Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut

 
WEITER LESEN
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
N° 1/2021

     Momentum
        Das österreichische Journal für positive Suchttherapie
             Herausgegeben vom Anton Proksch Institut

Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt

                          1
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
2
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
Editorial
               Liebe Leserin, lieber Leser!

              D
                 ie Planung für die aktuelle Ausgabe von „Momentum“ begann mit einer Facebook-
                 Nachricht der Journalistin und Autorin Gabriele Kuhn: Sie habe, so schrieb sie mir,
                 „Momentum“ in die Hände bekommen und mit großem Interesse den Text einer
         stationär aufgenommenen Patientin gelesen – auch aus ihrer eigenen Betroffenheit heraus,
         als Tochter von zwei alkoholkranken Eltern. Eine alles andere als selbstverständliche Offen-
         heit, die mich umso mehr gefreut hat – kann sie doch Suchtkranke und deren Angehörige
                                      dabei unterstützen, selbst den Mut aufzubringen, über ihre
                                      Situation zu sprechen. Darum bat ich Frau Kuhn, ihre Geschich-
                                      te für „Momentum“ aufzuschreiben. Das Ergebnis finden Sie

  4
 Überleben
 – eine Kraft
 Gabriele Kuhn
                                      ab Seite 4. Ich darf Ihnen diesen berührenden und mutigen
                                      Text ans Herz legen und mich auch an dieser Stelle ausdrück-
                                      lich dafür bedanken, dass wir ihn abdrucken dürfen.
                                              „Die Sucht hinterlässt nicht nur bei den Süchtigen tiefe
  8
 Angehörige zwischen
 Co-Abhängigkeit
 und Ressource
                                      Spuren, sondern auch bei jenen, die mit ihnen leben müssen.
                                      Wenn ein Familienmitglied suchtkrank ist, sind alle Menschen
 Wolfgang Ferdin                      in dieser Familie betroffen. Man könnte sagen: Alle sind krank.“
                                      Die Erfahrungen von Gabriele Kuhn decken sich mit dem aktu-

12
 Zwischen Erkenntnis,
 Geduld und Hilf-
 losigkeit
                                      ellen Stand der Wissenschaft, aber auch mit unseren Erfahrun-
                                      gen im Anton Proksch Institut. Drei KollegInnen beschreiben,
                                      mit welchen Herausforderungen Angehörige von Suchtkranken
 Linda Plank
                                      konfrontiert sind, wie sie das Suchtverhalten von geliebten

16
 Loslassen heißt nicht
 Fallenlassen
 Ute Andorfer
                                      Menschen sogar noch befördern können, aber auch, wie sie im
                                      Zuge des therapeutischen Prozesses zur Ressource werden.
                                              Wenn wir von Angehörigen sprechen, meinen wir in

20
 Das menschliche
	                                    diesem Kontext nicht nur Partnerinnen und Partner, Töchter und
 Rühren und die Kraft                 Söhne, Mütter und Väter. Es geht um „concerned significant
 der Verzeihung                       others“, also betroffene, wichtige Menschen aus dem Umfeld
 Hartmut Rosa                         des oder der Suchtkranken. Deshalb enthält diese Ausgabe
                                      von „Momentum“ auch einen Text des bekannten deutschen
                                      Soziologen Hartmut Rosa, in dem er über Freundschaften
                                      schreibt: „Als Zeugen unseres Lebens haben alte Freunde die
         Fähigkeit, uns mit unserer eigenen Biographie in Verbindung zu bringen, wenn wir im
         Durchleben schwieriger Veränderungsphasen den Kontakt zu unserem früheren Selbst
         verloren zu haben scheinen.“
                 Wir hoffen, Ihnen auch mit dieser Ausgabe von „Momentum“ wieder neue Denkan-
         stöße mitzugeben. Kostenlose Abonnements können Sie auch weiterhin per Mail an
         abo@api.or.at bestellen. Empfehlen Sie uns gerne weiter!

               Viel Freude beim Lesen!

               DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS
               Geschäftsführerin

                                                3
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
4
Foto: Getty Images
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
Überleben – eine Kraft
Alkoholismus ist eine Krankheit, die eine ganze Familie betreffen kann –
vor allem auch die Kinder. Die Journalistin und Autorin Gabriele Kuhn (60)
erzählt, wie es ist, mit abhängigen Eltern aufzuwachsen und trotzdem ein
gutes Leben „danach“ zu gestalten.

G
          eblieben ist die Anspannung. Eine latent-           war. Das Chaos, die Unberechenbarkeit, die Angst,
          subtile Form psychophysischer Spannung,             die Anspannung, die Wut und die Ohnmacht. Und
          oft nicht spürbar und trotzdem immer da.            die Scham. Alles verursacht durch den Alkohol.
Sie sitzt zentral, nur ein kleines Stück oberhalb des                So ist sie, die Welt, dachte ich, und kam gar
Nabels, dort, wo sich der Solarplexus befindet.               nicht auf die Idee, über meinen Tellerrand zu schau-
Wenn etwas nicht stimmt und bedrohlich auf mich               en. Stattdessen zog ich mich in das mir Vertraute
wirkt, wenn ich etwas nicht sofort einordnen oder             zurück und konditionierte mich darauf, hinzuneh-
erklären kann, springt dieses System an. Wie ein              men, was eigentlich inakzeptabel war.
Seismograf, der auf ein nahendes Beben reagiert.
Ein schiefer Blick, eine unpassende Reaktion, eine            So mutig wie verzweifelt
vage Bedrohung – das alles reicht bereits, damit ich          Für Menschen und Kinder, die in einer Suchtfamilie
mich aufgewühlt und vorahnend fühle. Die Anspan-              leben oder aufwachsen, wird es normal, Scham zu
nung wird stärker, breitet sich aus, von der Mitte des        spüren, doch das Mitleid der anderen nicht an sich
Bauchs zu den Muskeln, zum Kiefer, in die Augen.              heranzulassen. Es wird normal, still zu sein, obwohl
Mein Atem wird flacher, manchmal halte ich ihn an,            man Nein! rufen sollte. Es wird normal, die nächt-
der Herzschlag beschleunigt sich leicht. Längst weiß          liche Verlustangst zu fühlen, wenn die Eltern nicht
ich um die Ursachen dieses Geschehens und habe                heimkommen, um sie am nächsten Schultag wie ein
gelernt, gegenzusteuern. Ebenso habe ich gelernt,             Federpennal in die Ecke zu pfeffern. Die Unsicher-
meine hauseigene Alarmanlage als das gewisse Et-              heit und das Unberechenbare werden normal. Das
was zu schätzen, als „mein Juwel“. Ich betrachte sie          erschöpfte Einschlafen in verrauchten Gasthäusern,
als Teil von mir, als Stärke und Spür-Sinn. Viele Jahre       irgendwo auf einer Bank, gegen Mitternacht. Das
meines Lebens empfand ich sie allerdings – weil ur-           Aufstehen und Funktionieren am nächsten Tag, in
sächlich noch nicht ergründet – als Belastung, fühlte         der Schule. Dass man sich anpasst, dieses System
mich falsch. Gleichzeitig sehnte ich mich nach einer          verteidigt, mit allen Kräften zusammenhält. Und
Leichtigkeit, die mir bereits früh genommen wurde.            ebenso normal wird es, dass ein Kind manchmal für
                                                              Mama oder Papa (mitunter beide) sorgen muss, ob-
Namenlose Bürde                                               wohl es ausnahmslos umgekehrt sein sollte. Und ich
Dass ich in einer Suchtfamilie aufgewachsen bin,              hielt es für normal, die Zähne zusammenzubeißen,
habe ich erst bemerkt, als es diese Familie längst            um den mitleidigen Blicken Fremder standzuhalten,
nicht mehr gab – Jahre, nachdem mein Vater mit 49             die mich anstarrten, wenn meine Eltern die Kontrol-
und meine Mutter fünf Jahre später mit 56 Jahren              le über sich verloren. Um zu zeigen, man sei stark
starb. Mit 20 Jahren war ich Vollwaise und fühlte             – oder besser noch: nicht tangiert, nicht berührt,
mich verlassen. Gleichzeitig ahnte ich, dass sich eine        isoliert vom Geschehen. All das konnte ich. Weil ich
namenlose Bürde für immer aus meinem Leben                    das Tun der beiden – ihr Trinken als Strategie, dem
verabschiedet hatte, nicht wissend, dass mich dieses          Leben in seinen Facetten zu begegnen – als Lebens-       GABRIELE KUHN,
                                                                                                                       1960 in Wien gebo-
„Namenlose“ noch länger als vage und bedrücken-               Skript verinnerlicht hatte, das es nicht zu hinterfra-
                                                                                                                       ren, arbeitete 25 Jahre
de Konstante begleiten würde. So lange ich mich al-           gen galt. Wie auch? Ich kannte kaum etwas anderes.
                                                                                                                       lang als Redakteurin
lerdings als Teil dieses Systems wähnte, so lange ich         Ich befand mich mitten im Survivaltraining.              beim „Kurier“. Seit
es für mich selbst als heimatlichen Ort erklärte, so                  Es wurde nicht immer getrunken, Mama             Anfang 2021 ist sie als
lange empfand ich es als normal, was dort passiert            und Papa waren keine Spiegeltrinker, sondern             freie Autorin tätig.

