellschaft entwickeln». die Glaubwürdigkeit der Behinderung, Gänzlich unmissverständlich formuliert damit wir die Inklusion in für sie günsti- es der SZBLIND: «Wir erachten den gen Gesetzen verankern können. Und Antrieb zur Selbsthilfe als archetypische, im Unterschied zu all jenen, die sich existentielle menschliche Triebfeder zur engagiert für uns stark machen, ohne freien Selbstentfaltung. Versuche an- eine Behinderung am eigenen Leib zu derer, diesen Anspruch zu unterdrücken erleben, können wir diese nicht ab- und zu brechen, sind vielfältig und streifen», hält der SBV-Vorstand fest. haben allesamt totalitären Charakter.» Derweil fragt sich der SBb, ob Inklusion wirklich realisierbar sei. Unbesehen Selbsthilfe und Inklusion davon gelte es weiterhin, die Be- Die Verknüpfung von Selbsthilfe und hinderung zu zeigen, ohne zu jammern. Inklusion, also gesellschaftlicher Inte- Für Agile.ch ist Inklusion nur zu erlan- gration, wird als nicht weniger grund- gen, wenn neben der Politik, Verwal- sätzlich eingestuft. «Für die Sensibili- tung, Wirtschaft und Öffentlichkeit die sierung von Nicht-Betroffenen gibt es Menschen mit Behinderung selbst keine besseren Vorbilder als Men- aktiv dazu beitragen. Die Selbsthilfe schen mit Behinderung, die im Alltag unterstütze und befähige Betroffene, fest in die Gesellschaft eingebunden ihre Bedürfnisse und Interessen sind. Unsere Mitglieder untermauern durchzusetzen und fördere die Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben. Letztlich aber sei Inklusion in erster Linie eine grundlegende Haltung, die von möglichst vielen Menschen getragen und gelebt werden müsse, damit die Gesellschaft tatsächlich auch inklusiv werde. Die ungeschminkte Haltung des SZBLIND: «Die Inklusion strebt einen fliessenden Übergang der Anpassungsleistung von Nicht-Behin- derten für Behinderte und Behinderten für Nicht-Behinderte an und scheint uns ein vernünftiger Ansatz zu sein, der jenem der Selbsthilfe vermutlich kaum widerspricht.» Unter Anleitung in einer Workshop- Selbsthilfe der Zukunft Gruppe die Kenntnisse einer GPS- Vor diesem Hintergrund sind auch App vertiefen. Foto: Hervé Richoz zentrale Aspekte der künftigen 16
Schwerpunkt Gestaltung und Organisation der •S teigern des Stellenwerts der Selbst- Selbsthilfe einzuordnen: hilfe, falls Inklusion und Integration •B ehinderungsübergreifende Zu- inklusive Umsetzung der Behinder- sammenarbeit der Organisationen tenrechtskonvention weiterhin nicht von Menschen mit Behinderung der Norm entsprechen. samt optimaler Arbeitsteilung. • Ins Boot holen von jüngeren Gene- • Analyse nicht nur der Stärken, son- rationen der Betroffenen, die viel- dern auch der Schwächen und Gefah- leicht (noch) nicht so viel von Selbst- ren der Selbsthilfe zwecks nüchterner hilfe halten. und unbefangener Klärung des Be- •E inigung auf einen gemeinsamen griffs auf verständlichem Fundament. Weg der verschiedenen Organisa- • Konzentration auf den Ausbau der tionen insbesondere im Bereich eidgenössischen und der kantonalen Interessenvertretung. Gesetzgebung mit dem Ziel, die •B ündelung der gemeinsamen gesellschaftlichen Akteure zur Themen, damit letztere grösseres Einhaltung gewisser Vorgaben Gewicht erhält – getreu der Devise: zu verpflichten. «Nichts über uns ohne uns!» Inserat Eile mit Weile – das beliebte Brettspiel neu produziert • Kontrastreich & taktil • Magnetspielfiguren (kein Verrutschen mehr möglich) • Hochwertige Materialien (Holzspielfiguren, taktile Klebefolie, robustes Spielbrett) Preis: CHF 45.00 Artikelnummer: 10.112 Bestellung unter 062 888 28 70 oder per E-Mail: hilfsmittel@szblind.ch. 17
