Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
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N° 1/2021 Momentum Das österreichische Journal für positive Suchttherapie Herausgegeben vom Anton Proksch Institut Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt 1
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser! D ie Planung für die aktuelle Ausgabe von „Momentum“ begann mit einer Facebook- Nachricht der Journalistin und Autorin Gabriele Kuhn: Sie habe, so schrieb sie mir, „Momentum“ in die Hände bekommen und mit großem Interesse den Text einer stationär aufgenommenen Patientin gelesen – auch aus ihrer eigenen Betroffenheit heraus, als Tochter von zwei alkoholkranken Eltern. Eine alles andere als selbstverständliche Offen- heit, die mich umso mehr gefreut hat – kann sie doch Suchtkranke und deren Angehörige dabei unterstützen, selbst den Mut aufzubringen, über ihre Situation zu sprechen. Darum bat ich Frau Kuhn, ihre Geschich- te für „Momentum“ aufzuschreiben. Das Ergebnis finden Sie 4 Überleben – eine Kraft Gabriele Kuhn ab Seite 4. Ich darf Ihnen diesen berührenden und mutigen Text ans Herz legen und mich auch an dieser Stelle ausdrück- lich dafür bedanken, dass wir ihn abdrucken dürfen. „Die Sucht hinterlässt nicht nur bei den Süchtigen tiefe 8 Angehörige zwischen Co-Abhängigkeit und Ressource Spuren, sondern auch bei jenen, die mit ihnen leben müssen. Wenn ein Familienmitglied suchtkrank ist, sind alle Menschen Wolfgang Ferdin in dieser Familie betroffen. Man könnte sagen: Alle sind krank.“ Die Erfahrungen von Gabriele Kuhn decken sich mit dem aktu- 12 Zwischen Erkenntnis, Geduld und Hilf- losigkeit ellen Stand der Wissenschaft, aber auch mit unseren Erfahrun- gen im Anton Proksch Institut. Drei KollegInnen beschreiben, mit welchen Herausforderungen Angehörige von Suchtkranken Linda Plank konfrontiert sind, wie sie das Suchtverhalten von geliebten 16 Loslassen heißt nicht Fallenlassen Ute Andorfer Menschen sogar noch befördern können, aber auch, wie sie im Zuge des therapeutischen Prozesses zur Ressource werden. Wenn wir von Angehörigen sprechen, meinen wir in 20 Das menschliche diesem Kontext nicht nur Partnerinnen und Partner, Töchter und Rühren und die Kraft Söhne, Mütter und Väter. Es geht um „concerned significant der Verzeihung others“, also betroffene, wichtige Menschen aus dem Umfeld Hartmut Rosa des oder der Suchtkranken. Deshalb enthält diese Ausgabe von „Momentum“ auch einen Text des bekannten deutschen Soziologen Hartmut Rosa, in dem er über Freundschaften schreibt: „Als Zeugen unseres Lebens haben alte Freunde die Fähigkeit, uns mit unserer eigenen Biographie in Verbindung zu bringen, wenn wir im Durchleben schwieriger Veränderungsphasen den Kontakt zu unserem früheren Selbst verloren zu haben scheinen.“ Wir hoffen, Ihnen auch mit dieser Ausgabe von „Momentum“ wieder neue Denkan- stöße mitzugeben. Kostenlose Abonnements können Sie auch weiterhin per Mail an abo@api.or.at bestellen. Empfehlen Sie uns gerne weiter! Viel Freude beim Lesen! DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS Geschäftsführerin 3
Überleben – eine Kraft Alkoholismus ist eine Krankheit, die eine ganze Familie betreffen kann – vor allem auch die Kinder. Die Journalistin und Autorin Gabriele Kuhn (60) erzählt, wie es ist, mit abhängigen Eltern aufzuwachsen und trotzdem ein gutes Leben „danach“ zu gestalten. G eblieben ist die Anspannung. Eine latent- war. Das Chaos, die Unberechenbarkeit, die Angst, subtile Form psychophysischer Spannung, die Anspannung, die Wut und die Ohnmacht. Und oft nicht spürbar und trotzdem immer da. die Scham. Alles verursacht durch den Alkohol. Sie sitzt zentral, nur ein kleines Stück oberhalb des So ist sie, die Welt, dachte ich, und kam gar Nabels, dort, wo sich der Solarplexus befindet. nicht auf die Idee, über meinen Tellerrand zu schau- Wenn etwas nicht stimmt und bedrohlich auf mich en. Stattdessen zog ich mich in das mir Vertraute wirkt, wenn ich etwas nicht sofort einordnen oder zurück und konditionierte mich darauf, hinzuneh- erklären kann, springt dieses System an. Wie ein men, was eigentlich inakzeptabel war. Seismograf, der auf ein nahendes Beben reagiert. Ein schiefer Blick, eine unpassende Reaktion, eine So mutig wie verzweifelt vage Bedrohung – das alles reicht bereits, damit ich Für Menschen und Kinder, die in einer Suchtfamilie mich aufgewühlt und vorahnend fühle. Die Anspan- leben oder aufwachsen, wird es normal, Scham zu nung wird stärker, breitet sich aus, von der Mitte des spüren, doch das Mitleid der anderen nicht an sich Bauchs zu den Muskeln, zum Kiefer, in die Augen. heranzulassen. Es wird normal, still zu sein, obwohl Mein Atem wird flacher, manchmal halte ich ihn an, man Nein! rufen sollte. Es wird normal, die nächt- der Herzschlag beschleunigt sich leicht. Längst weiß liche Verlustangst zu fühlen, wenn die Eltern nicht ich um die Ursachen dieses Geschehens und habe heimkommen, um sie am nächsten Schultag wie ein gelernt, gegenzusteuern. Ebenso habe ich gelernt, Federpennal in die Ecke zu pfeffern. Die Unsicher- meine hauseigene Alarmanlage als das gewisse Et- heit und das Unberechenbare werden normal. Das was zu schätzen, als „mein Juwel“. Ich betrachte sie erschöpfte Einschlafen in verrauchten Gasthäusern, als Teil von mir, als Stärke und Spür-Sinn. Viele Jahre irgendwo auf einer Bank, gegen Mitternacht. Das meines Lebens empfand ich sie allerdings – weil ur- Aufstehen und Funktionieren am nächsten Tag, in sächlich noch nicht ergründet – als Belastung, fühlte der Schule. Dass man sich anpasst, dieses System mich falsch. Gleichzeitig sehnte ich mich nach einer verteidigt, mit allen Kräften zusammenhält. Und Leichtigkeit, die mir bereits früh genommen wurde. ebenso normal wird es, dass ein Kind manchmal für Mama oder Papa (mitunter beide) sorgen muss, ob- Namenlose Bürde wohl es ausnahmslos umgekehrt sein sollte. Und ich Dass ich in einer Suchtfamilie aufgewachsen bin, hielt es für normal, die Zähne zusammenzubeißen, habe ich erst bemerkt, als es diese Familie längst um den mitleidigen Blicken Fremder standzuhalten, nicht mehr gab – Jahre, nachdem mein Vater mit 49 die mich anstarrten, wenn meine Eltern die Kontrol- und meine Mutter fünf Jahre später mit 56 Jahren le über sich verloren. Um zu zeigen, man sei stark starb. Mit 20 Jahren war ich Vollwaise und fühlte – oder besser noch: nicht tangiert, nicht berührt, mich verlassen. Gleichzeitig ahnte ich, dass sich eine isoliert vom Geschehen. All das konnte ich. Weil ich namenlose Bürde für immer aus meinem Leben das Tun der beiden – ihr Trinken als Strategie, dem verabschiedet hatte, nicht wissend, dass mich dieses Leben in seinen Facetten zu begegnen – als Lebens- GABRIELE KUHN, 1960 in Wien gebo- „Namenlose“ noch länger als vage und bedrücken- Skript verinnerlicht hatte, das es nicht zu hinterfra- ren, arbeitete 25 Jahre de Konstante begleiten würde. So lange ich mich al- gen galt. Wie auch? Ich kannte kaum etwas anderes. lang als Redakteurin lerdings als Teil dieses Systems wähnte, so lange ich Ich befand mich mitten im Survivaltraining. beim „Kurier“. Seit es für mich selbst als heimatlichen Ort erklärte, so Es wurde nicht immer getrunken, Mama Anfang 2021 ist sie als lange empfand ich es als normal, was dort passiert und Papa waren keine Spiegeltrinker, sondern freie Autorin tätig. 5
