150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12

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150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
1|2020
                   Magazin der Stiftung Liebenau Bildung

150 Jahre
Stiftung Liebenau             4

Ausbildung und Corona:
Gemeinsam durch die Krise    12

Musik und Theater:
Unterricht dank Kulturfonds 18
150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
Stiftung Liebenau Bildung

                                                     4                                            Impressum

Inhalt                                           Titelthema: 150 Jahre Stiftung Liebenau –
                                                 vom Landerziehungsheim zum Berufsbildungswerk
                                                                                                  Auf Kurs
                                                                                                  Magazin der Stiftung Liebenau Bildung

Titel: Bildung in der Stiftung Liebenau                                                           Herausgeber:
                                                                                                  Liebenau Berufsbildungswerk
3      Editorial                                                                                  gemeinnützige GmbH
                                                                                                  Schwanenstraße 92
                                                                                                  88214 Ravensburg
Titelthema:                                                                                       Telefon: 0751/3555-8
150 Jahre Stiftung Liebenau                                                                       E-Mail: info.bbw@stiftung-liebenau.de
4	Vom Landerziehungsheim zum
   Berufsbildungswerk                                                                             Redaktion:
                                                                                                  Herbert Lüdtke und Christian Braun
6	Fünf Geschichten aus 150 Jahren
                                                                                                  (verantwortlich), Christof Klaus (ck)
8	Die Geschäftsführer im Interview                12                                             (NETZ-3 – Die Medienprofis)
11 Guck mal... ins BBW-Fotoalbum
                                                 Durch die Corona-Krise: „Wieder ein bisschen     Bildnachweise: Stiftung Liebenau (S. 1, 2,
                                                 Normalität“                                      3, 4, 5, 6, 7, 11, 13, 14, 20, 21), Christof
Durch die Corona-Krise
                                                                                                  Klaus (S. 1, 2, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 16,
12     Wieder ein bisschen Normalität                                                             18, 19, 24), Pixabay (S. 2, 17), privat (S. 15)
14     Franzi, 19 Jahre, Risikogruppe
15     Die Heimlernphase und ich                                                                  Grafik: Natalie Baumbusch
                                                                                                  (NETZ-3 – Die Medienprofis)
16     Absolventen 2020: Der „Corona-
                                                                                                  Druck: Siegl Druck & Medien GmbH & Co.
       Jahrgang“ feiert Abschluss                                                                 KG, Friedrichshafen

BBW im Überblick	                                                                                Auflage: 2500
                                                                                                  Erscheinungsweise: 2 Ausgaben pro Jahr
17	Impuls: Wir haben uns verändert
18	Musik- und Theaterunterricht
19	Schutz vor Gewalt gegen Frauen                 17
Schillerstraße 15 Ulm                            Spiritueller Impuls:
                                                 „Wir haben uns verändert“
20	Hilfe für Partnerschule in Afrika
21 Kurzmeldungen aus Ulm

Service
22	Unser Ausbildungsangebot
23 Übersicht: Ihre Ansprechpartner

Einen Augenblick bitte…
24     Brigitte Hommel

     Mit der „Auf Kurs“ informieren wir regel-     20
     mäßig über Ereignisse, Themen und Pro-
     jekte in der Stiftung Liebenau Bildung.     Internationale Solidarität: „Corona-Hilfe“ für
     Dazu verwenden wir personenbezogene         Partnereinrichtung im afrikanischen Uganda
     Daten. Sie werden mit der nötigen Sorg-
     falt und unter Beachtung des gesetzli-                                                       BBW-News
     chen Datenschutzes verarbeitet. Für In-                                                      Neben der „Auf Kurs“ informieren wir Sie
     formationen über die gespeicherten Da-                                                       über interessante Neuigkeiten aus dem
     ten, zur Ergänzung, Korrektur oder Lö-          Mehr zum Jubiläum auf                        Liebenau Berufsbildungswerk auch per
     schung wenden Sie sich bitte an den Her-                                                     E-Mail – mit dem BBW-Newsletter. Auf
     ausgeber. Weitere Informationen über          150jahre.stiftung-liebenau.de                  www.stiftung-liebenau.de/bildung
     unsere Datenschutzmaßnahmen finden                                                           können Sie diesen ganz einfach abonnie-
     Sie hier:                                                                                    ren – selbstverständlich kostenlos und
     www.stiftung-liebenau.de/datenschutz                                                         nur so lange Sie möchten.

2                                                                                                                                             1|2020
150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
Editorial

                                                                                                            Christian Braun (links)
                                                                                                            und Herbert Lüdtke,
                                                                                                            Geschäftsführer
                                                                                                            Liebenau Berufsbil-
                                                                                                            dungswerk gemein-
                                                                                                            nützige GmbH

Liebe Leserin, lieber Leser,
normalerweise stünde dieses Heft voll und ganz im    fach die jungen Leute heimschicken – das geht zum
Zeichen von 150 Jahre Stiftung Liebenau – so wie     Beispiel in der Jugendhilfe nicht. Hier ist eine
das ganze Jahr 2020. Doch die Corona-Pandemie        durchgehende Betreuung sicherzustellen – an 365
warf nicht nur alle Jubiläumspläne über den Hau-     Tagen im Jahr. Auch diese Herausforderung haben
fen, sondern sorgte auch bei uns im Liebenau Be-     wir gemeistert. Für unsere Teilnehmerinnen und
rufsbildungswerk (BBW) für zwischenzeitlich leere    Teilnehmer war es – trotz sozialpädagogischer, psy-
Ausbildungswerkstätten und Klassenräume. Sie-        chologischer und fachlicher Betreuung auch wäh-
ben Wochen lang mussten unsere Auszubildenden,       rend der Heimlernzeit – natürlich nicht einfach, so
unsere Schülerinnen und Schüler von zuhause aus      abrupt aus dem gewohnten und strukturierten Be-
lernen, ehe sie schrittweise wieder in unsere Ein-   rufsschul- und Ausbildungsalltag herausgerissen
richtungen in Ravensburg und Ulm zurückkehren        zu werden. Umso mehr freut es uns, dass wir und
konnten – mit gestaffelten Arbeitszeiten, verklei-   unsere jungen Menschen bisher so gut durch die
nerten Klassen und Ausbildungsgruppen, in einer      Corona-Krise gekommen sind – und dass es der Ab-
Kombination aus Präsenzzeiten und Heimlernpha-       solventenjahrgang 2020 auch unter diesen widri-
sen, unter Einhaltung strikter Hygiene- und Ab-      gen Bedingungen zum erfolgreichen Ausbildungs-
standsregeln. Das alles geschah und geschieht vor    abschluss geschafft hat. Gratulation!
dem Hintergrund, das Infektionsrisiko der Rehabi-    Dennoch ist die aktuelle Krise, so massiv sie seit
litanden und Mitarbeitenden zu minimieren und        Monaten auch unser Leben und unseren Alltag be-
ihre Gesundheit zu schützen.                         stimmt, angesichts der anderthalb Jahrhunderte
Vieles konnte in Zeiten von Corona plötzlich nicht   dauernden Geschichte der Stiftung Liebenau nur
mehr in gewohntem Rahmen ablaufen – sei es der       ein ganz kleiner Teil einer langen und bewegten
persönliche Kontakt der Kostenträger zu ihren Kli-   Entwicklung. Und so lesen Sie in dieser Ausgabe
enten oder auch unsere Kommunikation mit poten-      der „Auf Kurs“ nicht nur, wie unsere Jugendlichen
ziellen zukünftigen Azubis. Informationsveranstal-   und Mitarbeitenden im Jubiläumsjahr die Corona-
tungen mussten abgesagt werden, die Schnupper-       Zeit erleben, sondern erhalten auch einen histori-
nachmittage für Schulen bei uns im Haus sowie der    schen Blick auf 150 Jahre Bildung in der Stiftung
Tag der offenen Tür in Ulm fielen aus, auch das      Liebenau.
„BBW Open“ in Ravensburg mit seinen üblicher-        Rund 40 Jahre davon trägt unser Berufsbildungs-
weise über tausend Besucherinnen und Besuchern       werk nun schon dazu bei, junge Menschen mit Be-
kann in diesem Jahr nicht stattfinden.               nachteiligungen der unterschiedlichsten Art fit zu
Doch auch während des „Lockdowns“ stand das          machen für ein eigenständiges Leben und den Start
BBW niemals still. Im Gegenteil: Diese Phase war     in den Beruf – als gut ausgebildete Fachkräfte. Die-
sogar arbeitsintensiver als der „Normalbetrieb“.     se Aufgabe nehmen wir gerade auch in Krisenzei-
Heimlernkonzepte wurden im Eiltempo entwickelt       ten wie diesen mit aller Kraft, Erfahrung, Know-
und umgesetzt, dabei individuelle Lösungen für       how und Innovation wahr – und wollen dies auch
Hochrisikofälle gefunden. Unsere Mitarbeitenden      in der Zukunft tun. Im Sinne der uns anvertrauten
aus Schule, Ausbildung und Fachdiensten enga-        Personen und stets nach dem Leitwort der Stiftung
gierten sich noch mehr als sonst, um den Kontakt     Liebenau handelnd: In unserer Mitte – Der Mensch.
zu den Teilnehmenden zu halten und sie weiterhin
bestmöglich zu begleiten. Gerade unser Wohnbe-       Viel Spaß beim Lesen wünschen Ihnen
reich war in dieser Zeit besonders gefordert. Ein-   Christian Braun und Herbert Lüdtke

