Verlust und Solidarität - recke: in Das Magazin der Graf Recke Stiftung - recke:on
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Wer wir Wie Sie uns sind und was unterstützen wir tun können Die Graf Recke Stiftung ist eine der ältesten Wir brauchen Sie! Denn nur durch diakonischen Einrichtungen Deutschlands. engagierte Mitstreitende können wir 1822 gründete Graf von der Recke-Volmerstein unseren Nächsten Herzenswünsche ein »Rettungshaus« für Straßenkinder in Düs- erfüllen und besondere Projekte ermög- selthal. Zur Kinder- und Jugendhilfe kamen lichen. Zusammen sind wir einfach stär- die Behindertenhilfe (1986) und die Altenhilfe ker, bewegen mehr und erleben mehr (1995) hinzu. Heute besteht die Stiftung aus Freude! Mit Ihnen an unserer Seite kön- den Geschäftsbereichen Graf Recke Erziehung nen wir das Leben besser meistern. & Bildung, Graf Recke Sozialpsychiatrie & In jeder recke:in stellen wir Projekte vor, Heilpädagogik und Graf Recke Wohnen & bei denen Sie uns helfen können. Der Pflege. Ebenfalls zur Stiftung gehören die Wiederaufbau nach dem Hochwasser Graf Recke Pädagogik gGmbH, die Jugendhilfe im Sommer kostet viel Kraft, Zeit und Grünau in Bad Salzuflen, die Graf-Recke- Geld. Wie Sie helfen können, lesen Sie Kindertagesstätten gGmbH, das Seniorenheim ab Seite 8. Haus Berlin gGmbH in Neumünster und die Dienstleistungsgesellschaft DiFS GmbH. Mehr Informationen und aktuelle News aus der Graf Recke Stiftung: www.graf-recke-stiftung.de www.graf-recke-karriere.de www.facebook.com/GrafReckeStiftung www.xing.de/companies/GrafReckeStiftung www.instagram.com/GrafReckeStiftung www.linkedin.com/company/GrafReckeStiftung recke:in Das Magazin der Graf Recke Stiftung Ausgabe 3/2021 Herausgeber Vorstand der Graf Recke Stiftung Einbrunger Straße 82, 40489 Düsseldorf Redaktion Referat Kommunikation, Kultur & Fundraising der Graf Recke Stiftung, Dr. Roelf Bleeker Gestaltung Claudia Ott, Nils-Hendrik Zündorf Bildnachweis Reimund Weidinger, Dirk Bannert, Daniel Sass, Graf Recke Stiftung, Özlem Yılmazer, Achim Graf, privat, Bro Vector/Adobe Stock, Cienpies Design/Adobe Stock, GarkushaArt/Adobe Stock, Amelia Bartlett/Unsplash Druckerei V+V Sofortdruck GmbH, 4.000 Exemplare Umweltschutz recke:in wird CO2-neutral gedruckt.
Editorial Petra Skodzig und Pfarrer Markus Eisele. Liebe »alles wirkliche Leben ist Begegnung«, hat einmal Martin Buber geschrieben. Der jüdi- ufnahmekapazitäten absorbieren, wollen A wir Sie heute mitnehmen zu den Men- Leserin, sche Religionsphilosoph meinte damit nicht die flüchtige Begegnung, wie sie auf der schen und ihren Geschichten, die Ihre Aufmerksamkeit verdient haben. Lesen lieber Straße oft zufällig und en passant geschieht. Sie von Charlotte Wilts, die durch die Flut Gemeint ist vielmehr die Begegnung, die zu auf unserem Stiftungsgelände an der Düs- Leser, einer Beziehung führt. Mensch und Gott, sel alles verloren hat und sich dennoch so Buber, existierten nur durch und in der nicht unterkriegen lässt. Oder von Toni Beziehung und Begegnung. Wo wir Men- Scheibenberger, der als Altenpfleger etwas schen einander auf Du und Du begegnen, Licht in das Leben der Bewohnerinnen da spüren wir etwas von dieser Kraft und und Bewohner unseres Seniorenzentrums von der uneingeschränkten Würde des Zum Königshof bringen will. Oder von Gegenübers. Wolfram Hutsteiner, der erst kürzlich »Fokus Mensch – ohne Wenn und seinen Abschluss als Erzieher gemacht Aber« lautet das Jahresthema 2021/2023 und nun im Alter von 44 Jahren als Spät- in der Graf Recke Stiftung. Klingt wie die berufener seinen Traumberuf in einer unse- oft gebrauchte Floskel, dass der Mensch rer Wohngruppen gefunden hat. Er sagt: im Mittelpunkt stehe, geht aber darüber »Unsere Kinder werden von uns gesehen, hinaus. Denn »der Mensch im Mittelpunkt« wertschätzend behandelt und achtsam wäre für ein diakonisches Unternehmen begleitet.« ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Die Bibel hat den tiefen Seufzer von Das Jahresthema unterstreicht vor allem, Hagar, einer jungen Frau, festgehalten: dass es bei uns auch ohne einschränkende »Du bist der Gott, der mich sieht.