Menschen, die sich zunächst gelegentlich und sichtbar. Das rührt daher, dass alle an diesem Ort schließlich immer öfter in die Besinnungslosigkeit gelernt haben, das Kranke zu verdrängen und das soffen. Es wurde viel getrunken, wenn es lustig Thema Sucht zu verleugnen bzw. zu tabuisieren. Es war. Es wurde viel getrunken, wenn es traurig war. gilt das Mantra Es ist nichts. „In vielen Suchtfamilien Es wurde viel getrunken, wenn es Streit gab. Im ist die elterliche Sucht ein Geheimnis, über das nie- Urlaub, an den Wochenenden, zu Weihnachten, zu mand sprechen darf. Suchtfamilien leben an einem Silvester. Aus einem „mitunter“ wurde „oft“, aus „oft“ Nicht-Ort“, heißt es in dem Buch „Vater, Mutter, ein „noch öfter“. Irgendwann war der Rausch unser Sucht“ von Waltraut Barnowski-Geiser. Und weiter: verbindendes Schicksal und ließ das sowieso schon „Die Familienmitglieder leben an einem extrem klein gewordene Glück final schrumpfen. Mein Vater durch die Sucht geprägten Ort, der sie maßgeb- ging voran, meine Mutter schlitterte nach, wurde zur lich bestimmt, und zugleich gibt es diesen Ort als Co-Trinkerin. Vielleicht ein Akt der Liebe, der Solida- Begrifflichkeit und in der familiären Wertung nicht rität, aus der Illusion heraus, auf diese Weise über oder zumindest soll es ihn nicht geben. Das bringt Papas Trinkverhalten Kontrolle zu bekommen. Oder eine Menge an Verwirrung und Schwierigkeiten mit selbst nicht so viel spüren zu müssen. Irgendwann sich – für alle Familienmitglieder, vor allem aber für mischte sie den Alkohol mit Beruhigungsmitteln. die Kinder.“ Nach dem Tod meines Vaters kam die Trauer – er So entsteht ein sich selbst erhaltendes ging, der Alkohol und die Tabletten blieben ihr. System, das sich immer wieder neu organisiert. Die Fassade steht, wird immer wieder neu und schön Nach außen fein und adrett getüncht, ohne dass das Dahinter sichtbar wird. Das Wie das oft so ist, hat uns niemand die „Suchtfami- war auch bei uns der Fall – niemand hier sprach von lie“ angesehen. Nach außen hin war immer alles Sucht oder Alkoholkrankheit. Auch andere Familien- fein und adrett, in gewissen Zügen galt das auch für mitglieder, selbst die engsten, sagten nichts und unser Familienleben. Die Eltern, im Zweiten Welt- verleugneten das Geschehene. Sogar lange nach krieg herangewachsen, gaben mir an Liebe und dem Tod meiner Eltern durfte über dieses Thema Geborgenheit, was sie hatten. Nüchtern sorgten nur bei Höchststrafe und Ächtung geredet werden. sie immer gut für mich. Beide waren stets schön Dass Mama an so manchem Abend lallend auf dem gekleidet, mein Vater – Oberkellner in einem Wiener Boden gelegen war, um sich am anderen für einen Gasthaus – liebte Maßanzüge. Die Mutter – Haus- Spaziergang mit mir in den Park herauszuputzen. frau – legte großen Wert auf Ordnung, Schönheit, Dass mich Papa nüchtern in die Arme genommen das Äußere. Ich trug Lackschuhe, weiße Stutzen und hatte, um ein paar Stunden sowie jede Menge Wein ihre selbst gestrickten Pullis. Sie war beliebt, hatte später verbal zu randalieren. Am nächsten Tag wa- Herzensbildung, kochte fantastisch, sang gerne ren die Eskalationen auch schon wieder vergessen. und gut. Mein fescher Vater konnte umwerfend Alles gut, Kind. Nicht undankbar sein. charmant sein, liebte Frank Sinatra und ging gerne wandern. Zur Matura wollte er mir unbedingt einen Es galt auszuhalten, was ist „Mini“ schenken, er hat dieses Ereignis nicht mehr Die Sucht hinterlässt nicht nur bei den Süchtigen tie- erlebt. Am Wochenende machten wir Ausflüge, fe Spuren, sondern auch bei jenen, die mit ihnen le- ben müssen. Wenn ein Familienmitglied suchtkrank ist, sind alle Menschen in dieser Familie betroffen. Wie das oft so ist, hat uns Man könnte sagen: Alle sind krank. Die Belastung der Angehörigen und der Kinder ist enorm, wird niemand die „Suchtfamilie“ aber häufig übersehen, weil vor allem die Bedürf- angesehen. nisse und das Tun des/der Süchtigen im Mittelpunkt stehen. Alles dreht sich um sie – sie werden beob- achtet, gestützt, gedeckt und getragen. die immer in irgendeinem Gasthaus endeten und – Nichts im Alltag von Suchtfamilien ist be- spätnachts – im Albtraum. Unter der Woche fand er rechenbar. Es gab in meiner Kindheit und Jugend nach Dienstschluss oft nicht nach Hause, sondern Tage, da passierte nichts, alles fühlte sich „normal“ holte nach, was er untertags in der Arbeit nicht an an, halbwegs zumindest. Es waren die guten Tage, Alkoholischem konsumieren wollte und konnte. In die Höhepunkte. Das konnte sich schlagartig ändern seinen besten Zeiten trank er 30 bis 35 Spritzweine – meist am Wochenende, wenn Papa Ruhetag hatte. – und zwar, nachdem man ihm den Magen, die Milz Oder bei Familienessen in Lokalen bzw. bei Festen und Teile der Bauchspeicheldrüse nach einer Krebs- bei uns daheim. Ganz schnell konnte die Stimmung diagnose entfernt hatte. kippen, das Geschehen mäanderte zügig Richtung Von Alkoholkranken wird oft ein pauschales Exzess. Es wurde getrunken, bis die Situation völlig Bild gezeichnet – von Dauer-Verwahrlosung und außer Kontrolle geriet. In dieser Angstspirale sind Zerstörung. Das mag in manchen Fällen so sein. die Wurzeln jener Spannung zu finden, die ich, Doch oft ist das Chaos, das durch die Sucht am wie anfangs beschrieben, manchmal heute noch „Tatort Familie“ entsteht, für Außenstehende kaum fühlen kann. 6
