Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on

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Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
AUSGABE 3/2021

recke:in             Das Magazin der Graf Recke Stiftung

       Verlust und
       Solidarität
Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
Wer wir                                          Wie Sie uns
sind und was                                     unterstützen
wir tun                                          können
Die Graf Recke Stiftung ist eine der ältesten    Wir brauchen Sie! Denn nur durch
diakonischen Einrichtungen Deutschlands.         engagierte Mitstreitende können wir
1822 gründete Graf von der Recke-Volmerstein     unseren Nächsten Herzenswünsche
ein »Rettungshaus« für Straßenkinder in Düs-     erfüllen und besondere Projekte ermög-
selthal. Zur Kinder- und Jugendhilfe kamen       lichen. Zusammen sind wir einfach stär-
die Behindertenhilfe (1986) und die Altenhilfe   ker, bewegen mehr und erleben mehr
(1995) hinzu. Heute besteht die Stiftung aus     Freude! Mit Ihnen an unserer Seite kön-
den Geschäftsbereichen Graf Recke Erziehung      nen wir das Leben besser meistern.
& Bildung, Graf Recke Sozialpsychiatrie &        In jeder recke:in stellen wir Projekte vor,
Heilpädagogik und Graf Recke Wohnen &            bei denen Sie uns helfen können. Der
Pflege. Ebenfalls zur Stiftung gehören die       Wiederaufbau nach dem Hochwasser
Graf Recke Pädagogik gGmbH, die Jugendhilfe      im Sommer kostet viel Kraft, Zeit und
Grünau in Bad Salzuflen, die Graf-Recke-         Geld. Wie Sie helfen können, lesen Sie
Kindertagesstätten gGmbH, das Seniorenheim       ab Seite 8.
Haus Berlin gGmbH in Neumünster und die
Dienstleistungsgesellschaft DiFS GmbH.

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                                                                                               recke:in
                                                                                               Das Magazin der Graf Recke Stiftung
                                                                                               Ausgabe 3/2021
                                                                                               Herausgeber Vorstand der Graf Recke Stiftung
                                                                                               Einbrunger Straße 82, 40489 Düsseldorf
                                                                                               Redaktion Referat Kommunikation, Kultur & Fundraising
                                                                                               der Graf Recke Stiftung, Dr. Roelf Bleeker
                                                                                               Gestaltung Claudia Ott, Nils-Hendrik Zündorf
                                                                                               Bildnachweis Reimund Weidinger, Dirk Bannert, Daniel
                                                                                               Sass, Graf Recke Stiftung, Özlem Yılmazer, Achim Graf,
                                                                                               privat, Bro Vector/Adobe Stock, Cienpies Design/Adobe
                                                                                               Stock, GarkushaArt/Adobe Stock, Amelia Bartlett/Unsplash
                                                                                               Druckerei V+V Sofortdruck GmbH, 4.000 Exemplare
                                                                                               Umweltschutz recke:in wird CO2-neutral gedruckt.
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Editorial

                    Petra Skodzig und Pfarrer Markus Eisele.

           Liebe    »alles wirkliche Leben ist Begegnung«, hat
                    einmal Martin Buber geschrieben. Der jüdi-
                                                                    ­ ufnahmekapazitäten absorbieren, wollen
                                                                    A
                                                                    wir Sie heute mitnehmen zu den Men-
         Leserin,   sche Religionsphilosoph meinte damit nicht
                    die flüchtige Begegnung, wie sie auf der
                                                                    schen und ihren Geschichten, die Ihre
                                                                    Aufmerksamkeit verdient haben. Lesen
           lieber   Straße oft zufällig und en passant geschieht.   Sie von Charlotte Wilts, die durch die Flut
                    Gemeint ist vielmehr die Begegnung, die zu      auf unserem Stiftungsgelände an der Düs-
           Leser,   einer Beziehung führt. Mensch und Gott,         sel alles verloren hat und sich dennoch
                    so Buber, existierten nur durch und in der      nicht unterkriegen lässt. Oder von Toni
                    Beziehung und Begegnung. Wo wir Men-            Scheibenberger, der als Altenpfleger etwas
                    schen einander auf Du und Du begegnen,          Licht in das Leben der Bewohnerinnen
                    da spüren wir etwas von dieser Kraft und        und Bewohner unseres Seniorenzentrums
                    von der uneingeschränkten Würde des             Zum Königshof bringen will. Oder von
                    Gegenübers.                                     Wolfram Hutsteiner, der erst kürzlich
                        »Fokus Mensch – ohne Wenn und               seinen Abschluss als Erzieher gemacht
                    Aber« lautet das Jahresthema 2021/2023          und nun im Alter von 44 Jahren als Spät-
                    in der Graf Recke Stiftung. Klingt wie die      berufener seinen Traumberuf in einer unse-
                    oft gebrauchte Floskel, dass der Mensch         rer Wohngruppen gefunden hat. Er sagt:
                    im Mittelpunkt stehe, geht aber darüber         »Unsere Kinder werden von uns gesehen,
                    hinaus. Denn »der Mensch im Mittelpunkt«        wertschätzend behandelt und achtsam
                    wäre für ein diakonisches Unternehmen           begleitet.«
                    ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit.          Die Bibel hat den tiefen Seufzer von
                    Das Jahresthema unterstreicht vor allem,        Hagar, einer jungen Frau, festgehalten:
                    dass es bei uns auch ohne einschränkende        »Du bist der Gott, der mich sieht.« (1. Buch
                    Bedingungen geschehen soll. Dazu müssen         Mose, 16. Kapitel, Vers 13). Hagar hat zuvor
                    immer wieder unsere besondere Haltung           Unglück, Gewalt und Übergriffe erlebt. Von
                    und der besondere Blick für die Nächsten        geachteter Menschenwürde keine Spur. In
                    kultiviert werden. Moderne Unternehmen,         der Begegnung mit Gott hat sie Stärkung
                    die auf solch ein Wertfundament bauen,          erfahren.
                    nennen sich heute oft »value based«. Die            Wie wichtig ist es, wenn Bewohner und
                    Graf Recke Stiftung ist das schon seit fast     Klientinnen bei uns genauso aufatmen
                    200 Jahren, eben mit »Fokus Mensch«.            können. Weil einer unserer Mitarbeitenden
                        Die immer noch spürbaren Ein-               ihre Sorge und ihre Bedürfnisse gesehen
                    schränkungen durch das Coronavirus,             hat und auch das, was gelingt und Freude
                    aber auch unser anstehendes 200-jähriges        macht. Weil ihnen Aufmerksamkeit und
                    Jubiläum sind übrigens der Grund dafür,         Menschenwürde geschenkt wurden: »Du
                    dass unser Jahresthema 2021 auch das            bist ein Mensch, der mich sieht!« Überall da
                    Jahresthema 2023 sein wird. Damit es nicht      wird aus Begegnung wirkliches Leben.
                    zwischen der unerfreulichen Pandemie und            Wir wünschen gute Lektüre und interes-
                    dem erfreulichen Jubiläum verloren geht,        sante Begegnungen!
                    steigen wir 2023 noch einmal tiefer ein in
                    das Thema »Fokus Mensch – ohne Wenn
                    und Aber«.                                      Ihr		                    Ihre
                        In einer Aufmerksamkeitsgesell-
                    schaft, in der sich täglich so viele wichtige
                    und scheinbar wichtige Nachrichten in           Pfarrer Markus Eisele    Petra Skodzig
                    den Vordergrund drängen und unsere              Theologischer Vorstand   Finanzvorstand

3/2021              recke:in                                                                                   3
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8

    Inhalt

    6
    Kreuz & quer

    8
    Die Flut hinterlässt Zerstörung –
    und schafft Solidarität
    Das Hochwasser in Grafenberg und seine Folgen

    16
    Theologischer Impuls
    Furchtlos?

    17
    Angekommen
    Wolfram Hutsteiner ist nach verschlungenen
    Wegen beruflich am Ziel                         8
    18
    Ein Gefühl von Freiheit
    Leon hat es gepackt und sein Abi                20              24
    geschafft – gegen alle Widrigkeiten

    20
    Seitenblick
    Kerstin Sittig lebt ihre Leidenschaft
    seit einem Vierteljahrhundert

    22
    Ihre Unterstützung
    Was Halt gibt

    24
    Wenn die Nabe surrt …
    Die Stadtradel-Champions der
    Graf Recke Stiftung

4                                                        recke:in        3/2021
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ende
                     Ihre Siplft!
                          h

                                 Charlotte Wilts muss mit 91 Jahren
                                 noch mal neu starten. Sie ist eine
                                 von vielen Seniorinnen und Seni-
                                 oren, die beim Hochwasser ihr Hab
                                 und Gut verloren haben. Für sie
                                 und die betroffenen ­Einrichtungen
                                 in Düsseldorf-Grafenberg hat
                                 die Graf Recke Stiftung einen
                                 Spenden­aufruf gestartet. Denn für
                    8            den Wiederaufbau wird dringend
                                 Hilfe benötigt!