           1|2020                                                                                                                     3
150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
150 Jahre Stiftung Liebenau

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                                                                                   150jahre.stiftung-liebenau.de

Vom Landerziehungsheim zum BBW
Die Geschichte der beruflichen Bildung in der Stiftung Liebenau

Seit rund 40 Jahren sorgt das Liebenau Berufsbildungswerk (BBW) für die berufliche Integration junger Menschen mit besonde-
rem Förderbedarf. Tausende Auszubildende haben dort seit Anfang der 1980er Jahre das nötige Rüstzeug erlernt, um mit einem
vollwertigen Abschluss ins Berufsleben starten zu können. Doch auch zuvor spielte Bildung in der 150-jährigen Geschichte der
Stiftung Liebenau eine wachsende Rolle. Bezog sich praktische Ausbildung vor neunzig Jahren vor allem noch auf Feldarbeit,
stehen im BBW heute mehr als 50 anerkannte Ausbildungsberufe zur Wahl – vom Schreiner oder Gärtner über die Hauswirt-
schafterin oder Kauffrau für Büromanagement bis hin zum Fachinformatiker.

Bildung für jeden, so lautet die Mission    rufsbildungswerks führte.                   Konzept aus England, die Erziehungs-
im Aufgabenfeld Stiftung Liebenau Bil-      Doch bereits vor dem ersten Spatenstich     anstalt St. Gertrudis für „schwache Kin-
dung. Mit „jeden” meint die Stiftung Lie-   für das BBW in Ravensburg hatte es in       der”, wie es in einer zeitgenössischen
benau insbesondere Menschen, denen          der Stiftung Maßnahmen der berufli-         Beilage zur „Oberschwäbischen Volks-
aufgrund erhöhter Förderbedarfe, Lern-      chen Bildung für benachteiligte Perso-      zeitung“ hieß. Hier fand auch schon eine
behinderungen und psychischer Krank-        nen gegeben. So wurde 1899 erstmals         Art Berufsvorbereitung statt.
heitsbilder eine Teilhabe an Bildung        eine eigene Schule erwähnt, bevor dann
und Arbeitsleben zumindest erschwert        1929 mit der Eröffnung des Landerzie-       Autonomie durch „ehrliche Handarbeit“
ist. Ehe in den 1970er Jahren ein gesell-   hungsheimes im nahegelegenen Rosen-         Neben dem Schulunterricht und der Er-
schaftliches und politisches Umdenken       harz eine für diese Zeit fortschrittliche   ziehung im Sinne sozialen Lernens wur-
stattfand, war deren berufliche Per-        Schul- und Ausbildungsstätte im Inter-      de den Zöglingen auch eine „manuelle
spektive – ein wesentlicher Teil der Le-    natsbetrieb eingerichtet wurde. Die da-     Ausbildung” zuteil: Sie wurden zur Mit-
bensplanung – eher dem Zufall überlas-      malige „Pfleg- und Bewahranstalt Liebe-     arbeit auf den Feldern angehalten, zur
sen. Auch in der Stiftung Liebenau be-      nau” hatte dort einige Jahre zuvor ein      Kartoffel- und Obsternte herangezogen,
gann zu dieser Zeit eine Phase des Auf-     Wirtschaftsgebäude samt ausgedienter        zur Ährenlese und zum Steinelesen auf
bruchs und der Innovation im Bildungs-      Brauerei, Stallungen und Scheuer sowie      den Äckern. Der damalige Schulvor-
bereich, die schließlich Anfang der         65 Morgen Land erworben. Auf dem Ge-        stand Erwin Maier begründete dies da-
1980er Jahre auch zur Gründung des Be-      lände entstand, nach einem modernen         mit, seinen Zöglingen mit der Arbeitser-
                                                                                        ziehung „später zu ermöglichen, mit
                                                                                        ehrlicher Handarbeit ihren Lebensun-
                                                                                        terhalt zu verdienen”. In einer Zeit, die
                                                                                        weder einen zweiten Arbeitsmarkt noch
                                                                                        Werkstätten für Menschen mit Behinde-
                                                                                        rungen kannte, ein äußerst fortschrittli-
                                                                                        cher Ansatz, der auf die Autonomie der
                                                                                        Betreuten zielte.
                                                                                        Mit der Machtergreifung der Nationalso-
                                                                                        zialisten im Jahr 1933 erfuhren die Er-
                                                                                        ziehungsgrundsätze im Deutschen
                                                                                        Reich und damit auch in Rosenharz eine
                                                                                        völkisch-nationale „Neuorientierung”.
                                                                                        „Die Schule wird auch weiterhin be-
                                                                                        strebt sein, ihre Schüler streng national
                                                                                        im Sinne des Führers zu erziehen zum
                                                                                        selbstlosen Dienst an Volk und Vater-
                                                                                        land”, heißt es in einem Schwesternbe-

                                                                                                                          1|2020
150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
150 Jahre Stiftung Liebenau

                                                                                                            sellschaft hat die Chance gesehen, zu
                                                                                                            beweisen, dass wir mit diesen Men-
                                                                                                            schen auch anders umgehen können”,
                                                                                                            so Dieterich.

                                                                                                            Zwischen Wachstum und Krise
                                                                                                            Vier Jahrzehnte Berufsbildungswerk
                                                                                                            waren auch eine Zeit des Wandels –
                                                                                                            räumlich, strukturell und politisch. Ur-
                                                                                                            sprünglich für 242 Plätze geplant, mus-
                                                                                                            sten die Kapazitäten infolge des weit
                                                                                                            größeren Bedarfs bald schon erhöht und
                                                                                                            der Gebäudekomplex des BBW in den
Die Ausbildungswerkstätten der Stiftung Liebenau im Wandel der Zeit: 1930 im Landerziehungsheim Rosenharz   1990er Jahren erweitert werden. Dem
(links) und Mitte der 1980er Jahre im damals neu gegründeten Berufsbildungswerk in Ravensburg.
                                                                                                            Boom folgte 2005 die Krise, als die seit
                                                                                                            1995 als gemeinnützige Gesellschaft
richt aus dieser Zeit. Von der Ermögli-                  funden hatte, konnten die Bagger dann              (gGmbH) fungierende Tochter der Stif-
chung eines selbstbestimmten Lebens                      anrollen: Das Berufsbildungswerk Adolf             tung Liebenau einen dramatischen Ein-
war da bereits keine Rede mehr.                          Aich – benannt nach dem Initiator der              bruch der Belegungszahlen zu bewälti-
Schlimmer noch. In den Gaskammern                        Stiftung Liebenau – wurde gebaut.                  gen hatte – und sich daraufhin noch
von Grafeneck wurden auch Bewohner                       Damit war auch Ravensburg Teil jenes               breiter und gleichzeitig spezialisierter
aus Rosenharz ermordet (siehe auch                       Netzes von Einrichtungen der berufli-              aufstellte.
Seite 6). Das Landerziehungsheim wur-                    chen Rehabilitation geworden, das sich             Aus der Baustelle von einst ist im Laufe
de 1941 zur Lungenheilstätte der Wehr-                   im Zuge des von der Bundesregierung                der Jahre ein Kompetenzzentrum für
macht umfunktioniert, die verbliebenen                   lancierten „Aktionsprogramms zur För-              Bildung gewachsen. Ob Menschen mit
Kinder verlegte man in nahegelegene                      derung der Rehabilitation von Behin-               Lernbehinderung, ADHS, einer Autis-
Pfleganstalten, ein Großteil der Schul-                  derten“ vom April 1970 über die ganze              mus-Spektrum-Störung oder anderen
kinder kam nach Liebenau. Erst 1953                      Republik erstreckte.                               Beeinträchtigungen: Heute werden die
fand hier jedoch wieder ein geregelter                                                                      verschiedensten Zielgruppen am
Schulbetrieb statt.                                      Aufbruchstimmung in den 1970ern                    Stammsitz in der Ravensburger Schwa-
                                                         Diese politische Entscheidung folgte               nenstraße, am 1998 dazu gekommenen
Neuaufbau nach dem Krieg                                 dem damaligen Zeitgeist, sich im Um-               Standort Ulm sowie in weiteren Kom-
Im Zuge des Neuaufbaus nach dem Ende                     gang mit behinderten Menschen neu zu               munen und unzähligen Partnerbetrie-
des Nationalsozialismus entstand in                      orientieren und ihnen mehr Förderung               ben der ganzen Region ausgebildet,
den 1960er Jahren in Liebenau eine be-                   zuteilwerden zu lassen. Von der Ostsee             weiterqualifiziert, beschult, betreut
rufsvorbereitende Fortbildungsklasse,                    bis nach Oberschwaben entstanden so                oder auf den Start in die Berufsausbil-
aus der 1971 die Berufsfindungswerk-                     bundesweit bis heute über 50 Berufsbil-            dung vorbereitet. Es gibt ein differen-
statt hervorging. Mit Förderlehrgängen                   dungswerke. Die Idee, jungen Men-                  ziertes Wohnangebot, hochprofessio-
und ersten Fachwerker-Ausbildungen                       schen mit Lernbehinderungen in außer-              nelle Fachdienste und zwei Sonderbe-
für lernbehinderte Jugendliche entwi-                    betrieblichen Lernorten, bei entspre-              rufsschulen. Rund 1 000 vorwiegend
ckelte sich dann im Laufe der 1970er                     chender pädagogischer Unterstützung,               junge Menschen nutzen jährlich die An-
Jahre quasi eine Vorform des späteren                    eine systematische Eingliederung in                gebote des BBW: vom Vorqualifizie-
Berufsbildungswerks. Ausbildungsrege-                    den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, kam               rungsjahr Arbeit/Beruf (VAB) über Aus-
lungen gemäß § 48 des Berufsbildungs-                    damals aus Skandinavien nach Deutsch-              bildungsmaßnahmen bis hin zu Weiter-
gesetzes wurden erarbeitet, entspre-                     land. Die Zeit war aber auch hier bereits          bildungskursen, Umschulungen und be-
chendes Personal eingestellt und quali-                  überreif, wie Dr. Karl-Heinz Dieterich,            ruflichen Wiedereinstiegsprogrammen,
fiziert sowie erste Wohnformen erprobt,                  der erste Geschäftsführer des BBW, spä-            wobei die Teilnehmenden von einem
ehe 1977 schließlich mit der konkreten                   ter in einem Gespräch mit der „Auf                 multiprofessionellen Team aus über 500
Planung eines BBW begonnen wurde.                        Kurs“ erläuterte. Nicht unerheblich für            Fachkräften aus Handwerk, Technik,
Als konzeptionelle Fragen geklärt wor-                   dieses gesellschaftliche Umdenken war              Pädagogik, Sozialarbeit, Medizin, Psy-
den waren und man am Stadtrand von                       dabei auch die Last der Verbrechen zur             chologie und Heilpädagogik betreut
Ravensburg ein passendes Gelände ge-                     Zeit des Nationalsozialismus. „Die Ge-             werden. (ck)