                                                          5
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
Menschen, die sich zunächst gelegentlich und                  sichtbar. Das rührt daher, dass alle an diesem Ort
     schließlich immer öfter in die Besinnungslosigkeit            gelernt haben, das Kranke zu verdrängen und das
     soffen. Es wurde viel getrunken, wenn es lustig               Thema Sucht zu verleugnen bzw. zu tabuisieren. Es
     war. Es wurde viel getrunken, wenn es traurig war.            gilt das Mantra Es ist nichts. „In vielen Suchtfamilien
     Es wurde viel getrunken, wenn es Streit gab. Im               ist die elterliche Sucht ein Geheimnis, über das nie-
     Urlaub, an den Wochenenden, zu Weihnachten, zu                mand sprechen darf. Suchtfamilien leben an einem
     Silvester. Aus einem „mitunter“ wurde „oft“, aus „oft“        Nicht-Ort“, heißt es in dem Buch „Vater, Mutter,
     ein „noch öfter“. Irgendwann war der Rausch unser             Sucht“ von Waltraut Barnowski-Geiser. Und weiter:
     verbindendes Schicksal und ließ das sowieso schon             „Die Familienmitglieder leben an einem extrem
     klein gewordene Glück final schrumpfen. Mein Vater            durch die Sucht geprägten Ort, der sie maßgeb-
     ging voran, meine Mutter schlitterte nach, wurde zur          lich bestimmt, und zugleich gibt es diesen Ort als
     Co-Trinkerin. Vielleicht ein Akt der Liebe, der Solida-       Begrifflichkeit und in der familiären Wertung nicht
     rität, aus der Illusion heraus, auf diese Weise über          oder zumindest soll es ihn nicht geben. Das bringt
     Papas Trinkverhalten Kontrolle zu bekommen. Oder              eine Menge an Verwirrung und Schwierigkeiten mit
     selbst nicht so viel spüren zu müssen. Irgendwann             sich – für alle Familienmitglieder, vor allem aber für
     mischte sie den Alkohol mit Beruhigungsmitteln.               die Kinder.“
     Nach dem Tod meines Vaters kam die Trauer – er                        So entsteht ein sich selbst erhaltendes
     ging, der Alkohol und die Tabletten blieben ihr.              System, das sich immer wieder neu organisiert. Die
                                                                   Fassade steht, wird immer wieder neu und schön
     Nach außen fein und adrett                                    getüncht, ohne dass das Dahinter sichtbar wird. Das
     Wie das oft so ist, hat uns niemand die „Suchtfami-           war auch bei uns der Fall – niemand hier sprach von
     lie“ angesehen. Nach außen hin war immer alles                Sucht oder Alkoholkrankheit. Auch andere Familien-
     fein und adrett, in gewissen Zügen galt das auch für          mitglieder, selbst die engsten, sagten nichts und
     unser Familienleben. Die Eltern, im Zweiten Welt-             verleugneten das Geschehene. Sogar lange nach
     krieg herangewachsen, gaben mir an Liebe und                  dem Tod meiner Eltern durfte über dieses Thema
     Geborgenheit, was sie hatten. Nüchtern sorgten                nur bei Höchststrafe und Ächtung geredet werden.
     sie immer gut für mich. Beide waren stets schön               Dass Mama an so manchem Abend lallend auf dem
     gekleidet, mein Vater – Oberkellner in einem Wiener           Boden gelegen war, um sich am anderen für einen
     Gasthaus – liebte Maßanzüge. Die Mutter – Haus-               Spaziergang mit mir in den Park herauszuputzen.
     frau – legte großen Wert auf Ordnung, Schönheit,              Dass mich Papa nüchtern in die Arme genommen
     das Äußere. Ich trug Lackschuhe, weiße Stutzen und            hatte, um ein paar Stunden sowie jede Menge Wein
     ihre selbst gestrickten Pullis. Sie war beliebt, hatte        später verbal zu randalieren. Am nächsten Tag wa-
     Herzensbildung, kochte fantastisch, sang gerne                ren die Eskalationen auch schon wieder vergessen.
     und gut. Mein fescher Vater konnte umwerfend                  Alles gut, Kind. Nicht undankbar sein.
     charmant sein, liebte Frank Sinatra und ging gerne
     wandern. Zur Matura wollte er mir unbedingt einen             Es galt auszuhalten, was ist
     „Mini“ schenken, er hat dieses Ereignis nicht mehr            Die Sucht hinterlässt nicht nur bei den Süchtigen tie-
     erlebt. Am Wochenende machten wir Ausflüge,                   fe Spuren, sondern auch bei jenen, die mit ihnen le-
                                                                   ben müssen. Wenn ein Familienmitglied suchtkrank
                                                                   ist, sind alle Menschen in dieser Familie betroffen.
   Wie das oft so ist, hat uns                                     Man könnte sagen: Alle sind krank. Die Belastung
                                                                   der Angehörigen und der Kinder ist enorm, wird
niemand die „Suchtfamilie“                                         aber häufig übersehen, weil vor allem die Bedürf-
                  angesehen.                                       nisse und das Tun des/der Süchtigen im Mittelpunkt
                                                                   stehen. Alles dreht sich um sie – sie werden beob-
                                                                   achtet, gestützt, gedeckt und getragen.
     die immer in irgendeinem Gasthaus endeten und –                       Nichts im Alltag von Suchtfamilien ist be-
     spätnachts – im Albtraum. Unter der Woche fand er             rechenbar. Es gab in meiner Kindheit und Jugend
     nach Dienstschluss oft nicht nach Hause, sondern              Tage, da passierte nichts, alles fühlte sich „normal“
     holte nach, was er untertags in der Arbeit nicht an           an, halbwegs zumindest. Es waren die guten Tage,
     Alkoholischem konsumieren wollte und konnte. In               die Höhepunkte. Das konnte sich schlagartig ändern
     seinen besten Zeiten trank er 30 bis 35 Spritzweine           – meist am Wochenende, wenn Papa Ruhetag hatte.
     – und zwar, nachdem man ihm den Magen, die Milz               Oder bei Familienessen in Lokalen bzw. bei Festen
     und Teile der Bauchspeicheldrüse nach einer Krebs-            bei uns daheim. Ganz schnell konnte die Stimmung
     diagnose entfernt hatte.                                      kippen, das Geschehen mäanderte zügig Richtung
             Von Alkoholkranken wird oft ein pauschales            Exzess. Es wurde getrunken, bis die Situation völlig
     Bild gezeichnet – von Dauer-Verwahrlosung und                 außer Kontrolle geriet. In dieser Angstspirale sind
     Zerstörung. Das mag in manchen Fällen so sein.                die Wurzeln jener Spannung zu finden, die ich,
     Doch oft ist das Chaos, das durch die Sucht am                wie anfangs beschrieben, manchmal heute noch
     „Tatort Familie“ entsteht, für Außenstehende kaum             fühlen kann.