                    28

                                     26
                                     In dunklen Stunden ein Licht
                                     Toni Scheibenberger fällt auf – nicht nur äußerlich

                                     28
                                     Wieder zu Hause
                                     Der Umzug ins Seniorenheim war für das
                                     Ehepaar Köhn die richtige Entscheidung

                                     30
                                     recke:on – weiterlesen im Newsportal
                                     Von einsam zu zweisam – Friedensengel mit
                                     Geschichte – Staffelstab übergeben
                    18
3/2021   recke:in                                                                          5
Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
KREUZ & QUER

    Erzähl’s in Gebärdensprache:
    Der DGS-Slam                         Der DGS-Slam der Graf Recke Stiftung findet nach pandemiebe-
                                         dingter Pause im September live und hybrid im Flingerner Kultur-
                                         zentrum zakk statt. Unter dem Motto »Erzähl deine Geschichte

    ist wieder da
                                         in Deutscher Gebärdensprache (DGS)!« lädt der DGS-Treff am
                                         Sonntag, 19. September 2021, um 16 Uhr ins zakk in die Fichten-
                                         straße 40 in 40223 Düsseldorf-Flingern. Dank der Kooperation mit
                                         dem Kulturzentrum wird die Veranstaltung nicht nur live statt-
                                         finden, sondern parallel auch online gestreamt. »Endlich wieder
    Nach der Corona-Zwangspause ist er   Poesie auf der Bühne«, meint Christiane Brinkmann vom zakk.
    wieder da: der DGS-Slam. Auch am     »Geschichten lesen ist das eine, aber die Poeten auf der Bühne
    19. September gelten im              erleben, das ist das besondere Liveerlebnis.« Je fünf Minuten lang
    Kulturzentrum zakk in                sind die Spots der Bühne auf die jungen Slammer gerichtet, die
    Düsseldorf-Flingern noch die             das Publikum in der visuellen Sprache von ihrer Geschichte
                                                 überzeugen wollen. Die inklusive Veranstaltung stärkt den
    Vorsichtsmaßnahmen                               Austausch zwischen jungen Menschen mit und ohne
    der Pandemie, aber                                   Hörbehinderungen wie auch die Deutsche Gebär-
    die Vorfreude ist                                        densprache (DGS), die bundesweit von etwa
    groß.                                                        200.000 Menschen verwendet wird.

                                                                       Mehr erfahren unter
                                                                             www.recke-on.de/dgs-slam

6                                                 recke:in                                            3/2021
Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
KREUZ & QUER

                                                                        Märchen
                                                                        in Acht
                                                                        Familienfreizeit in der Eifel stand
                                                                        im Zeichen von Teamfähigkeit und
                                                                        unter einem besonderen Motto.

                                                                        Familienfreizeit im Örtchen Acht in der Eifel: Sieben Familien aus
                                                                        dem Umfeld der Fünf-Tage-Gruppe Ratingen erlebten tolle Gemein-
                                                                        schaftsspiele und erhielten zahlreiche Aufgaben, die es als Familie
                                                                        oder Team zu bewältigen galt. Ob lange Wanderungen, ein Besuch
                                                                        im Kletterpark oder andere Aktionen: Die Teilnehmenden lernten,
                                                                        eigene Grenzen zu erkennen, aber auch über sich hinauszuwach-
                                                                        sen, berichtet der Teamleiter Oliver Nitschmann. Und er erklärt
                                                                        auch, warum die Reisenden auf dem Foto so märchenhaft ausse-
                                                                        hen: Märchen waren das Motto dieser Freizeit. »In Spielen beweisen
                                                                        die Teilnehmenden innerhalb der eigenen Familie ihre Teamfähig-
                                                                        keit, um sich gegenseitig zu unterstützen, anzufeuern oder auch zu
                                                                        trösten.« Die Fünf-Tages-Gruppe Ratingen befasse sich seit zehn
                                                                        Jahren mit wechselnden Themen in den Freizeiten und habe dies
                                                                        von der Fünf-Tages-Gruppe Wittlaer übernommen, die schon fast
                                                                        zwei Jahrzehnte so arbeite, berichtet Oliver Nitschmann.

         Graf Recke Stiftung
         übernimmt zwei
         weitere Kitas
         Die Kitalandschaft der Graf Recke Stiftung wächst. Nun gibt es zwei
         weitere Einrichtungen unter dem Dach der Graf-Recke-Kindertages-
         stätten gGmbH. Eine davon ist ganz neu und besonders naturnah.

         Die Graf Recke Stiftung hat zum 1. August 2021 die Kinderta-
         geseinrichtung Arche übernommen. Damit wechselt bereits
         die dritte und damit letzte Kita der Vereinten Evangelischen
         Kirchengemeinde (VEK) Mülheim an der Ruhr in die Träger-
         schaft der Graf-Recke-Kindertagesstätten gGmbH. Mitte
         August nahm außerdem eine ganz neue Kindertageseinrich-
         tung ihren Betrieb auf: Der Naturkindergarten in Bad Salzuf-
         len namens »Grünauer Strolche« besteht aus einer einzigen
         Gruppe und wird als Unterkunft einen etwa 30 Quadrat-
         meter großen Bauwagen beziehen. Dieser wiederum steht
         auf dem Außengelände des Jugendzentrums »@on!« an der
         Uferstraße 50 im Ortsteil Schötmar. Die Graf-Recke-Kinder-
         tagesstätten gGmbH, eine Tochtergesellschaft der Graf Recke
         Stiftung, betreibt damit inzwischen zwölf Kindertagesein-
         richtungen.

         Mehr erfahren unter
           www.recke-on.de/kitas2021

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Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
GRAF RECKE STIFTUNG

Die Flut
hinterlässt
Zerstörung –
und schafft
Solidarität
Von Özlem Yılmazer

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Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
GRAF RECKE STIFTUNG

                             Das Hochwasser hat in Düsseldorf-Grafenberg viele Menschen in der Nacht aus
                             ihren Betten gerissen. Auch Charlotte Wilts stand wie viele andere Seniorinnen
                             und Senioren in ihrer Wohnung ohne Strom im Dunkeln und knöcheltief im Wasser.
                             Die Flut aus der Düssel war auch in ihre Wohnung eingedrungen. Alle konnten
                             in Sicherheit gebracht werden und sind wohlauf. Der Schock kam erst später,
                             als die Ausmaße klar wurden: Viel Hab und Gut ist verloren. Ebenso persönliche
                             Erinnerungsstücke. Die 91-Jährige ist dennoch gefasst. Auch, weil es viele
                             helfende Hände gab. Neben Verlust erfahren die Betroffenen wertvolle Solidarität.

A
            lles futsch, alles futsch«, sagt         gedrungen waren. »Ich habe sofort die kleine    ES WAR UNFASSBAR
            Charlotte Wilts traurig, als sie         Taschenlampe geschnappt und gedacht: Was        Während die meisten Bewohnerinnen und
            mit ihrem Gehstock in ihre 50            nehme ich denn mit?«                            Bewohner der dort ansässigen Graf Recke
            Quadratmeter große Zwei-                     Charlotte Wilts ist Ende August 91 Jahre    Wohnen & Pflege und Graf Recke Sozial-
zimmer-Wohnung tritt. »Das war mal mein              alt geworden. Sie lebt seit einem Jahrzehnt     psychiatrie & Heilpädagogik schliefen,
Reich. Ich habe mich hier gefühlt wie im             als Mieterin der Graf Recke Stiftung in ihrer   waren die Mitarbeitenden zusammen mit
Himmel.« Gemeinsam mit ihrer Enkelin                 seniorengerechten Wohnung in Düssel-            Feuerwehr, DLRG und weiteren Hilfswerken
Laura schaut sie in eine inzwischen leer             dorf-Grafenberg, wo sie ambulante Service-      bereits seit Stunden dabei, Vorkehrungen zu
geräumte Erdgeschoss-Wohnung: Spuren                 leistungen erhält. Von der Nacht zum 15. Juli   treffen und abzusichern, was abzusichern
des Hochwassers der Düssel sind an Wänden,           bis zum folgenden Wochenende wurden alle        war. So auch Mitarbeiterin Christine ­Noglik
Böden und aufgeweichten Türen zu sehen.              knapp 60 Bewohnerinnen und Bewohner in          vom Service-Wohnen Düsselthal. »Es lief
    Draußen war es noch dunkel, als einer            Sicherheit gebracht, da das Hochwasser der      alles so schnell voll. Es war unfassbar. Wir
der vielen freiwilligen Helfer in der Nacht der      Düssel, eines Nebenflusses des Rheins, das      standen bis zu den Knien im Wasser. An eini-
Flut an Charlotte Wilts’ Tür trommelte und           gesamte Gelände überflutet hatte. In zwei       gen Stellen sogar bis an die Oberschenkel.«
sie weckte. Er rief hinein, sie solle sich schnell   Wohnhäusern war der Strom ausgefallen. Weil     Gemeinsam mit ihrem Kollegen Kay Wiesner
etwas anziehen und sofort rauskommen.                alle – vom Hausmeister bis zum Geschäfts-       und ihrem Ehemann war sie die ganze Nacht
»Und da habe ich wie doof dagestanden im             bereichsleiter – vor Ort schnell handelten      im Einsatz. »Mit jeder Welle kamen 20 bis
Wasser!« Denn als sie aus ihrem Bett stieg,          und sich gegenseitig halfen, blieben die dort   30 Zentimeter Wasser auf einen Schwung«,
stand sie schon in den Fluten, die in der Nacht      lebenden und arbeitenden Menschen unver-        berichtet der Ehemann von Christine Noglik,
von ihr unbemerkt in ihre Wohnung ein-               sehrt und konnten gut versorgt werden.          der wie viele a­ ndere unermüdlich mithalf,