Schwerpunkt Selbsthilfe als Geschenk an die Gemeinschaft Hervé Richoz, Redaktor «Clin d’œil» Oft unversehens mit visuellen Einschränkungen konfrontiert, leben die landesweit 370’000 sehbehinderten Menschen heute in einer individuali- sierten Welt voller Barrieren, in der ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Viele müssen sich lange allein «durchschlagen», bis sie eine vom SBV seit 1911 geförderte Selbsthilfe im besten Sinne kennenlernen: in der Gemein- schaft mit Menschen mit den gleichen Problemen, die Verständnis haben, die geben und nehmen. Odettes Leben verlief normal, ehe Haben sie diesen Schritt einmal getan, sie mit 65 Jahren eine altersbedingte werden sie an neue Ausdrucksformen Makuladegeneration (AMD) einholte. ihrer Ressourcen «herangeführt», in Pierre wusste früh von seiner Netz- für sie wichtigen Tätigkeiten «unter- haut-Dystrophie (RP), die zunehmend stützt», in ihrem Anderssein «be- Leiden mit sich brachte. Marcel musste stätigt» oder in neuen Fertigkeiten mit über 40 Jahren akzeptieren, dass wie dem Umgang mit modernen seine Lebererkrankung auch seine Technologien «geschult». Augen schädigt. Bernadette wiederum bereitete ihr Glaukom Augenschmerzen, Fundamentale Solidarität die alles überschatteten. Ist familiärer Heute können sich sehbehinderte Rückhalt nach desillusionierenden Menschen überall informieren und sich Besuchen bei Optikern und Augen- an unzählige Fachleute, Spezialisten ärzten an Grenzen gestossen, wird und Organisationen wenden, die ihre das Universum dieser Menschen mehr Inklusion fördern und verteidigen. Man und mehr zu einer Parallelwelt, die ihr könnte glauben, alles sei längst in Umfeld hilflos macht und zuweilen bester Ordnung. Wäre da nicht daran Herablassung oder nur um die eigenen zu erinnern, dass dieses hilfreiche Gefühle kreisende Unsicherheit ein- Netzwerk erst seit Ende der 1980er schliesst, bevor sich – vielleicht – doch Jahre besteht. Einst waren Betroffene Unterstützung durchsetzt. Meist ist das auf die Gunst von Wohlmeinenden der Moment, in dem Betroffene sich angewiesen, die unbedingt Gutes tun regionalen Selbsthilfegruppen zu- wollten, ohne dabei vorhandene Fähig- wenden und so erfahren, dass sie keiten und Wünsche immer zu beachten. Anspruch auf Hilfe haben, dabei ihren Claudine Damay, früher selbst Aktivis- Wert entdecken und lernen, wie sich tin, bringt es lachend auf den Punkt: vieles einfacher handhaben lässt. «Ob jemand blind oder sehbehindert 18
Schwerpunkt war, machte keinen Unterschied. Alle mussten Braille lernen, weil man davon ausging, dass sie alle irgendwann erblinden würden.» Gerade diese Ge- meinsamkeit schmiedete feste Bande gegenseitiger Hilfe und Solidarität über Generationengrenzen hinweg: «Weil es einfach nichts gab, legte man Wert darauf, selbst zu helfen, wenn man Hilfe in Anspruch nehmen wollte», hält die 66-Jährige aus Lausanne fest. Nun hat die Covid-19-Pandemie gezeigt, dass sich die Selbsthilfe durchaus Unbeschwerter Austausch zur Be- neu zu erfinden vermag (siehe Juni- dienung von Smartphones. Foto: hr Ausgabe 2/2020). Für Menschen, die plötzlich mit einer oft am hilfreichsten. Dafür sprechen Sehbehinderung konfrontiert sind, ist etwa die WhatsApp-Gruppe der Apfel- der Zugang zu unterstützenden Netz- schule («ApfelTalk») oder aber alle, die werken nicht selten schwierig, wie mit ihren soliden iPhone-Kenntnissen Rania Python, Koordinatorin der Ge- anderen beistehen. sprächsgruppen von Retina Suisse Nicht zuletzt bedeutet Selbsthilfe, (siehe auch Seite 24) in der Romandie, «konsumorientierte» Erwartungen betont: «Neu Betroffene müssen erst hintanzustellen, zum