150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
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1|2020 Magazin der Stiftung Liebenau Bildung 150 Jahre Stiftung Liebenau 4 Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12 Musik und Theater: Unterricht dank Kulturfonds 18
Stiftung Liebenau Bildung 4 Impressum Inhalt Titelthema: 150 Jahre Stiftung Liebenau – vom Landerziehungsheim zum Berufsbildungswerk Auf Kurs Magazin der Stiftung Liebenau Bildung Titel: Bildung in der Stiftung Liebenau Herausgeber: Liebenau Berufsbildungswerk 3 Editorial gemeinnützige GmbH Schwanenstraße 92 88214 Ravensburg Titelthema: Telefon: 0751/3555-8 150 Jahre Stiftung Liebenau E-Mail: info.bbw@stiftung-liebenau.de 4 Vom Landerziehungsheim zum Berufsbildungswerk Redaktion: Herbert Lüdtke und Christian Braun 6 Fünf Geschichten aus 150 Jahren (verantwortlich), Christof Klaus (ck) 8 Die Geschäftsführer im Interview 12 (NETZ-3 – Die Medienprofis) 11 Guck mal... ins BBW-Fotoalbum Durch die Corona-Krise: „Wieder ein bisschen Bildnachweise: Stiftung Liebenau (S. 1, 2, Normalität“ 3, 4, 5, 6, 7, 11, 13, 14, 20, 21), Christof Durch die Corona-Krise Klaus (S. 1, 2, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 16, 12 Wieder ein bisschen Normalität 18, 19, 24), Pixabay (S. 2, 17), privat (S. 15) 14 Franzi, 19 Jahre, Risikogruppe 15 Die Heimlernphase und ich Grafik: Natalie Baumbusch (NETZ-3 – Die Medienprofis) 16 Absolventen 2020: Der „Corona- Druck: Siegl Druck & Medien GmbH & Co. Jahrgang“ feiert Abschluss KG, Friedrichshafen BBW im Überblick Auflage: 2500 Erscheinungsweise: 2 Ausgaben pro Jahr 17 Impuls: Wir haben uns verändert 18 Musik- und Theaterunterricht 19 Schutz vor Gewalt gegen Frauen 17 Schillerstraße 15 Ulm Spiritueller Impuls: „Wir haben uns verändert“ 20 Hilfe für Partnerschule in Afrika 21 Kurzmeldungen aus Ulm Service 22 Unser Ausbildungsangebot 23 Übersicht: Ihre Ansprechpartner Einen Augenblick bitte… 24 Brigitte Hommel Mit der „Auf Kurs“ informieren wir regel- 20 mäßig über Ereignisse, Themen und Pro- jekte in der Stiftung Liebenau Bildung. Internationale Solidarität: „Corona-Hilfe“ für Dazu verwenden wir personenbezogene Partnereinrichtung im afrikanischen Uganda Daten. Sie werden mit der nötigen Sorg- falt und unter Beachtung des gesetzli- BBW-News chen Datenschutzes verarbeitet. Für In- Neben der „Auf Kurs“ informieren wir Sie formationen über die gespeicherten Da- über interessante Neuigkeiten aus dem ten, zur Ergänzung, Korrektur oder Lö- Mehr zum Jubiläum auf Liebenau Berufsbildungswerk auch per schung wenden Sie sich bitte an den Her- E-Mail – mit dem BBW-Newsletter. Auf ausgeber. Weitere Informationen über 150jahre.stiftung-liebenau.de www.stiftung-liebenau.de/bildung unsere Datenschutzmaßnahmen finden können Sie diesen ganz einfach abonnie- Sie hier: ren – selbstverständlich kostenlos und www.stiftung-liebenau.de/datenschutz nur so lange Sie möchten. 2 1|2020
Editorial Christian Braun (links) und Herbert Lüdtke, Geschäftsführer Liebenau Berufsbil- dungswerk gemein- nützige GmbH Liebe Leserin, lieber Leser, normalerweise stünde dieses Heft voll und ganz im fach die jungen Leute heimschicken – das geht zum Zeichen von 150 Jahre Stiftung Liebenau – so wie Beispiel in der Jugendhilfe nicht. Hier ist eine das ganze Jahr 2020. Doch die Corona-Pandemie durchgehende Betreuung sicherzustellen – an 365 warf nicht nur alle Jubiläumspläne über den Hau- Tagen im Jahr. Auch diese Herausforderung haben fen, sondern sorgte auch bei uns im Liebenau Be- wir gemeistert. Für unsere Teilnehmerinnen und rufsbildungswerk (BBW) für zwischenzeitlich leere Teilnehmer war es – trotz sozialpädagogischer, psy- Ausbildungswerkstätten und Klassenräume. Sie- chologischer und fachlicher Betreuung auch wäh- ben Wochen lang mussten unsere Auszubildenden, rend der Heimlernzeit – natürlich nicht einfach, so unsere Schülerinnen und Schüler von zuhause aus abrupt aus dem gewohnten und strukturierten Be- lernen, ehe sie schrittweise wieder in unsere Ein- rufsschul- und Ausbildungsalltag herausgerissen richtungen in Ravensburg und Ulm zurückkehren zu werden. Umso mehr freut es uns, dass wir und konnten – mit gestaffelten Arbeitszeiten, verklei- unsere jungen Menschen bisher so gut durch die nerten Klassen und Ausbildungsgruppen, in einer Corona-Krise gekommen sind – und dass es der Ab- Kombination aus Präsenzzeiten und Heimlernpha- solventenjahrgang 2020 auch unter diesen widri- sen, unter Einhaltung strikter Hygiene- und Ab- gen Bedingungen zum erfolgreichen Ausbildungs- standsregeln. Das alles geschah und geschieht vor abschluss geschafft hat. Gratulation! dem Hintergrund, das Infektionsrisiko der Rehabi- Dennoch ist die aktuelle Krise, so massiv sie seit litanden und Mitarbeitenden zu minimieren und Monaten auch unser Leben und unseren Alltag be- ihre Gesundheit zu schützen. stimmt, angesichts der anderthalb Jahrhunderte Vieles konnte in Zeiten von Corona plötzlich nicht dauernden Geschichte der Stiftung Liebenau nur mehr in gewohntem Rahmen ablaufen – sei es der ein ganz kleiner Teil einer langen und bewegten persönliche Kontakt der Kostenträger zu ihren Kli- Entwicklung. Und so lesen Sie in dieser Ausgabe enten oder auch unsere Kommunikation mit poten- der „Auf Kurs“ nicht nur, wie unsere Jugendlichen ziellen zukünftigen Azubis. Informationsveranstal- und Mitarbeitenden im Jubiläumsjahr die Corona- tungen mussten abgesagt werden, die Schnupper- Zeit erleben, sondern erhalten auch einen histori- nachmittage für Schulen bei uns im Haus sowie der schen Blick auf 150 Jahre Bildung in der Stiftung Tag der offenen Tür in Ulm fielen aus, auch das Liebenau. „BBW Open“ in Ravensburg mit seinen üblicher- Rund 40 Jahre davon trägt unser Berufsbildungs- weise über tausend Besucherinnen und Besuchern werk nun schon dazu bei, junge Menschen mit Be- kann in diesem Jahr nicht stattfinden. nachteiligungen der unterschiedlichsten Art fit zu Doch auch während des „Lockdowns“ stand das machen für ein eigenständiges Leben und den Start BBW niemals still. Im Gegenteil: Diese Phase war in den Beruf – als gut ausgebildete Fachkräfte. Die- sogar arbeitsintensiver als der „Normalbetrieb“. se Aufgabe nehmen wir gerade auch in Krisenzei- Heimlernkonzepte wurden im Eiltempo entwickelt ten wie diesen mit aller Kraft, Erfahrung, Know- und umgesetzt, dabei individuelle Lösungen für how und Innovation wahr – und wollen dies auch Hochrisikofälle gefunden. Unsere Mitarbeitenden in der Zukunft tun. Im Sinne der uns anvertrauten aus Schule, Ausbildung und Fachdiensten enga- Personen und stets nach dem Leitwort der Stiftung gierten sich noch mehr als sonst, um den Kontakt Liebenau handelnd: In unserer Mitte – Der Mensch. zu den Teilnehmenden zu halten und sie weiterhin bestmöglich zu begleiten. Gerade unser Wohnbe- Viel Spaß beim Lesen wünschen Ihnen reich war in dieser Zeit besonders gefordert. Ein- Christian Braun und Herbert Lüdtke 1|2020 3