                                                               6
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
Angehörige von Suchtmenschen werden in               Antworten auf Fragen, die ich ihnen nicht stellen
viele Rollen gezwungen: den Hüter des Geheim-                konnte, weil sie schon so lange tot waren. Die Wut
nisses, aber auch des Opfers, des Märtyrers, des             wich, stattdessen konnte ich erstmals trauern – um
Starken, des Mutigen, des Vermittlers. Und des               das, was ich im Gegensatz zu anderen Kindern und
Täters. Wie oft musste ich während meiner Pubertät           Jugendlichen nicht bekommen hatte. Vor allem
hören, ich würde meine Mutter aufgrund meines                aber trauerte ich um meine Eltern, deren Leben sehr
unangepassten Verhaltens zur Verzweiflung bringen            schwierig war, und die offenbar im Alkohol Erleich-
(und damit zum Griff nach Alkohol oder Tabletten).           terung fanden. Es war ihre Wahl.
In solche Rollen gehievt, verlernt man, sich selbst
und seinen Gefühlen zu trauen, um sich gleichzeitig          Die Starre wich
anzutrainieren, Gefühltes erst gar nicht zuzulassen.         So wurde ich zunehmend weicher, die Starre wich,
Stattdessen entsteht eine Art Drehbuch, eine fast            ich fühlte mich beweglicher, reicher an Möglichkei-
schon rigide Handlungsanleitung fürs eigene Ver-             ten und an Handlungsspielräumen. Dabei erkannte
halten: Man will die geliebten Suchtkranken retten,          ich auch, wie viel Glück mir widerfahren war – weil
verstehen, ihr Tun verstecken, das Leben mit ihnen           es neben meinen Eltern andere, wertschätzende
schönfärben, sich anpassen und: schweigen. Ein               Menschen gegeben hatte, die für mich da und mir
roter Faden der Selbsttäuschung und Täuschung
anderer, der sich bis ins Erwachsenenleben spinnt.
Nichts an dem, was man ist und tut, scheint zu               Ich lernte, meine Stärke zu
stimmen.
        Ich hatte sehr lange ein vages, durch den            würdigen, die ich einst als
frühen Tod der Eltern sogar sehr idealisiertes Bild
meiner Kindheit. Doch irgendwas stimmte nicht.
                                                             „Suchtkind“ entwickeln musste.
Je älter ich wurde, desto mehr Wut war da –
Zerstörungswut, Wut auf mich selbst und auf etwas,           nahe waren und mir in vielen Momenten einen
das ich nicht in Worte fassen konnte. Lange dachte           Platz schenkten, an dem ich Kind und Mensch sein
ich, mit mir sei etwas nicht in Ordnung, ich sei nicht       konnte. Zum Beispiel die Nachbarn in dem Haus, in
richtig. Die Begleitmelodie meines Lebens war von            dem wir wohnten, und später Freundinnen, Freunde
Sehnsucht nach einer anderen Welt geprägt, die ich           sowie Partner. Dafür bin ich noch heute dankbar. Vor
nicht zeichnen konnte. Mein Stresslevel war hoch,            allem aber lernte ich, meine Stärken zu würdigen,
ich hatte einen leichten Schlaf und ein verzerrtes           die ich einst als „Suchtkind“ entwickeln musste, um
Selbstbild sowie das Gefühl nichts wert zu sein. Ich         zu überleben – für mich ein wichtiger, vielleicht der
suchte nach Anerkennung, sehnte mich nach Nähe               wichtigste Perspektivenwechsel überhaupt. Ich weiß,
und Distanz zugleich, verbunden mit der Tendenz,             dass ich belastbar bin, nur selten aufgebe, sozial
das, was ich liebe, wieder kaputt zu machen.                 kompetent und feinfühlig bin – sowie leidenschaft-
                                                             liche Mutter und Familienmensch. Gleichzeitig weiß
Ein Ort der Erkenntnis                                       ich um meine Grenzen und das Verletzbare in mir.
Das größte Problem war jedoch die Frage nach mir                     Meine Eltern gingen ihren Weg, ich bin
selbst: Wer bin ich? „Wenn die Heimat ein Nicht-Ort          ihnen nicht gefolgt und habe meine eigene Wahl
ist, wenn Menschen nicht wissen, wo und wie sie              getroffen. Ich habe mich für das Leben entschieden.
leben, wenn sie nicht genau wissen, wie der Ort              Das, was geschehen ist, ist nicht vergessen, sondern
ihrer Herkunft aussieht, dann kann das zu einem              ich verstehe es als wesentlichen Teil von mir, der aus
schweren Problem für ihre Identität werden – wie             mir jenen Menschen gemacht hat, der ich heute bin.
sollen sie wissen, wer sie sind, wenn sie in großer          So betrachtet, ist es mir gelungen, die Ketten und
Verwirrung sind, über den Ort, von dem sie ab-               Glaubenssätze des Vergangenen abzulegen – nicht
stammen. Ohne Herkunft keine Zukunft“, so Waltraut           gänzlich, aber weitgehend. Mehr denn je zählt
Barnowski-Geiser. Irgendwann wurde der Druck                 für mich heute, was ist – und nicht, was war. Vieles
so groß, dass ich aufbrach, um nach Antworten                schaue ich mir dabei nach wie vor beim großen Vik-
zu suchen. Ich fing an, mich im Rahmen familien-             tor Frankl ab. Durch ihn habe ich erkannt, dass nicht
systemischer Interventionen mit meinen Wurzeln               wir es sind, die nach dem Sinn des Lebens fragen
zu beschäftigen, las viel, begegnete den richtigen           sollten, sondern das Leben es ist, das Fragen stellt.
Menschen zum richtigen Zeitpunkt, wurde von                  „Wir sind es, die da zu antworten haben, Antwort
vielen verschiedenen Dingen inspiriert. Im Zuge all          zu geben haben, auf die ständige, stündliche Frage
dessen lernte ich anzuerkennen, was mir, aber auch,          des Lebens, auf die Lebensfragen. Leben selbst
was meinen Eltern widerfahren war. So wurde mein             heißt nichts weiter als ein Antworten – ein Ver-Ant-
ehemaliger Nicht-Ort zu einem Ort der Erkenntnis –           worten des Lebens. In dieser Denkposition kann
nicht alles wurde sichtbar, aber vieles. Meine Suche         uns aber jetzt auch nichts mehr schrecken, keine
wurde belohnt, der Vorhang hob sich.                         Zukunft, keine scheinbare Zukunftslosigkeit. Denn
       Ich erkannte Zusammenhänge, entwickelte               nun ist die Gegenwart alles, denn sie birgt die ewig
Mitgefühl, mit mir, mit Mama und Papa. Und fand              neue Frage des Lebens an uns.“                      

                                                         7
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
Angehörige zwischen
                        Co-Abhängigkeit
                        und Ressource
                        Partnerinnen und Partner, Freundinnen und Freunde, Kinder
                        oder Eltern von Suchtkranken können deren Abhängigkeit
                        verstärken – oder den Weg heraus unterstützend begleiten.
                        Ein Überblick über die professionellen Konzepte, die
                        „Concerned Significant Others“ zur Ressource machen.
                        WOLFGANG FERDIN