Beispiel in Kursen akzeptieren, Hilfe von anderen anzu- das Tempo anderer zu respektieren nehmen, zu denen sie eigentlich nicht und sich über jeden persönlichen und gehören möchten. Und sie müssen ihr gemeinsamen Fortschritt zu freuen. eigenes Leiden ebenso überwinden Für den bald 73-jährigen Genfer Gowri wie den Wunsch, jemand anders zu Sundaram, der als langjähriges SBV- sein.» Die ältere Generation ihrerseits Mitglied die Räumlichkeiten seiner dürfe sich nicht zu Eifersüchteleien «Maison de Bonheur» für Treffen und und Intrigen hinreissen lassen, gibt der Kurse zur Verfügung stellt, ist Selbst- in Le Mont-sur-Lausanne praktizierende hilfe denn auch ein «überaus wertvolles» Psychologe Vincent Ducommun zu Geschenk an die Gemeinschaft, das bedenken, zumal Hilfsbereitschaft einer inneren Haltung entspricht. nicht etwa angeboren, sondern viel- Jean-Marc Meyrat, Verantwortlicher mehr erworben sei. Generell erweist Apfelschule Westschweiz, schliesslich sich die Unterstützung von Betroffe- sagt es so: «Selbsthilfe bedeutet nen, die ihre entscheidenden Kompe- immer geben und nehmen – und tenzen einbringen und teilen, überdies nur schon ein Merci genügt!» 19
Schwerpunkt Verbindende Erfahrungen unter Gleichaltrigen Céline Witschard, Mitglied der Sektion Genf Als selbstständige Berufscoachin ist im Sinn von «Hilfe zur Selbsthilfe» und SBV-Mitglied (32) mit der eigentlich positiv konnotiert. Dennoch initiativen Aufgabe, der jüngeren ist mir im beruflichen und privaten Generation der Genfer Sektion neue Umfeld aufgefallen, dass die Endung Impulse zu geben, beobachte ich, «aide» Menschen mit und ohne Seh- dass der Begriff «Selbsthilfe» von behinderung nicht selten in die Defen- Betroffenen dieses Alters oft nega- sive treibt. Denn: Wer Hilfe von tiv wahrgenommen wird. Vielmehr anderen annimmt, zeigt damit, dass bevorzugen Junge alternative er bestimmte Schwierigkeiten hat Bezeichnungen wie «Unterstützung» oder einer Situation womöglich nicht oder «Begleitung», die weniger mit gewachsen ist. Und sich dies einzu- einer Abhängigkeit von anderen in gestehen, ist nicht leicht. Verbindung gebracht werden. Aktivitäten, Gespräche, Humor Interessanterweise wird der Begriff Im Kreis der jüngeren Mitglieder der «Entraide» im Larousse-Wörterbuch Sektion Genf versuchen wir, diese nicht als «wechselseitige Hilfe» definiert und wörtlich genommene Selbsthilfe sozu- sagen durch die Hintertür auf dem Um- weg über Aktivitäten, Gespräche und Humor zu verankern! Wenn wir uns bei einem Glas Wein oder einem Bier offen über unseren Alltag, unsere Lebens- erfahrungen, unsere Reiseerlebnisse austauschen oder lustige Begebenheiten erzählen und zusammen lachen, ist das nichts anderes als wechselseitige Hilfe zur Selbsthilfe, auch wenn wir das nie- mals so nennen würden. Man fühlt sich einfach wohler, wenn man erlebt, nicht als Einzige Situatio- nen unterworfen zu sein, die manch- Jugendlicher Schwung in den West- mal komisch sind, bisweilen aber auch schweizer Sektionen: Selfie der Gen- nicht. Nach einem Gespräch mit ferin Céline Witschard und des Frei- Gleichaltrigen, die noch viel schlechter burgers Antoine Robert. Foto: zVg sehen, aber viel gelassener und positi- 20