« (1. Buch Bedingungen geschehen soll. Dazu müssen Mose, 16. Kapitel, Vers 13). Hagar hat zuvor immer wieder unsere besondere Haltung Unglück, Gewalt und Übergriffe erlebt. Von und der besondere Blick für die Nächsten geachteter Menschenwürde keine Spur. In kultiviert werden. Moderne Unternehmen, der Begegnung mit Gott hat sie Stärkung die auf solch ein Wertfundament bauen, erfahren. nennen sich heute oft »value based«. Die Wie wichtig ist es, wenn Bewohner und Graf Recke Stiftung ist das schon seit fast Klientinnen bei uns genauso aufatmen 200 Jahren, eben mit »Fokus Mensch«. können. Weil einer unserer Mitarbeitenden Die immer noch spürbaren Ein- ihre Sorge und ihre Bedürfnisse gesehen schränkungen durch das Coronavirus, hat und auch das, was gelingt und Freude aber auch unser anstehendes 200-jähriges macht. Weil ihnen Aufmerksamkeit und Jubiläum sind übrigens der Grund dafür, Menschenwürde geschenkt wurden: »Du dass unser Jahresthema 2021 auch das bist ein Mensch, der mich sieht!« Überall da Jahresthema 2023 sein wird. Damit es nicht wird aus Begegnung wirkliches Leben. zwischen der unerfreulichen Pandemie und Wir wünschen gute Lektüre und interes- dem erfreulichen Jubiläum verloren geht, sante Begegnungen! steigen wir 2023 noch einmal tiefer ein in das Thema »Fokus Mensch – ohne Wenn und Aber«. Ihr Ihre In einer Aufmerksamkeitsgesell- schaft, in der sich täglich so viele wichtige und scheinbar wichtige Nachrichten in Pfarrer Markus Eisele Petra Skodzig den Vordergrund drängen und unsere Theologischer Vorstand Finanzvorstand 3/2021 recke:in 3
8 Inhalt 6 Kreuz & quer 8 Die Flut hinterlässt Zerstörung – und schafft Solidarität Das Hochwasser in Grafenberg und seine Folgen 16 Theologischer Impuls Furchtlos? 17 Angekommen Wolfram Hutsteiner ist nach verschlungenen Wegen beruflich am Ziel 8 18 Ein Gefühl von Freiheit Leon hat es gepackt und sein Abi 20 24 geschafft – gegen alle Widrigkeiten 20 Seitenblick Kerstin Sittig lebt ihre Leidenschaft seit einem Vierteljahrhundert 22 Ihre Unterstützung Was Halt gibt 24 Wenn die Nabe surrt … Die Stadtradel-Champions der Graf Recke Stiftung 4 recke:in 3/2021
ende Ihre Siplft! h Charlotte Wilts muss mit 91 Jahren noch mal neu starten. Sie ist eine von vielen Seniorinnen und Seni- oren, die beim Hochwasser ihr Hab und Gut verloren haben. Für sie und die betroffenen Einrichtungen in Düsseldorf-Grafenberg hat die Graf Recke Stiftung einen Spendenaufruf gestartet. Denn für 8 den Wiederaufbau wird dringend Hilfe benötigt! 28 26 In dunklen Stunden ein Licht Toni Scheibenberger fällt auf – nicht nur äußerlich 28 Wieder zu Hause Der Umzug ins Seniorenheim war für das Ehepaar Köhn die richtige Entscheidung 30 recke:on – weiterlesen im Newsportal Von einsam zu zweisam – Friedensengel mit Geschichte – Staffelstab übergeben 18 3/2021 recke:in 5
KREUZ & QUER Erzähl’s in Gebärdensprache: Der DGS-Slam Der DGS-Slam der Graf Recke Stiftung findet nach pandemiebe- dingter Pause im September live und hybrid im Flingerner Kultur- zentrum zakk statt. Unter dem Motto »Erzähl deine Geschichte ist wieder da in Deutscher Gebärdensprache (DGS)!« lädt der DGS-Treff am Sonntag, 19. September 2021, um 16 Uhr ins zakk in die Fichten- straße 40 in 40223 Düsseldorf-Flingern. Dank der Kooperation mit dem Kulturzentrum wird die Veranstaltung nicht nur live statt- finden, sondern parallel auch online gestreamt. »Endlich wieder Nach der Corona-Zwangspause ist er Poesie auf der Bühne«, meint Christiane Brinkmann vom zakk. wieder da: der DGS-Slam. Auch am »Geschichten lesen ist das eine, aber die Poeten auf der Bühne 19. September gelten im erleben, das ist das besondere Liveerlebnis.« Je fünf Minuten lang Kulturzentrum zakk in sind die Spots der Bühne auf die jungen Slammer gerichtet, die Düsseldorf-Flingern noch die das Publikum in der visuellen Sprache von ihrer Geschichte überzeugen wollen. Die inklusive Veranstaltung stärkt den Vorsichtsmaßnahmen Austausch zwischen jungen Menschen mit und ohne der Pandemie, aber Hörbehinderungen wie auch die Deutsche Gebär- die Vorfreude ist densprache (DGS), die bundesweit von etwa groß. 200.000 Menschen verwendet wird. Mehr erfahren unter www.recke-on.de/dgs-slam 6 recke:in 3/2021