Angehörige von Suchtmenschen werden in Antworten auf Fragen, die ich ihnen nicht stellen viele Rollen gezwungen: den Hüter des Geheim- konnte, weil sie schon so lange tot waren. Die Wut nisses, aber auch des Opfers, des Märtyrers, des wich, stattdessen konnte ich erstmals trauern – um Starken, des Mutigen, des Vermittlers. Und des das, was ich im Gegensatz zu anderen Kindern und Täters. Wie oft musste ich während meiner Pubertät Jugendlichen nicht bekommen hatte. Vor allem hören, ich würde meine Mutter aufgrund meines aber trauerte ich um meine Eltern, deren Leben sehr unangepassten Verhaltens zur Verzweiflung bringen schwierig war, und die offenbar im Alkohol Erleich- (und damit zum Griff nach Alkohol oder Tabletten). terung fanden. Es war ihre Wahl. In solche Rollen gehievt, verlernt man, sich selbst und seinen Gefühlen zu trauen, um sich gleichzeitig Die Starre wich anzutrainieren, Gefühltes erst gar nicht zuzulassen. So wurde ich zunehmend weicher, die Starre wich, Stattdessen entsteht eine Art Drehbuch, eine fast ich fühlte mich beweglicher, reicher an Möglichkei- schon rigide Handlungsanleitung fürs eigene Ver- ten und an Handlungsspielräumen. Dabei erkannte halten: Man will die geliebten Suchtkranken retten, ich auch, wie viel Glück mir widerfahren war – weil verstehen, ihr Tun verstecken, das Leben mit ihnen es neben meinen Eltern andere, wertschätzende schönfärben, sich anpassen und: schweigen. Ein Menschen gegeben hatte, die für mich da und mir roter Faden der Selbsttäuschung und Täuschung anderer, der sich bis ins Erwachsenenleben spinnt. Nichts an dem, was man ist und tut, scheint zu Ich lernte, meine Stärke zu stimmen. Ich hatte sehr lange ein vages, durch den würdigen, die ich einst als frühen Tod der Eltern sogar sehr idealisiertes Bild meiner Kindheit. Doch irgendwas stimmte nicht. „Suchtkind“ entwickeln musste. Je älter ich wurde, desto mehr Wut war da – Zerstörungswut, Wut auf mich selbst und auf etwas, nahe waren und mir in vielen Momenten einen das ich nicht in Worte fassen konnte. Lange dachte Platz schenkten, an dem ich Kind und Mensch sein ich, mit mir sei etwas nicht in Ordnung, ich sei nicht konnte. Zum Beispiel die Nachbarn in dem Haus, in richtig. Die Begleitmelodie meines Lebens war von dem wir wohnten, und später Freundinnen, Freunde Sehnsucht nach einer anderen Welt geprägt, die ich sowie Partner. Dafür bin ich noch heute dankbar. Vor nicht zeichnen konnte. Mein Stresslevel war hoch, allem aber lernte ich, meine Stärken zu würdigen, ich hatte einen leichten Schlaf und ein verzerrtes die ich einst als „Suchtkind“ entwickeln musste, um Selbstbild sowie das Gefühl nichts wert zu sein. Ich zu überleben – für mich ein wichtiger, vielleicht der suchte nach Anerkennung, sehnte mich nach Nähe wichtigste Perspektivenwechsel überhaupt. Ich weiß, und Distanz zugleich, verbunden mit der Tendenz, dass ich belastbar bin, nur selten aufgebe, sozial das, was ich liebe, wieder kaputt zu machen. kompetent und feinfühlig bin – sowie leidenschaft- liche Mutter und Familienmensch. Gleichzeitig weiß Ein Ort der Erkenntnis ich um meine Grenzen und das Verletzbare in mir. Das größte Problem war jedoch die Frage nach mir Meine Eltern gingen ihren Weg, ich bin selbst: Wer bin ich? „Wenn die Heimat ein Nicht-Ort ihnen nicht gefolgt und habe meine eigene Wahl ist, wenn Menschen nicht wissen, wo und wie sie getroffen. Ich habe mich für das Leben entschieden. leben, wenn sie nicht genau wissen, wie der Ort Das, was geschehen ist, ist nicht vergessen, sondern ihrer Herkunft aussieht, dann kann das zu einem ich verstehe es als wesentlichen Teil von mir, der aus schweren Problem für ihre Identität werden – wie mir jenen Menschen gemacht hat, der ich heute bin. sollen sie wissen, wer sie sind, wenn sie in großer So betrachtet, ist es mir gelungen, die Ketten und Verwirrung sind, über den Ort, von dem sie ab- Glaubenssätze des Vergangenen abzulegen – nicht stammen. Ohne Herkunft keine Zukunft“, so Waltraut gänzlich, aber weitgehend. Mehr denn je zählt Barnowski-Geiser. Irgendwann wurde der Druck für mich heute, was ist – und nicht, was war. Vieles so groß, dass ich aufbrach, um nach Antworten schaue ich mir dabei nach wie vor beim großen Vik- zu suchen. Ich fing an, mich im Rahmen familien- tor Frankl ab. Durch ihn habe ich erkannt, dass nicht systemischer Interventionen mit meinen Wurzeln wir es sind, die nach dem Sinn des Lebens fragen zu beschäftigen, las viel, begegnete den richtigen sollten, sondern das Leben es ist, das Fragen stellt. Menschen zum richtigen Zeitpunkt, wurde von „Wir sind es, die da zu antworten haben, Antwort vielen verschiedenen Dingen inspiriert. Im Zuge all zu geben haben, auf die ständige, stündliche Frage dessen lernte ich anzuerkennen, was mir, aber auch, des Lebens, auf die Lebensfragen. Leben selbst was meinen Eltern widerfahren war. So wurde mein heißt nichts weiter als ein Antworten – ein Ver-Ant- ehemaliger Nicht-Ort zu einem Ort der Erkenntnis – worten des Lebens. In dieser Denkposition kann nicht alles wurde sichtbar, aber vieles. Meine Suche uns aber jetzt auch nichts mehr schrecken, keine wurde belohnt, der Vorhang hob sich. Zukunft, keine scheinbare Zukunftslosigkeit. Denn Ich erkannte Zusammenhänge, entwickelte nun ist die Gegenwart alles, denn sie birgt die ewig Mitgefühl, mit mir, mit Mama und Papa. Und fand neue Frage des Lebens an uns.“ 7
Angehörige zwischen Co-Abhängigkeit und Ressource Partnerinnen und Partner, Freundinnen und Freunde, Kinder oder Eltern von Suchtkranken können deren Abhängigkeit verstärken – oder den Weg heraus unterstützend begleiten. Ein Überblick über die professionellen Konzepte, die „Concerned Significant Others“ zur Ressource machen. WOLFGANG FERDIN S eit ungefähr 50 Jahren existiert nun schon neben inadäquaten, teilweise seltsam groben der Begriff „Co-Abhängigkeit“ im Kontext der Verhaltensweisen auch häufig zu aggressivem und Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen. dominantem Verhalten, das sich insbesondere Laut aktueller Definition versteht man darunter dann zeigt, wenn Betrunkene in ihrem Gefühls- und Verhaltensweisen und Kommunikationsstile von Wahrnehmungstunnel an Grenzen stoßen und sie Angehörigen von Substanzabhängigen, die trotz ihre gewünschte Realität gerade nicht erzwingen „guter Absicht“ geeignet sind, ein unkontrolliertes können. Neben der Frustration (bei alkoholbedingt und ungesundes Konsummuster aufrechtzuerhalten reduzierter Frustrationstoleranz) treiben auch Scham oder sogar zu verstärken. Angehörige mit einer „Co- und Ohnmacht den Gefühlssturm an. Ohnmacht ist Abhängigkeit“ sind also zunächst per definitionem in diesem Zusammenhang die wesentliche Emotion das Gegenteil einer Ressource in der Suchtbehand- derjenigen, die bemerken, dass sie nicht mehr wie lung. zu Beginn des Wirkungstrinkens mit Alkohol „am Rädchen drehen“, sondern längst in der Alkohol- Stressor Co-Abhängigkeit sucht „vom Rad gedreht werden“. Es ist ärgerlich, „Co-Abhängigkeit“ bedeutet mehr als die „Co-Be- wenn die Kontrolle weitgehend entglitten ist. troffenheit“ und Verzweiflung angesichts der Sucht Wie viel Kontrolle haben aber die Angehö- DR. WOLFGANG