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150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
150 Jahre Stiftung Liebenau

Fünf Geschichten
 Fünf Geschichten aus 150 Jahren
 Menschen mit besonderem Teilhabebedarf eine optimale berufliche Perspektive zu ermöglichen – diese Aufgabe hat eine lange
 Tradition in der Stiftung Liebenau. Und doch waren die Chancen für die Betroffenen nicht immer so gut wie heute. Das zeigen
 die Bildungsgeschichten von fünf Menschen aus fünf Generationen, die in der Stiftung und deren Berufsbildungswerk zu ganz
 unterschiedlichen Zeiten beschult und ausgebildet wurden. Und so mancher von ihnen hätte sich die Gnade einer späteren Ge-
 burt gewünscht…

 Der junge Oberschwabe – wir nennen ihn Georg – ist vermut-
                                                                                                           1906
 lich Autist. Doch für diese Störung gibt es zu der Zeit weder ei-
 nen Namen, noch eine Diagnose. Zusammen mit anderen jun-
 gen Menschen mit Behinderungen lebt er in dem 1906 im Neu-
 bau des „Gut-Betha-Hauses“ in Liebenau eingerichteten Kin-
 derheim, in dem es auch Schulräume gibt. Inspektor Otto We-
 ber, der damalige Liebenauer Anstaltsleiter, beschreibt die
 pädagogische Arbeit dort als das, was man als erstes Bildungs-
 konzept der Stiftung bezeichnen könnte: „Wir möchten den
 Kindern, deren geistige Entwicklung gehemmt ist, oder die in-
 folge körperlicher Leiden dem Klassenunterricht der Normal-
 schule nicht zu folgen vermögen, zu einer ihrem Zustande an-
 gepassten Erziehung verhelfen und sie dadurch zu einem
 menschenwürdigen Dasein befähigen.“ Was aus Georg wohl
 geworden wäre, hätte er einhundert Jahre später Geburtstag
 gehabt?

 Der lernbehinderte Erich kommt als Zwölfjähriger im Frühjahr
 1935 ins Landerziehungsheim der Stiftung Liebenau nach Ro-
 senharz – in einer Zeit, in der die Nationalsozialisten im Deut-
 schen Reich die Macht übernommen haben. Der unmenschli-
 chen NS-Herrschaft fallen auch Bewohner aus Rosenharz zum
 Opfer. Erich ist Augenzeuge, als die ersten Menschen von dort
 abtransportiert werden. Mehr als 50 Jahre nach diesem
 schrecklichen Erlebnis schildert er seine Beobachtungen ein-
 mal in eigenen Worten: „Alle mussten in der Pforte warten,
 und dann sind sie in den Hof gegangen. Dann haben sie sie in
 die Busse geschuckt, mit Stempel drauf, wie ein Stück Vieh. Als
 die Wägen zum zweiten Mal kamen, durfte keiner mehr im Hof
 sein, wir sollten das nicht sehen. Ich habe mich im Heustock
 versteckt und zugeschaut.“ Weil er arbeitsfähig ist, bleibt Erich
 selbst verschont. Wochen später erfährt er aber vom Tod sei-
 nes Vaters, der in Liebenau gelebt hat und Anfang Juli 1940 de-
 portiert worden ist.
                                                                                                  1940

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150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
150 Jahre Stiftung Liebenau

n aus 150 Jahren
 Frank wächst in seiner Heimat auf der Ostalb in schwierigen         1984
 Familienverhältnissen auf. Neun Jahre besucht er die Sonder-
 schule für Lernbehinderte. Und was nun? Auf Vorschlag des
 Arbeitsamtes kommt er 1984 in das noch junge Berufsbil-
 dungswerk nach Ravensburg. Im Förderlehrgang zeigt sich:
 der eigentlich anvisierte Gärtnerberuf ist nichts für Frank,
 stattdessen beginnt er eine Ausbildung als Maler und Lackie-
 rer und zeigt dort beste Leistungen. Den angebotenen Wechsel
 in die Regelausbildung traut sich der junge Mann aber noch
 nicht so richtig zu: „Lieber eine bestandene Fachwerker-Prü-
 fung als eine nicht bestandene Vollausbildungs-Prüfung“, lau-
 tet sein Motto. Nach dem Abschluss findet er in seiner Heimat
 einen Job. Sein Chef legt ihm einen Meisterkurs nahe. Doch da-
 für fehlt der Gesellenbrief. Mit Hilfe eines Lehrers aus dem
 BBW büffelt er für diese nachträgliche Prüfung, die er dann tat-
 sächlich mit sehr guten Noten im Frühjahr 1993 absolviert.

 Ob berufliche Wiedereinsteiger, Umschüler oder Menschen                            2013
 mit Migrationshintergrund: Längst hat sich das BBW gegen-
 über neuen Zielgruppen geöffnet und bietet auch für Erwach-
 sene über 25 und ohne Behinderungen die Chance auf neue
 berufliche Perspektiven. So absolviert die 35-jährige Ex-Gym-
 nasiastin Serpil Reitenbach im Berufsbildungswerk eine be-
 triebliche Nachqualifizierung zur Kauffrau für Bürokommuni-
 kation. „Ich wollte schon immer im Büro arbeiten. Sachen or-
 ganisieren, Kundengespräche führen, mit dem Computer um-
 gehen.“ Sie sei eben ganz der „Organisationstyp“, meint sie
 seinerzeit gegenüber der „Auf Kurs“. Die Karriere auf Umwe-
 gen gelingt: Serpil Reitenbach bleibt nach ihrem Abschluss so-
 gar im BBW und findet dort als Assistentin der Abteilungslei-
 tung Bildung und Arbeit ihren Traumjob.

 Inzwischen ist Autismus längst bekannt, und immer mehr jun-
 ge Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung kommen
 ins BBW, um dort in einem für sie geeigneten Umfeld und mit
 der nötigen Unterstützung den Sprung auf den ersten Arbeits-
 markt zu schaffen. Doch noch immer erhalten viele Betroffene
 ihre Diagnose erst spät, wie etwa Jan. „Man scheitert, aber man
 weiß nicht warum“, berichtet er über seinen langen Leidens-
 weg, bis er mit der Diagnose Autismus „endlich einen Namen
 für alles“ bekommen hat – und im BBW in Ravensburg einen
 Ausbildungsplatz als Fachinformatiker, an dem er sich wohl
 und verstanden fühlt. (ck)                                         2020
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150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
„Mit Zuversicht in die Zukunft“
150 Jahre Stiftung Liebenau – Meilensteine, Krisen, Erfolge und Herausforderungen im Aufgabenbereich Bildung und natürlich
die Corona-Pandemie: Die Geschäftsführer des Liebenau Berufsbildungswerks, Christian Braun (rechts im Bild) und Herbert
Lüdtke (links), blicken im Interview zurück und nach vorne.