KREUZ & QUER Märchen in Acht Familienfreizeit in der Eifel stand im Zeichen von Teamfähigkeit und unter einem besonderen Motto. Familienfreizeit im Örtchen Acht in der Eifel: Sieben Familien aus dem Umfeld der Fünf-Tage-Gruppe Ratingen erlebten tolle Gemein- schaftsspiele und erhielten zahlreiche Aufgaben, die es als Familie oder Team zu bewältigen galt. Ob lange Wanderungen, ein Besuch im Kletterpark oder andere Aktionen: Die Teilnehmenden lernten, eigene Grenzen zu erkennen, aber auch über sich hinauszuwach- sen, berichtet der Teamleiter Oliver Nitschmann. Und er erklärt auch, warum die Reisenden auf dem Foto so märchenhaft ausse- hen: Märchen waren das Motto dieser Freizeit. »In Spielen beweisen die Teilnehmenden innerhalb der eigenen Familie ihre Teamfähig- keit, um sich gegenseitig zu unterstützen, anzufeuern oder auch zu trösten.« Die Fünf-Tages-Gruppe Ratingen befasse sich seit zehn Jahren mit wechselnden Themen in den Freizeiten und habe dies von der Fünf-Tages-Gruppe Wittlaer übernommen, die schon fast zwei Jahrzehnte so arbeite, berichtet Oliver Nitschmann. Graf Recke Stiftung übernimmt zwei weitere Kitas Die Kitalandschaft der Graf Recke Stiftung wächst. Nun gibt es zwei weitere Einrichtungen unter dem Dach der Graf-Recke-Kindertages- stätten gGmbH. Eine davon ist ganz neu und besonders naturnah. Die Graf Recke Stiftung hat zum 1. August 2021 die Kinderta- geseinrichtung Arche übernommen. Damit wechselt bereits die dritte und damit letzte Kita der Vereinten Evangelischen Kirchengemeinde (VEK) Mülheim an der Ruhr in die Träger- schaft der Graf-Recke-Kindertagesstätten gGmbH. Mitte August nahm außerdem eine ganz neue Kindertageseinrich- tung ihren Betrieb auf: Der Naturkindergarten in Bad Salzuf- len namens »Grünauer Strolche« besteht aus einer einzigen Gruppe und wird als Unterkunft einen etwa 30 Quadrat- meter großen Bauwagen beziehen. Dieser wiederum steht auf dem Außengelände des Jugendzentrums »@on!« an der Uferstraße 50 im Ortsteil Schötmar. Die Graf-Recke-Kinder- tagesstätten gGmbH, eine Tochtergesellschaft der Graf Recke Stiftung, betreibt damit inzwischen zwölf Kindertagesein- richtungen. Mehr erfahren unter www.recke-on.de/kitas2021 3/2021 recke:in 7
GRAF RECKE STIFTUNG Die Flut hinterlässt Zerstörung – und schafft Solidarität Von Özlem Yılmazer 8 recke:in 3/2021
GRAF RECKE STIFTUNG Das Hochwasser hat in Düsseldorf-Grafenberg viele Menschen in der Nacht aus ihren Betten gerissen. Auch Charlotte Wilts stand wie viele andere Seniorinnen und Senioren in ihrer Wohnung ohne Strom im Dunkeln und knöcheltief im Wasser. Die Flut aus der Düssel war auch in ihre Wohnung eingedrungen. Alle konnten in Sicherheit gebracht werden und sind wohlauf. Der Schock kam erst später, als die Ausmaße klar wurden: Viel Hab und Gut ist verloren. Ebenso persönliche Erinnerungsstücke. Die 91-Jährige ist dennoch gefasst. Auch, weil es viele helfende Hände gab. Neben Verlust erfahren die Betroffenen wertvolle Solidarität. A lles futsch, alles futsch«, sagt gedrungen waren. »Ich habe sofort die kleine ES WAR UNFASSBAR Charlotte Wilts traurig, als sie Taschenlampe geschnappt und gedacht: Was Während die meisten Bewohnerinnen und mit ihrem Gehstock in ihre 50 nehme ich denn mit?« Bewohner der dort ansässigen Graf Recke Quadratmeter große Zwei- Charlotte Wilts ist Ende August 91 Jahre Wohnen & Pflege und Graf Recke Sozial- zimmer-Wohnung tritt. »Das war mal mein alt geworden. Sie lebt seit einem Jahrzehnt psychiatrie & Heilpädagogik schliefen, Reich. Ich habe mich hier gefühlt wie im als Mieterin der Graf Recke Stiftung in ihrer waren die Mitarbeitenden zusammen mit Himmel.« Gemeinsam mit ihrer Enkelin seniorengerechten Wohnung in Düssel- Feuerwehr, DLRG und weiteren Hilfswerken Laura schaut sie in eine inzwischen leer dorf-Grafenberg, wo sie ambulante Service- bereits seit Stunden dabei, Vorkehrungen zu geräumte Erdgeschoss-Wohnung: Spuren leistungen erhält. Von der Nacht zum 15. Juli treffen und abzusichern, was abzusichern des Hochwassers der Düssel sind an Wänden, bis zum folgenden Wochenende wurden alle war. So auch Mitarbeiterin Christine Noglik Böden und aufgeweichten Türen zu sehen. knapp 60 Bewohnerinnen und Bewohner in vom Service-Wohnen Düsselthal. »Es lief Draußen war es noch dunkel, als einer Sicherheit gebracht, da das Hochwasser der alles so schnell voll. Es war unfassbar. Wir der vielen freiwilligen Helfer in der Nacht der Düssel, eines Nebenflusses des Rheins, das standen bis zu den Knien im Wasser. An eini- Flut an Charlotte Wilts’ Tür trommelte und gesamte Gelände überflutet hatte. In zwei gen Stellen sogar bis an die Oberschenkel.« sie weckte. Er rief hinein, sie solle sich schnell Wohnhäusern war der Strom ausgefallen. Weil Gemeinsam mit ihrem Kollegen Kay Wiesner etwas anziehen und sofort rauskommen. alle – vom Hausmeister bis zum Geschäfts- und ihrem Ehemann war sie die ganze Nacht »Und da habe ich wie doof dagestanden im bereichsleiter – vor Ort schnell handelten im Einsatz. »Mit jeder Welle kamen 20 bis Wasser!« Denn als sie aus ihrem Bett stieg, und sich gegenseitig halfen, blieben die dort 30 Zentimeter Wasser auf einen Schwung«, stand sie schon in den Fluten, die in der Nacht lebenden und arbeitenden Menschen unver- berichtet der Ehemann von Christine Noglik, von ihr unbemerkt in ihre Wohnung ein- sehrt und konnten gut versorgt werden. der wie viele a ndere unermüdlich mithalf, 3/2021 recke:in 9