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Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
GRAF RECKE STIFTUNG

Sandsäcke an den neuralgischen Punkten: Reimund Weidinger und
Christine Noglik (rechts) kämpften mit allen Mitteln gegen die Fluten.

die Lage unter Kontrolle zu bringen. Schutz-        ner für die Entsorgung weiter zu beladen.
maßnahmen und Vorkehrungen waren                        Nach der tagelangen Bergung werden
bereits am 14. Juli getroffen worden, mit           die Ausmaße klar: Hauselektrik und Hei-
einer Katastrophe dieses Ausmaßes hatte             zung sind zerstört, Keller, Geschossdecken,
jedoch niemand gerechnet.                           Böden, Fahrstühle und Wände müssen
                                                    grundsaniert werden, auch Ausstattung und
GENIALE HILFE                                       Inneneinrichtung sind betroffen. Allein die
18 Wohnungen des Service-Wohnens Düs-               reinen Sanierungskosten werden aktuell auf
selthal, fast alle Keller der Einrichtungen der     mindestens 750.000 Euro geschätzt. Hinzu-
Graf Recke Wohnen & Pflege und Graf Recke           kommen werden unter anderem noch Kos-
Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik standen           ten für die Neuanschaffungen. Dramatischer
unter Wasser. Das Haus an der Düssel, ein           sind aber die Folgen für die Bewohner der
Wohnhaus für Menschen mit psychischen               betroffenen 18 von insgesamt 54 senioren-
Erkrankungen, war zwischenzeitlich nur              gerechten Wohnungen. Viele haben ein-
noch per Boot zu erreichen, das Gemein-             fach alles verloren: Möbel, Haushaltsgeräte,
schaftshaus samt Büro und die Räume der             Hilfsmittel, Kleidung, Bücher, Fotoalben
Arbeits- und Ergotherapie wurden über-              und viele weitere persönliche Erinnerungs-
flutet. »Wir konnten zugucken, wie das Was-         stücke. »Die Meisten benötigen jetzt Unter-
ser gestiegen ist. Wir Mitarbeitenden hatten        stützung, weil sie einfach nicht die finanziel-
Tränen im Gesicht, weil es ganz einfach             len Ressourcen haben, um sich Sachen neu
schlimm ist. Das Schöne aber ist, dass so           zu kaufen«, berichtet Christine Noglik und         Pfarrer Markus E­ isele. Es sei klar, dass ein
viele Helfer hierhergekommen sind. Egal             fügt hinzu: »Eine Bewohnerin fragte mich,          Großteil der Hochwasserschäden nicht über
ob Feuerwehr, DLRG, DRK, ASB, THW –                 was mit den Lebensmitteln in Kühlschrank           Versicherungen getragen werde, sagt Finanz-
die waren alle einfach nur genial«, sagt            und Gefriertruhe sei. Für sie ist der gefüllte     vorstand Petra Skodzig mit Blick auf die
Christine Noglik während der ersten Auf-            Kühlschrank ein Vermögen wert. Ich habe            Bewohner und betroffenen Einrichtungen.
räumarbeiten. Ihr Handy klingelt ununter-           auch Mieter, die, wenn sie am Monatsende           Daher sei die Unterstützung durch Spen-
brochen, Bewohner und Angehörige haben              eine schwarze Null auf dem Konto haben,            den- und Fördermittel weiterhin wichtig,
viele Fragen. Christine Noglik und ihre Kolle-      gut dastehen. Es ist wirklich traurig.« Alles,     um den Wiederaufbau voranzubringen.
gin Andrea Dürken versuchen allen gerecht           was noch zu retten war, wurde erst mal ein-        »Wir tun alles dafür, dass alle Bewohner
zu werden. Es scheint ihnen zu gelingen.            gelagert. Bis der Einzug wieder möglich ist.       bald wieder in ihr Zuhause zurückkehren
Ein Hilfeaufruf auf Facebook wirkt Wunder,                                                             und auch unsere Angebote für die von uns
viele Menschen wollen ehrenamtlich helfen.          WEITERE UNTERSTÜTZUNG BENÖTIGT                     betreuten Menschen wieder aufgenommen
Es kommen zahlreiche freiwillige Helfer,            Die Stiftung hat für die betroffenen               werden können!«
weitere Mitarbeitende und Angehörige und            Privatpersonen wie für ihre von der Flut
packen tagelang überall mit an. So auch Pia:        beschädigten Einrichtungen zu Spenden              SCHICKSALSGEMEINSCHAFT ÜBER NACHT
»Wir sind aus Düsseldorf und wollen nicht           aufgerufen, sie unterstützt auch betroffene        Auch Charlotte Wilts aus Ostbrandenburg
nur zuschauen, wie andere Leid ertragen             Mitarbeitende bei der Beantragung von              hat ihr Hab und Gut verloren. In der Nacht
müssen. Wir wollen einfach helfen!« Tobias          Soforthilfen und wird überall, wo nötig,           des Hochwassers bewahrte die 91-Jährige
Töpperwein wurde von seinem Arbeitgeber             auch in Vorleistung gehen. »Es ist wich-           einen kühlen Kopf. Sie zog sich rasch an,
Henkel für die tatkräftige Hilfe von der Arbeit     tig, dass wir zunächst unsere Seniorinnen          schnappte schnell noch Geldbeutel und
freigestellt: »Ich bin seit drei Tagen hier und     und Senioren und auch die betroffenen Mit-         Fahrkarte. »Dann standen da schon die jun-
kann helfen.« Der 35-Jährige geht mit sei-          arbeitenden unterstützen. Gott sei Dank ist        gen Leute von der DLRG und halfen uns,
nem Kollegen zurück in den nächsten Keller,         niemand verletzt worden«, betont der Theo-         über die Sandsäcke zu steigen«, berichtet die
um den gerade angelieferten dritten Contai-         logische Vorstand der Graf Recke Stiftung,         Seniorin, dankbar. Ihren Humor hat sie nicht