eines nahestehenden Menschen. Genau genom- rigen über das Trinkverhalten ihrer alkoholkranken FERDIN ist Facharzt men hat sich der Begriff aus der speziellen Art der Nächsten? Die Antwort lautet: noch deutlich für Psychiatrie und konflikthaften Verstrickungen, die typischerweise weniger! Die Versuche Angehöriger, in ihrer Ver- Psychotherapeutische bei Alkoholabhängigkeit zu finden sind, entwickelt. zweiflung und ihrer Ohnmacht dem Kontrollverlust Medizin und seit 2011 Oberarzt am Anton Viele kennen den Spruch „in vino veritas“. und der Ohnmacht der Süchtigen mit rigorosen Proksch Institut. Er beschreibt die Folgen der Enthemmung Betrun- Kontrollen zu begegnen, scheitern letztlich immer. Aktuell leitet er den kener, der verminderten Rücksichtnahme auf das Egal, ob täglich alle Schubladen und möglichen Bereich „Psychische Seelenkostüm des Gegenübers, die Aufgabe von Verstecke kontrolliert werden oder stets an der Komorbiditäten bei Taktgefühl und politischer Korrektheit, das ungezü- Eingangstür Alkoholtests gemacht werden, Alko- Sucht“ sowie die gelte Herauslassen der ungeschminkten Wahrheit. holkranke werden in so einer Konstellation immer Angehörigenbetreu- Aber was heißt denn hier „Wahrheit“ genau? Hier einen Weg finden (trotzig und offen oder verstohlen ung. Er betreibt auch eine Wahlarzt- bricht sich doch nur die subjektive Sicht auf eine und heimlich), zu trinken. ordination in bestehende Konfliktlage unter Alkoholeinfluss Es ist durchaus nachvollziehbar, dass An- Wien-Hietzing. Bahn. Die alkoholbedingte Enthemmung führt gehörige angesichts der emotionalen Verletzungen 8
oder ihrer Ohnmachtsgefühle emotional und Umgang mit schwierigen Gefühlen geht, sowie konfrontativ reagieren. Um endlich eine Umkehr um Unterstützung im Kontext der eigenen Hilfs- oder Abkehr von der süchtigen Konsumgewohnheit bedürftigkeit als Angehöriger. Es geht aber auch zu bewirken, flehen sie an, keppeln, kritisieren und um Schulung in strategisch-kluger Kommunikation drohen (typische „co-abhängige“ Kommunikations- (systemisches Coaching). Eine nicht-konfrontative, stile). Versuche, durch umfassende Kontrollen des positive Kommunikation soll der Schlüssel zur Süchtigen und möglicher Verstecke die Sucht zu Motivation des Suchtkranken sein. Diese beinhaltet: bekämpfen, sind ebenso zum Scheitern verurteilt wie eine Laissez-faire-Haltung, die bis zur Kumpanei Kurze Statements, die auch Lob für beobachtete • geht (mit Übernahme der Krankenstandsmeldung Bemühungen enthalten, statt ausufernder Predig- an den Betrieb etc.). ten oder ewiger Schuldsuche. Das Mitteilen eigener Gefühle in Ich-Botschaften • Ambulantes CRAFT-Konzept und diese auch mit Verständnis für die schwierige Die emotional und suchttherapeutisch überfor- Situation der suchtkranken Person verknüpfen. derten Angehörigen wurden da und dort, nicht Kritik nur an bestimmten Verhaltensweisen, aber • zuletzt durch ein Überinterpretieren des Konzeptes nicht an der Person generell im Sinne einer Pau- der „Co-Abhängigkeit“, zu den eigentlich Schuldi- schalentwertung. gen stilisiert. Auch im Rahmen einer ambulanten Konkrete Belohnungen für das Aufsuchen pro- • Suchtbehandlung wurden und werden Angehörige fessioneller Behandlung oder für reduzierten immer wieder auf Distanz gehalten und sehr kritisch Substanzkonsum in Aussicht stellen. betrachtet. Es wird den Süchtigen dabei nicht nur zur zeitweiligen Abgrenzung, sondern oft sogar Dieses Programm und diese Strategie ganz zur Trennung oder nachhaltigen Kontaktsperren allgemein ist clever und wirksam, aber nicht so geraten. Tatsächlich kann in manchen Situationen komplex, dass die Anwendung eine jahrelange die innere Bereitschaft loszulassen oder Abstand zu Psychotherapieausbildung erfordern würde. gewinnen sehr wichtig sein. CRAFT wurde zwar für den Alkoholsucht- Aber nur durch Trennung lösen sich noch bereich in Amerika entwickelt, wurde aber in der nicht alle Probleme und es gibt Lebensumstände, Zwischenzeit auch schon für verschiedene Substanz- die diese Option sehr schwierig und nur verlustreich süchte erfolgreich adaptiert. Einige Studien belegen für alle Seiten umsetzen lassen. Angehörige sind die Wirksamkeit im ambulanten Setting und dies natürlich häufig Partnerinnen oder Partner, aber in allen klassischen Zielen dieses Programmes: auch Eltern und Kinder, und die absolute Trennung Reduktion des Substanzkonsums, Reduktion der und der Kontaktabbruch werden auch oft nur im häuslichen Gewalt, Stärkung der Motivation der ersten Moment als befreiend erlebt. Später stellt oder des Betroffenen hinsichtlich einer Inanspruch- sich eher das Gefühl der tristen Vereinzelung, des nahme professioneller Suchtbehandlung und Abgeschnittenseins ein – auch von allen positiven Verbesserung der Lebensqualität der Angehörigen, zukünftigen Veränderungen, die mit entsprechen- auch unabhängig davon, ob die oder der Betroffene der professioneller Unterstützung vielleicht möglich etwas verändert. gewesen wären. Stationäre Angehörigenarbeit Für viele Alkoholkranke sind nachhaltige Behand- Die stationäre Behandlung lungserfolge nur im stationären Setting möglich. Dieses hilft unter anderem dabei, Abstand zur hilft, Abstand zur gewohnten gewohnten Lebenswelt mit ihren Fallstricken der ge- Lebenswelt zu finden. wohnten Muster zu finden. Der stationäre Aufenthalt ist oft ein wichtiger Schritt zu einer vogelperspek- tivischen Standortbestimmung und einer Ziel- und Wie kann man Angehörige so unterstützen, Werteklärung aus der Mitte der süchtigen Person dass sie Teil einer Lösung bzw. eine Ressource in und nicht aus den Realitätszwängen des Alltags he- der Überwindung der Sucht werden können? Daran raus. Letzteres führt zu den berühmten „guten Vor- forschte der Psychologe und Verhaltenstherapeut sätzen“, die oft an der Willensschwäche scheitern, Prof. Nathan Azrin. So entwickelte er in den USA aber eben nicht wirklich gewollt werden, weil sie der 1970er Jahren das CRAFT-Konzept für den nicht den echten und tatsächlich als attraktiv emp- ambulanten Bereich. CRAFT ist ein Akronym, das für fundenen Zielen und Werten entsprechen. In der „Community Reinforcement And Family Training“ Suchtbehandlung geht es aber genau darum, diese steht (dt.: Systemische Stärkung und Familientrai- sogenannten „real wants“ herauszufinden, weil nur ning), aber auch das Wort „craft“ meint; im Sinne sie Zugkraft nach vorne und oben entwickeln. von Know-how, Skill, Kunstfertigkeit. Aus der Sucht herauszukommen, ist keine Es geht dabei um klassisches empathisches Kleinigkeit und es genügt eben auch kein eherner Ernstnehmen und Zuhören, wenn es um den Beschluss aus einem Tiefpunkterlebnis heraus. 10