GRAF RECKE STIFTUNG Sandsäcke an den neuralgischen Punkten: Reimund Weidinger und Christine Noglik (rechts) kämpften mit allen Mitteln gegen die Fluten. die Lage unter Kontrolle zu bringen. Schutz- ner für die Entsorgung weiter zu beladen. maßnahmen und Vorkehrungen waren Nach der tagelangen Bergung werden bereits am 14. Juli getroffen worden, mit die Ausmaße klar: Hauselektrik und Hei- einer Katastrophe dieses Ausmaßes hatte zung sind zerstört, Keller, Geschossdecken, jedoch niemand gerechnet. Böden, Fahrstühle und Wände müssen grundsaniert werden, auch Ausstattung und GENIALE HILFE Inneneinrichtung sind betroffen. Allein die 18 Wohnungen des Service-Wohnens Düs- reinen Sanierungskosten werden aktuell auf selthal, fast alle Keller der Einrichtungen der mindestens 750.000 Euro geschätzt. Hinzu- Graf Recke Wohnen & Pflege und Graf Recke kommen werden unter anderem noch Kos- Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik standen ten für die Neuanschaffungen. Dramatischer unter Wasser. Das Haus an der Düssel, ein sind aber die Folgen für die Bewohner der Wohnhaus für Menschen mit psychischen betroffenen 18 von insgesamt 54 senioren- Erkrankungen, war zwischenzeitlich nur gerechten Wohnungen. Viele haben ein- noch per Boot zu erreichen, das Gemein- fach alles verloren: Möbel, Haushaltsgeräte, schaftshaus samt Büro und die Räume der Hilfsmittel, Kleidung, Bücher, Fotoalben Arbeits- und Ergotherapie wurden über- und viele weitere persönliche Erinnerungs- flutet. »Wir konnten zugucken, wie das Was- stücke. »Die Meisten benötigen jetzt Unter- ser gestiegen ist. Wir Mitarbeitenden hatten stützung, weil sie einfach nicht die finanziel- Tränen im Gesicht, weil es ganz einfach len Ressourcen haben, um sich Sachen neu schlimm ist. Das Schöne aber ist, dass so zu kaufen«, berichtet Christine Noglik und Pfarrer Markus E isele. Es sei klar, dass ein viele Helfer hierhergekommen sind. Egal fügt hinzu: »Eine Bewohnerin fragte mich, Großteil der Hochwasserschäden nicht über ob Feuerwehr, DLRG, DRK, ASB, THW – was mit den Lebensmitteln in Kühlschrank Versicherungen getragen werde, sagt Finanz- die waren alle einfach nur genial«, sagt und Gefriertruhe sei. Für sie ist der gefüllte vorstand Petra Skodzig mit Blick auf die Christine Noglik während der ersten Auf- Kühlschrank ein Vermögen wert. Ich habe Bewohner und betroffenen Einrichtungen. räumarbeiten. Ihr Handy klingelt ununter- auch Mieter, die, wenn sie am Monatsende Daher sei die Unterstützung durch Spen- brochen, Bewohner und Angehörige haben eine schwarze Null auf dem Konto haben, den- und Fördermittel weiterhin wichtig, viele Fragen. Christine Noglik und ihre Kolle- gut dastehen. Es ist wirklich traurig.« Alles, um den Wiederaufbau voranzubringen. gin Andrea Dürken versuchen allen gerecht was noch zu retten war, wurde erst mal ein- »Wir tun alles dafür, dass alle Bewohner zu werden. Es scheint ihnen zu gelingen. gelagert. Bis der Einzug wieder möglich ist. bald wieder in ihr Zuhause zurückkehren Ein Hilfeaufruf auf Facebook wirkt Wunder, und auch unsere Angebote für die von uns viele Menschen wollen ehrenamtlich helfen. WEITERE UNTERSTÜTZUNG BENÖTIGT betreuten Menschen wieder aufgenommen Es kommen zahlreiche freiwillige Helfer, Die Stiftung hat für die betroffenen werden können!« weitere Mitarbeitende und Angehörige und Privatpersonen wie für ihre von der Flut packen tagelang überall mit an. So auch Pia: beschädigten Einrichtungen zu Spenden SCHICKSALSGEMEINSCHAFT ÜBER NACHT »Wir sind aus Düsseldorf und wollen nicht aufgerufen, sie unterstützt auch betroffene Auch Charlotte Wilts aus Ostbrandenburg nur zuschauen, wie andere Leid ertragen Mitarbeitende bei der Beantragung von hat ihr Hab und Gut verloren. In der Nacht müssen. Wir wollen einfach helfen!