                        S
                              eit ungefähr 50 Jahren existiert nun schon          neben inadäquaten, teilweise seltsam groben
                              der Begriff „Co-Abhängigkeit“ im Kontext der        Verhaltensweisen auch häufig zu aggressivem und
                              Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen.           dominantem Verhalten, das sich insbesondere
                        Laut aktueller Definition versteht man darunter           dann zeigt, wenn Betrunkene in ihrem Gefühls- und
                        Verhaltensweisen und Kommunikationsstile von              Wahrnehmungstunnel an Grenzen stoßen und sie
                        Angehörigen von Substanzabhängigen, die trotz             ihre gewünschte Realität gerade nicht erzwingen
                        „guter Absicht“ geeignet sind, ein unkontrolliertes       können. Neben der Frustration (bei alkoholbedingt
                        und ungesundes Konsummuster aufrechtzuerhalten            reduzierter Frustrationstoleranz) treiben auch Scham
                        oder sogar zu verstärken. Angehörige mit einer „Co-       und Ohnmacht den Gefühlssturm an. Ohnmacht ist
                        Abhängigkeit“ sind also zunächst per definitionem         in diesem Zusammenhang die wesentliche Emotion
                        das Gegenteil einer Ressource in der Suchtbehand-         derjenigen, die bemerken, dass sie nicht mehr wie
                        lung.                                                     zu Beginn des Wirkungstrinkens mit Alkohol „am
                                                                                  Rädchen drehen“, sondern längst in der Alkohol-
                        Stressor Co-Abhängigkeit                                  sucht „vom Rad gedreht werden“. Es ist ärgerlich,
                        „Co-Abhängigkeit“ bedeutet mehr als die „Co-Be-           wenn die Kontrolle weitgehend entglitten ist.
                        troffenheit“ und Verzweiflung angesichts der Sucht               Wie viel Kontrolle haben aber die Angehö-
DR. WOLFGANG            eines nahestehenden Menschen. Genau genom-                rigen über das Trinkverhalten ihrer alkoholkranken
FERDIN ist Facharzt     men hat sich der Begriff aus der speziellen Art der       Nächsten? Die Antwort lautet: noch deutlich
für Psychiatrie und    konflikthaften Verstrickungen, die typischerweise         weniger! Die Versuche Angehöriger, in ihrer Ver-
Psychotherapeutische
                        bei Alkoholabhängigkeit zu finden sind, entwickelt.       zweiflung und ihrer Ohnmacht dem Kontrollverlust
Medizin und seit 2011
Oberarzt am Anton
                               Viele kennen den Spruch „in vino veritas“.         und der Ohnmacht der Süchtigen mit rigorosen
Proksch Institut.       Er beschreibt die Folgen der Enthemmung Betrun-           Kontrollen zu begegnen, scheitern letztlich immer.
Aktuell leitet er den   kener, der verminderten Rücksichtnahme auf das            Egal, ob täglich alle Schubladen und möglichen
Bereich „Psychische     Seelenkostüm des Gegenübers, die Aufgabe von              Verstecke kontrolliert werden oder stets an der
Komorbiditäten bei      Taktgefühl und politischer Korrektheit, das ungezü-       Eingangstür Alkoholtests gemacht werden, Alko-
Sucht“ sowie die
                        gelte Herauslassen der ungeschminkten Wahrheit.           holkranke werden in so einer Konstellation immer
Angehörigenbetreu-
                        Aber was heißt denn hier „Wahrheit“ genau? Hier           einen Weg finden (trotzig und offen oder verstohlen
ung. Er betreibt
auch eine Wahlarzt-     bricht sich doch nur die subjektive Sicht auf eine        und heimlich), zu trinken.
ordination in           bestehende Konfliktlage unter Alkoholeinfluss                    Es ist durchaus nachvollziehbar, dass An-
Wien-Hietzing.          Bahn. Die alkoholbedingte Enthemmung führt                gehörige angesichts der emotionalen Verletzungen

                                                                              8
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
Foto: Getty Images

9
Momentum - Suchtkranke und ihre Angehörigen: Der ewige Balanceakt - N 1/2021 - Anton Proksch Institut
oder ihrer Ohnmachtsgefühle emotional und                   Umgang mit schwierigen Gefühlen geht, sowie
      konfrontativ reagieren. Um endlich eine Umkehr              um Unterstützung im Kontext der eigenen Hilfs-
      oder Abkehr von der süchtigen Konsumgewohnheit              bedürftigkeit als Angehöriger. Es geht aber auch
      zu bewirken, flehen sie an, keppeln, kritisieren und        um Schulung in strategisch-kluger Kommunikation
      drohen (typische „co-abhängige“ Kommunikations-             (systemisches Coaching). Eine nicht-konfrontative,
      stile). Versuche, durch umfassende Kontrollen des           positive Kommunikation soll der Schlüssel zur
      Süchtigen und möglicher Verstecke die Sucht zu              Motivation des Suchtkranken sein. Diese beinhaltet:
      bekämpfen, sind ebenso zum Scheitern verurteilt
      wie eine Laissez-faire-Haltung, die bis zur Kumpanei          Kurze Statements, die auch Lob für beobachtete
                                                                  • 
      geht (mit Übernahme der Krankenstandsmeldung                  Bemühungen enthalten, statt ausufernder Predig-
      an den Betrieb etc.).                                         ten oder ewiger Schuldsuche.
                                                                    Das Mitteilen eigener Gefühle in Ich-Botschaften
                                                                  • 
      Ambulantes CRAFT-Konzept                                      und diese auch mit Verständnis für die schwierige
      Die emotional und suchttherapeutisch überfor-                 Situation der suchtkranken Person verknüpfen.
      derten Angehörigen wurden da und dort, nicht                  Kritik nur an bestimmten Verhaltensweisen, aber
                                                                  • 
      zuletzt durch ein Überinterpretieren des Konzeptes            nicht an der Person generell im Sinne einer Pau-
      der „Co-Abhängigkeit“, zu den eigentlich Schuldi-             schalentwertung.
      gen stilisiert. Auch im Rahmen einer ambulanten               Konkrete Belohnungen für das Aufsuchen pro-
                                                                  • 
      Suchtbehandlung wurden und werden Angehörige                  fessioneller Behandlung oder für reduzierten
      immer wieder auf Distanz gehalten und sehr kritisch           Substanzkonsum in Aussicht stellen.
      betrachtet. Es wird den Süchtigen dabei nicht nur
      zur zeitweiligen Abgrenzung, sondern oft sogar                      Dieses Programm und diese Strategie ganz
      zur Trennung oder nachhaltigen Kontaktsperren               allgemein ist clever und wirksam, aber nicht so
      geraten. Tatsächlich kann in manchen Situationen            komplex, dass die Anwendung eine jahrelange
      die innere Bereitschaft loszulassen oder Abstand zu         Psychotherapieausbildung erfordern würde.
      gewinnen sehr wichtig sein.                                         CRAFT wurde zwar für den Alkoholsucht-
              Aber nur durch Trennung lösen sich noch             bereich in Amerika entwickelt, wurde aber in der
      nicht alle Probleme und es gibt Lebensumstände,             Zwischenzeit auch schon für verschiedene Substanz-
      die diese Option sehr schwierig und nur verlustreich        süchte erfolgreich adaptiert. Einige Studien belegen
      für alle Seiten umsetzen lassen. Angehörige sind            die Wirksamkeit im ambulanten Setting und dies
      natürlich häufig Partnerinnen oder Partner, aber            in allen klassischen Zielen dieses Programmes:
      auch Eltern und Kinder, und die absolute Trennung           Reduktion des Substanzkonsums, Reduktion der
      und der Kontaktabbruch werden auch oft nur im               häuslichen Gewalt, Stärkung der Motivation der
      ersten Moment als befreiend erlebt. Später stellt           oder des Betroffenen hinsichtlich einer Inanspruch-
      sich eher das Gefühl der tristen Vereinzelung, des          nahme professioneller Suchtbehandlung und
      Abgeschnittenseins ein – auch von allen positiven           Verbesserung der Lebensqualität der Angehörigen,
      zukünftigen Veränderungen, die mit entsprechen-             auch unabhängig davon, ob die oder der Betroffene
      der professioneller Unterstützung vielleicht möglich        etwas verändert.
      gewesen wären.
                                                                  Stationäre Angehörigenarbeit
                                                                  Für viele Alkoholkranke sind nachhaltige Behand-
  Die stationäre Behandlung                                       lungserfolge nur im stationären Setting möglich.
                                                                  Dieses hilft unter anderem dabei, Abstand zur
hilft, Abstand zur gewohnten                                      gewohnten Lebenswelt mit ihren Fallstricken der ge-
        Lebenswelt zu finden.                                     wohnten Muster zu finden. Der stationäre Aufenthalt
                                                                  ist oft ein wichtiger Schritt zu einer vogelperspek-
                                                                  tivischen Standortbestimmung und einer Ziel- und
             Wie kann man Angehörige so unterstützen,             Werteklärung aus der Mitte der süchtigen Person
      dass sie Teil einer Lösung bzw. eine Ressource in           und nicht aus den Realitätszwängen des Alltags he-
      der Überwindung der Sucht werden können? Daran              raus. Letzteres führt zu den berühmten „guten Vor-
      forschte der Psychologe und Verhaltenstherapeut             sätzen“, die oft an der Willensschwäche scheitern,
      Prof. Nathan Azrin. So entwickelte er in den USA            aber eben nicht wirklich gewollt werden, weil sie
      der 1970er Jahren das CRAFT-Konzept für den                 nicht den echten und tatsächlich als attraktiv emp-
      ambulanten Bereich. CRAFT ist ein Akronym, das für          fundenen Zielen und Werten entsprechen. In der
      „Community Reinforcement And Family Training“               Suchtbehandlung geht es aber genau darum, diese
      steht (dt.: Systemische Stärkung und Familientrai-          sogenannten „real wants“ herauszufinden, weil nur
      ning), aber auch das Wort „craft“ meint; im Sinne           sie Zugkraft nach vorne und oben entwickeln.
      von Know-how, Skill, Kunstfertigkeit.                                Aus der Sucht herauszukommen, ist keine
             Es geht dabei um klassisches empathisches            Kleinigkeit und es genügt eben auch kein eherner
      Ernstnehmen und Zuhören, wenn es um den                     Beschluss aus einem Tiefpunkterlebnis heraus.