Meist mündet so ein spontaner Entschluss in der Der Weg aus der Sucht ist „genialen Erkenntnis“, ab nun das Suchtmittel nicht mehr konsumieren zu dürfen/sollen/wollen. Wenn kein Spaziergang, sondern das reichen würde, wären Suchterkrankungen nicht derart komplex. Der Weg aus der Sucht ist nie ein eher eine Bergwanderung. lockerer Spaziergang, es ist wohl eher mit einer Bergwanderung vergleichbar. Bei aller Begeisterung Others“: drei Wörter, die auch drei gute Rohstoffe für also für die Hinwendung zu positiven Zielen und Ressourcen benennen können. neuen Wegen darf das Wichtigste für den Menschen Concerned: Angehörige sind von den schädlichen • als soziales Wesen nicht vergessen werden: die Auswirkungen der Sucht konkret mitbetroffen, Weggefährtinnen und -gefährten! Wenn wir ehrlich können sich aber auch betroffen fühlen und sich zu uns sind, werden wir wohl zustimmen, dass ohne kümmern (wollen), was auch eine Bedeutung des unterstützende Begleiterinnen und Begleiter wohl Wortes darstellt. Will man auf gutmeinende und kein Gipfelsieg möglich sein wird – oder nur für die zum Kümmern um das Wohl des Suchtkranken allerwenigsten unter uns. prinzipiell bereite Menschen so ohne Weiteres ver- Professionelle Suchttherapeutinnen und zichten? Wohl eher nicht! -therapeuten haben sicher die Aufgabe, die initial Significant: Von Seiten der suchtkranken Person • unterstützenden Weggefährtinnen und -gefährten wichtig, identitätsstiftend, mit gemeinsamer Ge- zu sein. Es geht zunächst darum, den neuen Weg schichte und zukünftigen gemeinsamen Projekten mitzudefinieren (ähnlich einem Bergführer bzw. einer (Wir-Thema), wie dem (gemeinsamen) suchtfreien Bergführerin) und – was besonders wichtig ist – auch Leben. eine Zeit lang zu begleiten. Daraus ergibt sich auch, Others: Der Mensch ist ein soziales Wesen und • dass es dafür eine tragfähige therapeutische Be- verkümmert einsam und allein. ziehung braucht und keine kurz angebundenen und gestressten Therapeutinnen und Therapeuten, die mit Manualen und vorgefertigten Algorithmen um sich werfen, weil sie aus irgendeinem Grund nicht beziehungsbereit sind. Die ersten Weggefährten auf dem neuen Weg sind im Idealfall persönlich greifba- re und wertschätzende Mentorinnen und Mentoren, die mit Verständnis und sogar Sympathie ihr Wissen und ihre Erfahrung für die Suchtkranke oder den Suchtkranken einsetzen. Psychotherapie ist immer ein Projekt der Ermutigung, es doch zu wagen, neue Wege zu gehen, und im Falle von Suchttherapie zusätzlich ein Projekt der Tröstung und niemals des Vorwurfes, wenn es einmal einen Rückschlag gibt. Angehörige als unterstützende Weggefährten Suchttherapeutinnen und -therapeuten haben als Katalysatoren des Lebensneugestaltungsprozesses und als initiale Weggefährtinnen und -gefährten ihrer Patientinnen und Patienten in der ersten Phase die Aufgabe, vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Dabei geht es sowohl um typische Auslösereize (Trigger) von Rückfällen als auch um eine Filterung Resümee von co-abhängiger Kommunikation und Auftrags- erteilungen. Aber schon in der ersten Phase einer Stationäre Angehörigenarbeit beginnt im Bewusstsein der profes- stationären Suchtbehandlung kann man Angehörige sionellen ersten Wegbegleiter, nur erste Wegbegleiter zu sein. als Motivatorinnen und Motivatoren virtuell ins Boot Sie haben diese Funktion aber in einer sehr markanten Phase der holen, etwa durch die Frage an die gerade Aufge- Lebensneugestaltung und sollten daher das Wesentliche an die nommenen, wer sich wohl freuen werde, wenn eine nachfolgenden ambulanten professionellen Wegbegleiter weiter- positive Entwicklung in der Suchtklinik gelingt. geben, wenn sie diese Aufgabe nicht selbst wahrnehmen (können). Es ist zusätzlich auch eine Frage, wen sich Ambulante Angehörigenarbeit sollte die „co-abhängige“ die süchtige Person als weitere Wegbegleitung hin Dynamik auf Seiten der Angehörigen durch Unterstützung und zu diesem Ziel wünscht und wer aus dem sozialen Vermittlung von kommunikativem Know-how entschärfen helfen. Umfeld vom Aspekt der stationären Angehörigen- So können sie zu einer möglichen Ressource im Hinblick auf die betreuung als potentielle Ressource betrachtet und Überwindung der Sucht, aber auch auf die Verbesserung der fokussiert werden sollte. „Angehörige“ heißen im eigenen Lebensqualität werden. englischen Sprachgebrauch „Concerned Significant 11
Zwischen Erkenntnis, Geduld und Hilflosigkeit Auch wenn Suchtkranke nicht in Behandlung oder sich ihrer Erkrankung nicht bewusst sind, können deren Angehörige bereits Hilfe in Anspruch nehmen. Einige Beispiele aus der Arbeit des Anton Proksch Instituts. LINDA PLANK D ie Beratung von Angehörigen Suchtkranker Ruhe und Geduld ist so herausfordernd wie vielschichtig. Viele Menschen suchen bei uns Unterstützung Herr H. wollte schnell und lösungsorientiert die im Umgang mit suchtkranken Personen, ohne sich Alkoholabhängigkeit seiner Frau mit mir bespre- bewusst zu machen, dass wir „ihre“ Menschen gar chen. Er hatte bereits mit ihr gesprochen, allerdings nicht kennen. Hier zeigt sich eine massive Hilflosig- willigte sie nicht ein, sich in Therapie zu begeben. keit der Angehörigen. Hier halte ich eine generelle Er hatte sie beim heimlichen Trinken „erwischt“ und Aufklärung über Sucht für unerlässlich. Sucht als hatte schon länger den Verdacht, dass etwas mit ihr Erkrankung zu verstehen, ist einer der wichtigsten „nicht stimmt“. Herr H. stellte sie in einem Gespräch Inhalte, den ich an betroffene Personen vermittle. mit den Worten „Was du mehr liebst, musst du wäh- Es macht einen großen Unterschied zu wissen, dass len!“ vor die Entscheidung: entweder ER oder der jemand nicht absichtlich böse ist, lügt oder etwas Alkohol. Seine Frau hatte in diesem Gespräch kein verheimlicht, sondern dass dies Symptome einer Wort gesagt und nur den Kopf gesenkt gehalten. Erkrankung sind. Im Folgenden zwei Beispiele aus Die Alkoholdepots, die er im gemeinsamen unserer Angehörigenberatung. Haushalt fand, veranlassten ihn dazu, seine Frau zur Rede zu stellen. Herr H. wollte ein „Geständnis zur Sucht“ sowie die sofortige Einwilligung in eine sta- tionäre Therapie erzwingen. „Es ist unumgänglich, wir müssen sofort handeln“, waren seine Worte. Ich sprach bewusst seine Position bei der Behandlung seiner Frau an und wollte wissen, ob er Ehemann, Unterstützer oder Motivator sein wollte. Er sollte wählen, welche Rolle er in diesem Kontext einneh- men möchte. Ich riet ihm jedoch vehement davon ab, als Angehöriger die Position eines Polizisten 12