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GRAF RECKE STIFTUNG

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GRAF RECKE STIFTUNG

Britta Guschke, 59,                            eine große Belastung. Es dauert, bis man          der Graf Recke Stiftung in Grafenberg im
Klientin der Tagesstätte                       das verarbeitet hat. Im überschwemmten            Einsatz. Ich habe mehrere Tage geholfen,
»Bis zur Schließung wegen Corona habe          Keller lagen unter anderem viele Fotoalben        es war viel gleichzeitig zu tun. Wir haben
ich im Café Geistesblitz hier auf dem Areal    mit Erinnerungen, die zerstört wurden.            in einem Keller das Wasser abgepumpt
gearbeitet, mal in der Küche und mal im        Das waren Bilder ganzer Leben, von Ein-           und nebenan Sperrmüll rausgetragen. Das
Service. Das Café ist vom Hochwasser zum       schulungen, Hochzeiten oder Reisen. Aber:         Belastende war, das gesamte Hab und Gut
Glück verschont geblieben. Aber ich kam        Es ist niemand körperlich zu Schaden              der alten Leute in Container zu werfen.
am Tag nach dem Unglück hierher, um zu         gekommen. Wir können daher versuchen,             Aber ich würde immer wieder helfen. Gera-
sehen, was wirklich passiert ist. Das alles    die Welt wieder so herzustellen, dass die         de wenn man sieht, dass andere Leute ganz
hat mich sehr betroffen gemacht und ich        Menschen sich wieder zu Hause fühlen.             andere Probleme haben. Deshalb finde
habe deshalb meine Hilfe angeboten. In         Und das treibt mich an.«                          ich es toll, dass Henkel auch finanzielle
der ersten Zeit waren allerdings nur Pro-                                                        Hilfe angeboten hat und dazu Produkt-
fis gefragt. Am Sonntag danach habe ich        Dr. Gerlind Rurik, 84,                            spenden im Wert von einer halben Million
dann zusammen mit anderen Freiwilligen         Bewohnerin Service-Wohnen                         für die Flutopfer in der ganzen Region zur
die erste überflutete Wohnung im Erd-          »Ich wohne im sechsten Jahr an der Grafen-        Verfügung stellt, vom Waschmittel bis zu
geschoss freigeräumt. Es war das Zuhause       berger Allee und ich wohne gerne dort.            Körperpflegeprodukten. Soziales Enga-
einer Weltenbummlerin, sie hatte Dinge         Es ist ruhig und es gibt einen schönen,           gement ist für mich eine Selbstverständ-
von überallher gesammelt, die jetzt weg-       gepflegten Garten, das ganze Jahr über            lichkeit. Ich habe zum Beispiel 15 Jahre
geworfen werden mussten. Das ist so, als       blüht irgendwas. Schade, dass ich im              lang Handballmannschaften trainiert.
ob man ein halbes Leben auslöscht. Es war      Moment nicht da sein kann. Das Wasser             Ich finde, wir müssen als Gesellschaft
schlimm, das zu erleben. Das war nicht         hat uns vertrieben. In der Flutnacht konn-        zusammenhalten. Deshalb habe ich mich
nur körperlich meine Höchstleistung seit       ten wir alleine nicht mehr das Gebäude            auch so gefreut, dass immer mehr Helfer
Langem, das hat mich auch mental sehr          verlassen, draußen stand mir das Wasser           nach Grafenberg kamen. Darunter waren
gefordert. Ich habe in diesen Tagen nur        bis übers Knie. Aber zum Glück gab es             vier Jugendliche aus Mönchengladbach,
funktioniert und versucht, so viel wie mög-    kompetente Helfer, die uns zum Boot und           die sich extra von ihrer Mutter hatten her-
lich zu retten. In meinem Leben habe ich       damit bis zum Bus gebracht haben. Ich bin         fahren lassen. Das fand ich ganz toll.«
oft Hilfe bekommen von Menschen, die           kein aufgeregter Mensch und bin ruhig
nicht dafür bezahlt wurden. Jetzt war für      geblieben, wie die anderen Bewohner auch.         Christina Puntus, 36,
mich der Moment, ein Stück davon zurück-       Die Verwaltungsleiterin suchte noch in der        Klientin der Tagesstätte
zugeben. Es war auf jeden Fall richtig und     Nacht am Handy eine Bleibe für uns, seit-         »Ich arbeite seit knapp drei Jahren eigent-
hat mich auch selbst weitergebracht. Ich       dem wohne ich in Notunterkünften. Meine           lich bei der Graf Recke Stiftung in der
bin über meinen Schatten gesprungen und        eigene Wohnung liegt im ersten Stock, das         Wäscherei. Ich finde die Arbeit sehr span-
bin jetzt auch ein bisschen stolz, dass ich    war mein Glück. Aufgrund einer aktuellen          nend und abwechslungsreich, wir sind
den Mut hatte. Einfach zu fragen – und         Einschränkung beim Gehen kann ich aber            dort wie eine kleine Familie. Doch nach
dann konkret zu helfen.«                       zurzeit nicht zurück, weil der Aufzug noch        dem Hochwasser war die Wäscherei nicht
                                               nicht funktioniert. Meine persönlichen            mehr begehbar. Ich vermisse die Arbeit
Udo Hamacher, 49,                              Gegenstände sind aber unversehrt, bis             sehr und hatte mich deshalb entschieden,
Haustechniker, Zentrale Dienste                auf meine Winterkleidung, die lagerte im          mich in dieser Zeit anders einzubringen.
»Eigentlich betreuen wir zu dritt die          Keller. Dazu ein Berg an Bettwäsche und           Nach den Hochwassermeldungen habe ich
Liegenschaften der Graf Recke Stiftung,        Handtüchern, die ich zu Weihnachten 20            deshalb mehrere Medien angeschrieben,
nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in       bedürftigen Familien spenden wollte, das          wo ich helfen könnte, aber keine Antwort
Wuppertal, Hilden oder Oberhausen. Aber        ist jetzt alles weg. Ich muss jetzt versuchen,    bekommen. Dann habe ich den Aufruf vom
seit Mitte Juli bin ich im Prinzip jeden Tag   das wieder zusammenzubringen, und bis             Service-Wohnen der Stiftung auf Facebook
nur noch an der Grafenberger Allee im Ein-     Dezember ist es nicht mehr lang. Ich mache        entdeckt und mich sofort gemeldet. Auf dem
satz. Was wir hier seit Wochen erledigen,      es wie Sisyphus: Nicht entmutigen lassen,         Gelände habe ich nach dem Hochwasser
sind vor allem Aufräumarbeiten. Danach         ich fange wieder neu an. Und wir müssen           fünf Tage lang ehrenamtlich geholfen. Wir
versuchen wir gemeinsam mit diversen           uns um die Leute kümmern, die zum Teil            haben unter anderem die Wohnung einer
Handwerker-Kollegen und vielen Frei-           alles verloren haben, dass die wenigstens         älteren Dame ausgeräumt und konnten zum
willigen, die Räumlichkeiten wieder intakt     wieder den Kühlschrank vollkriegen.«              Glück einiges retten. Das war für mich alles
zu bekommen. Die unteren Wohnungen                                                               sehr emotional. Zu erleben, wie verwirrt die
kommen um eine Komplettsanierung nicht         Tobias Töpperwein, 35,                            alten Leute teilweise waren. Und dass die
herum. Es gibt seit Wochen so viel zu tun,     IT-Consultant bei Henkel                          Menschen teilweise alles verloren haben,
dass man kaum weiß, wo man anfangen            »Ich betreue bei Henkel eigentlich ein Pro-       geerbte Möbel und Erinnerungsstücke zum
soll. Aber wir müssen mit System vorgehen      gramm, das im Klebstoffbereich die welt-          Beispiel. Ich habe leider nicht die Möglich-
und mit den anderen Beteiligten Hand in        weiten Material-Lieferketten sicherstellt.        keiten, hier groß finanziell zu unterstützen.
Hand arbeiten, sonst würde es aus dem          Nach der Flutkatastrophe hat mein Arbeit-         Und da wollte ich persönlich anpacken. Ich
Ruder laufen. Unser Ziel ist es, vor allem     geber aber schnell reagiert und möglichst         habe dabei und danach ganz viel Dankbar-
die Wohnungen so gut und so schnell wie        allen, die ehrenamtlich helfen wollten,           keit durch die Menschen erfahren. Für mich
möglich wiederherzurichten. Es ist ja das      eine Freistellung ermöglicht. Ich bin dann        steht deshalb fest: Ich würde das immer wie-
Zuhause vieler älterer Menschen. Das hier      zum Flut-Infopoint in Gerresheim gefahren         der so machen.«
alles unter Wasser zu erleben, war seelisch    und 20 Minuten später war ich schon bei           Aufgezeichnet von Achim Graf

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GRAF RECKE STIFTUNG

                       ende
              Ihre Siplft!
                   h                »Jeder hat jedem geholfen.« Schon am nächsten Tag begannen die Aufräumarbeiten.

                                    verloren: »Dann haben wir dagesessen wie        auf das überflutete Gelände und in ihre
Bildlegende
                                    aufgereiht auf einer Schnur, die ganzen alten   geliebte Wohnung. »Dann habe ich erst
                                    Tanten.« Beeindruckt von der Gefasstheit        mal einen Schock gekriegt. Alles im Eimer,
                                    der teils sehr betagten Bewohner ist der Lei-   alles!«, erzählt Wilts. Wie bei vielen kam
»Ihre Spende hilft uns
                                    ter der Graf Recke Wohnen & Pflege Joachim      der Schock erst Tage später beim Anblick
beim Wiederaufbau nach              Köhn, der ebenfalls in der Hochwassernacht      der Verwüstung. Nur ihrem Sekretär mit
der Flutkatastrophe                 mit angepackt hat: »Sie sind zum Teil mit       ihren wichtigen Dokumenten darin sei
in Grafenberg!                      hochgekrempelten Hosen durch das Wasser         glücklicherweise nichts passiert. »Der hat so
                                    gegangen. Das haben sie toll gemacht! Das       richtig dicke Strempel als Füße!« Fast alles
Herzlichen Dank für
                                    ist eine Generation, die das Leben nicht so     muss sie jetzt neu kaufen. Auf qualitativ
Ihre Unterstützung.«                kennengelernt hat wie wir und die viel Not      hochwertige und teure Möbel, wie sie sie
                                    wie Hunger nach dem Krieg erlebt hat.«          vor dem Hochwasser hatte, werde sie dann
                                    Die Ereignisse der Nacht sind an Joachim        verzichten müssen, und auch auf einen
                                    Köhn nicht spurlos vorbeigegangen: »Es war      Teppichboden. »Ich werde lernen, mit dem
                                    erschreckend zu sehen, wie schnell sich die     Wischmopp umzugehen«, sagt die 91-Jäh-
                                    Situation durch das Wasser ändern kann          rige. »Das können wir aber auch machen«,
                                    und wie anfällig unser modernes Leben ist.«     erwidert ihre 19-jährige Enkelin Laura, die
                                    Gemeinsam mit seinem Kollegen Reimund           ihrer Oma beim ­Ausräumen der Wohnung
                                    Weidinger, Leiter der Graf Recke Sozial-        geholfen hat. »Ich habe tolle Kinder und
Özlem Yılmazer,                     psychiatrie & Heilpädagogik, haben sie sich     Enkelkinder«, freut sich Charlotte Wilts.
Leiterin Fundraising
                                    mit Feuerwehr und DLRG immer wieder
                                    zu Lagebesprechungen zusammengefunden           RETTUNGSBOOT IM EINSATZ
                                    und das weitere Vorgehen koordiniert. »Alle     Auch für Reimund Weidinger wird die
Spendenkonto:
                                    haben in dieser Nacht Höchstleistungen          Nacht zum 15. Juli in Düsseldorf-Grafen-
Graf Recke Stiftung
KD-Bank eG Dortmund                 erbracht, die Einsatzkräfte, unsere Mit-        berg unvergessen bleiben. Er leitet die Graf
IBAN DE44 1006 1006 0022 1822 18    arbeitenden, die Bewohner selbst. Wir sind      Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik.
BIC GENODED1KDB                     auf einen Schlag eine Schicksalsgemein-         Auf dem Flutgelände befindet sich nicht
Stichwort: RI Fluthilfe             schaft geworden. Jeder hat jedem geholfen.«     nur seine Verwaltung, zudem sind dort auch
                                        Alle Bewohner sind nach der Evakuie-        Wohnhäuser für Menschen mit psychischen
T 0211. 4055-1800                   rung der Häuser in einer städtischen Not-       Erkrankungen, ein arbeitstherapeutisches
o.yilmazer@graf-recke-stiftung.de   unterkunft, bei Angehörigen und in sta-         Spielwarengeschäft, eine Gärtnerei, eine
                                    tionären Pflegeeinrichtungen der Graf           Küche, ein Seminarraum und Werkstätten
                                    Recke Stiftung untergekommen. Zwei Tage         der Arbeitstherapie. Am Tag vor der Flut
                                    nach der Hochwasserkatastrophe kehr-            startete er zur Absicherung der Gebäude
                                    te ­Charlotte Wilts mit ihrem Sohn zurück       eine Sandsackaktion. Sand wie Säcke