150 Jahre Stiftung Liebenau: Was             hat, wird sie auch das jetzt schaffen.       geschafft. Doch wie sieht es in der aktu-
bedeutet dieses Jubiläum?                    Aber natürlich ist es sehr schade, dass      ellen Situation mit der Integration in
Herbert Lüdtke: Zunächst einmal, dass        die ganzen geplanten Feierlichkeiten         den Arbeitsmarkt aus?
hinter der Stiftung Liebenau sehr viel       und Veranstaltungen Corona zum Opfer         Braun: Wir hatten im vergangenen Jahr
Geschichte steckt – und dass man in die-     gefallen sind. Es wäre bestimmt ein tol-     – bei einem sehr guten Arbeitsmarkt –
ser auch Krisen überstanden hat, die         les Jubiläumsjahr geworden!                  eine überragende Vermittlungsquote, in
zum Teil noch wesentlich massiver wa-                                                     der Gastronomie zum Beispiel hundert
ren als das, was gerade mit Corona pas-      Stichwort Corona: Wie lief im BBW der        Prozent. Das ist natürlich in diesem Jahr
siert. Wenn man zum Beispiel an die          Wiedereinstieg nach der siebenwöchi-         schwieriger. Je nach Branche gibt es Be-
Zeit des Nationalsozialismus denkt, in       gen pandemiebedingten Schließung?            triebe, die durch Corona sehr stark be-
der Menschen mit Behinderungen –             Lüdtke: Die Jugendlichen sind gerne          troffen sind und eher an Kurzarbeit oder
auch aus Liebenau – deportiert und er-       wieder gekommen. Sie waren froh, wie-        Arbeitsplatzabbau denken, als an Neu-
mordet wurden. Die Stiftung Liebenau         der einen geregelten Tagesablauf und         einstellungen. Von daher wird sich die
steht mit ihrer Erfahrung, Tradition und     Struktur zu haben. Diese Zeit war für        Krise wohl auf die Vermittlungszahlen
Arbeit für Verlässlichkeit, für Werte und    viele nicht so einfach.                      für 2020 auswirken. Die vielen Neuan-
eine christlich-katholische Grundhal-                                                     meldungen für das laufende Ausbil-
tung, die sie auch durch schwierige Pha-     Und wie wird die „neue Normalität“ an-       dungsjahr zeigen aber auch: Das BBW
sen trägt und die sich in ihrem Leitwort     genommen?                                    ist ganz offensichtlich ein Ort der Ver-
ausdrückt: In unserer Mitte – Der            Lüdtke: Die Jugendlichen machen mit,         lässlichkeit, an dem junge Menschen,
Mensch. Und das gibt Mut und Zuver-          tragen Masken und zeigen Verständnis         die gerade in dieser Zeit vielleicht eine
sicht mit Blick auf die Zukunft.             für die Regeln. Es gibt ein gutes Mitein-    schlechtere Perspektive haben, gut auf-
Christian Braun: Die Stiftung hat sich       ander.                                       gehoben sind. Und wenn die Krise vor-
im Laufe der Zeit enorm weiterentwi-         Braun: Ja, der Großteil zieht da super       bei ist, haben sie – mit einer abgeschlos-
ckelt, dabei immer die Menschen und          mit. Wir sind dankbar, insgesamt bisher      senen Berufsausbildung in der Tasche –
ihre Bedarfe im Fokus gehabt, und ist        gut durch die Krise gekommen zu sein.        voraussichtlich wieder sehr gute Chan-
heute sehr differenziert aufgestellt. Ei-    Unsere Entscheidung war, zunächst vor-       cen auf dem Arbeitsmarkt.
nerseits hat sich dadurch die Komplexi-      sichtig mit einer begrenzten Präsenz-
tät erhöht – und hier im Verbund eine        zahl wieder einzusteigen, also nur 50        Apropos Neuanmeldungen: 250 junge
gute Mischung aus Gemeinsamkeiten            bis 70 Prozent der sonst üblichen Teil-      Menschen sind in diesem Spätsommer
und Unterschieden hinzubekommen,             nehmenden auf dem Gelände zu haben.          an den BBW-Standorten Ravensburg
ist durchaus auch eine Herausforde-          Diese Anlaufphase hat auch dazu ge-          und Ulm in eine Berufsvorbereitung
rung. Andererseits steht die Stiftung Lie-   führt, dass sich bei den Jugendlichen        oder -ausbildung gestartet. So gut waren
benau so auf einem breiten Fundament,        und Mitarbeitenden ein sicheres Gefühl       die Belegungszahlen nicht immer...
was in schwierigen Zeiten hilfreich ist.     entwickelt hat.                              Lüdtke: Um das Jahr 2005 herum kam
Auf 150 Jahre betrachtet, relativiert sich                                                es im BBW zu einer sehr ernsten Bele-
aber auch eine Krise wie die jetzige. So     Trotz Krise haben ja so gut wie alle Prüf-   gungskrise, und es herrschte eine große
wie die Stiftung schon so vieles geschafft   linge im Sommer 2020 ihren Abschluss         Unsicherheit, wie sich der Bereich der

8                                                                                                                            1|2020
150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
150 Jahre Stiftung Liebenau

                                            „
beruflichen Rehabilitation überhaupt
weiterentwickeln würde und was die
                                            „Bei uns bekommen junge Menschen mit besonderem
                                            Förderbedarf das, was sie brauchen, um am Ende den
                                            Zugang zur Arbeitswelt zu bekommen. Wir sind ein
                                                                                                                              „
Politik damit vorhat. Es war die Zeit, in
der sich die Bundesagentur für Arbeit
                                            Inklusionsschlüssel!“
neu aufstellte, Sozialgesetze geändert
wurden – alles mit massiven Auswirkun-
gen auf die Berufsbildungswerke.            liert. Dazu kommen Haltungsleitsätze,                     auch immer gesagt: Wir sind keine Son-
                                            die wir im vergangenen Jahr erarbeitet                    derwelt, sondern bilden das ab, was
Wie haben Sie darauf reagiert?              haben. Das alles gibt uns einen Rahmen                    auch in der Gesellschaft läuft. Wir sind
Lüdtke: Mit Spezialisierung und Diffe-      für unser Handeln als Einrichtung und                     eine personen- und bedarfsorientierte,
renzierung gleichermaßen. Auf der ei-       trägt den Anforderungen, die der Wan-                     betriebsnahe Bildungseinrichtung auf
nen Seite haben wir unsere Fachlichkeit     del vom klassischen BBW für Lernbe-                       Zeit. Bei uns bekommen junge Men-
weiter ausgebaut, Konzepte entwickelt       hinderte hin zum differenzierten und                      schen mit besonderem Förderbedarf
für Menschen mit psychischen Störun-        dezentraler aufgestellten Bildungsträ-                    das, was sie brauchen, um am Ende den
gen und ganz speziell auch für Men-         ger mit sich bringt, Rechnung.                            Zugang zur Arbeitswelt zu bekommen.
schen mit Autismus-Spektrum-Störun-                                                                   Wir sind ein Inklusionsschlüssel!
gen, und damit ganz bestimmte Perso-        Was ist mit der ursprünglichen Zielgrup-
nenkreise angesprochen. Auf der ande-       pe, Menschen mit Lernbehinderung?                         Eine ganz neue Personengruppe tauchte
ren Seite mussten wir uns aber auch         Lüdtke: Die gibt es natürlich weiterhin!                  dann insbesondere ab 2015 im BBW auf:
breiter aufstellen und neue Maßnah-         Und es sind nicht wenige. Nach aktuel-                    junge geflüchtete Menschen.
men anbieten. Dazu gehörte damals ne-       len Schätzungen von Prof. Karl-Heinz                      Braun: Dieses Engagement entwickelte
ben verstärkten Angeboten in Sachen         Eser vom Wissenschaftlichen Beirat des                    sich eben auch aus unserer Grundhal-
Erwachsenenbildung zum Beispiel un-         Bundesverbandes LERNEN FÖRDERN le-                        tung heraus: Wir schauen hin und nicht
ser Einstieg in die Jugendhilfe. Seitdem    ben in Deutschland insgesamt zwischen                     weg, wir handeln dort, wo es gesell-
haben wir uns zu einem großen Jugend-       1,8 und zwei Millionen Menschen mit                       schaftlichen Bedarf aber keine Antwor-
hilfeträger in der Region entwickelt.       Lernbehinderung. Und schätzungswei-                       ten gibt. Das ist dann auch die Verbin-
                                            se zirka 2,5 Prozent der jüngeren Alters-                 dung zu diesem „Gründergen“ der Stif-
Braucht es solche Krisen wie die von        gruppen sind davon betroffen. Für diese                   tung Liebenau – und dem Wahlspruch
2005 zur Veränderung?                       Klientel sind wir als Berufsbildungs-                     von deren Initiator Adolf Aich: „Da sollte
Braun: Unsere Strategie muss es sein,       werk in Sachen Ausbildung immer noch                      doch Wandel geschafft werden.“ Und
dass es im Idealfall eben keine erneute     die wichtigste und kompetenteste An-                      das hat sich dann eben darin konkreti-
Krise mehr braucht, um gut für die Zu-      laufstelle.                                               siert, hier auch mit jungen Geflüchteten
kunft aufgestellt zu sein – wohlwissend,                                                              zu arbeiten…
dass wir natürlich auch nicht alles be-     Wie erlebten Sie die Inklusionsdebatte?                   Lüdtke: …indem wir zum Beispiel soge-
einflussen können. Aber wir wollen uns      Lüdtke: Auch beim diesem Thema rück-                      nannte Unbegleitete minderjährige
frühzeitig wichtige Fragen stellen: Wie     ten die Berufsbildungswerke in den Fo-                    Ausländerinnen und Ausländer (UmA)
müssen wir uns heute verändern oder         kus. „Schluss mit den Sonderwelten“                       bei uns im Wohnheim aufgenommen
anpassen, damit wir zukunftsfähig blei-     war so ein Motto. Die letzten zwei, drei                  oder spezielle VABO-Schulklassen für
ben? Es geht darum, Bilder zu entwi-        Jahre hat sich diese Debatte aber wieder                  jugendliche Geflüchtete eingerichtet ha-
ckeln – im Einklang mit dem Gesamtun-       ziemlich beruhigt, und man orientiert                     ben. Allein hier in Ravensburg haben
ternehmen und gemeinsam mit unseren         sich mehr an der Realität. Wir haben                      wir über 120 von ihnen beschult. Das
mittlerweile über 500 Mitarbeitenden,                                                                 Haus war voll! Dazu kamen mehrere be-
was wir auch bei unseren Organisati-                                                                  rufliche Qualifizierungsprojekte, insbe-
onsentwicklungstagen getan haben.                                                                     sondere auch die erfolgreiche „Lern-
Woran richten wir uns aus? Was ist un-                                                                werkstatt“ in Aulendorf. Wir haben uns
ser Fundament, was unsere Visionen                                                                    diesen Aufgaben vor dem Hintergrund
und Ziele?                                                                                            der Flüchtlingssituation ganz bewusst
                                                                                                      gestellt. Und die Stiftung insgesamt hat
Und das Ergebnis?                                                                                     da ja viel Verantwortung übernommen
Braun: Wir haben unser Verständnis          Die Geschäftsführer Herbert Lüdtke (links) und Christi-   und etwa ihre Kirche in Liebenau über-
von Bildung und Inklusion ausformu-         an Braun machen‘s vor: Abstand, Hygiene, Maske.           gangsweise zur Verfügung gestellt. Wir