                                                             10
Meist mündet so ein spontaner Entschluss in der          Der Weg aus der Sucht ist
„genialen Erkenntnis“, ab nun das Suchtmittel nicht
mehr konsumieren zu dürfen/sollen/wollen. Wenn           kein Spaziergang, sondern
das reichen würde, wären Suchterkrankungen nicht
derart komplex. Der Weg aus der Sucht ist nie ein
                                                         eher eine Bergwanderung.
lockerer Spaziergang, es ist wohl eher mit einer
Bergwanderung vergleichbar. Bei aller Begeisterung       Others“: drei Wörter, die auch drei gute Rohstoffe für
also für die Hinwendung zu positiven Zielen und          Ressourcen benennen können.
neuen Wegen darf das Wichtigste für den Menschen           Concerned: Angehörige sind von den schädlichen
                                                         • 
als soziales Wesen nicht vergessen werden: die             Auswirkungen der Sucht konkret mitbetroffen,
Weggefährtinnen und -gefährten! Wenn wir ehrlich           können sich aber auch betroffen fühlen und sich
zu uns sind, werden wir wohl zustimmen, dass ohne          kümmern (wollen), was auch eine Bedeutung des
unterstützende Begleiterinnen und Begleiter wohl           Wortes darstellt. Will man auf gutmeinende und
kein Gipfelsieg möglich sein wird – oder nur für die       zum Kümmern um das Wohl des Suchtkranken
allerwenigsten unter uns.                                  prinzipiell bereite Menschen so ohne Weiteres ver-
       Professionelle Suchttherapeutinnen und              zichten? Wohl eher nicht!
-therapeuten haben sicher die Aufgabe, die initial         Significant: Von Seiten der suchtkranken Person
                                                         • 
unterstützenden Weggefährtinnen und -gefährten             wichtig, identitätsstiftend, mit gemeinsamer Ge-
zu sein. Es geht zunächst darum, den neuen Weg             schichte und zukünftigen gemeinsamen Projekten
mitzudefinieren (ähnlich einem Bergführer bzw. einer       (Wir-Thema), wie dem (gemeinsamen) suchtfreien
Bergführerin) und – was besonders wichtig ist – auch       Leben.
eine Zeit lang zu begleiten. Daraus ergibt sich auch,      Others: Der Mensch ist ein soziales Wesen und
                                                         • 
dass es dafür eine tragfähige therapeutische Be-           verkümmert einsam und allein.                    
ziehung braucht und keine kurz angebundenen und
gestressten Therapeutinnen und Therapeuten, die
mit Manualen und vorgefertigten Algorithmen um
sich werfen, weil sie aus irgendeinem Grund nicht
beziehungsbereit sind. Die ersten Weggefährten auf
dem neuen Weg sind im Idealfall persönlich greifba-
re und wertschätzende Mentorinnen und Mentoren,
die mit Verständnis und sogar Sympathie ihr Wissen
und ihre Erfahrung für die Suchtkranke oder den
Suchtkranken einsetzen. Psychotherapie ist immer
ein Projekt der Ermutigung, es doch zu wagen, neue
Wege zu gehen, und im Falle von Suchttherapie
zusätzlich ein Projekt der Tröstung und niemals des
Vorwurfes, wenn es einmal einen Rückschlag gibt.

Angehörige als unterstützende Weggefährten
Suchttherapeutinnen und -therapeuten haben als
Katalysatoren des Lebensneugestaltungsprozesses
und als initiale Weggefährtinnen und -gefährten ihrer
Patientinnen und Patienten in der ersten Phase die
Aufgabe, vor schädlichen Einflüssen zu schützen.
Dabei geht es sowohl um typische Auslösereize
(Trigger) von Rückfällen als auch um eine Filterung       Resümee
von co-abhängiger Kommunikation und Auftrags-
erteilungen. Aber schon in der ersten Phase einer         Stationäre Angehörigenarbeit beginnt im Bewusstsein der profes-
stationären Suchtbehandlung kann man Angehörige           sionellen ersten Wegbegleiter, nur erste Wegbegleiter zu sein.
als Motivatorinnen und Motivatoren virtuell ins Boot      Sie haben diese Funktion aber in einer sehr markanten Phase der
holen, etwa durch die Frage an die gerade Aufge-          Lebensneugestaltung und sollten daher das Wesentliche an die
nommenen, wer sich wohl freuen werde, wenn eine           nachfolgenden ambulanten professionellen Wegbegleiter weiter-
positive Entwicklung in der Suchtklinik gelingt.          geben, wenn sie diese Aufgabe nicht selbst wahrnehmen (können).
       Es ist zusätzlich auch eine Frage, wen sich               Ambulante Angehörigenarbeit sollte die „co-abhängige“
die süchtige Person als weitere Wegbegleitung hin         Dynamik auf Seiten der Angehörigen durch Unterstützung und
zu diesem Ziel wünscht und wer aus dem sozialen           Vermittlung von kommunikativem Know-how entschärfen helfen.
Umfeld vom Aspekt der stationären Angehörigen-            So können sie zu einer möglichen Ressource im Hinblick auf die
betreuung als potentielle Ressource betrachtet und        Überwindung der Sucht, aber auch auf die Verbesserung der
fokussiert werden sollte. „Angehörige“ heißen im          eigenen Lebensqualität werden.
englischen Sprachgebrauch „Concerned Significant

                                                    11
Zwischen
        Erkenntnis,
        Geduld und
       Hilflosigkeit
 Auch wenn Suchtkranke nicht in Behandlung
     oder sich ihrer Erkrankung nicht bewusst
  sind, können deren Angehörige bereits Hilfe
in Anspruch nehmen. Einige Beispiele aus der
           Arbeit des Anton Proksch Instituts.
                                                              LINDA PLANK

D
        ie Beratung von Angehörigen Suchtkranker              Ruhe und Geduld
        ist so herausfordernd wie vielschichtig. Viele
        Menschen suchen bei uns Unterstützung                 Herr H. wollte schnell und lösungsorientiert die
im Umgang mit suchtkranken Personen, ohne sich                Alkoholabhängigkeit seiner Frau mit mir bespre-
bewusst zu machen, dass wir „ihre“ Menschen gar               chen. Er hatte bereits mit ihr gesprochen, allerdings
nicht kennen. Hier zeigt sich eine massive Hilflosig-         willigte sie nicht ein, sich in Therapie zu begeben.
keit der Angehörigen. Hier halte ich eine generelle           Er hatte sie beim heimlichen Trinken „erwischt“ und
Aufklärung über Sucht für unerlässlich. Sucht als             hatte schon länger den Verdacht, dass etwas mit ihr
Erkrankung zu verstehen, ist einer der wichtigsten            „nicht stimmt“. Herr H. stellte sie in einem Gespräch
Inhalte, den ich an betroffene Personen vermittle.            mit den Worten „Was du mehr liebst, musst du wäh-
Es macht einen großen Unterschied zu wissen, dass             len!“ vor die Entscheidung: entweder ER oder der
jemand nicht absichtlich böse ist, lügt oder etwas            Alkohol. Seine Frau hatte in diesem Gespräch kein
verheimlicht, sondern dass dies Symptome einer                Wort gesagt und nur den Kopf gesenkt gehalten.
Erkrankung sind. Im Folgenden zwei Beispiele aus                      Die Alkoholdepots, die er im gemeinsamen
unserer Angehörigenberatung.                                  Haushalt fand, veranlassten ihn dazu, seine Frau zur
                                                              Rede zu stellen. Herr H. wollte ein „Geständnis zur
                                                              Sucht“ sowie die sofortige Einwilligung in eine sta-
                                                              tionäre Therapie erzwingen. „Es ist unumgänglich,
                                                              wir müssen sofort handeln“, waren seine Worte. Ich
                                                              sprach bewusst seine Position bei der Behandlung
                                                              seiner Frau an und wollte wissen, ob er Ehemann,
                                                              Unterstützer oder Motivator sein wollte. Er sollte
                                                              wählen, welche Rolle er in diesem Kontext einneh-
                                                              men möchte. Ich riet ihm jedoch vehement davon
                                                              ab, als Angehöriger die Position eines Polizisten