« Tobias Soforthilfen und wird überall, wo nötig, des Hochwassers bewahrte die 91-Jährige Töpperwein wurde von seinem Arbeitgeber auch in Vorleistung gehen. »Es ist wich- einen kühlen Kopf. Sie zog sich rasch an, Henkel für die tatkräftige Hilfe von der Arbeit tig, dass wir zunächst unsere Seniorinnen schnappte schnell noch Geldbeutel und freigestellt: »Ich bin seit drei Tagen hier und und Senioren und auch die betroffenen Mit- Fahrkarte. »Dann standen da schon die jun- kann helfen.« Der 35-Jährige geht mit sei- arbeitenden unterstützen. Gott sei Dank ist gen Leute von der DLRG und halfen uns, nem Kollegen zurück in den nächsten Keller, niemand verletzt worden«, betont der Theo- über die Sandsäcke zu steigen«, berichtet die um den gerade angelieferten dritten Contai- logische Vorstand der Graf Recke Stiftung, Seniorin, dankbar. Ihren Humor hat sie nicht 10 recke:in 3/2021
GRAF RECKE STIFTUNG 3/2021 recke:in 11
GRAF RECKE STIFTUNG Britta Guschke, 59, eine große Belastung. Es dauert, bis man der Graf Recke Stiftung in Grafenberg im Klientin der Tagesstätte das verarbeitet hat. Im überschwemmten Einsatz. Ich habe mehrere Tage geholfen, »Bis zur Schließung wegen Corona habe Keller lagen unter anderem viele Fotoalben es war viel gleichzeitig zu tun. Wir haben ich im Café Geistesblitz hier auf dem Areal mit Erinnerungen, die zerstört wurden. in einem Keller das Wasser abgepumpt gearbeitet, mal in der Küche und mal im Das waren Bilder ganzer Leben, von Ein- und nebenan Sperrmüll rausgetragen. Das Service. Das Café ist vom Hochwasser zum schulungen, Hochzeiten oder Reisen. Aber: Belastende war, das gesamte Hab und Gut Glück verschont geblieben. Aber ich kam Es ist niemand körperlich zu Schaden der alten Leute in Container zu werfen. am Tag nach dem Unglück hierher, um zu gekommen. Wir können daher versuchen, Aber ich würde immer wieder helfen. Gera- sehen, was wirklich passiert ist. Das alles die Welt wieder so herzustellen, dass die de wenn man sieht, dass andere Leute ganz hat mich sehr betroffen gemacht und ich Menschen sich wieder zu Hause fühlen. andere Probleme haben. Deshalb finde habe deshalb meine Hilfe angeboten. In Und das treibt mich an.« ich es toll, dass Henkel auch finanzielle der ersten Zeit waren allerdings nur Pro- Hilfe angeboten hat und dazu Produkt- fis gefragt. Am Sonntag danach habe ich Dr. Gerlind Rurik, 84, spenden im Wert von einer halben Million dann zusammen mit anderen Freiwilligen Bewohnerin Service-Wohnen für die Flutopfer in der ganzen Region zur die erste überflutete Wohnung im Erd- »Ich wohne im sechsten Jahr an der Grafen- Verfügung stellt, vom Waschmittel bis zu geschoss freigeräumt. Es war das Zuhause berger Allee und ich wohne gerne dort. Körperpflegeprodukten. Soziales Enga- einer Weltenbummlerin, sie hatte Dinge Es ist ruhig und es gibt einen schönen, gement ist für mich eine Selbstverständ- von überallher gesammelt, die jetzt weg- gepflegten Garten, das ganze Jahr über lichkeit. Ich habe zum Beispiel 15 Jahre geworfen werden mussten. Das ist so, als blüht irgendwas. Schade, dass ich im lang Handballmannschaften trainiert. ob man ein halbes Leben auslöscht. Es war Moment nicht da sein kann. Das Wasser Ich finde, wir müssen als Gesellschaft schlimm, das zu erleben. Das war nicht hat uns vertrieben. In der Flutnacht konn- zusammenhalten. Deshalb habe ich mich nur körperlich meine Höchstleistung seit ten wir alleine nicht mehr das Gebäude auch so gefreut, dass immer mehr Helfer Langem, das hat mich auch mental sehr verlassen, draußen stand mir das Wasser nach Grafenberg kamen. Darunter waren gefordert. Ich habe in diesen Tagen nur bis übers Knie. Aber zum Glück gab es vier Jugendliche aus Mönchengladbach, funktioniert und versucht, so viel wie mög- kompetente Helfer, die uns zum Boot und die sich extra von ihrer Mutter hatten her- lich zu retten. In meinem Leben habe ich damit bis zum Bus gebracht haben. Ich bin fahren lassen. Das fand ich ganz toll.