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150 Jahre Stiftung Liebenau - Ausbildung und Corona: Gemeinsam durch die Krise 12
150 Jahre Stiftung Liebenau

im BBW haben seitdem auch ein kleines       gen auf die Arbeitswelt. Und das bedeu-      Arbeitswelt generell nachhaltig verän-
Afrika-Projekt am Laufen und unterstüt-     tet eben auch für Sozial- und Bildungs-      dern. Dienstreisen werden stärker hin-
zen vor Ort mehrere Einrichtungen der       unternehmen, sich entsprechend aufzu-        terfragt werden. Videokonferenzen,
beruflichen Bildung. Daraus entstand        stellen.                                     Homeoffice oder mobiles Arbeiten wer-
auch bereits ein Schüleraustausch mit       Braun: In der Ausbildung arbeiten wir        den eine stärkere Rolle spielen.
einer Partnerschule in Uganda.              ja schon länger mit digitalen Lernplatt-
                                            formen. Dies wurde in der Corona-Krise       Sonstige Herausforderungen?
Zurück nach Deutschland, zurück nach        mit den Heimlernphasen natürlich in-         Braun: Ein wichtiges Thema ist die zu-
Ravensburg. Auf diesen Standort fiel vor    tensiviert. Das liegt aber nicht allen Ju-   nehmende gesellschaftliche Polarisie-
mehr als 40 Jahren die Entscheidung,        gendlichen. Jemand, der Zimmerer             rung – und wie wir als BBW und als Stif-
ein Berufsbildungswerk der Stiftung         lernt oder Maurer, der wird das in der       tung Liebenau damit umgehen. Einer-
Liebenau zu bauen. Eine gute Wahl?          Regel nicht, weil er da digital arbeiten     seits ist man gefordert, Position zu be-
Und wie ging es dann weiter?                will. Da stecken ganz andere Bedürfnis-      ziehen, für was man steht. Andererseits
Lüdtke: Das BBW seinerzeit hier in ver-     se dahinter. Der Grad der Digitalisierung    muss man trotzdem darauf achten,
kehrsgünstiger Lage in Ravensburg zu        bleibt also abhängig von den einzelnen       Menschen nicht zu verlieren. Haltung zu
bauen und nicht irgendwo auf der grü-       Berufsfeldern und Teilnehmenden.             zeigen und gleichzeitig dem anderen,
nen Wiese, war im Nachhinein auf jeden                                                   der diese Position nicht hat, eine Brücke
Fall eine richtige Entscheidung. Und        Wie digital war denn bei den BBW-Ju-         zu lassen – das ist gar nicht so einfach
hier fühlen wir uns auch heute noch         gendlichen das Lernen zuhause?               und für ein Sozialunternehmen sehr an-
wohl. Meilensteine in der Geschichte        Lüdtke: Wir haben nachgefragt, wie es        spruchsvoll.
des BBW waren dann zum Beispiel der         unseren Teilnehmenden in der Heim-
Bau des Schreinerzentrums, die Weiter-      lernphase ergangen ist. Immerhin die         Zum Schluss noch eine persönliche Fra-
entwicklungen im Wohnbereich und            Hälfte ist mit dem Digitalen gut zurecht-    ge: Wie war eigentlich Ihr erster Tag in
der Fachdienste, auch die Standorteröff-    gekommen, fast genauso viele haben           der Stiftung Liebenau?
nung in Ulm und natürlich die enorme        die Lernunterlagen aber analog per Post      Lüdtke: Ich erinnere mich gar nicht
Ausweitung des Bildungsangebotes.           zugeschickt bekommen – und einen             mehr so genau. Ich weiß zwar, dass es
Ausgehend von Berufen, die in der Stif-     kleinen Teil hat man kaum erreicht. Die      der 6. Oktober 2004 war. Aber ich kann
tung Liebenau schon präsent waren, er-      richtige Lösung fürs Heimlernen zu fin-      heute nicht mehr sagen, was an dem Tag
weiterte das BBW nach seiner Gründung       den ist das eine, gerade zum Beispiel        genau geschah. Zunächst galt es jeden-
sukzessive das Ausbildungsspektrum,         bei Jugendlichen mit Lernschwierigkei-       falls, die Stiftung in ihrer Größe zu ver-
das heute mehr als 50 Berufe umfasst –      ten spielen aber persönliche Beziehun-       stehen und auch das System Berufsbil-
und immer dynamisch bleibt.                 gen eine sehr bedeutende Rolle. Und          dungswerk zu durchdringen. Eine ge-
Braun: Nach wie vor ist es unsere Kern-     die sind zuvor schon offenbar gut ge-        wisse Ehrfurcht vor der Arbeit war da –
aufgabe, den Azubis die Teilhabe am Ar-     wachsen, denn wir haben während der          und ich empfand es als tolle Aufgabe, et-
beitsleben zu ermöglichen. Dement-          Corona-Krise kaum pandemiebedingte           was für junge Menschen am Übergang
sprechend passen wir unser Ausbil-          Abbrüche verzeichnet.                        von Schule und Beruf zu machen. Und
dungsangebot immer an die sich stets        Braun: Gerade unsere „Neuen“ brau-           dann kam ja auch schon bald die bereits
verändernden Anforderungen der Ar-          chen Zeit, um hier erst einmal anzukom-      erwähnte Belegungskrise von 2005, die
beitswelt an. Während zum Beispiel die      men und diese Bindung aufzubauen,            wir bewältigen mussten.
Berufsfelder IT oder Lagerlogistik aktu-    bevor es überhaupt um die Vermittlung        Braun: Bei mir war es im November
ell boomen, wurden andere nicht mehr        von Fachlichkeit gehen kann. Wichtig ist     2003. Ich fing damals als Vorstandsassi-
nachgefragte Berufe im Laufe der Zeit       aber, die Voraussetzungen für digitales      stent bei Dr. Berthold Broll an. Gleich
aufgegeben.                                 Lernen zu schaffen. Und da tut sich poli-    am ersten oder zweiten Arbeitstag fand
                                            tisch was. So sorgt jetzt zum Beispiel der   eine Versammlung der damaligen St.
Mit Blick in die Zukunft: Was sind die      „DigitalPakt Schule“ dafür, dass unsere      Gallus-Hilfe statt, bei der ich das Proto-
großen Themen der kommenden Jahre?          Klassenzimmer in der Hinsicht besser         koll führen musste. Das war eine meiner
Lüdtke: Die Digitalisierung ist natürlich   ausgestattet werden. Insgesamt hat die       ersten Aufgaben. Und die war sehr her-
ein hochspannendes Thema. Wir erle-         Digitalisierung durch Corona schon           ausfordernd aufgrund der vielen Maß-
ben vor diesem Hintergrund einen epo-       noch einmal einen starken Schub be-          nahmenbezeichnungen und -abkürzun-
chalen Wandel als Gesamtgesellschaft,       kommen – auch was unseren eigenen            gen. Da schrieb ich einiges mit, das ich
und natürlich hat das auch Auswirkun-       Arbeitsalltag angeht. Die Krise wird die     noch nicht verstand… (ck)

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150 Jahre Stiftung Liebenau

                                                      Guck mal…
                                 ins BBW-Fotoalbum!
                                                                                                                        ab 1992

    q Im September 1980 ziehen die ersten Gewerke – Metall, Holz und Farbe – auf der Baustelle in
    der Ravensburger Schwanenstraße 92 ein. Im Spätsommer des Jahres 1981 wird mit der Eröffnung
    der Sonderberufsschule dann der volle Ausbildungsbetrieb aufgenommen. Am 30. April 1982 wird
    das Berufsbildungswerk Adolf Aich schließlich offiziell eingeweiht.