150 Jahre Stiftung Liebenau Mehr zum Jubiläum auf 150jahre.stiftung-liebenau.de Vom Landerziehungsheim zum BBW Die Geschichte der beruflichen Bildung in der Stiftung Liebenau Seit rund 40 Jahren sorgt das Liebenau Berufsbildungswerk (BBW) für die berufliche Integration junger Menschen mit besonde- rem Förderbedarf. Tausende Auszubildende haben dort seit Anfang der 1980er Jahre das nötige Rüstzeug erlernt, um mit einem vollwertigen Abschluss ins Berufsleben starten zu können. Doch auch zuvor spielte Bildung in der 150-jährigen Geschichte der Stiftung Liebenau eine wachsende Rolle. Bezog sich praktische Ausbildung vor neunzig Jahren vor allem noch auf Feldarbeit, stehen im BBW heute mehr als 50 anerkannte Ausbildungsberufe zur Wahl – vom Schreiner oder Gärtner über die Hauswirt- schafterin oder Kauffrau für Büromanagement bis hin zum Fachinformatiker. Bildung für jeden, so lautet die Mission rufsbildungswerks führte. Konzept aus England, die Erziehungs- im Aufgabenfeld Stiftung Liebenau Bil- Doch bereits vor dem ersten Spatenstich anstalt St. Gertrudis für „schwache Kin- dung. Mit „jeden” meint die Stiftung Lie- für das BBW in Ravensburg hatte es in der”, wie es in einer zeitgenössischen benau insbesondere Menschen, denen der Stiftung Maßnahmen der berufli- Beilage zur „Oberschwäbischen Volks- aufgrund erhöhter Förderbedarfe, Lern- chen Bildung für benachteiligte Perso- zeitung“ hieß. Hier fand auch schon eine behinderungen und psychischer Krank- nen gegeben. So wurde 1899 erstmals Art Berufsvorbereitung statt. heitsbilder eine Teilhabe an Bildung eine eigene Schule erwähnt, bevor dann und Arbeitsleben zumindest erschwert 1929 mit der Eröffnung des Landerzie- Autonomie durch „ehrliche Handarbeit“ ist. Ehe in den 1970er Jahren ein gesell- hungsheimes im nahegelegenen Rosen- Neben dem Schulunterricht und der Er- schaftliches und politisches Umdenken harz eine für diese Zeit fortschrittliche ziehung im Sinne sozialen Lernens wur- stattfand, war deren berufliche Per- Schul- und Ausbildungsstätte im Inter- de den Zöglingen auch eine „manuelle spektive – ein wesentlicher Teil der Le- natsbetrieb eingerichtet wurde. Die da- Ausbildung” zuteil: Sie wurden zur Mit- bensplanung – eher dem Zufall überlas- malige „Pfleg- und Bewahranstalt Liebe- arbeit auf den Feldern angehalten, zur sen. Auch in der Stiftung Liebenau be- nau” hatte dort einige Jahre zuvor ein Kartoffel- und Obsternte herangezogen, gann zu dieser Zeit eine Phase des Auf- Wirtschaftsgebäude samt ausgedienter zur Ährenlese und zum Steinelesen auf bruchs und der Innovation im Bildungs- Brauerei, Stallungen und Scheuer sowie den Äckern. Der damalige Schulvor- bereich, die schließlich Anfang der 65 Morgen Land erworben. Auf dem Ge- stand Erwin Maier begründete dies da- 1980er Jahre auch zur Gründung des Be- lände entstand, nach einem modernen mit, seinen Zöglingen mit der Arbeitser- ziehung „später zu ermöglichen, mit ehrlicher Handarbeit ihren Lebensun- terhalt zu verdienen”. In einer Zeit, die weder einen zweiten Arbeitsmarkt noch Werkstätten für Menschen mit Behinde- rungen kannte, ein äußerst fortschrittli- cher Ansatz, der auf die Autonomie der Betreuten zielte. Mit der Machtergreifung der Nationalso- zialisten im Jahr 1933 erfuhren die Er- ziehungsgrundsätze im Deutschen Reich und damit auch in Rosenharz eine völkisch-nationale „Neuorientierung”. „Die Schule wird auch weiterhin be- strebt sein, ihre Schüler streng national im Sinne des Führers zu erziehen zum selbstlosen Dienst an Volk und Vater- land”, heißt es in einem Schwesternbe- 1|2020
150 Jahre Stiftung Liebenau sellschaft hat die Chance gesehen, zu beweisen, dass wir mit diesen Men- schen auch anders umgehen können”, so Dieterich. Zwischen Wachstum und Krise Vier Jahrzehnte Berufsbildungswerk waren auch eine Zeit des Wandels – räumlich, strukturell und politisch. Ur- sprünglich für 242 Plätze geplant, mus- sten die Kapazitäten infolge des weit größeren Bedarfs bald schon erhöht und der Gebäudekomplex des BBW in den Die Ausbildungswerkstätten der Stiftung Liebenau im Wandel der Zeit: 1930 im Landerziehungsheim Rosenharz 1990er Jahren erweitert werden. Dem (links) und Mitte der 1980er Jahre im damals neu gegründeten Berufsbildungswerk in Ravensburg. Boom folgte 2005 die Krise, als die seit 1995 als gemeinnützige Gesellschaft richt aus dieser Zeit. Von der Ermögli- funden hatte, konnten die Bagger dann (gGmbH) fungierende Tochter der Stif- chung eines selbstbestimmten Lebens anrollen: Das Berufsbildungswerk Adolf tung Liebenau einen dramatischen Ein- war da bereits keine Rede mehr. Aich – benannt nach dem Initiator der bruch der Belegungszahlen zu bewälti- Schlimmer noch. In den Gaskammern Stiftung Liebenau – wurde gebaut. gen hatte – und sich daraufhin noch von Grafeneck wurden auch Bewohner Damit war auch Ravensburg Teil jenes breiter und gleichzeitig spezialisierter aus Rosenharz ermordet (siehe auch Netzes von Einrichtungen der berufli- aufstellte. Seite 6). Das Landerziehungsheim wur- chen Rehabilitation geworden, das sich Aus der Baustelle von einst ist im Laufe de 1941 zur Lungenheilstätte der Wehr- im Zuge des von der Bundesregierung der Jahre ein Kompetenzzentrum für macht umfunktioniert, die verbliebenen lancierten „Aktionsprogramms zur För- Bildung gewachsen. Ob Menschen mit Kinder verlegte man in nahegelegene derung der Rehabilitation von Behin- Lernbehinderung, ADHS, einer Autis- Pfleganstalten, ein Großteil der Schul- derten“ vom April 1970 über die ganze mus-Spektrum-Störung oder anderen kinder kam nach Liebenau. Erst 1953 Republik erstreckte. Beeinträchtigungen: Heute werden die fand hier jedoch wieder ein geregelter verschiedensten Zielgruppen am Schulbetrieb statt. Aufbruchstimmung in den 1970ern Stammsitz in der Ravensburger Schwa- Diese politische Entscheidung folgte nenstraße, am 1998 dazu gekommenen Neuaufbau nach dem Krieg dem damaligen Zeitgeist, sich im Um- Standort Ulm sowie in weiteren Kom- Im Zuge des Neuaufbaus nach dem Ende gang mit behinderten Menschen neu zu munen und unzähligen Partnerbetrie- des Nationalsozialismus entstand in orientieren und ihnen mehr Förderung ben der ganzen Region ausgebildet, den 1960er Jahren in Liebenau eine be- zuteilwerden zu lassen. Von der Ostsee weiterqualifiziert, beschult, betreut rufsvorbereitende Fortbildungsklasse, bis nach Oberschwaben entstanden so oder auf den Start in die Berufsausbil- aus der 1971 die Berufsfindungswerk- bundesweit bis heute über 50 Berufsbil- dung vorbereitet. Es gibt ein differen- statt hervorging. Mit Förderlehrgängen dungswerke. Die Idee, jungen Men- ziertes Wohnangebot, hochprofessio- und ersten Fachwerker-Ausbildungen schen mit Lernbehinderungen in außer- nelle Fachdienste und zwei Sonderbe- für