Inserat ver mit ihrer Sehbehinderung um- stiftung AccessAbility gehen, lässt sich die eigene Seh- gemeinnützige stiftung für schwäche jedenfalls ganz automatisch sehbehinderte und blinde leichter akzeptieren. Ohne bewusst Vorbild sein zu wollen, helfen die Sie stehen als Betroffene, als besonders selbstständigen, unter- Betroffener für uns im Zentrum. nehmungslustigen jungen Betroffenen dabei indirekt denen, die noch Mühe Wir sind Ihre herstellerunabhängige Beratungsstelle für EDV- und elek- haben, ihre Behinderung anzunehmen. tronische Hilfsmittel und testen für Sie Produkte der Zukunft. Motivierender Austausch Was könnte motivierender sein als der Compact 10 HD Speech – und es Austausch mit Gleichaltrigen, die sich klappt mit dem Vorlesen! Die aufklappbare Kamera trotz Sehbehinderung beruflichen ermöglicht ein einfaches Erfassen Herausforderungen stellen, dem Sport eines Dokuments im A4-Format widmen, die Welt bereisen und voller und sorgt somit für ein qualitativ Ideen und Talente stecken? Allein einzigartiges Vorlese-Resultat. Auch Handnotizen tätigen und durch unser eigenes Wesen helfen Objekte betrachten ermöglicht Ihnen wir uns gegenseitig ohne viele Worte, das neue 10-Zoll-Bildschirmlesegerät indem wir andere, die sich mit ihrer von Optelec. Sehschwäche noch nicht wirklich abgefunden haben, dazu ermutigen, einfach nur sie selbst zu sein und das Potenzial ihrer vielseitigen Persönlich- keit zur Entfaltung zu bringen! Inserat Testen Sie die Zukunft schon «Das Echte bleibt heute in einer der Filialen der der Nachwelt unverloren.» (Goethe) Stiftung AccessAbility. Ihr Legat oder Ihre Trauerspende wirken weiter: Sie helfen damit, das Schicksal von blinden und Informieren Sie sich bei: sehbehinderten Menschen zu erleichtern. Luzern 041 552 14 52 Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband St. Gallen 071 552 14 52 Könizstrasse 23, Postfach, 3001 Bern 031 390 88 00 | spenderdienst@sbv-fsa.ch | sbv-fsa.ch Bern 031 552 14 52 Neuchâtel 032 552 14 52 Spendenkonto 30-2887-6 www.accessability.ch info@accessability.ch 21
Schwerpunkt Klinische Tests im Zeichen der Selbstlosigkeit Dr. Céline Moret, Bioethikerin, Universität Genf Vor seiner Marktzulassung muss ein neues Arzneimittel in klinischen Tests an freiwilligen Probanden getestet werden. Im Zusammenhang mit dem Schwerpunkt-Thema dieser Ausgabe gilt es, den Stellenwert der Selbsthilfe und ihren Platz in der medizinischen Forschung hervorzuheben – vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie erst recht. Die Teilnahme an einem klinischen Versuch mit einem neuen Medikament entspricht in erster Linie einer selbst- losen Haltung. Ziel der medizinischen Forschung ist es, mit streng wissen- schaftlichen Methoden die Wirksamkeit Céline Moret. einer Therapie zu prüfen und ihre Foto: Francine Nebenwirkungen zu identifizieren. Ein del Coso positives Ergebnis lässt sich dabei nie garantieren. Wer die Teilnahme an gewährleistet ist. Dabei wird in erster einem solchen Test erwägt, sollte sich Linie deren Nutzen im Verhältnis zu den dessen bewusst sein, um keinen un- Risiken bewertet, denen die Probanden realistischen Erwartungen zu unter- ausgesetzt sind. Die Erfahrung und die liegen. Nützlich ist die Teilnahme von Lebenssituation der Betroffenen werden Probanden an einem klinischen Ver- damit endlich als echte Kompetenzen such allerdings immer – für alle ande- anerkannt und kommen den anderen ren Betroffenen, denn die Erkenntnisse Patienten zugute. aus der Studie sind für den Fortschritt Einige von Ihnen werden beim Lesen der Medizin unerlässlich. Die Freiwilli- dieser Zeilen vielleicht denken, die Welt gen, die sich heute dafür stark machen, der Forschung sei weit weg von den ermöglichen damit vielleicht die eigenen Alltagssorgen, aber in Wahr- Heilung der Patienten von morgen! heit sind wir alle betroffen. Wenn zum Seit Inkrafttreten des Humanforschungs- Beispiel eines Tages ein Impfstoff gesetzes (HFG) 2014 nehmen die Be- gegen das Corona-Virus zur Verfügung troffenen selbst Einsitz in den Ethik- steht, dann verdanken wir ihn sorgfältig Kommissionen der Forschung. Seite durchgeführten klinischen Versuchen an Seite mit Medizinern, Bioethikern und vor allem den Freiwilligen, die ge- und Juristen prüfen sie, ob der Schutz sundheitliche Risiken in Kauf nehmen, der Teilnehmenden an klinischen Tests um unsere Gesundheit zu schützen. 22