Mit dem Ansprechen der Suchtproblematik beginnt erst der Weg hin zur Behandlung. oder Klägers in einem Beweismittelverfahren einzu- Bombe geplatzt ist, müssen wir dringend handeln“, nehmen, der ein Geständnis hören möchte. sagte auch Herr H., „ich habe genug Geduld bewie- Unser einstündiges Gespräch begann sen.“ In seinen Augen stellte sich die Welt auch so damit, Liebe und Sucht auseinanderzuhalten sowie dar und sein Wunsch war legitim. Allerdings beginnt dem verzweifelten Angehörigen den Unterschied ab dem Aussprechen einer Suchtproblematik mit aufzuzeigen. Wichtig zu vermitteln war mir, dass dem abhängigen Menschen erst der Weg hin zur Sucht keine Liebe zu einer Substanz ist und Liebe Behandlung, der sich über Einsicht, Verständnis, keine Sucht nach einem Menschen sein sollte. Er Akzeptanz und den Mut zur Veränderung erstreckt. beschrieb seinen Zustand als Schockzustand und Nicht vom Problem sofort zur Lösung zu wechseln – wollte gerne für sich, seine Frau und seine Familie das war in diesem Gespräch der Fokus. Ich bat ihn eine schnelle Lösung. Die Geschwindigkeit ist ein noch einmal darum, Geduld aufzubringen, bevor er Ausdruck der Verzweiflung und des Wunsches den Wunsch nach einer Behandlung an seine Frau nach dem Wiederherstellen von Funktionalität richtete. Seiner Frau als Ehemann seine Sorgen und und Normalität in der Familie und vor allem beim seine Bedürfnisse zu vermitteln und sie ohne Druck, suchtkranken Familienmitglied. Die von der Sucht behutsam und freundlich, aber dennoch bestimmt Betroffenen fühlen sich dadurch schnell überfordert zu einem Aufsuchen von professioneller Hilfe zu LINDA PLANK, MSC, und lehnen dann als Konsequenz eine Behandlung motivieren, verstand er schließlich nach mehreren ist Psychotherapeutin zunächst ab. Schuld und Scham sind wieder vor- Gesprächen als Prozess. und unter anderem im dergründig. Die Beschäftigung mit der Sucht als Ruhe und Geduld waren hier die Schlüssel- Ambulatorium Wiedner Krankheit und die Einsicht in diese Erkrankung hat worte für eine neue Begegnung mit dem Thema Hauptstraße des Anton Proksch Instituts tätig. noch nicht stattgefunden. Sucht und deren Behandlung. Frau H. entschloss Neben der Beratung Angehörige zu bremsen und an ihre Geduld sich erst acht Monate nach dem Gespräch mit ihrem von Suchtkranken und zu appellieren, ist eine große Herausforderung. Im- Ehemann zu einem stationären Aufenthalt. Voran- deren Angehörigen be- merhin befinden sich diese Menschen schon lange gegangen war allerdings ein zeitnahe beginnender schäftigt sie sich auch in einer äußerst belastenden Situation. „Nun, wo die ambulanter Behandlungsversuch der Patientin. intensiv mit Traumata. Foto: Getty Images 13
Regelmäßiger Griff nach dem Controller: Wann beginnt das süchtige Verhalten? Sucht ja oder nein? am Computer.“ Die besorgte Mutter war im Gespräch mit mir voller Mitleid für ihren Sohn. Sie Ich führe häufig Gespräche mit Müttern, die hoch hatte Angst, er könnte depressiv sein und sich nicht emotional und hilflos im Umgang mit ihren nahezu mehr von der Trennung erholen, hatte er doch den erwachsenen Söhnen an ihre Grenzen stoßen. Inter- Termin beim AMS verpasst, weil er vom nächtlichen net, Handy und Interessenlosigkeit sowie ein har- Computerspielen zu müde zum Aufstehen war. Frau scher Umgangston bringen Erziehungsberechtigte V. nahm ihm alle anderen belastenden Tätigkeiten oft an den Rand der Verzweiflung. Häufig erlebe ich, ab, damit er zur Ruhe kommen konnte. Ich fragte, dass ein Grund für das Verhalten des Sohnes ge- wie ihr Sohn seinen Lebensunterhalt verdient, ob funden werden soll. Manchmal handelt es sich bei er anteilig Miete zahlt oder Geld für Essen und diesen Beratungsgesprächen auch um den Umgang Reinigung abgibt, was sie jedoch alles verneinte. mit Töchtern, aber das kommt meiner Erfahrung nach eher selten vor. Vollkommen auf Rückzug Frau V. schilderte mir lange und ausführlich Im Anschluss erkundigte ich mich nach weiteren die Probleme mit ihrem 25-jährigen Sohn, der nach Freizeitbeschäftigungen und Freundschaften außer- einer Trennung wieder bei ihr eingezogen war. Ihr halb des Internets. Auch dies verneint sie mit der Wunsch nach Hilfe für ihren Sohn veranlasste sie Begründung, er könnte aufgrund seines verschobe- zum Beratungsgespräch. Sie schilderte sein Verhal- nen Tag-Nacht-Rhythmus nicht viel „draußen“ unter- ten mit den Worten: „Er sitzt nur in seinem Zimmer, nehmen. Im weiteren Verlauf schilderte Frau V. auch schläft bis nachmittags, spielt dann bis früh morgens die Vernachlässigung der Körperpflege und des 14
sozialen Kontaktes. Ihr Sohn zog sich vollkommen selbständig und eigenverantwortlich zu handeln, zurück und sprach nur das Nötigste mit ihr, um wodurch sie einen erheblichen Anteil zur Selbst- jede Konfrontation zu vermeiden und Gesprächen werterhöhung ihres Sohnes beitragen konnte. über Arbeit, Zahlungen oder Zukunftsängsten aus „Liebevolle Strenge“ nannte Frau V. in Zukunft ihr dem Weg zu gehen. Die Kosten für Zigaretten, gewünschtes Verhalten gegenüber ihrem Sohn. Kleidung oder die Handyrechnungen übernahm Auch hier begann ein längerer Weg zur die Mutter. Klärung, ob der 25-jährige junge Mann Verände- Die größte Herausforderung meiner Tätigkeit rung zwar konnte, aber nicht wollte, oder wollte, sehe ich darin, Menschen im Umgang mit ihren aber nicht konnte. Es ging darum herauszufinden, (vermeintlich) suchtkranken Familienmitgliedern ob er Leidensdruck dabei empfand, dass er mit der zu beraten. Aus der Hilflosigkeit und Verzweiflung Realität nicht zurechtkam oder das Leben, wie er es der Angehörigen entsteht der Wunsch nach einem führte – gänzlich ohne Verantwortung –, genoss. Der Leitfaden im Miteinander, dessen Ausarbeitung von Fokus lag zudem auf der Beantwortung der Frage mir als Therapeutin erwartet wird. „Sucht, ja oder nein?“, um das weitere Vorgehen Frau V. zum Verständnis kommen zu lassen, bezüglich einer anstehenden oder bereits entwi- dass die Hilfe, die sie ihrem Sohn bisher anbot, ckelten Suchterkrankung besprechen zu können. keine Hilfe sein konnte, brauchte eine sanfte Stimme sowie eine freundlich gesinnte Verbindung, Humor Unterstützungsangebote in ganz Österreich für und Empathie. Meine Empfehlung an die besorgte Suchtkranke und insbesondere deren Angehörige Mutter war, ihren Sohn dabei zu unterstützen, finden Sie auf Seite 26. Foto: Getty Images 15