lernbehinderte Jugendliche entwi- betrieblichen Lernorten, bei entspre- rufsschulen. Rund 1 000 vorwiegend ckelte sich dann im Laufe der 1970er chender pädagogischer Unterstützung, junge Menschen nutzen jährlich die An- Jahre quasi eine Vorform des späteren eine systematische Eingliederung in gebote des BBW: vom Vorqualifizie- Berufsbildungswerks. Ausbildungsrege- den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, kam rungsjahr Arbeit/Beruf (VAB) über Aus- lungen gemäß § 48 des Berufsbildungs- damals aus Skandinavien nach Deutsch- bildungsmaßnahmen bis hin zu Weiter- gesetzes wurden erarbeitet, entspre- land. Die Zeit war aber auch hier bereits bildungskursen, Umschulungen und be- chendes Personal eingestellt und quali- überreif, wie Dr. Karl-Heinz Dieterich, ruflichen Wiedereinstiegsprogrammen, fiziert sowie erste Wohnformen erprobt, der erste Geschäftsführer des BBW, spä- wobei die Teilnehmenden von einem ehe 1977 schließlich mit der konkreten ter in einem Gespräch mit der „Auf multiprofessionellen Team aus über 500 Planung eines BBW begonnen wurde. Kurs“ erläuterte. Nicht unerheblich für Fachkräften aus Handwerk, Technik, Als konzeptionelle Fragen geklärt wor- dieses gesellschaftliche Umdenken war Pädagogik, Sozialarbeit, Medizin, Psy- den waren und man am Stadtrand von dabei auch die Last der Verbrechen zur chologie und Heilpädagogik betreut Ravensburg ein passendes Gelände ge- Zeit des Nationalsozialismus. „Die Ge- werden. (ck) 1|2020 5
150 Jahre Stiftung Liebenau Fünf Geschichten Fünf Geschichten aus 150 Jahren Menschen mit besonderem Teilhabebedarf eine optimale berufliche Perspektive zu ermöglichen – diese Aufgabe hat eine lange Tradition in der Stiftung Liebenau. Und doch waren die Chancen für die Betroffenen nicht immer so gut wie heute. Das zeigen die Bildungsgeschichten von fünf Menschen aus fünf Generationen, die in der Stiftung und deren Berufsbildungswerk zu ganz unterschiedlichen Zeiten beschult und ausgebildet wurden. Und so mancher von ihnen hätte sich die Gnade einer späteren Ge- burt gewünscht… Der junge Oberschwabe – wir nennen ihn Georg – ist vermut- 1906 lich Autist. Doch für diese Störung gibt es zu der Zeit weder ei- nen Namen, noch eine Diagnose. Zusammen mit anderen jun- gen Menschen mit Behinderungen lebt er in dem 1906 im Neu- bau des „Gut-Betha-Hauses“ in Liebenau eingerichteten Kin- derheim, in dem es auch Schulräume gibt. Inspektor Otto We- ber, der damalige Liebenauer Anstaltsleiter, beschreibt die pädagogische Arbeit dort als das, was man als erstes Bildungs- konzept der Stiftung bezeichnen könnte: „Wir möchten den Kindern, deren geistige Entwicklung gehemmt ist, oder die in- folge körperlicher Leiden dem Klassenunterricht der Normal- schule nicht zu folgen vermögen, zu einer ihrem Zustande an- gepassten Erziehung verhelfen und sie dadurch zu einem menschenwürdigen Dasein befähigen.“ Was aus Georg wohl geworden wäre, hätte er einhundert Jahre später Geburtstag gehabt? Der lernbehinderte Erich kommt als Zwölfjähriger im Frühjahr 1935 ins Landerziehungsheim der Stiftung Liebenau nach Ro- senharz – in einer Zeit, in der die Nationalsozialisten im Deut- schen Reich die Macht übernommen haben. Der unmenschli- chen NS-Herrschaft fallen auch Bewohner aus Rosenharz zum Opfer. Erich ist Augenzeuge, als die ersten Menschen von dort abtransportiert werden. Mehr als 50 Jahre nach diesem schrecklichen Erlebnis schildert er seine Beobachtungen ein- mal in eigenen Worten: „Alle mussten in der Pforte warten, und dann sind sie in den Hof gegangen. Dann haben sie sie in die Busse geschuckt, mit Stempel drauf, wie ein Stück Vieh. Als die Wägen zum zweiten Mal kamen, durfte keiner mehr im Hof sein, wir sollten das nicht sehen. Ich habe mich im Heustock versteckt und zugeschaut.“ Weil er arbeitsfähig ist, bleibt Erich selbst verschont. Wochen später erfährt er aber vom Tod sei- nes Vaters, der in Liebenau gelebt hat und Anfang Juli 1940 de- portiert worden ist. 1940 6 1|2020
150 Jahre Stiftung Liebenau n aus 150 Jahren Frank wächst in seiner Heimat auf der Ostalb in schwierigen 1984 Familienverhältnissen auf. Neun Jahre besucht er die Sonder- schule für Lernbehinderte. Und was nun? Auf Vorschlag des Arbeitsamtes kommt er 1984 in das noch junge Berufsbil- dungswerk nach Ravensburg. Im Förderlehrgang zeigt sich: der eigentlich anvisierte Gärtnerberuf ist nichts für Frank, stattdessen beginnt er eine Ausbildung als Maler und Lackie- rer und zeigt dort beste Leistungen. Den angebotenen Wechsel in die Regelausbildung traut sich der junge Mann aber noch nicht so richtig zu: „Lieber eine bestandene Fachwerker-Prü- fung als eine nicht bestandene Vollausbildungs-Prüfung“, lau- tet sein Motto. Nach dem Abschluss findet er in seiner Heimat einen Job. Sein Chef legt ihm einen Meisterkurs nahe. Doch da- für fehlt der Gesellenbrief. Mit Hilfe eines Lehrers aus dem BBW büffelt er für diese nachträgliche Prüfung, die er dann tat- sächlich mit sehr guten Noten im Frühjahr 1993 absolviert. Ob berufliche Wiedereinsteiger, Umschüler oder Menschen 2013 mit Migrationshintergrund: Längst hat sich das BBW gegen- über neuen Zielgruppen geöffnet und bietet auch für Erwach- sene über 25 und ohne Behinderungen die Chance auf neue berufliche Perspektiven. So absolviert die 35-jährige Ex-Gym- nasiastin Serpil Reitenbach im Berufsbildungswerk eine be- triebliche Nachqualifizierung zur Kauffrau für Bürokommuni- kation. „Ich wollte schon immer im Büro arbeiten. Sachen or- ganisieren, Kundengespräche führen, mit dem Computer um- gehen.“ Sie sei eben ganz der „Organisationstyp“, meint sie seinerzeit gegenüber der „Auf Kurs“. Die Karriere auf Umwe- gen gelingt: Serpil Reitenbach bleibt nach ihrem Abschluss so- gar im BBW und findet dort als Assistentin der Abteilungslei- tung Bildung und Arbeit ihren Traumjob. Inzwischen ist Autismus längst bekannt, und immer mehr jun- ge Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung kommen ins BBW, um dort in einem für sie geeigneten Umfeld und mit der nötigen Unterstützung den Sprung auf den ersten Arbeits- markt zu schaffen. Doch noch immer erhalten viele Betroffene ihre Diagnose erst spät, wie etwa Jan. „Man scheitert, aber man weiß nicht warum“, berichtet er über seinen langen Leidens- weg, bis er mit der Diagnose Autismus „endlich einen Namen für alles“ bekommen hat – und im BBW in Ravensburg einen Ausbildungsplatz als Fachinformatiker, an dem er sich wohl und verstanden fühlt. (ck) 2020 1|2020 7