                                                         12
Mit dem Ansprechen der Suchtproblematik beginnt erst der Weg hin zur Behandlung.

                     oder Klägers in einem Beweismittelverfahren einzu-          Bombe geplatzt ist, müssen wir dringend handeln“,
                     nehmen, der ein Geständnis hören möchte.                    sagte auch Herr H., „ich habe genug Geduld bewie-
                            Unser einstündiges Gespräch begann                   sen.“ In seinen Augen stellte sich die Welt auch so
                     damit, Liebe und Sucht auseinanderzuhalten sowie            dar und sein Wunsch war legitim. Allerdings beginnt
                     dem verzweifelten Angehörigen den Unterschied               ab dem Aussprechen einer Suchtproblematik mit
                     aufzuzeigen. Wichtig zu vermitteln war mir, dass            dem abhängigen Menschen erst der Weg hin zur
                     Sucht keine Liebe zu einer Substanz ist und Liebe           Behandlung, der sich über Einsicht, Verständnis,
                     keine Sucht nach einem Menschen sein sollte. Er             Akzeptanz und den Mut zur Veränderung erstreckt.
                     beschrieb seinen Zustand als Schockzustand und              Nicht vom Problem sofort zur Lösung zu wechseln –
                     wollte gerne für sich, seine Frau und seine Familie         das war in diesem Gespräch der Fokus. Ich bat ihn
                     eine schnelle Lösung. Die Geschwindigkeit ist ein           noch einmal darum, Geduld aufzubringen, bevor er
                     Ausdruck der Verzweiflung und des Wunsches                  den Wunsch nach einer Behandlung an seine Frau
                     nach dem Wiederherstellen von Funktionalität                richtete. Seiner Frau als Ehemann seine Sorgen und
                     und Normalität in der Familie und vor allem beim            seine Bedürfnisse zu vermitteln und sie ohne Druck,
                     suchtkranken Familienmitglied. Die von der Sucht            behutsam und freundlich, aber dennoch bestimmt
                     Betroffenen fühlen sich dadurch schnell überfordert         zu einem Aufsuchen von professioneller Hilfe zu                LINDA PLANK, MSC,
                     und lehnen dann als Konsequenz eine Behandlung              motivieren, verstand er schließlich nach mehreren              ist Psychotherapeutin
                     zunächst ab. Schuld und Scham sind wieder vor-              Gesprächen als Prozess.                                        und unter anderem im
                     dergründig. Die Beschäftigung mit der Sucht als                     Ruhe und Geduld waren hier die Schlüssel-              Ambulatorium Wiedner
                     Krankheit und die Einsicht in diese Erkrankung hat          worte für eine neue Begegnung mit dem Thema                    Hauptstraße des Anton
                                                                                                                                                Proksch Instituts tätig.
                     noch nicht stattgefunden.                                   Sucht und deren Behandlung. Frau H. entschloss
                                                                                                                                                Neben der Beratung
                            Angehörige zu bremsen und an ihre Geduld             sich erst acht Monate nach dem Gespräch mit ihrem
                                                                                                                                                von Suchtkranken und
                     zu appellieren, ist eine große Herausforderung. Im-         Ehemann zu einem stationären Aufenthalt. Voran-                deren Angehörigen be-
                     merhin befinden sich diese Menschen schon lange             gegangen war allerdings ein zeitnahe beginnender               schäftigt sie sich auch
                     in einer äußerst belastenden Situation. „Nun, wo die        ambulanter Behandlungsversuch der Patientin.                   intensiv mit Traumata.
Foto: Getty Images

                                                                            13
Regelmäßiger
                      Griff nach dem
                           Controller:
                      Wann beginnt
                        das süchtige
                           Verhalten?

Sucht ja oder nein?                                          am Computer.“ Die besorgte Mutter war im
                                                             Gespräch mit mir voller Mitleid für ihren Sohn. Sie
Ich führe häufig Gespräche mit Müttern, die hoch             hatte Angst, er könnte depressiv sein und sich nicht
emotional und hilflos im Umgang mit ihren nahezu             mehr von der Trennung erholen, hatte er doch den
erwachsenen Söhnen an ihre Grenzen stoßen. Inter-            Termin beim AMS verpasst, weil er vom nächtlichen
net, Handy und Interessenlosigkeit sowie ein har-            Computerspielen zu müde zum Aufstehen war. Frau
scher Umgangston bringen Erziehungsberechtigte               V. nahm ihm alle anderen belastenden Tätigkeiten
oft an den Rand der Verzweiflung. Häufig erlebe ich,         ab, damit er zur Ruhe kommen konnte. Ich fragte,
dass ein Grund für das Verhalten des Sohnes ge-              wie ihr Sohn seinen Lebensunterhalt verdient, ob
funden werden soll. Manchmal handelt es sich bei             er anteilig Miete zahlt oder Geld für Essen und
diesen Beratungsgesprächen auch um den Umgang                Reinigung abgibt, was sie jedoch alles verneinte.
mit Töchtern, aber das kommt meiner Erfahrung
nach eher selten vor.                                        Vollkommen auf Rückzug
        Frau V. schilderte mir lange und ausführlich         Im Anschluss erkundigte ich mich nach weiteren
die Probleme mit ihrem 25-jährigen Sohn, der nach            Freizeitbeschäftigungen und Freundschaften außer-
einer Trennung wieder bei ihr eingezogen war. Ihr            halb des Internets. Auch dies verneint sie mit der
Wunsch nach Hilfe für ihren Sohn veranlasste sie             Begründung, er könnte aufgrund seines verschobe-
zum Beratungsgespräch. Sie schilderte sein Verhal-           nen Tag-Nacht-Rhythmus nicht viel „draußen“ unter-
ten mit den Worten: „Er sitzt nur in seinem Zimmer,          nehmen. Im weiteren Verlauf schilderte Frau V. auch
schläft bis nachmittags, spielt dann bis früh morgens        die Vernachlässigung der Körperpflege und des

                                                        14
sozialen Kontaktes. Ihr Sohn zog sich vollkommen            selbständig und eigenverantwortlich zu handeln,
                     zurück und sprach nur das Nötigste mit ihr, um              wodurch sie einen erheblichen Anteil zur Selbst-
                     jede Konfrontation zu vermeiden und Gesprächen              werterhöhung ihres Sohnes beitragen konnte.
                     über Arbeit, Zahlungen oder Zukunftsängsten aus             „Liebevolle Strenge“ nannte Frau V. in Zukunft ihr
                     dem Weg zu gehen. Die Kosten für Zigaretten,                gewünschtes Verhalten gegenüber ihrem Sohn.
                     Kleidung oder die Handyrechnungen übernahm                         Auch hier begann ein längerer Weg zur
                     die Mutter.                                                 Klärung, ob der 25-jährige junge Mann Verände-
                            Die größte Herausforderung meiner Tätigkeit          rung zwar konnte, aber nicht wollte, oder wollte,
                     sehe ich darin, Menschen im Umgang mit ihren                aber nicht konnte. Es ging darum herauszufinden,
                     (vermeintlich) suchtkranken Familienmitgliedern             ob er Leidensdruck dabei empfand, dass er mit der
                     zu beraten. Aus der Hilflosigkeit und Verzweiflung          Realität nicht zurechtkam oder das Leben, wie er es
                     der Angehörigen entsteht der Wunsch nach einem              führte – gänzlich ohne Verantwortung –, genoss. Der
                     Leitfaden im Miteinander, dessen Ausarbeitung von           Fokus lag zudem auf der Beantwortung der Frage
                     mir als Therapeutin erwartet wird.                          „Sucht, ja oder nein?“, um das weitere Vorgehen
                            Frau V. zum Verständnis kommen zu lassen,            bezüglich einer anstehenden oder bereits entwi-
                     dass die Hilfe, die sie ihrem Sohn bisher anbot,            ckelten Suchterkrankung besprechen zu können. 
                     keine Hilfe sein konnte, brauchte eine sanfte Stimme
                     sowie eine freundlich gesinnte Verbindung, Humor            Unterstützungsangebote in ganz Österreich für
                     und Empathie. Meine Empfehlung an die besorgte              Suchtkranke und insbesondere deren Angehörige
                     Mutter war, ihren Sohn dabei zu unterstützen,               finden Sie auf Seite 26.
Foto: Getty Images