« oft Hilfe bekommen von Menschen, die kein aufgeregter Mensch und bin ruhig nicht dafür bezahlt wurden. Jetzt war für geblieben, wie die anderen Bewohner auch. Christina Puntus, 36, mich der Moment, ein Stück davon zurück- Die Verwaltungsleiterin suchte noch in der Klientin der Tagesstätte zugeben. Es war auf jeden Fall richtig und Nacht am Handy eine Bleibe für uns, seit- »Ich arbeite seit knapp drei Jahren eigent- hat mich auch selbst weitergebracht. Ich dem wohne ich in Notunterkünften. Meine lich bei der Graf Recke Stiftung in der bin über meinen Schatten gesprungen und eigene Wohnung liegt im ersten Stock, das Wäscherei. Ich finde die Arbeit sehr span- bin jetzt auch ein bisschen stolz, dass ich war mein Glück. Aufgrund einer aktuellen nend und abwechslungsreich, wir sind den Mut hatte. Einfach zu fragen – und Einschränkung beim Gehen kann ich aber dort wie eine kleine Familie. Doch nach dann konkret zu helfen.« zurzeit nicht zurück, weil der Aufzug noch dem Hochwasser war die Wäscherei nicht nicht funktioniert. Meine persönlichen mehr begehbar. Ich vermisse die Arbeit Udo Hamacher, 49, Gegenstände sind aber unversehrt, bis sehr und hatte mich deshalb entschieden, Haustechniker, Zentrale Dienste auf meine Winterkleidung, die lagerte im mich in dieser Zeit anders einzubringen. »Eigentlich betreuen wir zu dritt die Keller. Dazu ein Berg an Bettwäsche und Nach den Hochwassermeldungen habe ich Liegenschaften der Graf Recke Stiftung, Handtüchern, die ich zu Weihnachten 20 deshalb mehrere Medien angeschrieben, nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in bedürftigen Familien spenden wollte, das wo ich helfen könnte, aber keine Antwort Wuppertal, Hilden oder Oberhausen. Aber ist jetzt alles weg. Ich muss jetzt versuchen, bekommen. Dann habe ich den Aufruf vom seit Mitte Juli bin ich im Prinzip jeden Tag das wieder zusammenzubringen, und bis Service-Wohnen der Stiftung auf Facebook nur noch an der Grafenberger Allee im Ein- Dezember ist es nicht mehr lang. Ich mache entdeckt und mich sofort gemeldet. Auf dem satz. Was wir hier seit Wochen erledigen, es wie Sisyphus: Nicht entmutigen lassen, Gelände habe ich nach dem Hochwasser sind vor allem Aufräumarbeiten. Danach ich fange wieder neu an. Und wir müssen fünf Tage lang ehrenamtlich geholfen. Wir versuchen wir gemeinsam mit diversen uns um die Leute kümmern, die zum Teil haben unter anderem die Wohnung einer Handwerker-Kollegen und vielen Frei- alles verloren haben, dass die wenigstens älteren Dame ausgeräumt und konnten zum willigen, die Räumlichkeiten wieder intakt wieder den Kühlschrank vollkriegen.« Glück einiges retten. Das war für mich alles zu bekommen. Die unteren Wohnungen sehr emotional. Zu erleben, wie verwirrt die kommen um eine Komplettsanierung nicht Tobias Töpperwein, 35, alten Leute teilweise waren. Und dass die herum. Es gibt seit Wochen so viel zu tun, IT-Consultant bei Henkel Menschen teilweise alles verloren haben, dass man kaum weiß, wo man anfangen »Ich betreue bei Henkel eigentlich ein Pro- geerbte Möbel und Erinnerungsstücke zum soll. Aber wir müssen mit System vorgehen gramm, das im Klebstoffbereich die welt- Beispiel. Ich habe leider nicht die Möglich- und mit den anderen Beteiligten Hand in weiten Material-Lieferketten sicherstellt. keiten, hier groß finanziell zu unterstützen. Hand arbeiten, sonst würde es aus dem Nach der Flutkatastrophe hat mein Arbeit- Und da wollte ich persönlich anpacken. Ich Ruder laufen. Unser Ziel ist es, vor allem geber aber schnell reagiert und möglichst habe dabei und danach ganz viel Dankbar- die Wohnungen so gut und so schnell wie allen, die ehrenamtlich helfen wollten, keit durch die Menschen erfahren. Für mich möglich wiederherzurichten. Es ist ja das eine Freistellung ermöglicht. Ich bin dann steht deshalb fest: Ich würde das immer wie- Zuhause vieler älterer Menschen. Das hier zum Flut-Infopoint in Gerresheim gefahren der so machen.« alles unter Wasser zu erleben, war seelisch und 20 Minuten später war ich schon bei Aufgezeichnet von Achim Graf 12 recke:in 3/2021
GRAF RECKE STIFTUNG ende Ihre Siplft! h »Jeder hat jedem geholfen.« Schon am nächsten Tag begannen die Aufräumarbeiten. verloren: »Dann haben wir dagesessen wie auf das überflutete Gelände und in ihre Bildlegende aufgereiht auf einer Schnur, die ganzen alten geliebte Wohnung. »Dann habe ich erst Tanten.« Beeindruckt von der Gefasstheit mal einen Schock gekriegt. Alles im Eimer, der teils sehr betagten Bewohner ist der Lei- alles!«, erzählt Wilts. Wie bei vielen kam »Ihre Spende hilft uns ter der Graf Recke Wohnen & Pflege Joachim der Schock erst Tage später beim Anblick beim Wiederaufbau nach Köhn, der ebenfalls in der Hochwassernacht der Verwüstung. Nur ihrem Sekretär mit der Flutkatastrophe mit angepackt hat: »Sie sind zum Teil mit ihren wichtigen Dokumenten darin sei in Grafenberg! hochgekrempelten Hosen durch das Wasser glücklicherweise nichts passiert. »Der hat so gegangen. Das haben sie toll gemacht! Das richtig dicke Strempel als Füße!