„Mit Zuversicht in die Zukunft“ 150 Jahre Stiftung Liebenau – Meilensteine, Krisen, Erfolge und Herausforderungen im Aufgabenbereich Bildung und natürlich die Corona-Pandemie: Die Geschäftsführer des Liebenau Berufsbildungswerks, Christian Braun (rechts im Bild) und Herbert Lüdtke (links), blicken im Interview zurück und nach vorne. 150 Jahre Stiftung Liebenau: Was hat, wird sie auch das jetzt schaffen. geschafft. Doch wie sieht es in der aktu- bedeutet dieses Jubiläum? Aber natürlich ist es sehr schade, dass ellen Situation mit der Integration in Herbert Lüdtke: Zunächst einmal, dass die ganzen geplanten Feierlichkeiten den Arbeitsmarkt aus? hinter der Stiftung Liebenau sehr viel und Veranstaltungen Corona zum Opfer Braun: Wir hatten im vergangenen Jahr Geschichte steckt – und dass man in die- gefallen sind. Es wäre bestimmt ein tol- – bei einem sehr guten Arbeitsmarkt – ser auch Krisen überstanden hat, die les Jubiläumsjahr geworden! eine überragende Vermittlungsquote, in zum Teil noch wesentlich massiver wa- der Gastronomie zum Beispiel hundert ren als das, was gerade mit Corona pas- Stichwort Corona: Wie lief im BBW der Prozent. Das ist natürlich in diesem Jahr siert. Wenn man zum Beispiel an die Wiedereinstieg nach der siebenwöchi- schwieriger. Je nach Branche gibt es Be- Zeit des Nationalsozialismus denkt, in gen pandemiebedingten Schließung? triebe, die durch Corona sehr stark be- der Menschen mit Behinderungen – Lüdtke: Die Jugendlichen sind gerne troffen sind und eher an Kurzarbeit oder auch aus Liebenau – deportiert und er- wieder gekommen. Sie waren froh, wie- Arbeitsplatzabbau denken, als an Neu- mordet wurden. Die Stiftung Liebenau der einen geregelten Tagesablauf und einstellungen. Von daher wird sich die steht mit ihrer Erfahrung, Tradition und Struktur zu haben. Diese Zeit war für Krise wohl auf die Vermittlungszahlen Arbeit für Verlässlichkeit, für Werte und viele nicht so einfach. für 2020 auswirken. Die vielen Neuan- eine christlich-katholische Grundhal- meldungen für das laufende Ausbil- tung, die sie auch durch schwierige Pha- Und wie wird die „neue Normalität“ an- dungsjahr zeigen aber auch: Das BBW sen trägt und die sich in ihrem Leitwort genommen? ist ganz offensichtlich ein Ort der Ver- ausdrückt: In unserer Mitte – Der Lüdtke: Die Jugendlichen machen mit, lässlichkeit, an dem junge Menschen, Mensch. Und das gibt Mut und Zuver- tragen Masken und zeigen Verständnis die gerade in dieser Zeit vielleicht eine sicht mit Blick auf die Zukunft. für die Regeln. Es gibt ein gutes Mitein- schlechtere Perspektive haben, gut auf- Christian Braun: Die Stiftung hat sich ander. gehoben sind. Und wenn die Krise vor- im Laufe der Zeit enorm weiterentwi- Braun: Ja, der Großteil zieht da super bei ist, haben sie – mit einer abgeschlos- ckelt, dabei immer die Menschen und mit. Wir sind dankbar, insgesamt bisher senen Berufsausbildung in der Tasche – ihre Bedarfe im Fokus gehabt, und ist gut durch die Krise gekommen zu sein. voraussichtlich wieder sehr gute Chan- heute sehr differenziert aufgestellt. Ei- Unsere Entscheidung war, zunächst vor- cen auf dem Arbeitsmarkt. nerseits hat sich dadurch die Komplexi- sichtig mit einer begrenzten Präsenz- tät erhöht – und hier im Verbund eine zahl wieder einzusteigen, also nur 50 Apropos Neuanmeldungen: 250 junge gute Mischung aus Gemeinsamkeiten bis 70 Prozent der sonst üblichen Teil- Menschen sind in diesem Spätsommer und Unterschieden hinzubekommen, nehmenden auf dem Gelände zu haben. an den BBW-Standorten Ravensburg ist durchaus auch eine Herausforde- Diese Anlaufphase hat auch dazu ge- und Ulm in eine Berufsvorbereitung rung. Andererseits steht die Stiftung Lie- führt, dass sich bei den Jugendlichen oder -ausbildung gestartet. So gut waren benau so auf einem breiten Fundament, und Mitarbeitenden ein sicheres Gefühl die Belegungszahlen nicht immer... was in schwierigen Zeiten hilfreich ist. entwickelt hat. Lüdtke: Um das Jahr 2005 herum kam Auf 150 Jahre betrachtet, relativiert sich es im BBW zu einer sehr ernsten Bele- aber auch eine Krise wie die jetzige. So Trotz Krise haben ja so gut wie alle Prüf- gungskrise, und es herrschte eine große wie die Stiftung schon so vieles geschafft linge im Sommer 2020 ihren Abschluss Unsicherheit, wie sich der Bereich der 8 1|2020
150 Jahre Stiftung Liebenau „ beruflichen Rehabilitation überhaupt weiterentwickeln würde und was die „Bei uns bekommen junge Menschen mit besonderem Förderbedarf das, was sie brauchen, um am Ende den Zugang zur Arbeitswelt zu bekommen. Wir sind ein „ Politik damit vorhat. Es war die Zeit, in der sich die Bundesagentur für Arbeit Inklusionsschlüssel!“ neu aufstellte, Sozialgesetze geändert wurden – alles mit massiven Auswirkun- gen auf die Berufsbildungswerke. liert. Dazu kommen Haltungsleitsätze, auch immer gesagt: Wir sind keine Son- die wir im vergangenen Jahr erarbeitet derwelt, sondern bilden das ab, was Wie haben Sie darauf reagiert? haben. Das alles gibt uns einen Rahmen auch in der Gesellschaft läuft. Wir sind Lüdtke: Mit Spezialisierung und Diffe- für unser Handeln als Einrichtung und eine personen- und bedarfsorientierte, renzierung gleichermaßen. Auf der ei- trägt den Anforderungen, die der Wan- betriebsnahe Bildungseinrichtung auf nen Seite haben wir unsere Fachlichkeit del vom klassischen BBW für Lernbe- Zeit. Bei uns bekommen junge Men- weiter ausgebaut, Konzepte entwickelt hinderte hin zum differenzierten und schen mit besonderem Förderbedarf für Menschen mit psychischen Störun- dezentraler aufgestellten Bildungsträ- das, was sie brauchen, um am Ende den gen und ganz speziell auch für Men- ger mit sich bringt, Rechnung. Zugang zur Arbeitswelt zu bekommen. schen mit Autismus-Spektrum-Störun- Wir sind ein Inklusionsschlüssel! gen, und damit ganz bestimmte Perso- Was ist mit der ursprünglichen Zielgrup- nenkreise angesprochen. Auf der ande- pe, Menschen mit Lernbehinderung? Eine ganz neue Personengruppe tauchte ren Seite mussten wir uns aber auch Lüdtke: Die gibt es natürlich weiterhin! dann insbesondere ab 2015 im BBW auf: breiter aufstellen und neue Maßnah- Und es sind nicht wenige. Nach aktuel- junge geflüchtete Menschen. men anbieten. Dazu gehörte damals ne- len Schätzungen von Prof. Karl-Heinz Braun: Dieses Engagement entwickelte ben verstärkten Angeboten in Sachen Eser vom Wissenschaftlichen Beirat des sich eben auch aus unserer Grundhal- Erwachsenenbildung zum Beispiel un- Bundesverbandes LERNEN FÖRDERN le- tung heraus: Wir schauen hin und nicht ser Einstieg in die Jugendhilfe. Seitdem ben in Deutschland insgesamt zwischen weg, wir handeln dort, wo es gesell- haben wir uns zu einem großen Jugend- 1,8 und zwei Millionen Menschen mit schaftlichen Bedarf aber keine Antwor- hilfeträger in der Region entwickelt. Lernbehinderung. Und schätzungswei- ten gibt. Das ist dann auch die Verbin- se zirka 2,5 Prozent der jüngeren Alters- dung zu diesem „Gründergen“ der Stif- Braucht es solche Krisen wie die von gruppen sind davon betroffen. Für diese tung Liebenau – und dem Wahlspruch 2005 zur Veränderung? Klientel sind wir als Berufsbildungs- von deren Initiator Adolf Aich: „Da sollte Braun: Unsere Strategie muss es sein, werk in Sachen Ausbildung immer noch doch Wandel geschafft werden.