1980-1982                                                                                           p Erweiterung des BBW: Unter anderem kommen eine Produkti-
                                                                                                    onsküche und das Ausbildungsrestaurant hinzu.

                                                                                                                                                        2010

                                                             t Am Standort Ulm
                                                             wird 1998 das Regiona-
                                                             le Ausbildungszentrum
                                                             (RAZ) eingerichtet, und
                                                             am BBW-Hauptsitz in
                                                             Ravensburg nimmt drei
                                                             Jahre später das neue
                                                                                                     p RAZ Ulm und Max-Gutknecht-Schule ziehen in die „Schil-
                                                             Schreinerzentrum (Fo-
                                                                                                     lerstraße 15“ um, das neue „Haus für Bildung, Rehabilitation
                                                             to) seinen Betrieb auf.
                                                                                                     und Teilhabe“ in der Münsterstadt.

1998-2001
                                                                                                                                                     2020

  u Während der sogenann-
  ten Flüchtlingskrise über-
  nimmt das BBW Verantwor-
  tung und richtet in Ravens-
  burg und Ulm unter ande-
  rem mehrere Klassen für das
  Vorqualifizierungsjahr Ar-
  beit/Beruf mit Schwerpunkt
  Erwerb von Deutschkennt-                                                                           p Ausbildungsstart inmitten der Corona-
  nissen (VABO) ein.
                                                            2015                                     Krise: Im Spätsommer begrüßt das BBW an
                                                                                                     seinen Standorten Ravensburg und Ulm
                                                                                                     insgesamt rund 250 neue Teilnehmende in
                                                                                                     Berufsvorbereitung und Ausbildung.
                1|2020                                                                                                                                              11
Durch die Corona-Krise

Wieder ein bisschen Normalität
März 2020 – und plötzlich war alles anders. Die Corona-Pandemie stellte auch den Ausbildungs- und Berufsschulalltag im Liebe-
nau Berufsbildungswerk völlig auf den Kopf. Unterrichtsräume waren über Wochen geschlossen, die Werkstätten und Ausbil-
dungsbetriebe dicht. Stattdessen war Heimlernen angesagt. Mit großem Engagement setzte das BBW alles daran, dass seine
ohnehin benachteiligten Jugendlichen nicht zu den Verlierern der Krise werden.

„Mir ging es soweit ganz gut. Aber das     Alltag wieder schrittweise eingekehrt.     gefährdet, weiterhin zuhause betreut –
Gemeinschaftliche hier habe ich schon      Auch wenn er doch ziemlich anders aus-     via Internet (siehe Seite 14). Zudem be-
vermisst“, sagt die angehende Verkäufe-    sieht als vor der Krise: Mund-Nase-Mas-    kam sie Lernpakete zugeschickt.
rin Johanna Friesen und spricht damit      ken, Abstandsregeln und Hygienemaß-
allen BBW-Azubis aus der Seele. Sie        nahmen bestimmen das Bild. Zur Wie-        „Lernpakete“ für zuhause
freuten sich, endlich wieder ihre Mit-     deröffnung wurden Klassen und Ausbil-      So lief es auch für die anderen BBW-
schülerinnen und -schüler zu sehen und     dungsgruppen verkleinert, die Arbeits-     Azubis während der Schließungsphase:
zurück am gewohnten Ausbildungsplatz       zeiten gestaffelt und eine Kombination     Per E-Mail, Post oder über eine digitale
zu sein. So hatten im Zuge der landes-     von Präsenz- und Heimlernphasen ein-       E-Learning-Plattform wurden sie mit
weiten Schulschließungen die beiden        geführt.                                   Aufgaben versorgt und dabei nicht nur
Sonderberufsschulen des BBW – die Jo-                                                 fachlich, sondern auch sozialpädago-
sef-Wilhelm-Schule in Ravensburg und       Lösungen für Risikogruppen                 gisch und psychologisch betreut. „Wir
die Max-Gutknecht-Schule in Ulm – den      „Im Vordergrund steht der Gesundheits-     haben versucht, zu allen Teilnehmen-
Präsenzunterricht eingestellt. Auch die    schutz für alle“, erklären die BBW-Ge-     den den Kontakt zu halten“, sagt Oliver
praktische Ausbildung in den Werkstät-     schäftsführer Christian Braun und Her-     Schweizer, Leiter der Abteilung Bil-
ten pausierte, die Verpflegungsangebo-     bert Lüdtke. So hat man für Angehörige     dungsbegleitung. Je nach Beeinträchti-
te des BBW wie die Ausbildungsrestau-      von Covid-19-Risikogruppen individuel-     gung und sozialem Hintergrund kamen
rants in Ravensburg und Ulm sowie der      le Lösungen gefunden. Eine Teilneh-        die Jugendlichen mit der Ausnahmesi-
Metzgerei- und Bäckereiverkauf in der      merin wurde zum Beispiel in einer          tuation ganz unterschiedlich klar. Der
Münsterstadt wurden ausgesetzt.            BBW-Außenwohnguppe entsprechend            plötzliche Wegfall der Alltagsroutine
Nach siebenwöchiger pandemiebeding-        begleitet, eine Auszubildende aus der      traf nicht zuletzt die jungen Menschen
ter Heimlernphase im Frühjahr 2020 ist     Hauswirtschaft, wegen mehrerer             mit einer Autismus-Spektrum-Störung
am BBW-Hauptsitz in Ravensburg der         Grunderkrankungen auch besonders           besonders. „Für sie haben wir Pläne zur

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Durch die Corona-Krise

Tagesstrukturierung erstellt“, berichtet
Oliver Schweizer.
                                             BILDSCHIRM STATT KLASSENZIMMER
Plötzlich kein „offenes“ Haus mehr
Plexiglasscheiben, Bodenmarkierun-
gen, eine „Eingangsschleuse“, in der die
Azubis von ihren Ausbildern abgeholt
und zum Arbeitsplatz begleitet werden:
Auch 100 Kilometer nördlich von Ra-
vensburg im zum BBW gehörenden Re-
gionalen Ausbildungszentrum (RAZ)
Ulm ist das Corona-Schutzkonzept über-
all sichtbar. Nach mehrwöchiger Anlauf-
phase bekamen alle Jugendlichen wie-
der Präsenzzeiten in der Ausbildung,
und Kooperationen mit Betrieben konn-
ten wieder aufgenommen werden. „Die
Normalität blitzt schon wieder ein bis-
schen durch“, sagt Einrichtungsleiter Jo-
hannes Hettrich. Dabei war das RAZ in         Bildschirm statt Werkstatt in Corona-    kann zum Beispiel ein Wechsel der
Vor-Krisenzeiten ein „offenes Haus“, in       Zeiten: Auch für die Azubis aus dem      Scheinwerferlampe am Bildschirm
dem Gäste ein- und ausgingen – um sich        Kfz-Bereich des BBW war Heimlern-        geübt werden.
an den Verkaufstheken bei den Azubis          phase angesagt. Und für ihren Aus-
mit einem Imbiss oder frischen Backwa-        bilder Martin Dorn: Homeoffice. Von      Nicht nur die Werkstätten, auch die
ren zu versorgen. Solange der Publi-          zuhause aus betreute er seine 20 Ju-     Klassenzimmer in der Josef-Wilhelm-
kumsverkehr noch nicht wieder mög-            gendlichen und kämpfte zunächst          Schule des BBW blieben wochenlang
lich ist, wird improvisiert: mit einem Ab-    mit Anfangsschwierigkeiten. Der ei-      leer. Lehrerin Karen Hotz-Krumm
hol- und Lieferdienst. So können die an-      ne hatte keinen PC zuhause, beim         (siehe Foto) schrieb an jede Schüle-
gehenden Fachkräfte aus Backstube,            anderen haperte es bei der Internet-     rin und jeden Schüler ihrer Klassen
Metzgereiladen und Küche weiterhin            verbindung. „Wir mussten individu-       einen persönlichen Brief, dass sie
wichtige Praxiserfahrungen für den spä-       elle Lösungen finden“, so Martin         sich sehr aufs Wiedersehen freue
teren Job sammeln. (ck)                       Dorn über die plötzliche Umstellung      und alle durchhalten sollen. Bei den
                                              des Ausbildungsbetriebs von analog       einen klappte das Lernen von zu-
                                              auf digital: „Es hat etwa zwei Wo-       hause aus gut, von manchen Jugend-
                                              chen gedauert, bis alles im Fluss        lichen gab es kaum Rückmeldung.
                                              war.“ Doch dann funktionierte es.        Und es gab welche, die sich richtig
                                              Das meiste lief letztendlich übers       Sorgen machten. Sie hatten Angst, et-
                                              Smartphone. Aufgaben wurden hin          was zu verpassen, wenn der Unter-
                                              und hergeschickt, YouTube-Videos         richt nicht wie gewohnt stattfindet.
                                              verlinkt, Rückfragen telefonisch oder    „Alle sprechen momentan von Digi-
                                              im Chat beantwortet. Jeden Morgen        talisierung. Das ist auf der einen Sei-
                                              versorgte Dorn seine Azubis mit neu-     te auch gut so. Aber speziell für unse-
                                              em Lernstoff. Klar: An Autos herum-      re Klientel im BBW ist der persönli-
                                              schrauben, das fiel während der          che Kontakt wichtiger denn je. Alle
                                              Schließung der BBW-Ausbildungs-          sind unterschiedlich, und als Lehre-
                                              werkstatt wochenlang komplett            rin kann ich mich auf jeden persön-
                                              flach. Damit jedoch neben der Theo-      lich einstellen“, betont Karen Hotz-
                                              rie auch das Praktische nicht zu kurz    Krumm. Und so habe sie sich auch
                                              kam, griff Martin Dorn auf eine spezi-   sehr auf den Moment gefreut, wieder
                                              elle Online-Plattform zurück. Dort       vor der Klasse stehen zu können.