« Fast alles Herzlichen Dank für ist eine Generation, die das Leben nicht so muss sie jetzt neu kaufen. Auf qualitativ Ihre Unterstützung.« kennengelernt hat wie wir und die viel Not hochwertige und teure Möbel, wie sie sie wie Hunger nach dem Krieg erlebt hat.« vor dem Hochwasser hatte, werde sie dann Die Ereignisse der Nacht sind an Joachim verzichten müssen, und auch auf einen Köhn nicht spurlos vorbeigegangen: »Es war Teppichboden. »Ich werde lernen, mit dem erschreckend zu sehen, wie schnell sich die Wischmopp umzugehen«, sagt die 91-Jäh- Situation durch das Wasser ändern kann rige. »Das können wir aber auch machen«, und wie anfällig unser modernes Leben ist.« erwidert ihre 19-jährige Enkelin Laura, die Gemeinsam mit seinem Kollegen Reimund ihrer Oma beim Ausräumen der Wohnung Weidinger, Leiter der Graf Recke Sozial- geholfen hat. »Ich habe tolle Kinder und Özlem Yılmazer, psychiatrie & Heilpädagogik, haben sie sich Enkelkinder«, freut sich Charlotte Wilts. Leiterin Fundraising mit Feuerwehr und DLRG immer wieder zu Lagebesprechungen zusammengefunden RETTUNGSBOOT IM EINSATZ und das weitere Vorgehen koordiniert. »Alle Auch für Reimund Weidinger wird die Spendenkonto: haben in dieser Nacht Höchstleistungen Nacht zum 15. Juli in Düsseldorf-Grafen- Graf Recke Stiftung KD-Bank eG Dortmund erbracht, die Einsatzkräfte, unsere Mit- berg unvergessen bleiben. Er leitet die Graf IBAN DE44 1006 1006 0022 1822 18 arbeitenden, die Bewohner selbst. Wir sind Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik. BIC GENODED1KDB auf einen Schlag eine Schicksalsgemein- Auf dem Flutgelände befindet sich nicht Stichwort: RI Fluthilfe schaft geworden. Jeder hat jedem geholfen.« nur seine Verwaltung, zudem sind dort auch Alle Bewohner sind nach der Evakuie- Wohnhäuser für Menschen mit psychischen T 0211. 4055-1800 rung der Häuser in einer städtischen Not- Erkrankungen, ein arbeitstherapeutisches o.yilmazer@graf-recke-stiftung.de unterkunft, bei Angehörigen und in sta- Spielwarengeschäft, eine Gärtnerei, eine tionären Pflegeeinrichtungen der Graf Küche, ein Seminarraum und Werkstätten Recke Stiftung untergekommen. Zwei Tage der Arbeitstherapie. Am Tag vor der Flut nach der Hochwasserkatastrophe kehr- startete er zur Absicherung der Gebäude te Charlotte Wilts mit ihrem Sohn zurück eine Sandsackaktion. Sand wie Säcke 3/2021 recke:in 13
GRAF RECKE STIFTUNG 17 Vor recke: Jahren rückblick »SOS! Stiftung säuft ab« Schon einmal stand das Gelände der Graf Recke Stiftung an der Grafenberger Allee Den Humor nicht verloren: »Dann haben wir dagesessen wie in Düsseldorf unter Wasser: Im November aufgereiht auf einer Schnur, die ganzen alten Tanten.« 2004 trat die Düssel während der Bauphase eines Dükers, also einer Leitung zur Unter- querung des Flusses, über die Ufer. Eine im Zuge der Arbeiten vorgenommene Ver- urden von Firmen und dem THW geliefert w und untypisch für sonstige Nächte hat sich engung des Flussbetts in Kombination mit und von den Mitarbeitenden befüllt. »In kein Klient beim Personal bemerkbar gemacht Regenfällen hatte dazu geführt, erinnert sich relativ kurzer Zeit! Wir haben die Sandsäcke oder eine Krise gehabt.« Reimund Weidinger ein Mitarbeiter und Zeitzeuge. »SOS! Stif- an neuralgische Punkte wie Kellerabgänge erklärt das damit, dass die Klientinnen und tung säuft ab« titelte tags darauf gewohnt boulevardesk der Düsseldorfer »Express«. gebracht. Am frühen Abend dachten wir Klienten wussten, »dass wir uns um alles küm- Mehrere Keller liefen voll und auch die sogar, dass wir mit der Vorsorge vielleicht mern, sie konnten sich so weit sicher fühlen Werkstätten der Arbeits- und Ergotherapie übertrieben hätten«, berichtet Weidinger. und bringen durch die eigenen Erfahrungen waren – wie heute – betroffen. Ebenso war Er bestellte bei der DLRG sogar ein richtiges auch eine gewisse Resilienz mit.« auch 2004 das Haus an der Düssel, ein Boot, obwohl die Lage zu dem Zeitpunkt sta- Im Geschäftsbereich Sozialpsychiatrie Wohnhaus für Menschen mit psychischen bil schien. »Als das Boot angeliefert wurde, & Heilpädagogik sind keine Privatpersonen Erkrankungen, kurzzeitig nur per Schlauch- haben manche gesagt: ›Weidinger, du bist von den materiellen Folgen der Flut in boot erreichbar. Wohnungen waren aber von den Fluten verschont geblieben: Das im Juni bekloppt!