“ Und dass es im Idealfall eben keine erneute die wichtigste und kompetenteste An- das hat sich dann eben darin konkreti- Krise mehr braucht, um gut für die Zu- laufstelle. siert, hier auch mit jungen Geflüchteten kunft aufgestellt zu sein – wohlwissend, zu arbeiten… dass wir natürlich auch nicht alles be- Wie erlebten Sie die Inklusionsdebatte? Lüdtke: …indem wir zum Beispiel soge- einflussen können. Aber wir wollen uns Lüdtke: Auch beim diesem Thema rück- nannte Unbegleitete minderjährige frühzeitig wichtige Fragen stellen: Wie ten die Berufsbildungswerke in den Fo- Ausländerinnen und Ausländer (UmA) müssen wir uns heute verändern oder kus. „Schluss mit den Sonderwelten“ bei uns im Wohnheim aufgenommen anpassen, damit wir zukunftsfähig blei- war so ein Motto. Die letzten zwei, drei oder spezielle VABO-Schulklassen für ben? Es geht darum, Bilder zu entwi- Jahre hat sich diese Debatte aber wieder jugendliche Geflüchtete eingerichtet ha- ckeln – im Einklang mit dem Gesamtun- ziemlich beruhigt, und man orientiert ben. Allein hier in Ravensburg haben ternehmen und gemeinsam mit unseren sich mehr an der Realität. Wir haben wir über 120 von ihnen beschult. Das mittlerweile über 500 Mitarbeitenden, Haus war voll! Dazu kamen mehrere be- was wir auch bei unseren Organisati- rufliche Qualifizierungsprojekte, insbe- onsentwicklungstagen getan haben. sondere auch die erfolgreiche „Lern- Woran richten wir uns aus? Was ist un- werkstatt“ in Aulendorf. Wir haben uns ser Fundament, was unsere Visionen diesen Aufgaben vor dem Hintergrund und Ziele? der Flüchtlingssituation ganz bewusst gestellt. Und die Stiftung insgesamt hat Und das Ergebnis? da ja viel Verantwortung übernommen Braun: Wir haben unser Verständnis Die Geschäftsführer Herbert Lüdtke (links) und Christi- und etwa ihre Kirche in Liebenau über- von Bildung und Inklusion ausformu- an Braun machen‘s vor: Abstand, Hygiene, Maske. gangsweise zur Verfügung gestellt. Wir 1|2020 9
150 Jahre Stiftung Liebenau im BBW haben seitdem auch ein kleines gen auf die Arbeitswelt. Und das bedeu- Arbeitswelt generell nachhaltig verän- Afrika-Projekt am Laufen und unterstüt- tet eben auch für Sozial- und Bildungs- dern. Dienstreisen werden stärker hin- zen vor Ort mehrere Einrichtungen der unternehmen, sich entsprechend aufzu- terfragt werden. Videokonferenzen, beruflichen Bildung. Daraus entstand stellen. Homeoffice oder mobiles Arbeiten wer- auch bereits ein Schüleraustausch mit Braun: In der Ausbildung arbeiten wir den eine stärkere Rolle spielen. einer Partnerschule in Uganda. ja schon länger mit digitalen Lernplatt- formen. Dies wurde in der Corona-Krise Sonstige Herausforderungen? Zurück nach Deutschland, zurück nach mit den Heimlernphasen natürlich in- Braun: Ein wichtiges Thema ist die zu- Ravensburg. Auf diesen Standort fiel vor tensiviert. Das liegt aber nicht allen Ju- nehmende gesellschaftliche Polarisie- mehr als 40 Jahren die Entscheidung, gendlichen. Jemand, der Zimmerer rung – und wie wir als BBW und als Stif- ein Berufsbildungswerk der Stiftung lernt oder Maurer, der wird das in der tung Liebenau damit umgehen. Einer- Liebenau zu bauen. Eine gute Wahl? Regel nicht, weil er da digital arbeiten seits ist man gefordert, Position zu be- Und wie ging es dann weiter? will. Da stecken ganz andere Bedürfnis- ziehen, für was man steht. Andererseits Lüdtke: Das BBW seinerzeit hier in ver- se dahinter. Der Grad der Digitalisierung muss man trotzdem darauf achten, kehrsgünstiger Lage in Ravensburg zu bleibt also abhängig von den einzelnen Menschen nicht zu verlieren. Haltung zu bauen und nicht irgendwo auf der grü- Berufsfeldern und Teilnehmenden. zeigen und gleichzeitig dem anderen, nen Wiese, war im Nachhinein auf jeden der diese Position nicht hat, eine Brücke Fall eine richtige Entscheidung. Und Wie digital war denn bei den BBW-Ju- zu lassen – das ist gar nicht so einfach hier fühlen wir uns auch heute noch gendlichen das Lernen zuhause? und für ein Sozialunternehmen sehr an- wohl. Meilensteine in der Geschichte Lüdtke: Wir haben nachgefragt, wie es spruchsvoll. des BBW waren dann zum Beispiel der unseren Teilnehmenden in der Heim- Bau des Schreinerzentrums, die Weiter- lernphase ergangen ist. Immerhin die Zum Schluss noch eine persönliche Fra- entwicklungen im Wohnbereich und Hälfte ist mit dem Digitalen gut zurecht- ge: Wie war eigentlich Ihr erster Tag in der Fachdienste, auch die Standorteröff- gekommen, fast genauso viele haben der Stiftung Liebenau? nung in Ulm und natürlich die enorme die Lernunterlagen aber analog per Post Lüdtke: Ich erinnere mich gar nicht Ausweitung des Bildungsangebotes. zugeschickt bekommen – und einen mehr so genau. Ich weiß zwar, dass es Ausgehend von Berufen, die in der Stif- kleinen Teil hat man kaum erreicht. Die der 6. Oktober 2004 war. Aber ich kann tung Liebenau schon präsent waren, er- richtige Lösung fürs Heimlernen zu fin- heute nicht mehr sagen, was an dem Tag weiterte das BBW nach seiner Gründung den ist das eine, gerade zum Beispiel genau geschah. Zunächst galt es jeden- sukzessive das Ausbildungsspektrum, bei Jugendlichen mit Lernschwierigkei- falls, die Stiftung in ihrer Größe zu ver- das heute mehr als 50 Berufe umfasst – ten spielen aber persönliche Beziehun- stehen und auch das System Berufsbil- und immer dynamisch bleibt. gen eine sehr bedeutende Rolle. Und dungswerk zu durchdringen. Eine ge- Braun: Nach wie vor ist es unsere Kern- die sind zuvor schon offenbar gut ge- wisse Ehrfurcht vor der Arbeit war da – aufgabe, den Azubis die Teilhabe am Ar- wachsen, denn wir haben während der und ich empfand es als tolle Aufgabe, et- beitsleben zu ermöglichen. Dement- Corona-Krise kaum pandemiebedingte was für junge Menschen am Übergang sprechend passen wir unser Ausbil- Abbrüche verzeichnet. von Schule und Beruf zu machen. Und dungsangebot immer an die sich stets Braun: Gerade unsere „Neuen“ brau- dann kam ja auch schon bald die bereits verändernden Anforderungen der Ar- chen Zeit, um hier erst einmal anzukom- erwähnte Belegungskrise von 2005, die beitswelt an. Während zum Beispiel die men und diese Bindung aufzubauen, wir bewältigen mussten. Berufsfelder IT oder Lagerlogistik aktu- bevor es überhaupt um die Vermittlung Braun: Bei mir war es im November ell boomen, wurden andere nicht mehr von Fachlichkeit gehen kann. Wichtig ist 2003. Ich fing damals als Vorstandsassi- nachgefragte Berufe im Laufe der Zeit aber, die Voraussetzungen für digitales stent bei Dr. Berthold Broll an. Gleich aufgegeben. Lernen zu schaffen. Und da tut sich poli- am ersten oder zweiten Arbeitstag fand tisch was. So sorgt jetzt zum Beispiel der eine Versammlung der damaligen St. Mit Blick in die Zukunft: Was sind die „DigitalPakt Schule“ dafür, dass unsere Gallus-Hilfe statt, bei der ich das Proto- großen Themen der kommenden Jahre? Klassenzimmer in der Hinsicht besser koll führen musste. Das war eine meiner Lüdtke: Die Digitalisierung ist natürlich ausgestattet werden. Insgesamt hat die ersten Aufgaben. Und die war sehr her- ein hochspannendes Thema. Wir erle- Digitalisierung durch Corona schon ausfordernd aufgrund der vielen Maß- ben vor diesem Hintergrund einen epo- noch einmal einen starken Schub be- nahmenbezeichnungen und -abkürzun- chalen Wandel als Gesamtgesellschaft, kommen – auch was unseren eigenen gen. Da schrieb ich einiges mit, das ich und natürlich hat das auch Auswirkun- Arbeitsalltag angeht. Die Krise wird die noch nicht verstand… (ck) 10 1|2020