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GRAF RECKE STIFTUNG

17
 Vor

              recke:
Jahren
              rückblick
 »SOS!
 Stiftung
 säuft ab«
 Schon einmal stand das Gelände der Graf
 Recke Stiftung an der Grafenberger Allee        Den Humor nicht verloren: »Dann haben wir dagesessen wie
 in Düsseldorf unter Wasser: Im November         aufgereiht auf einer Schnur, die ganzen alten Tanten.«
 2004 trat die Düssel während der Bauphase
 eines Dükers, also einer Leitung zur Unter-
 querung des Flusses, über die Ufer. Eine
 im Zuge der Arbeiten vorgenommene Ver-          ­ urden von Firmen und dem THW geliefert
                                                 w                                                und untypisch für sonstige Nächte hat sich
 engung des Flussbetts in Kombination mit        und von den Mitarbeitenden befüllt. »In          kein Klient beim Personal bemerkbar gemacht
 Regenfällen hatte dazu geführt, erinnert sich   relativ kurzer Zeit! Wir haben die Sandsäcke     oder eine Krise gehabt.« Reimund Weidinger
 ein Mitarbeiter und Zeitzeuge. »SOS! Stif-
                                                 an neuralgische Punkte wie Kellerabgänge         erklärt das damit, dass die Klientinnen und
 tung säuft ab« titelte tags darauf gewohnt
 boulevardesk der Düsseldorfer »Express«.        gebracht. Am frühen Abend dachten wir            Klienten wussten, »dass wir uns um alles küm-
 Mehrere Keller liefen voll und auch die         sogar, dass wir mit der Vorsorge vielleicht      mern, sie konnten sich so weit sicher fühlen
 Werkstätten der Arbeits- und Ergotherapie       übertrieben hätten«, berichtet Weidinger.        und bringen durch die eigenen Erfahrungen
 waren – wie heute – betroffen. Ebenso war       Er bestellte bei der DLRG sogar ein richtiges    auch eine gewisse Resilienz mit.«
 auch 2004 das Haus an der Düssel, ein           Boot, obwohl die Lage zu dem Zeitpunkt sta-          Im Geschäftsbereich Sozialpsychiatrie
 Wohnhaus für Menschen mit psychischen           bil schien. »Als das Boot angeliefert wurde,     & Heilpädagogik sind keine Privatpersonen
 Erkrankungen, kurzzeitig nur per Schlauch-
                                                 haben manche gesagt: ›Weidinger, du bist         von den materiellen Folgen der Flut in
 boot erreichbar. Wohnungen waren aber von
 den Fluten verschont geblieben: Das im Juni     bekloppt!‹«                                      Grafenberg betroffen, wie es bei der Alten-
 2004 gerade erst neu bezogene Service-              Wie sein Kollege Joachim Köhn von der        hilfe der Fall ist. Getroffen hat es aber Ein-
 Wohnen Düsselthal für ältere Menschen, bei      Graf Recke Wohnen & Pflege wurde auch            richtungen mit wichtigen therapeutischen
 der aktuellen Überflutung im Erdgeschoss        Reimund Weidinger, zur beginnenden               Angeboten für Menschen mit psychischen
 schwer getroffen, war von der damaligen         Nacht kaum zu Hause angekommen, wieder           Erkrankungen, wie Diana Lechleiter, neue
 Flut verschont geblieben.
                                                 nach Grafenberg zurückgerufen. Das Was-          Bereichsleiterin der Arbeits- und Ergo-
                                                 ser war sehr stark angestiegen. Zusammen         therapie, berichtet. Die Räume auf einer Flä-
                                                 mit seinen beiden Mitarbeitenden Thors-          che von 800 Quadratmetern müssen grund-
                                                 ten Banna und Jan Dubbel hat er die Vor-         saniert werden.
                                                 Ort-Hilfe koordiniert. »Das Haus an der              Auch Diana Lechleiter war die halbe
                                                 Düssel war komplett von Wasser umgeben.          Nacht und am Vortag im Dauereinsatz.
                                                 Wir konnten es nur noch mit dem Boot             »Hier ist im Prinzip kein Raum trocken
                                                 erreichen«, sagt Reimund Weidinger, froh         geblieben. Das Wasser stand überall bis zu
                                                 über seine Vorahnung. Es sah zwischenzeit-       30 Zentimeter hoch.« Zeit zum Verarbeiten
                                                 lich so aus, als müsste das Wohnhaus mit         des Erlebten gab es erst mal nicht, wie sie
                                                 25 Bewohnerinnen und Bewohnern evaku-            sagt. Nach den Schutzmaßnahmen begann
                                                 iert werden. Das war am Ende nicht nötig.        sofort das große Aufräumen. »Wir haben
                                                 Für die Bewohner gab es keine Gefahr, sie        alle einfach nur funktioniert. Am Freitag
                                                 waren mit allem versorgt. Das Boot kam           ist das Wasser zurückgegangen und überall
                                                 ein weiteres Mal bei der Evakuierung der         war Schlamm«, erzählt Lechleiter. »Jeder
                                                 Seniorenwohnungen zum Einsatz. »Das              hat sofort mit angepackt, sich einen Lappen
                                                 stabile Boot war für die älteren Men-            geschnappt und versucht zu retten, was zu
                                                 schen richtig gut«, so Reimund Weidinger.        retten war.« Leider sei das nicht viel: »Tat-
                                                                                                  sächlich sind alle Möbel kaputt.« Sichtlich
                                                 DIE KRISE, DIE AUSBLIEB                          beeindruckt ist Diana Lechleiter, die erst seit
                                                 Ein Segen war auch, dass seine Bewohner          Kurzem in der Graf Recke Stiftung arbeitet,
                                                 mit psychischen Erkrankungen in der              von der großen Solidarität, die allen Kraft
                                                 Nacht der Flut ruhig schliefen. »Sie haben       schenke. Das Netzwerk sei toll, alle hät-
                                                 über Tag und in den Abend hinein mit-            ten ihre Kontakte genutzt. »Wir haben uns
                                                 bekommen, dass Wasser da ist, sind aber          alle gegenseitig geholfen. Die Zusammen-
                                                 irgendwann ganz normal ins Bett gegangen –       arbeit mit Frau Noglik ist prima. Auch unser

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GRAF RECKE STIFTUNG

                                                             WIR
                                                             DANKEN
                                                             ALLEN HELFERINNEN
                                                             UND HELFERN, ALLEN
                                                             UNTERSTÜTZERINNEN
                                                             UND UNTERSTÜTZERN,
                                                             ALL DEN FREIWILLIGEN,
»Das Wasser stand überall bis 30 Zentimeter hoch.«
                                                             ZUPACKENDEN UND
Für Diana Lechleiter und ihre Kolleginnen und Kollegen
begann anderntags das große Aufräumen.
                                                             SOLIDARISCHEN MENSCHEN,
                                                             DIE UNS IN DIESEN
                                                             SCHWIERIGEN ZEITEN
                                                             GEHOLFEN UND SO VIEL
Team hält tapfer zusammen, ob die Mit-
arbeitenden oder Klienten. Das erlebe ich                    MUT GEMACHT HABEN.
nur positiv.«
    Lechleiter weist darauf hin, dass die
Klienten in den betroffenen Räumen ihre                      www.graf-recke-stiftung.de/danke
arbeitstherapeutischen Werkstätten haben
und nun all ihre Sachen wegwerfen müs-
sen. »Viele sind seit Jahren und Jahrzehnten
hier. Das fällt auch einfach schwer und
belastet. Auch wenn es im Verhältnis zu
anderen Regionen harmlos war und nur
Sachschäden entstanden sind: Das ist ihr
Arbeitsplatz und hat eine hohe Wichtigkeit
für die Identifikation.«

»ABENDS WIRD OMA WIEDER
EIN BISSCHEN TRAURIG«
Mit ihrer Wohnung identifizierte sich auch
die 91-jährige Charlotte Wilts. Sie geht noch
einmal auf ihre Terrasse im Grünen: »Hier
habe ich immer gesessen, zweimal schon
haben Meisen hier gebrütet. Können Sie
sich vorstellen, wie schön das war?«, fragt
sie und geht zurück zu ihrer Enkelin Laura,
die noch im kahlen Wohnzimmer steht und
sagt: »Abends wird Oma wieder ein bisschen
traurig.« Enkeltochter und Oma umarmen
sich. Charlotte Wilts kommt bis zum Tag
der Wiederkehr in ihre Wohnung bei ihren
Angehörigen unter. Und – sie lässt sich auch
mit 91 Jahren nicht unterkriegen: »Aber
sonst geht’s! Wir müssen es nehmen, wie
es ist.« //

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THEOLOGISCHER
IMPULS VON PFARRER MARKUS EISELE,
                         THEOLOGISCHER VORSTAND DER
                         GRAF RECKE STIFTUNG

                         Furchtlos?