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Durch die Corona-Krise

                                                                                        Kreativ in der Krise
                                                                                        Die Corona-Pandemie stellte den Alltag
                                                                                        der BBW-Azubis auf den Kopf, ließ ihnen
                                                                                        aber auch Zeit für Kreativität. Johanna
                                                                                        Friesen zum Beispiel malte in der Heim-
                                                                                        lernphase, die sie bei ihrer Familie in
                                                                                        Schwäbisch Gmünd verbrachte, ein Bild.
                                                                                        „In einem Elternbrief habe ich dazu auf-
                                                                                        gerufen, die besondere Situation doch
                                                                                        auch mal für etwas Kreatives zu nutzen,
                                                                                        vielleicht ein Bild zu malen“, berichtet
                                                                                        Oliver Schweizer, Leiter der Abteilung
                                                                                        Bildungsbegleitung im BBW. Die ange-
                                                                                        hende Verkäuferin Johanna Friesen fand
                                                                                        die Idee toll und griff zum Pinsel. „Bäu-
                                                                                        me im Herbst spiegeln sich im Wasser“,
                                                                                        nannte die 24-Jährige ihr Acrylbild aus
                                                                                        der Heimlernphase. Anregungen für die
                                                                                        Maltechnik habe sie sich in verschiede-
                                                                                        nen Internetvideos geholt. Bei der Rück-
                                                                                        kehr ins BBW brachte sie das Werk
                                                                                        schließlich mit – zur Freude ihrer Ausbil-
                                                                                        der und der Geschäftsführung. So wurde
                                                                                        die Hobbykünstlerin mit einem Ein-
                                                                                        kaufsgutschein geehrt, und ihr Bild
                                                                                        hängt nun als Leihgabe im BBW. (ck)

Franzi, 19 Jahre, Risikogruppe
Während die allermeisten Azubis ab         Das ganze große Einmaleins der Haus-
Mai wieder ins BBW zurückkehren            wirtschaft übte Franzi zwar daheim –
konnten, ging für Franzi das Heimler-      aber trotz Entfernung unter den auf-
nen weiter. Aufgrund mehrerer              merksamen Augen ihrer Ausbilderin Ilo-
Grunderkrankungen wäre die 19-Jähri-       na Abler (siehe Bild). Mit dieser war die
ge besonders schwer, möglicherweise        Schülerin an drei Tagen in der Woche in
lebensgefährdend, von einer Covid-         Bild und Ton über das Internet verbun-
19-Infektion betroffen. Deshalb blieb      den. „Wir waren dann immer zwischen
sie zuhause – und das ausgerechnet mit-    zwei und drei Stunden zusammen bei
ten in ihrem dritten und letzten Ausbil-   der Arbeit“, erzählt Abler. „Während
dungsjahr zur Fachpraktikerin Haus-        Franzi die Aufgaben erledigte, legte sie
wirtschaft, nur wenige Wochen vor den      in der Regel ihr Smartphone auf die
Abschlussprüfungen. Um Franzi trotz-       Dunstabzugshaube. Ich konnte dadurch
dem auch in praktischer Hinsicht best-     ihren Arbeitsplatz sehen und sie so be-
möglich darauf vorzubereiten, kümmer-      gleiten.“ Das Ziel: sich nicht mit dem Co-
te sich das BBW intensiv um sie und an-    ronavirus anzustecken und gleichzeitig
dere besonders gefährdete Azubis. Ob       die Weichen für die berufliche Zukunft
Backen, Kochen, Rühren, Schneiden,         zu stellen. Das hat Franzi getan, denn
Knöpfe annähen, Oberflächen reinigen,      am Ende gehörte auch sie zum erfolgrei-
Wäsche sortieren oder Tische decken:       chen Absolventenjahrgang 2020. (ck)

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Durch die Corona-Krise

Die Heimlernphase und ich!
So war das Lernen zuhause: der Erlebnisbericht einer Auszubildenden

Wie haben die jungen Menschen aus
dem BBW die pandemiebedingte Heim-
lernphase erlebt? Was fiel ihnen wäh-
rend dieser Zeit besonders schwer, und
was lief gut? Die Auszubildende Jac-
queline Bay hat ihre Gedanken zum
„Lockdown“ aufgeschrieben und schil-
dert einen typischen Lerntag zuhause:

Mein Wecker klingelt um 6:45 Uhr.
Dann stehe ich auf, starte schon mal den
Laptop und gehe mich richten. Wenn
ich aus dem Bad komme, setze ich mich
an den Laptop und schreibe die Mail,
dass ich für den Tag startklar bin. Meis-
tens fällt das Frühstück aus, oder mein
Freund bringt Essen an den gemeinsa-
men Schreibtisch, und wir vespern ne-
benher. Ich hatte von Anfang an das Ge-
fühl, dass mir das Arbeiten daheim liegt.
Ich habe keinen Stress mehr mit dem          Jacqueline Bays Heimlernarbeitsplatz: Die täglichen Aufgaben kamen über eine digitale Lernplattform – und ab und
                                             zu gab es auch einen tierischer Besuch.
Busfahren, zudem kann ich an meinem
eigenen Schreibtisch arbeiten und fühle
mich zuhause einfach wohler als unter        ganz schön entspannt, denn ich arbeite                     Den richtigen Rhythmus gefunden
vielen Menschen.                             meistens mit offenem Fenster und Mu-                       Jetzt habe ich mir einen Rhythmus an-
                                             sik – es sei denn, die Baustelle draußen                   geeignet, der nach Einteilung läuft. Zum
Aufgaben kommen online                       wird zu laut, dann geht das Fenster zu.                    Beispiel bei den Berichten bin ich hin-
Wenn ich dann morgens die Mail ge-           Die Wege in die Pause und zum kurz                         gegangen und habe eine Tabelle mit
schrieben habe und noch keine Aufga-         Ausspannen sind kürzer, allerdings                         Themen erstellt und wollte jeden Tag
ben online sind, schreibe ich an Be-         merke auch ich manchmal, dass ich                          mindestens drei bis vier geschrieben
richtsheften und gehe die Lernplattform      mehr auf die Zeit achten sollte. Wenn                      haben, so gingen nie unter zwei raus,
„Ilias“ durch. Wenn ich eine Aufgabe ha-     ich nämlich mit Aufgaben nicht fertig                      aber wurden es mal nur drei, war es
be, starte ich mit dieser. Ab und zu wer-    bin, kann es sein, auch wenn wir dafür                     auch nicht schlimm. In manchen Berei-
de ich von den Katern Max oder Moritz        länger Zeit haben, dass ich unbedingt                      chen hatte ich teilweise Schwierigkei-
besucht. Max macht sich besonders ger-       was fertig bekommen möchte. Hierbei                        ten aufgrund von dem langen Ausfall
ne auch auf der Arbeitsfläche breit und      bremst mich manchmal aber dann mein                        wegen meiner Gesundheit. Komme ich
schaut mir dann beim Arbeiten zu. Bin        Freund aus und meint, ich soll mal run-                    allerdings mal nicht weiter, so frage ich
ich mit meinen Aufgaben fertig, schaue       terfahren, besonders wenn ich mich                         entweder meine Kollegen oder Google
ich in „Ilias“ durch, was sonst noch so      abends dann nochmal dran setzen                            und versuche, das Problem somit zu lö-
anfällt und lade meine Aufgaben hoch.        möchte. Anfangs war das schlimmer, da                      sen. Ich denke, jetzt nach der fast schon
Manchmal schreibe ich auch nebenher          war ich dauerhaft in „Ilias“, auch eigent-                 fünften Woche am Heimlernarbeitsplatz
mit Kollegen und bespreche mich kurz         lich nach Feierabend, da ich nichts ver-                   ist das Arbeiten von zuhause aus schon
oder stelle eine Frage. Eigentlich ist das   passen wollte.                                             viel einfacher geworden.