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Loslassen heißt nicht Fallenlassen Suchtkranke zu begleiten ist eine massive Herausforderung und bringt Angehörige oft selbst an ihre Grenzen. Das Anton Proksch Institut bietet Unterstützung an – stets unter der Prämisse: Ein JA zum Menschen, ein NEIN zur Sucht. UTE ANDORFER O ft besteht auch bei Angehörigen von Sucht- genauso wenig, wie es den einen Weg aus der kranken die Vorstellung: Wenn ich nur Suchterkrankung gibt. In der Gruppe erfahren An- genügend Liebe, Kraft und Überwindung gehörige natürlich Verständnis für ihre Situation und aufbringe, dann wird der abhängige, der sucht- Unterstützung. Durch Wissensvermittlung in Bezug kranke Mensch so, wie ich ihn haben möchte. Diese auf die Erkrankungsdynamik und durch Reflexion Vorstellung und Hoffnung ist jedoch zum Scheitern geht es in diesem Prozess jedoch auch darum, verurteilt. Angehörige hinsichtlich der Herausforderungen zu In einem Dickicht aus sozialen Zwängen, sensibilisieren und zu stärken. Gerade nach einer Wertvorstellungen, Vorurteilen, persönlichen Therapie warten auf Angehörige zahlreiche Situatio- Ängsten, falschen Hoffnungen und vielem anderen nen, die mit Gefühlen wie Unsicherheit, Sorgen und mehr sollen sich Familie, Partnerinnen und Partner, Ängsten, Misstrauen und Zweifel verbunden sind. Freundinnen und Freunde oder auch Kolleginnen Hier braucht es viel Feingefühl, viel Verständnis für und Kollegen von abhängigen Menschen zurecht- Sorgen und vor allem eine ehrliche Vermittlung von finden, sich klar darüber werden, welche Rolle sie in Mut und Hoffnung. diesem Krankheitsgeschehen spielen, wie sich die In der Begleitung von Angehörigen geht MAG. DR. UTE Krankheit eines anderen Menschen auf sie auswirkt, es also weniger um sogenannte Ratschläge, ANDORFER studierte sie also davon „mitbetroffen“ sind, wie sie durch sondern vielmehr um Wege der Selbsterkenntnis Psychologie an der Universität Wien und diese „Mitbetroffenheit“ sogar zur Aufrechterhal- und Anregungen, um aus einer möglicherweise an der Humanwissen- tung der Krankheit beitragen können und schließ- vorherrschenden passiven, resignativen oder gar schaftlichen Uni- lich, welche Wege es gibt, aus diesem „suchtauf- aggressiven Haltung herauszukommen – durch versität Liechtenstein. rechterhaltenden Teufelskreis“ auszusteigen. selbstverantwortliches Handeln und Verhalten, sich Sie ist Klinische und Aus diesem Grund hat die Angehörigen- änderndes und schließlich geändertes Denken Gesundheitspsycholo- betreuung am Anton Proksch Institut eine jahr- und Fühlen. gin sowie Verhaltens- zehntelange Tradition sowohl im Einzel- als auch im therapeutin. Seit 2000 ist sie am Anton Gruppensetting. Manche Angehörige wagen den Mitverstrickt in die Erkrankung Proksch Institut tätig Weg in die Angehörigengruppe nicht, vielleicht aus Angehörige sind zumeist in die Krankheit mitver- und betreut dort u.a. Scham oder auch aus Unsicherheit. Dabei ermög- strickt und laufen Gefahr, durch ihr Verhalten zur die Schwerpunkte licht gerade die Gruppe das Lernen voneinander Aufrechterhaltung des süchtigen Verhaltens des Psychotraumato- und Angehörige realisieren im Zusammentreffen mit Betroffenen beizutragen. Dazu zählt unter anderem logie und Gender anderen Betroffenen auch, dass sie nicht allein sind das Entschuldigen des Verhaltens der abhängigen und Diversity. Neben anderen Engagements mit ihrer problematischen Situation. Person, das Übernehmen von Aufgaben bzw. Ver- ist sie u.a. Vorstands- Die Angehörigen, die den Weg in die antwortungen, wiederholte Versuche, das Suchtver- mitglied der Österrei- Angehörigengruppen finden, haben zumeist große halten durch Kontrolle in den Griff zu bekommen, chischen Gesellschaft Erwartungen. Allerdings gibt es keine „Gebrauchs- und nicht zuletzt das Wahren des Familiengeheim- für Arbeitsqualität und anweisung im Umgang mit dem Suchtkranken“ – nisses „Sucht“ durch Abschottung nach außen. Burnout (Burn Aut). 17
Einerseits glauben Angehörige, dass sie mit ihrem Verhalten Situationen und auch das Verhalten Fragen aus der Praxis anderer Menschen beeinflussen können, anderer- seits erleben sie, dass sich eben doch, trotz all Was können Angehörige tun, wenn sie bemerken, ihrer Bemühungen, nichts an der Situation ändert. dass ein ihnen nahestehender Mensch vermehrt Darum beginnen sie auch früher oder später, an Alkohol trinkt, häufig nicht verschriebene Medika- ihren Fähigkeiten zu zweifeln, und entwickeln eine mente oder illegale Substanzen einnimmt, oder Bereitschaft, Leiden auszuhalten und darüber zu immer öfter Glücksspiel nachgeht? schweigen. Angehörige laufen dabei selbst Gefahr, Zunächst einmal kann man den nahestehenden nicht nur Stresssymptome, sondern auch psychoso- Menschen einfach darauf ansprechen. Dabei geht matische Krankheiten bis hin zu eigenen Abhängig- es darum, dass man dem oder der Betroffenen keiten zu entwickeln. mitteilt, was man wahrnimmt, was einem auffällt. Angehörige von Suchtkranken weisen jedoch Viele Angehörige haben große Hemmungen, die auch vielerlei Stärken und Fähigkeiten auf, die für betroffene Person auf ihren Substanzkonsum das Funktionieren eines gesellschaftlichen Systems anzusprechen, aus Angst vor einer unangenehmen unerlässlich sind. Sie können zum Beispiel gut für Reaktion, vor Konflikten oder auch Leugnung des andere Menschen sorgen, auf andere achten und Konsums und möglichem Rückzug. Man sollte sich sich einfühlen. Sie organisieren, strukturieren, sind aber nicht davor scheuen. Betroffene Personen hilfsbereit, rücksichtsvoll und zuverlässig. Oft ist es denken vielleicht gar nicht daran, dass ihr zuneh- das Übermaß all dieser Verhaltensmerkmale, das mender Konsum jemandem anderen auffallen dann zu Merkmalen von Co-Abhängigkeit führt. könnte. Einige empfinden es sogar als Erleich- Im Rahmen des co-abhängigen Verhaltens terung, dass er bemerkt wird. Andere hingegen werden von den betroffenen Angehörigen eigene möchten sich zu diesem Zeitpunkt selbst noch Gefühle und Bedürfnisse negiert. Sie streben nach nicht eingestehen, dass ihr Konsummuster prob- „dem“ perfekten Verhalten, welches im Zusammen- lematisch sein könnte, und reagieren mit Recht- leben mit einem suchtkranken Menschen entstehen- fertigung, Scham oder Rückzug. Dennoch ist das de belastende Situationen zu kontrollieren vermag. Ansprechen enorm wichtig, denn die Sucht wächst Da es die perfekte Kontrolle in Bezug auf einen in der Heimlichkeit. suchtkranken Menschen aber nicht gibt, entstehen immer mehr Gefühle der Ohnmacht und Hilflosig- Was können Angehörige tun, um Betroffene zu keit, Unzulänglichkeit, Schuld, Scham und Angst. einer Behandlung zu motivieren? „ Es ist wichtig, dass Angehörige erkennen, dass sie nicht etwas am Konsummuster des Suchtkranken Wenn du damit beginnst, verändern können, das kann nur der oder die Betroffene selbst. dich denen aufzuopfern, Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass meist etwas passieren muss, damit wir für eine Ver- die du liebst, wirst du damit änderung bereit sind. So ist es auch bei Menschen enden, die zu hassen, denen mit einer Suchterkrankung. Deren Tiefpunkte können ganz unterschiedlich sein: gesundheitliche du dich aufgeopfert hast. Zusammenbrüche, drohender oder tatsächlicher Arbeitsplatzverlust oder Weisung von der Schule, George Bernard Shaw Konflikte mit dem Gesetz, Führerscheinentzug, drohende Trennung in der Beziehung, finanzielle Schwierigkeiten etc. Es gibt für jeden Angehörigen an jedem Für Angehörige ist es natürlich sehr schwie- Punkt des Suchtprozesses die Möglichkeit, innezu- rig, auf so einen Zeitpunkt zu „warten“. Unsere halten und aus nicht hilfreichen Verhaltensmustern üblichen Verhaltensweisen im Umgang mit kranken auszusteigen. Dies bedeutet oft, sich den eigenen Personen, wie schonen, beschützen, sie bei ande- Gefühlen der Enttäuschung, Verletzung, Kränkung ren entschuldigen, Verantwortung vorübergehend zu stellen und sich der eigenen Sehnsüchte, Wün abnehmen, können jedoch bei Menschen mit einer sche und Lebensbilder bewusst zu werden und Suchterkrankung dazu führen, dass sie über lange Verantwortung für diese zu übernehmen. Zeit keinen Leidensdruck hinsichtlich ihres Kon- Gerade in der Begleitung von Angehörigen sums empfinden und keinen damit verbundenen gibt es häufig gestellte Fragen zum Umgang mit Wunsch nach Veränderung entwickeln können. Menschen mit einer Suchterkrankung, auf die nun Hier gilt es das „Loslassen“ des Betroffenen nicht in Folge eingegangen werden soll. Es handelt sich als „Fallenlassen“ zu verstehen. Vielmehr geht es dabei um Anregungen. Einfache „Kochrezepte“ gibt darum, dass der suchtkranke Betroffene erkennen es leider nicht. 18
kann, dass nur er die Verantwortung für seine Situ- Wenn Angehörige bemerken, dass der ation übernehmen kann und es eine Entscheidung oder die Suchtkranke erneut konsumiert oder zu treffen gilt: „Was ist mir wichtiger? Mein Suchtver- z.B. wieder spielt, sollen Angehörige – wie bereits halten oder ...?“ vorhin beschrieben – die Betroffenen darauf ansprechen und darauf hinweisen, was ihnen Was kann sich alles durch eine Behandlung der auffällt, bzw. Unterstützung bei einem erneuten Betroffenen verändern? Beratungstermin anbieten. Es ist immer wichtig, Wenn ein suchtkranker Mensch schließlich eine sich klar zu machen, dass nur der oder die Behandlung in Anspruch nimmt, werden einige Ver- Betroffene selbst einen Schritt setzen kann, um änderungen auf das gesamte System zukommen. das Problem wieder in den Griff zu bekommen. Wichtig dabei ist, dass Angehörige sich selbst und den Betroffenen Zeit geben, sich auf die neue Situa- Was können Angehörige für sich tun? tion einzustellen. Viele Angehörige von Menschen mit einer Sucht- Angehörige haben in den Jahren der erkrankung empfinden Gefühle der Ratlosig- Suchterkrankung sicher einiges mitgemacht und keit, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie haben den sind enttäuscht worden. Es braucht wahrscheinlich Eindruck, sie können nichts tun, nichts verändern, einiges an Zeit, damit Vertrauen wieder aufgebaut können nur warten, dass etwas passiert. Angehö- werden kann. Erhöhtes Misstrauen und Vorwürfe rige können vielleicht nicht unmittelbar am Kon- sind meist wenig hilfreich. Dennoch muss man dafür sumverhalten der Betroffenen etwas verändern, Verständnis haben. Betroffene selbst brauchen Zeit, aber sie können sich selbst entlasten. um wieder in ihre Rollen in der Familie oder einem Hier geht es darum, dass Angehörige anderen Kontext hineinzuwachsen. wieder ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen Wichtig und hilfreich ist es, gemeinsam und diesen auch nachgehen. Beim Reflektieren herauszufinden, wo Angehörige im Laufe der Zeit darüber, was einem gut tun könnte, was einem immer mehr Verantwortung für die Betroffenen früher oft Kraft gegeben oder Spaß gemacht übernommen haben, und diese Verantwortung auch hat – auch hierbei können Angehörigenbetreu- schrittweise wieder zurückzugeben. Hier braucht es ungsangebote hilfreich sein. So wie der Alkohol, Geduld und Verständnis, denn Veränderungen und die Droge, der Spielautomat oder Computer bei Muster, die sich über Jahre entwickelt haben, kön- dem oder der Betroffenen irgendwann in den nen nicht innerhalb von Tagen oder Wochen wieder Mittelpunkt des Lebens rückt, wird für Angehörige rückgängig gemacht werden. Wichtig ist es auch, oft die suchterkrankte Person zunehmend zum zu besprechen, wie man in Gegenwart anderer mit Mittelpunkt des Lebens, alles dreht sich um die dem Thema Sucht umgehen möchte, wer erfahren Sucht und andere wichtige Bereiche werden kaum soll, dass eine Suchterkrankung besteht. noch wahrgenommen. Im Falle einer Alkoholabhängigkeit darf man Erst der Schritt aus der Isolation, das natürlich darüber sprechen, ob Alkohol zu Hause Sprechen darüber, wird die Veränderung der sein soll oder nicht. Viele Betroffene fühlen sich Situation anstoßen. Was die Beziehung zum/zur bevormundet, wenn ihre Umgebung aus Angst vor Betroffenen betrifft, gilt es zu überlegen, wo die einem möglichen Rückfall krampfhaft auch keinen eigenen Grenzen sind, diese auch klar zu kommu- Alkohol trinkt, und eine völlig alkoholfreie Welt nizieren und auch zu besprechen, was passiert, können wir ohnehin nicht schaffen. Darüber reden wenn diese Grenzen überschritten werden. Es ist hilft! dabei wichtig, nur solche Konsequenzen anzukün- digen, die man auch bereit ist, umzusetzen. Es ist Was können Angehörige tun, wenn Betroffene z.B. wenig hilfreich, regelmäßig mit der Trennung einen Rückfall haben? zu drohen, wenn zum gegebenen Zeitpunkt Eine Suchterkrankung ist eine Erkrankung, die mit eine Trennung noch gar nicht in Frage kommt. Rückfällen einhergehen kann. Ein Rückfall sollte Je öfter Aktionen angekündigt und dann nicht ernst genommen werden, muss aber nicht gleich durchgeführt werden, desto weniger wirksam eine Katastrophe sein und sofort wieder in ein werden sie. Es ist wichtig und hilfreich, sich seinen früheres Konsummuster zurückführen. Ein Rückfall eigenen Handlungsspielraum immer wieder kann auch ein Hinweis darauf sein, dass ein Problem bewusst zu machen, um zu unterscheiden, was unterschätzt wurde, und es wichtig ist, sich mit dem man als Angehöriger selbst tun kann und wo die Thema weiterhin auseinanderzusetzen, am besten Verantwortung beim Betroffenen liegt. Die klare im Rahmen einer regelmäßigen ambulanten Be- Haltung sollte hier immer lauten: „Ein JA zum treuung. Menschen, ein NEIN zur Sucht!“ 19
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