                                                                            15
16
Foto: Getty Images
Loslassen heißt nicht
Fallenlassen
Suchtkranke zu begleiten ist eine massive Herausforderung und bringt
Angehörige oft selbst an ihre Grenzen. Das Anton Proksch Institut
bietet Unterstützung an – stets unter der Prämisse: Ein JA zum Menschen,
ein NEIN zur Sucht.
UTE ANDORFER

O
          ft besteht auch bei Angehörigen von Sucht-         genauso wenig, wie es den einen Weg aus der
          kranken die Vorstellung: Wenn ich nur              Suchterkrankung gibt. In der Gruppe erfahren An-
          genügend Liebe, Kraft und Überwindung              gehörige natürlich Verständnis für ihre Situation und
aufbringe, dann wird der abhängige, der sucht-               Unterstützung. Durch Wissensvermittlung in Bezug
kranke Mensch so, wie ich ihn haben möchte. Diese            auf die Erkrankungsdynamik und durch Reflexion
Vorstellung und Hoffnung ist jedoch zum Scheitern            geht es in diesem Prozess jedoch auch darum,
verurteilt.                                                  Angehörige hinsichtlich der Herausforderungen zu
        In einem Dickicht aus sozialen Zwängen,              sensibilisieren und zu stärken. Gerade nach einer
Wertvorstellungen, Vorurteilen, persönlichen                 Therapie warten auf Angehörige zahlreiche Situatio-
Ängsten, falschen Hoffnungen und vielem anderen              nen, die mit Gefühlen wie Unsicherheit, Sorgen und
mehr sollen sich Familie, Partnerinnen und Partner,          Ängsten, Misstrauen und Zweifel verbunden sind.
Freundinnen und Freunde oder auch Kolleginnen                Hier braucht es viel Feingefühl, viel Verständnis für
und Kollegen von abhängigen Menschen zurecht-                Sorgen und vor allem eine ehrliche Vermittlung von
finden, sich klar darüber werden, welche Rolle sie in        Mut und Hoffnung.
diesem Krankheitsgeschehen spielen, wie sich die                    In der Begleitung von Angehörigen geht           MAG. DR. UTE
Krankheit eines anderen Menschen auf sie auswirkt,           es also weniger um sogenannte Ratschläge,               ANDORFER studierte
sie also davon „mitbetroffen“ sind, wie sie durch            sondern vielmehr um Wege der Selbsterkenntnis           Psychologie an der
                                                                                                                     Universität Wien und
diese „Mitbetroffenheit“ sogar zur Aufrechterhal-            und Anregungen, um aus einer möglicherweise
                                                                                                                     an der Humanwissen-
tung der Krankheit beitragen können und schließ-             vorherrschenden passiven, resignativen oder gar
                                                                                                                     schaftlichen Uni-
lich, welche Wege es gibt, aus diesem „suchtauf-             aggressiven Haltung herauszukommen – durch              versität Liechtenstein.
rechterhaltenden Teufelskreis“ auszusteigen.                 selbstverantwortliches Handeln und Verhalten, sich      Sie ist Klinische und
        Aus diesem Grund hat die Angehörigen-                änderndes und schließlich geändertes Denken             Gesundheitspsycholo-
betreuung am Anton Proksch Institut eine jahr-               und Fühlen.                                             gin sowie Verhaltens-
zehntelange Tradition sowohl im Einzel- als auch im                                                                  therapeutin. Seit
                                                                                                                     2000 ist sie am Anton
Gruppensetting. Manche Angehörige wagen den                  Mitverstrickt in die Erkrankung
                                                                                                                     Proksch Institut tätig
Weg in die Angehörigengruppe nicht, vielleicht aus           Angehörige sind zumeist in die Krankheit mitver-        und betreut dort u.a.
Scham oder auch aus Unsicherheit. Dabei ermög-               strickt und laufen Gefahr, durch ihr Verhalten zur      die Schwerpunkte
licht gerade die Gruppe das Lernen voneinander               Aufrechterhaltung des süchtigen Verhaltens des          Psychotraumato-
und Angehörige realisieren im Zusammentreffen mit            Betroffenen beizutragen. Dazu zählt unter anderem       logie und Gender
anderen Betroffenen auch, dass sie nicht allein sind         das Entschuldigen des Verhaltens der abhängigen         und Diversity. Neben
                                                                                                                     anderen Engagements
mit ihrer problematischen Situation.                         Person, das Übernehmen von Aufgaben bzw. Ver-
                                                                                                                     ist sie u.a. Vorstands-
        Die Angehörigen, die den Weg in die                  antwortungen, wiederholte Versuche, das Suchtver-
                                                                                                                     mitglied der Österrei-
Angehörigengruppen finden, haben zumeist große               halten durch Kontrolle in den Griff zu bekommen,        chischen Gesellschaft
Erwartungen. Allerdings gibt es keine „Gebrauchs-            und nicht zuletzt das Wahren des Familiengeheim-        für Arbeitsqualität und
anweisung im Umgang mit dem Suchtkranken“ –                  nisses „Sucht“ durch Abschottung nach außen.            Burnout (Burn Aut).

                                                        17
Einerseits glauben Angehörige, dass sie mit ihrem
        Verhalten Situationen und auch das Verhalten                   Fragen aus der Praxis
        an­derer Menschen beeinflussen können, anderer-
        seits erleben sie, dass sich eben doch, trotz all              Was können Angehörige tun, wenn sie bemerken,
        ihrer Bemühungen, nichts an der Situation ändert.              dass ein ihnen nahestehender Mensch vermehrt
        Darum beginnen sie auch früher oder später, an                 Alkohol trinkt, häufig nicht verschriebene Medika-
        ihren Fähigkeiten zu zweifeln, und entwickeln eine             mente oder illegale Substanzen einnimmt, oder
        Bereitschaft, Leiden auszuhalten und darüber zu                immer öfter Glücksspiel nachgeht?
        schweigen. Angehörige laufen dabei selbst Gefahr,              Zunächst einmal kann man den nahestehenden
        nicht nur Stresssymptome, sondern auch psychoso-               Menschen einfach darauf ansprechen. Dabei geht
        matische Krankheiten bis hin zu eigenen Abhängig-              es darum, dass man dem oder der Betroffenen
        keiten zu entwickeln.                                          mitteilt, was man wahrnimmt, was einem auffällt.
                Angehörige von Suchtkranken weisen jedoch              Viele Angehörige haben große Hemmungen, die
        auch vielerlei Stärken und Fähigkeiten auf, die für            betroffene Person auf ihren Substanzkonsum
        das Funktionieren eines gesellschaftlichen Systems             anzusprechen, aus Angst vor einer unangenehmen
        unerlässlich sind. Sie können zum Beispiel gut für             Reaktion, vor Konflikten oder auch Leugnung des
        andere Menschen sorgen, auf andere achten und                  Konsums und möglichem Rückzug. Man sollte sich
        sich einfühlen. Sie organisieren, strukturieren, sind          aber nicht davor scheuen. Betroffene Personen
        hilfsbereit, rücksichtsvoll und zuverlässig. Oft ist es        denken vielleicht gar nicht daran, dass ihr zuneh-
        das Übermaß all dieser Verhaltensmerkmale, das                 mender Konsum jemandem anderen auffallen
        dann zu Merkmalen von Co-Abhängigkeit führt.                   könnte. Einige empfinden es sogar als Erleich-
                Im Rahmen des co-abhängigen Verhaltens                 terung, dass er bemerkt wird. Andere hingegen
        werden von den betroffenen Angehörigen eigene                  möchten sich zu diesem Zeitpunkt selbst noch
        Gefühle und Bedürfnisse negiert. Sie streben nach              nicht eingestehen, dass ihr Konsummuster prob-
        „dem“ perfekten Verhalten, welches im Zusammen-                lematisch sein könnte, und reagieren mit Recht-
        leben mit einem suchtkranken Menschen entstehen-               fertigung, Scham oder Rückzug. Dennoch ist das
        de belastende Situationen zu kontrollieren vermag.             Ansprechen enorm wichtig, denn die Sucht wächst
        Da es die perfekte Kontrolle in Bezug auf einen                in der Heimlichkeit.
        suchtkranken Menschen aber nicht gibt, entstehen
        immer mehr Gefühle der Ohnmacht und Hilflosig-                 Was können Angehörige tun, um Betroffene zu
        keit, Unzulänglichkeit, Schuld, Scham und Angst.               einer Behandlung zu motivieren?