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Durch die Corona-Krise

„Ein tolles Gefühl, hier zu stehen“
Masken auf, Daumen hoch! Trotz Corona-Krise haben im Sommer 2020 rund 150 junge Menschen mit besonderem Teilhabebe-
darf an den BBW-Standorten in Ravensburg und Ulm den Abschluss ihrer Ausbildung gefeiert – zwar mit Abstand, in getrennten
Gruppen und in kleinerem Rahmen als sonst, aber mit mindestens so großer Freude wie ihre Vorgängerinnen und Vorgänger.
Zwei aus diesem „Corona-Jahrgang“ erzählen, wie es ihnen ergangen ist.

Weit entfernt von Ravensburg erreichte                                                Ab jetzt: Zukunft!
Thomas (Name geändert) die Corona-                                                    So wie für Ana-Filipa Vieira Frias. „Für
Krise und ließ unvermittelt seine Aus-                                                mich gab es keinen Tag, an dem ich
landspläne platzen. Gerade erst hatte                                                 nicht gerne hierhergekommen bin, um
der BBW-Azubi in Südtirol sein Prakti-                                                etwas Neues zu lernen“, blickte die ehe-
kum im Rahmen eines Austauschpro-                                                     malige Schülersprecherin bei der Zeug-
gramms angefangen, und schon musste                                                   nisübergabe auf ihre Zeit im RAZ Ulm
er dieses pandemiebedingt wieder ab-                                                  und der Max-Gutknecht-Schule zurück –
brechen. „Das war schon eine komische                                                 voller Stolz, nun einen wichtigen Schritt
Situation“, erzählt der 20-Jährige. Sor-                                              in Richtung Berufsleben gemacht zu ha-
gen um seinen Abschluss machte er sich                                                ben: „Es ist ein tolles Gefühl, jetzt hier
zwar nicht so sehr, eine gewisse Unsi-                                                zu stehen.“ Und das nach der zuletzt so
cherheit sei anfangs aber schon da ge-                                                schwierigen Zeit. Am meisten gefehlt
wesen, räumt er ein. Sonst eigentlich in   dort das Herausfinden des passenden        während der Heimlernphase habe ihr
einem Außenwohnheim des BBW le-            Berufes auf dem Programm. Dieser           das Praktische. Das kann sie nun nach-
bend, verbrachte er die „Lockdown“-        Punkt war für ihn schnell abgehakt: „Ich   holen, denn für Ana-Filipa Vieira Frias
Zeit zuhause. Und er legte nach der Wie-   war noch keine zwei Wochen hier, da        geht es gleich weiter. Nach ihrem erfolg-
deröffnung seiner Bildungseinrichtung      wusste ich: Gastronomie passt!“ Und so     reichen Abschluss als Bäckerfachwerke-
einen erfolgreichen Endspurt hin: Wie      blieb Thomas auch nach der BvB im Be-      rin will die 19-Jährige nun in einem wei-
nahezu alle anderen Azubis hat Thomas      rufsbildungswerk und machte dort eine      teren Lehrjahr Bäckergesellin werden –
es geschafft und nun sein Zeugnis in der   Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewer-     und dann auch noch ihren Traum von
Tasche – und gleichzeitig auch ein Stel-   be. „Er war immer mit Leib und Seele       der Konditorin in Angriff nehmen. So
lenangebot aus seiner Heimat.              dabei“, lobt die stellvertretende Be-      vieles Corona auch durcheinander
                                           triebsleiterin Roswitha Dvorak den Ex-     brachte – Zukunftspläne werden also
Mit Leib und Seele dabei                   Azubi, für den sein Beruf wohl tatsäch-    weiterhin fleißig geschmiedet. (ck)
Von dort zog es ihn vor ein paar Jahren    lich auch Berufung ist.
zur rund einjährigen Berufsvorbereiten-
den Bildungsmaßnahme (BvB) ins Ra-
vensburger BBW. Unter anderem steht

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Impuls

                                     Wir haben uns verändert
                                                                                                  von Prälat Michael H. F. Brock

Ich vermisse die verschwenderische Nä-     anzeige. Aber das Bedürfnis danach             Ersatz ist für eine Umarmung, und erle-
he, die es früher gab. Eine Umarmung,      steigt. Es schmerzt der Gedanke, dass          be unendliche Spannung in mir. Die Au-
ein Händedruck, ein Kuss. Wir halten       Abstand und vermehrte Einsamkeit zu            gen müssen lernen zu umarmen, und
einander auf Abstand. Covid-19 hat uns     unserer neuen Normalität wird. Wir ge-         meine Blicke müssen bei meinem Ge-
verändert. Oder besser: die Angst davor.   hen ganz unterschiedlich damit um. Es          genüber Nähe spüren lassen, die be-
Ich finde alle Maßnahmen nachvollzieh-     gibt Menschen, die es gar nicht mehr er-       rührt. Meine Worte müssen es versu-
bar. Mund- und Nasenschutz. Abstand,       tragen. Sie müssen Vorschriften bre-           chen und mein Körper Nähe ausstrah-
Lüften, Hygiene. Und doch wehrt sich       chen und flüchten sich in eine Normali-        len. Viele leben in Familien, in denen
alles in meinem Inneren. Ich will rie-     tät, die es gar nicht mehr gibt. Andere        wirkliche Nähe erlaubt ist, oder in häus-
chen, spüren, berühren. Ja, ich will,      verkriechen sich daheim. Ich habe kei-         licher Gemeinschaft. Sie so zu gestalten,
dass es endlich vorbei ist. Eine Weile     ne endgültigen Antworten, nur vorsich-         dass Nähe auch wohltuend ist, ist die
Abstand war ja okay. Eine Weile eige-      tige Gedanken. Die Zeit des „Alles ist         neue Normalität. Sie nicht als selbstver-
schränkt zu sein, war auch okay. Aber      machbar“ ist endgültig vorbei. Und ganz        ständlich zu betrachten, gehört dazu,
jetzt muss es doch endlich vorbei sein.    einfach gesagt: Wir sind sterbliche, zer-      sie zu pflegen und wertzuschätzen.
Aber es ist nicht vorbei. Das zu leugnen   brechliche, schutzbedürftige Menschen.         Dass Nähe ein Schatz ist, der das Leben
wäre unvernünftig und unverantwort-        Das waren wir zwar schon immer. Aber           erst lebenswert macht, spüre ich in die-
lich. Aber was machen wir jetzt?           jetzt stellt sich die Frage ernster denn je,   sen Tagen. Hoffentlich bleibt das, wenn
Vielleicht wäre es gut, einander einzu-    wie gehen wir mit unserer Sterblichkeit        alles wieder „normal“ ist. Dass wir ein
gestehen, dass die letzten Monate uns      um.                                            Gefühl füreinander haben, was
bereits verändert haben. Die innere An-    Für mich kann ich sagen: Ich halte die         schmerzt und uns zerbrechen lässt, und
gespanntheit ist zu einem bleibenden       Vorschriften ein, halte Abstand, gehe          wie heilsam es sein darf, einander wie-
Zustand in uns geworden. Wieviel Ab-       nicht auf Feiern. Aber ich muss neue           der berühren zu dürfen, wo heute nur
stand tut gut oder muss sein? Auf wie-     „Umarmungen“ finden bei Menschen,              Worte und Zeichen sein können. Die
viel Nähe können oder müssen wir ver-      die meine Nähe brauchen. Ich meine             Zerrissenheit bleibt und auch die Sehn-
zichten, womöglich dauerhaft? Mit wie-     wirkliche Nähe in untröstlichen Situa-         sucht.
viel Unverständnis müssen wir rechnen      tionen. Ich versuche Begegnungen zu
und es bleibend ertragen? Die Besuche      schaffen, die nicht ansteckend sind. Ich       Diesen und andere Impulse
sind weniger geworden. Hände reichen       telefoniere mehr, schreibe Online-Bot-         können Sie auch anhören:
wir uns keine mehr. Umarmung? Fehl-        schaften. Spüre, dass es kein wirklicher       www.stiftung-liebenau.de/impulse

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