D
           ie Furcht und das Mitgefühl
           wohnen im Herzen. Jeder kennt
           es, wenn es einem das Herz
           zusammenzieht. Aus Sorge um
liebe und nahe Menschen, auch um sich
selbst. Oder weil man mit dem Herzen Anteil
nimmt am Schicksal der Nächsten. Anlässe
und Katastrophen gab es in letzter Zeit genug:
Corona, das Hochwasser, den Klimawandel,
Afghanistan, Haiti, unzählige politische und
gesellschaftliche Entwicklungen.

WAS HILFT GEGEN FURCHT?
Kinder und Jugendliche lernen beim Klet-
tern in unserem Hochseilgarten spielerisch
wieder Selbstvertrauen und Vertrauen. Die
Gewissheit, dass die Gurte halten und vor
allem ein Helfer unten wachsam absichert,
gibt ihnen die nötige Sicherheit. Sie kön-
nen nicht ungebremst fallen. Es ist das gute
Gefühl: »Fürchte dich nicht, denn ich bin da.«
    Für mich ist es das Vertrauen auf Gott, der
da ist und mich auffangen kann. Der zusagt:
»Fürchte dich nicht« – für mich eine der
schönsten Zusagen aus der Bibel. Dutzende
Male zugesprochen in schweren Zeiten und
zu Menschen, die in Furcht zu erstarren
drohten. Diese oft von Engeln überbrachte
göttliche Botschaft hat Menschen wieder
in Bewegung gesetzt. Paulus von Tarsus
hat einmal resümiert: »Gott hat uns nicht
gegeben den Geist der Furcht, sondern der
Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.«
Im Geist der Liebe besonnen und kraftvoll
zusammenzustehen, macht vielleicht nicht
automatisch mutiger, aber sicher etwas
furchtloser. Weil man nicht alleine ist. //

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ERZIEHUNG & BILDUNG

                                                Mit 44 Jahren beendete Wolfram
                                                Hutsteiner im Sommer seine Ausbildung
                                                zum staatlich anerkannten Erzieher bei
                                                der Graf Recke Stiftung. Sein Berufsweg
                                                bis dahin war ein verschlungener, aber
                                                erfüllender. Doch spätestens nach seinem
                                                Anerkennungsjahr in der Wohngruppe                                  OHNE WENN
                                                Arche I fühlt er sich beruflich am Ziel.                             UND ABER

Angekommen
                                                                                               gebildet. Die Hälfte der externen Kandidaten
                                                                                               hat im Sommer 2020 bestanden, Wolfram
                                                                                               Hutsteiner gehörte dazu. Er war fast am Ziel.
                                                                                                   Doch während die anderen fürs
                                                                                               Anerkennungsjahr in die Kita wollten, hat
Von Achim Graf                                                                                 sich Wolfram Hutsteiner für ein Feld ent-
                                                                                               schieden, das er noch nicht kannte: die

W
                                                                                               Jugendhilfe. Keinen Moment hat er diese Ent-
                 olfram Hutsteiner hatte        Das ist erfüllend, das macht Spaß.« Den        scheidung bereut. In der Intensivwohngruppe
                 schon manchen beruf-           Wechsel an die Uni Köln und den späteren       Arche I am Campus Hilden war er jetzt ein
                 lichen Traum: Er wollte als    Versuch, nebenberuflich Pädagogik an der       Jahr lang »gleichwertiger Teil eines multi-
                 Staatsanwalt die Belange       Fernuni Hagen zu studieren, bezeichnet er      professionellen Teams«, wie er es empfindet.
der Gesellschaft vertreten; er wollte Schü-     aus heutiger Sicht als »letztes Aufbäumen«.    Er habe mit tollen Kolleginnen und Kollegen
lern die deutsche Sprache näherbringen und      Stattdessen nahm sein beruflicher Weg die      in diesem Jahr »mehr gelernt als in der gesam-
sie in die Geheimnisse der Philosophie ein-     nächste Wendung.                               ten Unizeit«. Doch auch die Arbeit mit den
weihen. Die Wege dahin aber stellten sich           Wolfram Hutsteiner bewarb sich beim        Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und
für ihn jeweils recht schnell als Sackgasse     Familien unterstützenden Dienst (FuD)          17 Jahren hat ihn begeistert – und die Heran-
heraus. Daher ist er Umwege gegangen,           der Graf Recke Stiftung als Inklusions-        gehensweise in der Arche I.
ebenso verschlungene wie erfüllende. Mit 44     begleiter. Das hat gepasst: Sieben Jahre
Jahren hat er nun seinen Platz gefunden, in     lang betreute er Kinder mit Förderbedarf       VERBINDLICHKEIT UND WERTSCHÄTZUNG
der Jugendhilfe. Und mit einem Abschluss:       in einer Grundschule in Köln-Ehrenfeld,        »Drei Dinge sind uns wichtig«, erläutert er.
Er ist staatlich anerkannter Erzieher. Sein     hatte sich zwischendurch zudem zum             »Unsere Kinder werden von uns gesehen,
Anerkennungsjahr bei der Graf Recke Stif-       Inklusionsassistenten zertifizieren lassen.    wertschätzend behandelt und achtsam
tung ging in diesem Sommer zu Ende.             Für ein Jahr arbeitete er im Anschluss in      begleitet.« Das gehe nur über Bindung, klare
    Wolfram Hutsteiner lacht: »Ich wollte       einer Kita. »Bei alldem dachte ich davor:      Regeln und das Setzen von Grenzen. Den jun-
einfach mal etwas zu Ende bringen, außer        Ich kann’s nicht. Aber ich konnte es – und     gen Menschen war das zuvor zumeist nicht
Abitur und Führerschein«, meint er dann         es hat Spaß gemacht.« Für ihn, dessen Part-    vergönnt. »Die Kinder aber wünschen sich
mit breitem Grinsen. Ein Stückchen Wahr-        nerin als Ergotherapeutin in Kaarst mittler-   das, gerade weil ihr voriges Umfeld meistens
heit aber steckt in dieser Aussage. Sein        weile ebenfalls für die Stiftung tätig ist,    nicht verlässlich war«, sagt er. Dabei sei es
Jurastudium in Bonn, direkt nach Abitur         war das der Zeitpunkt, Nägel mit Köpfen        unbedingte Voraussetzung, authentisch zu
und Bundeswehrzeit, hatte der gebürtige         zu machen.                                     sein. »Kinder haben dafür ein feines Gespür«,
Mayener nach drei Semestern abgebrochen,            Mit knapp über 40 bemühte sich Wolf-       hat er erkannt.
weil ihn die Inhalte gelangweilt haben. Das     ram Hutsteiner um die Zulassung zur                Wo ihn sein Weg in der Stiftung nach
anschließende Lehramtsstudium gab er            externen Prüfung als Erzieher am Berufs-       dem Jahr im Dorotheenviertel Hilden hin-
nach einigen Jahren auf, weil er mittler-       kolleg Opladen, unweit des gemeinsamen         führen wird, ist jetzt, Anfang August, noch
weile erkannt hatte, wie viel Freude ihm die    Wohnorts. Die Grundlage hatte er mit           offen. Wichtig ist für ihn, weiter mit jungen
Arbeit in einer Einrichtung für Menschen        bestandenem Abitur sowie der Erfahrung         Menschen zu arbeiten. »Wenn ich spüre, dass
mit Behinderung machte.                         aus zwei Praxisbereichen gelegt, »aber ohne    sich eine Beziehung aufbaut, ich zu den Kin-
    Als Nebenjob war diese eigentlich           dass ich wusste, was mich erwartet«. Er        dern durchdringe, empfinde ich Bestätigung
gedacht, »doch es wurde immer mehr. Zum         wurde angenommen und sei in der Folge mit      in meinem Handeln«, sagt er. Weitere beruf-
Schluss arbeitete ich auf einer Dreiviertel-    sieben weiteren Externen vom Berufskolleg      liche Sackgassen sind für Wolfram Hutsteiner
stelle«, erinnert er sich. Als Mitarbeiter im   hervorragend durch die insgesamt drei Prü-     kein Thema mehr. Aus gutem Grund: Wenn
Gruppendienst sei er im Prinzip für alles       fungen und ein Projekt begleitet worden,       er merke, dass er im Job etwas bewirke, und
zuständig gewesen, von Einkauf bis Pflege.      wie er erzählt. Man habe sich die emp-         das passiere immer häufiger, »dann fühle ich
»Und zum ersten Mal habe ich erkannt:           fohlenen Bücher gekauft und Lerngruppen        mich angekommen«. //

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ERZIEHUNG & BILDUNG

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                                                                                          Gefühl
                                                                                             von
                                                                                         Freiheit
                                                     Leon hat es gepackt: Er hat sein Abitur in der Tasche, strebt ein
                                                           Studium der Biochemie an und bringt sich bei Musik- und
                                                 Theaterprojekten ein. Doch der Weg des 18-Jährigen, der seit rund
                                                    sechs Jahren in Einrichtungen der Graf Recke Stiftung lebt, war
                                                beileibe nicht immer leicht. Er kämpfte gegen Widerstände von außen
                                                wie von innen. Doch Leon hat sich befreit. Kerstin Sittig und ihr Team
Von Achim Graf                                          der Wohngruppe Kompass sind daran nicht ganz unschuldig.