150 Jahre Stiftung Liebenau Guck mal… ins BBW-Fotoalbum! ab 1992 q Im September 1980 ziehen die ersten Gewerke – Metall, Holz und Farbe – auf der Baustelle in der Ravensburger Schwanenstraße 92 ein. Im Spätsommer des Jahres 1981 wird mit der Eröffnung der Sonderberufsschule dann der volle Ausbildungsbetrieb aufgenommen. Am 30. April 1982 wird das Berufsbildungswerk Adolf Aich schließlich offiziell eingeweiht. 1980-1982 p Erweiterung des BBW: Unter anderem kommen eine Produkti- onsküche und das Ausbildungsrestaurant hinzu. 2010 t Am Standort Ulm wird 1998 das Regiona- le Ausbildungszentrum (RAZ) eingerichtet, und am BBW-Hauptsitz in Ravensburg nimmt drei Jahre später das neue p RAZ Ulm und Max-Gutknecht-Schule ziehen in die „Schil- Schreinerzentrum (Fo- lerstraße 15“ um, das neue „Haus für Bildung, Rehabilitation to) seinen Betrieb auf. und Teilhabe“ in der Münsterstadt. 1998-2001 2020 u Während der sogenann- ten Flüchtlingskrise über- nimmt das BBW Verantwor- tung und richtet in Ravens- burg und Ulm unter ande- rem mehrere Klassen für das Vorqualifizierungsjahr Ar- beit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkennt- p Ausbildungsstart inmitten der Corona- nissen (VABO) ein. 2015 Krise: Im Spätsommer begrüßt das BBW an seinen Standorten Ravensburg und Ulm insgesamt rund 250 neue Teilnehmende in Berufsvorbereitung und Ausbildung. 1|2020 11
Durch die Corona-Krise Wieder ein bisschen Normalität März 2020 – und plötzlich war alles anders. Die Corona-Pandemie stellte auch den Ausbildungs- und Berufsschulalltag im Liebe- nau Berufsbildungswerk völlig auf den Kopf. Unterrichtsräume waren über Wochen geschlossen, die Werkstätten und Ausbil- dungsbetriebe dicht. Stattdessen war Heimlernen angesagt. Mit großem Engagement setzte das BBW alles daran, dass seine ohnehin benachteiligten Jugendlichen nicht zu den Verlierern der Krise werden. „Mir ging es soweit ganz gut. Aber das Alltag wieder schrittweise eingekehrt. gefährdet, weiterhin zuhause betreut – Gemeinschaftliche hier habe ich schon Auch wenn er doch ziemlich anders aus- via Internet (siehe Seite 14). Zudem be- vermisst“, sagt die angehende Verkäufe- sieht als vor der Krise: Mund-Nase-Mas- kam sie Lernpakete zugeschickt. rin Johanna Friesen und spricht damit ken, Abstandsregeln und Hygienemaß- allen BBW-Azubis aus der Seele. Sie nahmen bestimmen das Bild. Zur Wie- „Lernpakete“ für zuhause freuten sich, endlich wieder ihre Mit- deröffnung wurden Klassen und Ausbil- So lief es auch für die anderen BBW- schülerinnen und -schüler zu sehen und dungsgruppen verkleinert, die Arbeits- Azubis während der Schließungsphase: zurück am gewohnten Ausbildungsplatz zeiten gestaffelt und eine Kombination Per E-Mail, Post oder über eine digitale zu sein. So hatten im Zuge der landes- von Präsenz- und Heimlernphasen ein- E-Learning-Plattform wurden sie mit weiten Schulschließungen die beiden geführt. Aufgaben versorgt und dabei nicht nur Sonderberufsschulen des BBW – die Jo- fachlich, sondern auch sozialpädago- sef-Wilhelm-Schule in Ravensburg und Lösungen für Risikogruppen gisch und psychologisch betreut. „Wir die Max-Gutknecht-Schule in Ulm – den „Im Vordergrund steht der Gesundheits- haben versucht, zu allen Teilnehmen- Präsenzunterricht eingestellt. Auch die schutz für alle“, erklären die BBW-Ge- den den Kontakt zu halten“, sagt Oliver praktische Ausbildung in den Werkstät- schäftsführer Christian Braun und Her- Schweizer, Leiter der Abteilung Bil- ten pausierte, die Verpflegungsangebo- bert Lüdtke. So hat man für Angehörige dungsbegleitung. Je nach Beeinträchti- te des BBW wie die Ausbildungsrestau- von Covid-19-Risikogruppen individuel- gung und sozialem Hintergrund kamen rants in Ravensburg und Ulm sowie der le Lösungen gefunden. Eine Teilneh- die Jugendlichen mit der Ausnahmesi- Metzgerei- und Bäckereiverkauf in der merin wurde zum Beispiel in einer tuation ganz unterschiedlich klar. Der Münsterstadt wurden ausgesetzt. BBW-Außenwohnguppe entsprechend plötzliche Wegfall der Alltagsroutine Nach siebenwöchiger pandemiebeding- begleitet, eine Auszubildende aus der traf nicht zuletzt die jungen Menschen ter Heimlernphase im Frühjahr 2020 ist Hauswirtschaft, wegen mehrerer mit einer Autismus-Spektrum-Störung am BBW-Hauptsitz in Ravensburg der Grunderkrankungen auch besonders besonders. „Für sie haben wir Pläne zur 12 1|2020
Durch die Corona-Krise Tagesstrukturierung erstellt“, berichtet Oliver Schweizer. BILDSCHIRM STATT KLASSENZIMMER Plötzlich kein „offenes“ Haus mehr Plexiglasscheiben, Bodenmarkierun- gen, eine „Eingangsschleuse“, in der die Azubis von ihren Ausbildern abgeholt und zum Arbeitsplatz begleitet werden: Auch 100 Kilometer nördlich von Ra- vensburg im zum BBW gehörenden Re- gionalen Ausbildungszentrum (RAZ) Ulm ist das Corona-Schutzkonzept über- all sichtbar. Nach mehrwöchiger Anlauf- phase bekamen alle Jugendlichen wie- der Präsenzzeiten in der Ausbildung, und Kooperationen mit Betrieben konn- ten wieder aufgenommen werden. „Die Normalität blitzt schon wieder ein bis- schen durch“, sagt Einrichtungsleiter Jo- hannes Hettrich. Dabei war das RAZ in Bildschirm statt Werkstatt in Corona- kann zum Beispiel ein Wechsel der Vor-Krisenzeiten ein „offenes Haus“, in Zeiten: Auch für die Azubis aus dem Scheinwerferlampe am Bildschirm dem Gäste ein- und ausgingen – um sich Kfz-Bereich des BBW war Heimlern- geübt werden. an den Verkaufstheken bei den Azubis phase angesagt. Und für ihren Aus- mit einem Imbiss oder frischen Backwa- bilder Martin Dorn: Homeoffice. Von Nicht nur die Werkstätten, auch die ren zu versorgen. Solange der Publi- zuhause aus betreute er seine 20 Ju- Klassenzimmer in der Josef-Wilhelm- kumsverkehr noch nicht wieder mög- gendlichen und kämpfte zunächst Schule des BBW blieben wochenlang lich ist, wird improvisiert: mit einem Ab- mit Anfangsschwierigkeiten. Der ei- leer. Lehrerin Karen Hotz-Krumm hol- und Lieferdienst. So können die an- ne hatte keinen PC zuhause, beim (siehe Foto) schrieb an jede Schüle- gehenden Fachkräfte aus Backstube, anderen haperte es bei der Internet- rin und jeden Schüler ihrer Klassen Metzgereiladen und Küche weiterhin verbindung. „Wir mussten individu- einen persönlichen Brief, dass sie wichtige Praxiserfahrungen für den spä- elle Lösungen finden“, so Martin sich sehr aufs Wiedersehen freue teren Job sammeln. (ck) Dorn über die plötzliche Umstellung und alle durchhalten sollen. Bei den des Ausbildungsbetriebs von analog einen klappte das Lernen von zu- auf digital: „Es hat etwa zwei Wo- hause aus gut, von manchen Jugend- chen gedauert, bis alles im Fluss lichen gab es kaum Rückmeldung. war.