Schwerpunkt Teil einer Gemeinschaft sein Sarah Wyss, Geschäftsleiterin Selbsthilfe Schweiz Die schweizweit über 2’500 Selbst- Werdens helfen. Aktiv in der Selbsthilfe hilfegruppen zeichnen sich durch zu sein bedeutet, Teil einer Gemein- reiche Vielfalt zu über 300 verschie- schaft zu sein. Kurz: Die Selbsthilfe lebt denen Themen aus: von A wie Angst- von einer gesunden Mischung zwi- störungen bis Z wie Zöliakie – der- schen Selbstverantwortung und Solida- zeit vermehrt auch mit Gruppen zu rität. Selbsthilfegruppen entsprechen Einsamkeit und Hochsensibilität. somit durchaus einem Abbild unserer demokratischen Gesellschaft. In Selbsthilfegruppen schliessen sich Menschen in gleichen oder zumindest Aufholbedarf in der Westschweiz ähnlichen Lebenslagen zusammen, um In der Schweiz gibt es inzwischen 20 sich gegenseitig zu helfen. In einer regionale Selbsthilfezentren (www. herausfordernden Situation alltägliche selbsthilfeschweiz.ch/regionen), die Schwierigkeiten gemeinsam meistern den Überblick über bestehende und ist jedenfalls weit einfacher, als sich geplante Selbsthilfegruppen ihres allein auf weiter Flur durchzuschlagen. Zuständigkeitsgebiets gewährleisten Aufmunternde Worte, praktische Tipps, sowie Anlauf-, Beratungs- und Infor- insbesondere ein Gefühl des Verstanden- mationsstellen für und über Selbsthilfe- gruppen sind. Während in der Deutschschweiz fast alle Kantone – Ausnahme ist Glarus – ein zuständiges Selbsthilfezentrum haben, sind wir in der Romandie noch nicht so weit. Die (noch) fehlende örtliche Präsenz schlägt sich denn auch in der Anzahl bereits existierender Selbsthilfegruppen nieder. So ist die Dichte der Selbst- hilfegruppen in der Deutschschweiz deutlich höher als in der Westschweiz. Eine 2017 erschienene Studie zeigt eindrücklich, dass das Entwicklungs- potential der Selbsthilfe noch lange nicht ausgeschöpft ist, zumal für Wertvoller Austausch in einer bestimmte Bevölkerungsgruppen Selbsthilfegruppe. Foto: zVg zahlreiche Zugangshürden bestehen. 23
Schwerpunkt Für eben solche näher zu bringen. Davon werden auch Zielgruppen hat mobilitätseingeschränkte Personen Selbsthilfe profitieren können. Nicht zuletzt konnte Schweiz in ihrer im Sommer 2020 auch das Pilotprojekt Funktion als nationale Dienst- und «selbsthilfefreundliche Spitäler» abge- Koordinationsstelle ein Projekt wie schlossen werden, das kurz vor einer Femmes-Tische Schweiz lanciert, schweizweiten Implementierung steht. welches bei den Schlüsselpersonen der Ziel ist die Stärkung der Gesundheits- Migrationsbevölkerung ansetzt – mit dem kompetenz, das Aufrechterhalten des Ziel, die sprachlichen und kulturellen eigenen Gesundheitszustands und die Hürden zu reduzieren. Ebenso die kon- Verbesserung der Lebensqualität sequent ausgebaute virtuelle Selbst- (www.selbsthilfefreundlichkeit.ch). Dem- hilfe, um jungen Menschen die Selbsthilfe nach ist einiges in Gang gekommen! Nicht für mich oder nicht jetzt? Das Auftreten respektive Bewusstsein einer genetisch oder funktionell bedingten Beeinträchtigung der Sehkraft ist für 370'000 Menschen in der Schweiz (Daten SZBLIND) ein echtes Erdbeben, das in jedem Alter einen mehr oder weniger langen Prozess auslöst. Hauptanliegen im Zusammenhang mit dem Verlust des Sehvermögens ist die Notwendigkeit medizinischer