                                                jedoch an seinem bestandenen Abitur. Ende        Hintergründe oft nicht kenne. »Sie kämpfen
                                                Mai hat er am altehrwürdigen Landfer-            häufig mit Vorurteilen«, hat sie festgestellt.
                                                mann-Gymnasium in Duisburg die letzte            Doch Leon hat auch Lehrerinnen und Lehrer
                                                mündliche Prüfung in Mathe bestanden.            erlebt, die sein Potenzial erkannt und ihn
                                                »Eine große Erleichterung« sei das gewesen,      gefördert haben.
                                                sagt er. »Und ein Gefühl von Freiheit.«              Dass er im Umgang nicht immer ein-
                                                    Denn klar, die vergangenen knapp ein-        fach war, er am Anfang »ein soziales Defizit
                                                einhalb Jahre waren für alle Abiturienten        hatte«, räumt Leon offen ein. »Ich mag
                                                schwierig, für Leon aber wohl noch ein           keine Menschen«, ist so ein Satz von ihm
                                                bisschen mehr. Dass er nun seinen eigenen        aus dieser Zeit. Doch dies kam nicht von
                                                Haushalt schmeißt, war weniger das Pro-          ungefähr: Er habe nicht gegen die Schule
                                                blem. »Wenn man alles in Etappen macht,          rebelliert, macht er klar, »sondern gegen den
                                                bevor ein Berg Arbeit entsteht«, wie er          Ex meiner Mutter«. Deren damaliger Partner
Über­raschungsparty nach dem Abi:               schnell erkannt hat. Am Anfang der Pande-        habe Macht auf ihn und seine Mutter aus-
»Gemeinsam ein paar Tränchen verdrückt.«        mie gab es allerdings nicht einmal Internet      geübt, »mir ging es damals absolut scheiße«,

I
                                                im Apartment, Leon musste alles Schulische       sagt Leon. Seine aus Thailand stammen-
      m März 2020 wagte Leon den Schritt        übers Handy erledigen. Ein Lehrer hatte ihn      de Mutter, in Essen selbstständig mit einer
      ins Erwachsenenleben. Der damals          zudem eine Zeit lang versehentlich nicht im      Massagepraxis, habe zu der Zeit bis zu 15
      17-Jährige wechselte nach Jahren in der   E-Mail-Verteiler, die Tagesstruktur und der      Stunden am Tag gearbeitet, berichtet Leon.
      Wohngruppe Kompass der Graf Recke         Kontakt zu den Mitschülern fehlten ihm wie       Sie sei einfach überlastet gewesen, glaubt
Stiftung in ein benachbartes Apartment auf      allen anderen zudem.                             er. Als die Situation sich zuspitzte, er nicht
dem Campus in Düsseldorf-Wittlaer. Der                                                           mehr in der Familie verbleiben konnte, zog
Umzug und das selbstständige Leben sollten      NOCH IMMER KEINE LOBBY                           Leon zunächst als Zwölfjähriger in die Fünf-
eigentlich seine Herausforderung werden,        »Die Bedingungen waren schlechter, aber die      Tage-Gruppe der Stiftung in Wittlaer, mit 14
sagt Kompass-Leiterin Kerstin Sittig. »Aber     Anforderungen blieben gleich«, lautet Leons      wechselte er dann in die Gruppe Kompass
dann kam alles auf einmal: Corona, Lock-        Fazit zum Abitur 2021. Es ärgert ihn, dass er    von Kerstin Sittig.
down, Homeschooling.« Doch was soll man         seinen eigenen Ansprüchen bezüglich der              »Er war am Anfang sehr skeptisch und
sagen? Leon hat es gepackt, allen Schwierig-    Abschlussnote dadurch nicht ganz gerecht         in sich gekehrt, hat alles mit sich selber aus-
keiten zum Trotz.                               wurde. Das verdeutlicht seinen Ehrgeiz, aber     gemacht«, erinnert sich die Teamleiterin.
    Es ist ein sonniger Tag Ende Juli, der      auch, welche Entwicklung der 18-Jährige in       »Ich hatte das Gefühl, dass alle gegen mich
mittlerweile 18-Jährige hat es sich auf         den vergangenen Jahren genommen hat. »Er         sind«, erklärt Leon sein damaliges Ver-
einem der Baumstämme im Park gemütlich          musste sich alles selbst erkämpfen«, macht       halten, »dass meine Probleme nicht wichtig
gemacht – und wirkt gelassen. Das liegt         Teamleiterin Kerstin Sittig deutlich. Kinder     sind.« Obwohl er sich, gegen den Willen
sicherlich auch am Urlaub in Italien, aus       und Jugendliche aus Wohngruppen seien            des Partners der Mutter, wie er sagt, von
dem er gerade zurückgekehrt ist. Vor allem      immer noch im Nachteil, weil man deren           der Realschule bereits aufs Gymnasium

18                                                                                    recke:in                                            3/2021
ERZIEHUNG & BILDUNG

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                                                                                                gefördert: Leon mit
                                                                                                seinem Abizeugnis.

                                                                                                alleine lassen. Nur so funktioniert Jugend-
                                                                                                hilfe, der Weg darf da nicht zu Ende sein.«

                                                                                                GEMEINSAM SO VIEL ERREICHT
                                                                                                Zu sehr haben Leon und das Team der
                                                                                                Gruppe Kompass in den vergangenen Jahren
                                                                                                zusammen gekämpft und gemeinsam viel
                                                                                                erreicht. »Er hat ja nicht nur genommen,
                                                                                                sondern auch viel gegeben«, betont Kers-
                                                                                                tin Sittig und meint damit nicht allein die
                                                                                                Mathe-Nachhilfestunden für die Jüngeren
                                                                                                in der Wohngruppe. Leon sei zudem ein
                                                                                                tief- und feinsinniger Mensch und habe als
                                                                                                ausgewiesener Einzelgänger »ein gehöriges
                                                                                                Maß an Empathie entwickelt«, lobt sie.
                                                                                                Sogar für einen echten Gänsehautmoment
                                                                                                hat er gesorgt: Bei seinem Auftritt in der Graf
gekämpft hatte, ließen seine schulischen        Leistungskurs-Lehrerin im Landschaftspark       Recke Kirche 2019 zum Abschluss eines Pro-
Leistungen nun ebenfalls nach. Und klar,        Nord in Duisburg sein Abiturzeugnis über-       jekts von Musikstudenten mit Jugendlichen,
innerlich habe er lange nur ein Ziel gehabt,    reicht. Unter den Gästen waren auch seine       wo Leon als Sänger überzeugte.
sagt Leon: »Der Typ muss weg! Ich hatte         Mutter und Kerstin Sittig. Gemeinsam habe           Leon, der sich das Gitarrespielen wie das
mich dadurch selber verloren.«                  man »ein paar Tränchen verdrückt«, gesteht      Singen selbst beigebracht hat, hatte rich-
                                                Kerstin Sittig. Später gab es eine Über-        tig Spaß, vor Publikum aufzutreten, wie er
AM TAG X WURDE ALLES ANDERS                     raschungsparty seiner Wohngruppe im Res-        mit einem Lächeln bekennt. Gern möchte
Und so gab es für den Jugendlichen tatsäch-     taurant »Jäger« in Wittlaer, und alle waren     er auch einen Solopart für den Song zum
lich den Tag X, an dem sich alles ändern        gekommen. Besonders gefreut hat Leon ein        Jubiläum der Graf Recke Stiftung im kom-
sollte: den Tag der Trennung seiner Mutter      selbst verfasstes Gedicht eines Betreuers       menden Jahr übernehmen. Auch bei einem
von ihrem Partner, so dramatisch diese auch     und ein persönliches Abi-Handtuch.              von Filmemacherin Anke Bruns und Michael
war. Davor habe er sich nie getraut, offen      Für Leon öffnen sich nun viele Möglich-         Mertens, Geschäftsbereichsleiter Graf Recke
zu sprechen, »weil ich geglaubt habe, dass      keiten. Er hat sich für ein Studium der Bio-    Erziehung & Bildung, initiierten Theater-
sie ihn braucht«. Nun war das anders, nach      chemie beworben, auch Biomedizin würde          projekt mischt er mit. Es wird dabei ja auch
und nach habe er sich geöffnet. »Das war        ihn reizen. Naturwissenschaften waren           um sein Thema gehen: die Überwindung
sehr mutig von ihm. Aber auch der Moment,       immer seine Leidenschaft. »Emergenz finde       von Vorurteilen und Stigmatisierungen, die
an dem er gemerkt hat: Sie sind auf meiner      ich faszinierend. Dass etwas mehr sein kann     Kinder und Jugendliche erleben, die außer-
Seite«, meint Kerstin Sittig. Für Leon ein      als die Summe seiner Einzelteile«, sagt er.     halb ihrer Kernfamilie aufwachsen. Leons
wichtiger Punkt: »Dass ich es doch geschafft    Sollte es mit dem Studium nicht auf Anhieb      Kampf geht also weiter, im positiven Sinn. //
habe, lag daran, dass ich Leute hatte, an die   klappen, kann er sich auch zunächst ein Frei-
ich mich wenden kann.« Er lacht, wie so oft     williges Soziales Jahr vorstellen. Während-     Hier geht es zum Film,
an diesem Nachmittag.                           dessen bemüht sich Kerstin Sittig um seinen     von dem Leon erzählt hat:
    Doch der 18-Jährige hat auch allen Grund    Verbleib im Apartment, trotz Volljährigkeit.       www.wir-sind-doch-keine-heimkinder.de/
zur Freude: Am 25. Juni bekam er von seiner     »Aber wir werden Leon so oder so nicht          der-film/