“ Doch dann funktionierte es. Und es gab welche, die sich richtig Das meiste lief letztendlich übers Sorgen machten. Sie hatten Angst, et- Smartphone. Aufgaben wurden hin was zu verpassen, wenn der Unter- und hergeschickt, YouTube-Videos richt nicht wie gewohnt stattfindet. verlinkt, Rückfragen telefonisch oder „Alle sprechen momentan von Digi- im Chat beantwortet. Jeden Morgen talisierung. Das ist auf der einen Sei- versorgte Dorn seine Azubis mit neu- te auch gut so. Aber speziell für unse- em Lernstoff. Klar: An Autos herum- re Klientel im BBW ist der persönli- schrauben, das fiel während der che Kontakt wichtiger denn je. Alle Schließung der BBW-Ausbildungs- sind unterschiedlich, und als Lehre- werkstatt wochenlang komplett rin kann ich mich auf jeden persön- flach. Damit jedoch neben der Theo- lich einstellen“, betont Karen Hotz- rie auch das Praktische nicht zu kurz Krumm. Und so habe sie sich auch kam, griff Martin Dorn auf eine spezi- sehr auf den Moment gefreut, wieder elle Online-Plattform zurück. Dort vor der Klasse stehen zu können. 1|2020 13
Durch die Corona-Krise Kreativ in der Krise Die Corona-Pandemie stellte den Alltag der BBW-Azubis auf den Kopf, ließ ihnen aber auch Zeit für Kreativität. Johanna Friesen zum Beispiel malte in der Heim- lernphase, die sie bei ihrer Familie in Schwäbisch Gmünd verbrachte, ein Bild. „In einem Elternbrief habe ich dazu auf- gerufen, die besondere Situation doch auch mal für etwas Kreatives zu nutzen, vielleicht ein Bild zu malen“, berichtet Oliver Schweizer, Leiter der Abteilung Bildungsbegleitung im BBW. Die ange- hende Verkäuferin Johanna Friesen fand die Idee toll und griff zum Pinsel. „Bäu- me im Herbst spiegeln sich im Wasser“, nannte die 24-Jährige ihr Acrylbild aus der Heimlernphase. Anregungen für die Maltechnik habe sie sich in verschiede- nen Internetvideos geholt. Bei der Rück- kehr ins BBW brachte sie das Werk schließlich mit – zur Freude ihrer Ausbil- der und der Geschäftsführung. So wurde die Hobbykünstlerin mit einem Ein- kaufsgutschein geehrt, und ihr Bild hängt nun als Leihgabe im BBW. (ck) Franzi, 19 Jahre, Risikogruppe Während die allermeisten Azubis ab Das ganze große Einmaleins der Haus- Mai wieder ins BBW zurückkehren wirtschaft übte Franzi zwar daheim – konnten, ging für Franzi das Heimler- aber trotz Entfernung unter den auf- nen weiter. Aufgrund mehrerer merksamen Augen ihrer Ausbilderin Ilo- Grunderkrankungen wäre die 19-Jähri- na Abler (siehe Bild). Mit dieser war die ge besonders schwer, möglicherweise Schülerin an drei Tagen in der Woche in lebensgefährdend, von einer Covid- Bild und Ton über das Internet verbun- 19-Infektion betroffen. Deshalb blieb den. „Wir waren dann immer zwischen sie zuhause – und das ausgerechnet mit- zwei und drei Stunden zusammen bei ten in ihrem dritten und letzten Ausbil- der Arbeit“, erzählt Abler. „Während dungsjahr zur Fachpraktikerin Haus- Franzi die Aufgaben erledigte, legte sie wirtschaft, nur wenige Wochen vor den in der Regel ihr Smartphone auf die Abschlussprüfungen. Um Franzi trotz- Dunstabzugshaube. Ich konnte dadurch dem auch in praktischer Hinsicht best- ihren Arbeitsplatz sehen und sie so be- möglich darauf vorzubereiten, kümmer- gleiten.“ Das Ziel: sich nicht mit dem Co- te sich das BBW intensiv um sie und an- ronavirus anzustecken und gleichzeitig dere besonders gefährdete Azubis. Ob die Weichen für die berufliche Zukunft Backen, Kochen, Rühren, Schneiden, zu stellen. Das hat Franzi getan, denn Knöpfe annähen, Oberflächen reinigen, am Ende gehörte auch sie zum erfolgrei- Wäsche sortieren oder Tische decken: chen Absolventenjahrgang 2020. (ck) 14 1|2020
Durch die Corona-Krise Die Heimlernphase und ich! So war das Lernen zuhause: der Erlebnisbericht einer Auszubildenden Wie haben die jungen Menschen aus dem BBW die pandemiebedingte Heim- lernphase erlebt? Was fiel ihnen wäh- rend dieser Zeit besonders schwer, und was lief gut? Die Auszubildende Jac- queline Bay hat ihre Gedanken zum „Lockdown“ aufgeschrieben und schil- dert einen typischen Lerntag zuhause: Mein Wecker klingelt um 6:45 Uhr. Dann stehe ich auf, starte schon mal den Laptop und gehe mich richten. Wenn ich aus dem Bad komme, setze ich mich an den Laptop und schreibe die Mail, dass ich für den Tag startklar bin. Meis- tens fällt das Frühstück aus, oder mein Freund bringt Essen an den gemeinsa- men Schreibtisch, und wir vespern ne- benher. Ich hatte von Anfang an das Ge- fühl, dass mir das Arbeiten daheim liegt. Ich habe keinen Stress mehr mit dem Jacqueline Bays Heimlernarbeitsplatz: Die täglichen Aufgaben kamen über eine digitale Lernplattform – und ab und zu gab es auch einen tierischer Besuch. Busfahren, zudem kann ich an meinem eigenen Schreibtisch arbeiten und fühle mich zuhause einfach wohler als unter ganz schön entspannt, denn ich arbeite Den richtigen Rhythmus gefunden vielen Menschen. meistens mit offenem Fenster und Mu- Jetzt habe ich mir einen Rhythmus an- sik – es sei denn, die Baustelle draußen geeignet, der nach Einteilung läuft. Zum Aufgaben kommen online wird zu laut, dann geht das Fenster zu. Beispiel bei den Berichten bin ich hin- Wenn ich dann morgens die Mail ge- Die Wege in die Pause und zum kurz gegangen und habe eine Tabelle mit schrieben habe und noch keine Aufga- Ausspannen sind kürzer, allerdings Themen erstellt und wollte jeden Tag ben online sind, schreibe ich an Be- merke auch ich manchmal, dass ich mindestens drei bis vier geschrieben richtsheften und gehe die Lernplattform mehr auf die Zeit achten sollte. Wenn haben, so gingen nie unter zwei raus, „Ilias“ durch. Wenn ich eine Aufgabe ha- ich nämlich mit Aufgaben nicht fertig aber wurden es mal nur drei, war es be, starte ich mit dieser. Ab und zu wer- bin, kann es sein, auch wenn wir dafür auch nicht schlimm. In manchen Berei- de ich von den Katern Max oder Moritz länger Zeit haben, dass ich unbedingt chen hatte ich teilweise Schwierigkei- besucht. Max macht sich besonders ger- was fertig bekommen möchte. Hierbei ten aufgrund von dem langen Ausfall ne auch auf der Arbeitsfläche breit und bremst mich manchmal aber dann mein wegen meiner Gesundheit. Komme ich schaut mir dann beim Arbeiten zu. Bin Freund aus und meint, ich soll mal run- allerdings mal nicht weiter, so frage ich ich mit meinen Aufgaben fertig, schaue terfahren, besonders wenn ich mich entweder meine Kollegen oder Google ich in „Ilias“ durch, was sonst noch so abends dann nochmal dran setzen und versuche, das Problem somit zu lö- anfällt und lade meine Aufgaben hoch. möchte. Anfangs war das schlimmer, da sen. Ich denke, jetzt nach der fast schon Manchmal schreibe ich auch nebenher war ich dauerhaft in „Ilias“, auch eigent- fünften Woche am Heimlernarbeitsplatz mit Kollegen und bespreche mich kurz lich nach Feierabend, da ich nichts ver- ist das Arbeiten von zuhause aus schon oder stelle eine Frage. Eigentlich ist das passen wollte. viel einfacher geworden. 1|2020 15