und wissenschaftlicher Ant- worten. Betroffene mit entsprechenden Informationen auch aus der Forschung zu versorgen, hat sich Retina Suisse (www.retina.ch) zur prioritären Aufgabe gemacht. Zumal sich (neu) mit einer Sehbehinderung konfrontierte Klienten in diesem Stadium nicht in eine Zukunft mit unscharfen Konturen projizieren oder neben Menschen stehen möchten, deren relative Autonomie schwer vorstellbar ist. Nicht von ungefähr bestätigen Teilnehmende der «Retina»-Gesprächsgrup- pen, dies sei ihre erste Lebensader. Menschen in ihrer Umgebung würden die Chancen und das Potenzial der Selbsthilfe überdies besser wahrnehmen. Nicht weniger elementare Unterstützung finden «zu gegebener Zeit» gerne auf- genommene Betroffene beim SBV (www.sbv-fsa.ch) – im Wissen darum, dass jeder Weg individuell verläuft und gewissermassen einem eigenen Rhythmus folgt. Nach und nach geschehen so kleine oder grössere «Wunder», zum einen durch die verbandseigenen Beratungsstellen, deren Fachspezialisten «geniale» Hilfsmittel vorschlagen, zum andern durch die vielfältigen Dienstleistungen der regional verankerten 16 Sektionen. So vermögen Betroffene ihren Platz, ihre Lebensfreude und Würde zurückzugewinnen, sei es mit Sport, sei es mit der Teilnahme an Sektionsaktivitäten, angebotenen Kursen und Workshops samt der Entdeckung eines freundschaftlich hilfreichen Netzwerks. Willkommen! hr 24
Verbandsleben Standpunkt Monika Baumann, Präsidentin Sektion Ostschweiz Liebe Leserin, lieber Leser Anlässlich der diesjährigen Haupt- versammlung unserer Sektion Ost- schweiz durfte ich gegen Ende Februar das Präsidium von Giuseppe Porcu übernehmen. Bereits ab August 2019 hatte ich an den Vorstands- sitzungen teilgenommen. Aufgrund Monika Baumann. dieser Einblicke entdeckte ich eine Foto: SBV neue Herausforderung. Ich selbst bin sehbehindert, die meisten Vorstands- Bibliothek für Blinde, Seh- und Lese- mitglieder sind sogar blind. Nicht behinderte in Zürich. Am PC wiederum zuletzt dies gab mir den Mut, die vertraue ich auf ZoomText, eine Aufgabe als Sektionspräsidentin zu Vergrösserungs-Software mit Sprach- übernehmen. ausgabe. Beim Lesen schliesslich Seither habe ich gelernt, meine Be- dient mir eine elektronische Visolux- hinderung zu akzeptieren. Im Kreis DIGITAL-XL-FHD-Lupe auch für eine unseres Vorstands wurde mir mehr mobile Anwendung. und mehr bewusst, dass es für Blinde Blindheit und Sehbehinderung haben und Sehbehinderte diverse Hilfsmittel direkte Auswirkungen auf viele Bereiche gibt, die auch mir nützen. Das Angebot des täglichen Lebens. Oft ist es nötig reicht von weissen Stöcken über tast- oder aber unabdingbar, sich anders bare und sprechende Uhren bis zu als Sehende einzurichten und zu Kommunikationshilfen wie benutzer- organisieren, um ein ausgefülltes und freundliche Telefone mit grossen selbstbestimmtes Leben zu führen. Tasten, kontrastreichem Bildschirm Inzwischen ist mir klar, dass jene Selbst- und einfacher Menüführung. Unschätz- hilfe unerlässlich ist, die Betroffene mit bare Vorteile bietet insbesondere ähnlichen Lebenssituationen, denselben das iPhone, etwa mittels VoiceOver Problemen, einem gemeinsamen für Fahrplan-Abfragen oder Weg- Anliegen zwecks gegenseitiger Hilfe beschreibungen. Zudem schätze ich zusammenbringt. Selbstbestimmung die App «SBS Leser Plus» (für iOS), und Selbstverantwortung, Hilfe und inklusive Abspiel- und Download- Solidarität sind die wichtigsten Merk- Möglichkeit für Hörbücher und male dieser Selbsthilfe – getreu dem E-Books der SBS Schweizerischen Motto: Gemeinsam weiterkommen! 25
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