„
                                                                       Es ist wichtig, dass Angehörige erkennen, dass sie
                                                                       nicht etwas am Konsummuster des Suchtkranken

   Wenn du damit beginnst,                                             verändern können, das kann nur der oder die
                                                                       Betroffene selbst.
   dich denen aufzuopfern,                                                     Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass
                                                                       meist etwas passieren muss, damit wir für eine Ver-
   die du liebst, wirst du damit                                       änderung bereit sind. So ist es auch bei Menschen
   enden, die zu hassen, denen                                         mit einer Suchterkrankung. Deren Tiefpunkte
                                                                       können ganz unterschiedlich sein: gesundheitliche
   du dich aufgeopfert hast.                                           Zusammenbrüche, drohender oder tatsächlicher
                                                                       Arbeitsplatzverlust oder Weisung von der Schule,
                          George Bernard Shaw                          Konflikte mit dem Gesetz, Führerscheinentzug,
                                                                       drohende Trennung in der Beziehung, finanzielle
                                                                       Schwierigkeiten etc.
                Es gibt für jeden Angehörigen an jedem                         Für Angehörige ist es natürlich sehr schwie-
        Punkt des Suchtprozesses die Möglichkeit, innezu-              rig, auf so einen Zeitpunkt zu „warten“. Unsere
        halten und aus nicht hilfreichen Verhaltensmustern             üblichen Verhaltensweisen im Umgang mit kranken
        auszusteigen. Dies bedeutet oft, sich den eigenen              Personen, wie schonen, beschützen, sie bei ande-
        Gefühlen der Enttäuschung, Verlet­zung, Kränkung               ren entschuldigen, Verantwortung vorübergehend
        zu stellen und sich der eigenen Sehnsüchte, Wün­               abnehmen, können jedoch bei Menschen mit einer
        sche und Lebensbilder bewusst zu werden und                    Suchterkrankung dazu führen, dass sie über lange
        Verantwortung für diese zu übernehmen.                         Zeit keinen Leidensdruck hinsichtlich ihres Kon-
                Gerade in der Begleitung von Angehörigen               sums empfinden und keinen damit verbundenen
        gibt es häufig gestellte Fragen zum Umgang mit                 Wunsch nach Veränderung entwickeln können.
        Menschen mit einer Suchterkrankung, auf die nun                Hier gilt es das „Loslassen“ des Betroffenen nicht
        in Folge eingegangen werden soll. Es handelt sich              als „Fallenlassen“ zu verstehen. Vielmehr geht es
        dabei um Anregungen. Einfache „Kochrezepte“ gibt               darum, dass der suchtkranke Betroffene erkennen
        es leider nicht.

                                                                  18
kann, dass nur er die Verantwortung für seine Situ-                    Wenn Angehörige bemerken, dass der
ation übernehmen kann und es eine Entscheidung                 oder die Suchtkranke erneut konsumiert oder
zu treffen gilt: „Was ist mir wichtiger? Mein Suchtver-        z.B. wieder spielt, sollen Angehörige – wie bereits
halten oder ...?“                                              vorhin beschrieben – die Betroffenen darauf
                                                               ansprechen und darauf hinweisen, was ihnen
Was kann sich alles durch eine Behandlung der                  auffällt, bzw. Unterstützung bei einem erneuten
Betroffenen verändern?                                         Beratungstermin anbieten. Es ist immer wichtig,
Wenn ein suchtkranker Mensch schließlich eine                  sich klar zu machen, dass nur der oder die
Behandlung in Anspruch nimmt, werden einige Ver-               Betroffene selbst einen Schritt setzen kann, um
änderungen auf das gesamte System zukommen.                    das Problem wieder in den Griff zu bekommen.
Wichtig dabei ist, dass Angehörige sich selbst und
den Betroffenen Zeit geben, sich auf die neue Situa-           Was können Angehörige für sich tun?
tion einzustellen.                                             Viele Angehörige von Menschen mit einer Sucht-
        Angehörige haben in den Jahren der                     erkrankung empfinden Gefühle der Ratlosig-
Suchterkrankung sicher einiges mitgemacht und                  keit, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie haben den
sind enttäuscht worden. Es braucht wahrscheinlich              Eindruck, sie können nichts tun, nichts verändern,
einiges an Zeit, damit Vertrauen wieder aufgebaut              können nur warten, dass etwas passiert. Angehö-
werden kann. Erhöhtes Misstrauen und Vorwürfe                  rige können vielleicht nicht unmittelbar am Kon-
sind meist wenig hilfreich. Dennoch muss man dafür             sumverhalten der Betroffenen etwas verändern,
Verständnis haben. Betroffene selbst brauchen Zeit,            aber sie können sich selbst entlasten.
um wieder in ihre Rollen in der Familie oder einem                     Hier geht es darum, dass Angehörige
anderen Kontext hineinzuwachsen.                               wieder ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen
        Wichtig und hilfreich ist es, gemeinsam                und diesen auch nachgehen. Beim Reflektieren
herauszufinden, wo Angehörige im Laufe der Zeit                darüber, was einem gut tun könnte, was einem
immer mehr Verantwortung für die Betroffenen                   früher oft Kraft gegeben oder Spaß gemacht
übernommen haben, und diese Verantwortung auch                 hat – auch hierbei können Angehörigenbetreu-
schrittweise wieder zurückzugeben. Hier braucht es             ungsangebote hilfreich sein. So wie der Alkohol,
Geduld und Verständnis, denn Veränderungen und                 die Droge, der Spielautomat oder Computer bei
Muster, die sich über Jahre entwickelt haben, kön-             dem oder der Betroffenen irgendwann in den
nen nicht innerhalb von Tagen oder Wochen wieder               Mittelpunkt des Lebens rückt, wird für Angehörige
rückgängig gemacht werden. Wichtig ist es auch,                oft die suchterkrankte Person zunehmend zum
zu besprechen, wie man in Gegenwart anderer mit                Mittelpunkt des Lebens, alles dreht sich um die
dem Thema Sucht umgehen möchte, wer erfahren                   Sucht und andere wichtige Bereiche werden kaum
soll, dass eine Suchterkrankung besteht.                       noch wahrgenommen.
        Im Falle einer Alkoholabhängigkeit darf man                    Erst der Schritt aus der Isolation, das
natürlich darüber sprechen, ob Alkohol zu Hause                Sprechen darüber, wird die Veränderung der
sein soll oder nicht. Viele Betroffene fühlen sich             Situation anstoßen. Was die Beziehung zum/zur
bevormundet, wenn ihre Umgebung aus Angst vor                  Betroffenen betrifft, gilt es zu überlegen, wo die
einem möglichen Rückfall krampfhaft auch keinen                eigenen Grenzen sind, diese auch klar zu kommu-
Alkohol trinkt, und eine völlig alkoholfreie Welt              nizieren und auch zu besprechen, was passiert,
können wir ohnehin nicht schaffen. Darüber reden               wenn diese Grenzen überschritten werden. Es ist
hilft!                                                         dabei wichtig, nur solche Konsequenzen anzukün-
                                                               digen, die man auch bereit ist, umzusetzen. Es ist
Was können Angehörige tun, wenn Betroffene                     z.B. wenig hilfreich, regelmäßig mit der Trennung
einen Rückfall haben?                                          zu drohen, wenn zum gegebenen Zeitpunkt
Eine Suchterkrankung ist eine Erkrankung, die mit              eine Trennung noch gar nicht in Frage kommt.
Rückfällen einhergehen kann. Ein Rückfall sollte               Je öfter Aktionen angekündigt und dann nicht
ernst genommen werden, muss aber nicht gleich                  durchgeführt werden, desto weniger wirksam
eine Katastrophe sein und sofort wieder in ein                 werden sie. Es ist wichtig und hilfreich, sich seinen
früheres Konsummuster zurückführen. Ein Rückfall               eigenen Handlungsspielraum immer wieder
kann auch ein Hinweis darauf sein, dass ein Problem            bewusst zu machen, um zu unterscheiden, was
unterschätzt wurde, und es wichtig ist, sich mit dem           man als Angehöriger selbst tun kann und wo die
Thema weiterhin auseinanderzusetzen, am besten                 Verantwortung beim Betroffenen liegt. Die klare
im Rahmen einer regelmäßigen ambulanten Be-                    Haltung sollte hier immer lauten: „Ein JA zum
treuung.                                                       Menschen, ein NEIN zur Sucht!“                     

                                                          19
Sie können auch lesen