Durch die Corona-Krise „Ein tolles Gefühl, hier zu stehen“ Masken auf, Daumen hoch! Trotz Corona-Krise haben im Sommer 2020 rund 150 junge Menschen mit besonderem Teilhabebe- darf an den BBW-Standorten in Ravensburg und Ulm den Abschluss ihrer Ausbildung gefeiert – zwar mit Abstand, in getrennten Gruppen und in kleinerem Rahmen als sonst, aber mit mindestens so großer Freude wie ihre Vorgängerinnen und Vorgänger. Zwei aus diesem „Corona-Jahrgang“ erzählen, wie es ihnen ergangen ist. Weit entfernt von Ravensburg erreichte Ab jetzt: Zukunft! Thomas (Name geändert) die Corona- So wie für Ana-Filipa Vieira Frias. „Für Krise und ließ unvermittelt seine Aus- mich gab es keinen Tag, an dem ich landspläne platzen. Gerade erst hatte nicht gerne hierhergekommen bin, um der BBW-Azubi in Südtirol sein Prakti- etwas Neues zu lernen“, blickte die ehe- kum im Rahmen eines Austauschpro- malige Schülersprecherin bei der Zeug- gramms angefangen, und schon musste nisübergabe auf ihre Zeit im RAZ Ulm er dieses pandemiebedingt wieder ab- und der Max-Gutknecht-Schule zurück – brechen. „Das war schon eine komische voller Stolz, nun einen wichtigen Schritt Situation“, erzählt der 20-Jährige. Sor- in Richtung Berufsleben gemacht zu ha- gen um seinen Abschluss machte er sich ben: „Es ist ein tolles Gefühl, jetzt hier zwar nicht so sehr, eine gewisse Unsi- zu stehen.“ Und das nach der zuletzt so cherheit sei anfangs aber schon da ge- schwierigen Zeit. Am meisten gefehlt wesen, räumt er ein. Sonst eigentlich in dort das Herausfinden des passenden während der Heimlernphase habe ihr einem Außenwohnheim des BBW le- Berufes auf dem Programm. Dieser das Praktische. Das kann sie nun nach- bend, verbrachte er die „Lockdown“- Punkt war für ihn schnell abgehakt: „Ich holen, denn für Ana-Filipa Vieira Frias Zeit zuhause. Und er legte nach der Wie- war noch keine zwei Wochen hier, da geht es gleich weiter. Nach ihrem erfolg- deröffnung seiner Bildungseinrichtung wusste ich: Gastronomie passt!“ Und so reichen Abschluss als Bäckerfachwerke- einen erfolgreichen Endspurt hin: Wie blieb Thomas auch nach der BvB im Be- rin will die 19-Jährige nun in einem wei- nahezu alle anderen Azubis hat Thomas rufsbildungswerk und machte dort eine teren Lehrjahr Bäckergesellin werden – es geschafft und nun sein Zeugnis in der Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewer- und dann auch noch ihren Traum von Tasche – und gleichzeitig auch ein Stel- be. „Er war immer mit Leib und Seele der Konditorin in Angriff nehmen. So lenangebot aus seiner Heimat. dabei“, lobt die stellvertretende Be- vieles Corona auch durcheinander triebsleiterin Roswitha Dvorak den Ex- brachte – Zukunftspläne werden also Mit Leib und Seele dabei Azubi, für den sein Beruf wohl tatsäch- weiterhin fleißig geschmiedet. (ck) Von dort zog es ihn vor ein paar Jahren lich auch Berufung ist. zur rund einjährigen Berufsvorbereiten- den Bildungsmaßnahme (BvB) ins Ra- vensburger BBW. Unter anderem steht 16
Impuls Wir haben uns verändert von Prälat Michael H. F. Brock Ich vermisse die verschwenderische Nä- anzeige. Aber das Bedürfnis danach Ersatz ist für eine Umarmung, und erle- he, die es früher gab. Eine Umarmung, steigt. Es schmerzt der Gedanke, dass be unendliche Spannung in mir. Die Au- ein Händedruck, ein Kuss. Wir halten Abstand und vermehrte Einsamkeit zu gen müssen lernen zu umarmen, und einander auf Abstand. Covid-19 hat uns unserer neuen Normalität wird. Wir ge- meine Blicke müssen bei meinem Ge- verändert. Oder besser: die Angst davor. hen ganz unterschiedlich damit um. Es genüber Nähe spüren lassen, die be- Ich finde alle Maßnahmen nachvollzieh- gibt Menschen, die es gar nicht mehr er- rührt. Meine Worte müssen es versu- bar. Mund- und Nasenschutz. Abstand, tragen. Sie müssen Vorschriften bre- chen und mein Körper Nähe ausstrah- Lüften, Hygiene. Und doch wehrt sich chen und flüchten sich in eine Normali- len. Viele leben in Familien, in denen alles in meinem Inneren. Ich will rie- tät, die es gar nicht mehr gibt. Andere wirkliche Nähe erlaubt ist, oder in häus- chen, spüren, berühren. Ja, ich will, verkriechen sich daheim. Ich habe kei- licher Gemeinschaft. Sie so zu gestalten, dass es endlich vorbei ist. Eine Weile ne endgültigen Antworten, nur vorsich- dass Nähe auch wohltuend ist, ist die Abstand war ja okay. Eine Weile eige- tige Gedanken. Die Zeit des „Alles ist neue Normalität. Sie nicht als selbstver- schränkt zu sein, war auch okay. Aber machbar“ ist endgültig vorbei. Und ganz ständlich zu betrachten, gehört dazu, jetzt muss es doch endlich vorbei sein. einfach gesagt: Wir sind sterbliche, zer- sie zu pflegen und wertzuschätzen. Aber es ist nicht vorbei. Das zu leugnen brechliche, schutzbedürftige Menschen. Dass Nähe ein Schatz ist, der das Leben wäre unvernünftig und unverantwort- Das waren wir zwar schon immer. Aber erst lebenswert macht, spüre ich in die- lich. Aber was machen wir jetzt? jetzt stellt sich die Frage ernster denn je, sen Tagen. Hoffentlich bleibt das, wenn Vielleicht wäre es gut, einander einzu- wie gehen wir mit unserer Sterblichkeit alles wieder „normal“ ist. Dass wir ein gestehen, dass die letzten Monate uns um. Gefühl füreinander haben, was bereits verändert haben. Die innere An- Für mich kann ich sagen: Ich halte die schmerzt und uns zerbrechen lässt, und gespanntheit ist zu einem bleibenden Vorschriften ein, halte Abstand, gehe wie heilsam es sein darf, einander wie- Zustand in uns geworden. Wieviel Ab- nicht auf Feiern. Aber ich muss neue der berühren zu dürfen, wo heute nur stand tut gut oder muss sein? Auf wie- „Umarmungen“ finden bei Menschen, Worte und Zeichen sein können. Die viel Nähe können oder müssen wir ver- die meine Nähe brauchen. Ich meine Zerrissenheit bleibt und auch die Sehn- zichten, womöglich dauerhaft? Mit wie- wirkliche Nähe in untröstlichen Situa- sucht. viel Unverständnis müssen wir rechnen tionen. Ich versuche Begegnungen zu und es bleibend ertragen? Die Besuche schaffen, die nicht ansteckend sind. Ich Diesen und andere Impulse sind weniger geworden. Hände reichen telefoniere mehr, schreibe Online-Bot- können Sie auch anhören: wir uns keine mehr. Umarmung? Fehl- schaften. Spüre, dass es kein wirklicher www.stiftung-liebenau.de/impulse 1|2020 17
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