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ERZIEHUNG & BILDUNG

Kerstin Sittig unterwegs: »Kommt einer Therapie schon ganz nahe.«

Momente für sich
Von Achim Graf                                                      Will Kerstin Sittig den Kopf freikriegen,
                                                                    setzt sie sich aufs Motorrad. Denn wenn die
                                                                    Teamleiterin aus der Wohngruppe Kompass
                                                                    auf einer ihrer Hondas unterwegs ist, wird
                                                                    sie »eins mit dem Moped«. Das gelingt der
                                                                    53-Jährigen bei ihren regelmäßigen Fahrten zur
                                                                    Arbeit genauso wie auf Ausflügen an die Mosel
                                                                    oder im Urlaub in Kroatien. Mit ihrer vor einem
                                                                    Vierteljahrhundert entfachten Leidenschaft
                                                                    hat sie nicht nur ihren Sohn angesteckt.

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ERZIEHUNG & BILDUNG

         Seiten                  Was machen unsere Mitarbeitenden eigentlich,
                                 wenn sie nicht im Dienst sind?

              blick!

M                                                                                                 »Die Küste
               it 27 Jahren traf Kerstin Sit-     Scheune, eine Honda 750er Chopper Sha-
               tig eine Entscheidung, die         dow geschützt unterm Vordach. Mit dieser
               nicht nur ihr eigenes Leben        war sie vor nicht allzu langer Zeit sogar
                                                                                                  entlangzufahren,
               bereichern sollte: Damals          in Kroatien unterwegs. »Die Küste ent-          das war ganz
beschloss die heutige Teamleiterin der            langzufahren, das war ganz wundervoll«,         wundervoll.«
Wohngruppe Kompass der Graf Recke Stif-           schwärmt sie. In den Süden gelangte das         Kerstin Sittig
tung in Düsseldorf-Wittlaer, den Motor-           Motorrad allerdings auf dem Hänger. Nicht,
radführerschein zu machen. Ihr damaliger          weil sich Sittig keine tausend Kilometer im
Lebensgefährte war begeisterter Biker, »und       Sattel zutrauen würde. »Ich will nicht mit
ich hatte keine Lust, nur hintendrauf zu          kleinem Gepäck anreisen. Aus dem Alter bin
sitzen«, erklärt Kerstin Sittig ihre damalige     ich raus«, sagt sie mit einem Grinsen.
Motivation. Mit Folgen: Bis heute ist das             Ihre Begeisterung hingegen ist mit
Motorrad ihre größte Leidenschaft, wie sie        den Maschinen offensichtlich ebenfalls
bekennt.                                          gewachsen. Und so war es für Kerstin Sittig
    Dabei waren die Anfänge durchaus              gar keine Frage, dass sie ihrem gemeinsamen
bescheiden: Eine kleine Suzuki hatte sich         Hobby treu bleiben würde, als ihr Lebens-
Kerstin Sittig nach bestandener Prüfung           gefährte vor acht Jahren starb. Die Kontakte,
zunächst zugelegt. »Die Maschine musste           die sie in die Biker-Szene aufgebaut hatte,
auch von einer nicht so großen Person gut         waren in der Folge sehr hilfreich. Mit Freun-
zu handeln sein«, erklärt die 53-Jährige. Man     den macht sie sich weiterhin regelmäßig auf
müsse sie auch schieben und im Zweifel            zu gemeinsamen Touren an die Mosel oder
aufrichten können. Das allerdings war bis         Ausfahrten zu Biker-Treffs in der Eifel.
heute kaum einmal notwendig, sie habe                 Doch ganz gleich, ob zu zweit oder in       Kollegin beigebracht hat, bis hin zum Dach-
sich »noch nie richtig auf die Nase gelegt«,      einer größeren Gruppe: Wenn sie auf dem         decken ihrer Gartenhütte. »Ich saß auch
wie sie erzählt. Sie fahre mit dem Motorrad       Moped sitze, konzentriere sie sich ganz aufs    schon auf meinem Haus, rittlings auf dem
vorausschauender als mit dem Auto, ver-           Fahren, sagt Kerstin Sittig; sie habe auch      Dachfirst, und habe den Schornstein ver-
suche auch die anderen Verkehrsteilnehmer         bewusst keine Sprechanlage im Helm. »Das        putzt.«
einzuschätzen. »Mir ist bewusst, dass ich         sind Momente, die man ganz für sich alleine         Noch lieber aber sitzt Kerstin Sittig
keine Knautschzone habe.«                         hat.« Es ist ein wichtiger Ausgleich für die    freilich auf einer ihrer beiden Hondas. Ein
    Was ebenfalls hilft: Es geht Kerstin Sittig   53-Jährige, die sonst »schon hauptsächlich      Leben ohne Moped sei für sie nicht denkbar,
nicht ums schnelle Fahren, sondern ums            für andere da ist«, wie sie bekennt. Das gilt   sagt sie. Ihren mittlerweile 32-jährigen Sohn
sogenannte Cruisen, sie liebt die Kurven          für ihre Arbeit als Erzieherin mit Kindern      hatte sie daher schon mitgenommen, »als
und die vorbeiziehende Landschaft, wie            und Jugendlichen ganz besonders. Etwas          der noch ganz klein war«. Keine Frage, dass
sie betont. »Ich kann dabei wunderbar den         anderes wäre für sie, die selbst in einem       dieser nun ebenfalls Motorrad fährt, genau
Kopf freikriegen. Ich werde dann eins mit         sozialen Brennpunkt aufgewachsen ist, aber      wie die Schwiegertochter. Doch auch in die
dem Moped.« Das gelingt ihr sogar, wenn sie       nie infrage gekommen, wie sie mit Über-         andere Richtung blieb ihr Entschluss von
den Arbeitsweg ab und an auf zwei statt auf       zeugung sagt.                                   damals nicht ohne Konsequenzen.
vier Rädern fährt. Im Auto mache sie sich                                                             Als sie sich vor einem guten Viertel-
auf dem Rückweg häufig noch Gedanken              MOTORRAD UND ROCK                               jahrhundert für den Motorrad-Führerschein
über den Tag in der Wohngruppe. »Auf dem          GEHÖREN ZUSAMMEN                                angemeldet hatte, ihre ersten, vorsichtigen
Motorrad ist das alles sofort weg. Da komm        In ihrer Freizeit geht Kerstin Sittig gerne     Runden auf einem Parkplatz drehte,
ich ganz schnell runter, das kommt einer          auf Konzerte. »Und natürlich stehe ich auf      erwachte auch bei ihrem Vater eine offen-
Therapie schon ganz nahe.« Sie lacht.             Gitarrenmusik«, meint sie und lacht. Auf        bar versteckte Leidenschaft. »Er war damals
                                                  ihrer Playlist stehen daher Rockbands wie       50 und hat dann tatsächlich mit mir den
BEGEISTERUNG WUCHS                                AC/DC oder Led Zeppelin ganz oben, sie          Führerschein gemacht.« Kerstin Sittig freut
MIT DEN MASCHINEN                                 könne sich aber auch für Reinhard Mey           das bis heute: Ihr Vater, sagt sie, sei mittler-
Eine Honda CBF 500 Naked Bike steht bei           begeistern. Dazu kommt ein Faible für alles     weile 77 Jahre alt – »und er fährt immer
Kerstin Sittig derzeit im alten Hof in der        Handwerkliche; vom Häkeln, das ihr eine         noch«. //

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