‹« Grafenberg betroffen, wie es bei der Alten- 2004 gerade erst neu bezogene Service- Wie sein Kollege Joachim Köhn von der hilfe der Fall ist. Getroffen hat es aber Ein- Wohnen Düsselthal für ältere Menschen, bei Graf Recke Wohnen & Pflege wurde auch richtungen mit wichtigen therapeutischen der aktuellen Überflutung im Erdgeschoss Reimund Weidinger, zur beginnenden Angeboten für Menschen mit psychischen schwer getroffen, war von der damaligen Nacht kaum zu Hause angekommen, wieder Erkrankungen, wie Diana Lechleiter, neue Flut verschont geblieben. nach Grafenberg zurückgerufen. Das Was- Bereichsleiterin der Arbeits- und Ergo- ser war sehr stark angestiegen. Zusammen therapie, berichtet. Die Räume auf einer Flä- mit seinen beiden Mitarbeitenden Thors- che von 800 Quadratmetern müssen grund- ten Banna und Jan Dubbel hat er die Vor- saniert werden. Ort-Hilfe koordiniert. »Das Haus an der Auch Diana Lechleiter war die halbe Düssel war komplett von Wasser umgeben. Nacht und am Vortag im Dauereinsatz. Wir konnten es nur noch mit dem Boot »Hier ist im Prinzip kein Raum trocken erreichen«, sagt Reimund Weidinger, froh geblieben. Das Wasser stand überall bis zu über seine Vorahnung. Es sah zwischenzeit- 30 Zentimeter hoch.« Zeit zum Verarbeiten lich so aus, als müsste das Wohnhaus mit des Erlebten gab es erst mal nicht, wie sie 25 Bewohnerinnen und Bewohnern evaku- sagt. Nach den Schutzmaßnahmen begann iert werden. Das war am Ende nicht nötig. sofort das große Aufräumen. »Wir haben Für die Bewohner gab es keine Gefahr, sie alle einfach nur funktioniert. Am Freitag waren mit allem versorgt. Das Boot kam ist das Wasser zurückgegangen und überall ein weiteres Mal bei der Evakuierung der war Schlamm«, erzählt Lechleiter. »Jeder Seniorenwohnungen zum Einsatz. »Das hat sofort mit angepackt, sich einen Lappen stabile Boot war für die älteren Men- geschnappt und versucht zu retten, was zu schen richtig gut«, so Reimund Weidinger. retten war.« Leider sei das nicht viel: »Tat- sächlich sind alle Möbel kaputt.« Sichtlich DIE KRISE, DIE AUSBLIEB beeindruckt ist Diana Lechleiter, die erst seit Ein Segen war auch, dass seine Bewohner Kurzem in der Graf Recke Stiftung arbeitet, mit psychischen Erkrankungen in der von der großen Solidarität, die allen Kraft Nacht der Flut ruhig schliefen. »Sie haben schenke. Das Netzwerk sei toll, alle hät- über Tag und in den Abend hinein mit- ten ihre Kontakte genutzt. »Wir haben uns bekommen, dass Wasser da ist, sind aber alle gegenseitig geholfen. Die Zusammen- irgendwann ganz normal ins Bett gegangen – arbeit mit Frau Noglik ist prima. Auch unser 14 recke:in 3/2021
GRAF RECKE STIFTUNG WIR DANKEN ALLEN HELFERINNEN UND HELFERN, ALLEN UNTERSTÜTZERINNEN UND UNTERSTÜTZERN, ALL DEN FREIWILLIGEN, »Das Wasser stand überall bis 30 Zentimeter hoch.« ZUPACKENDEN UND Für Diana Lechleiter und ihre Kolleginnen und Kollegen begann anderntags das große Aufräumen. SOLIDARISCHEN MENSCHEN, DIE UNS IN DIESEN SCHWIERIGEN ZEITEN GEHOLFEN UND SO VIEL Team hält tapfer zusammen, ob die Mit- arbeitenden oder Klienten. Das erlebe ich MUT GEMACHT HABEN. nur positiv.« Lechleiter weist darauf hin, dass die Klienten in den betroffenen Räumen ihre www.graf-recke-stiftung.de/danke arbeitstherapeutischen Werkstätten haben und nun all ihre Sachen wegwerfen müs- sen. »Viele sind seit Jahren und Jahrzehnten hier. Das fällt auch einfach schwer und belastet. Auch wenn es im Verhältnis zu anderen Regionen harmlos war und nur Sachschäden entstanden sind: Das ist ihr Arbeitsplatz und hat eine hohe Wichtigkeit für die Identifikation.« »ABENDS WIRD OMA WIEDER EIN BISSCHEN TRAURIG« Mit ihrer Wohnung identifizierte sich auch die 91-jährige Charlotte Wilts. Sie geht noch einmal auf ihre Terrasse im Grünen: »Hier habe ich immer gesessen, zweimal schon haben Meisen hier gebrütet. Können Sie sich vorstellen, wie schön das war?«, fragt sie und geht zurück zu ihrer Enkelin Laura, die noch im kahlen Wohnzimmer steht und sagt: »Abends wird Oma wieder ein bisschen traurig.« Enkeltochter und Oma umarmen sich. Charlotte Wilts kommt bis zum Tag der Wiederkehr in ihre Wohnung bei ihren Angehörigen unter. Und – sie lässt sich auch mit 91 Jahren nicht unterkriegen: »Aber sonst geht’s! Wir müssen es nehmen, wie es ist.« // 3/2021 recke:in 15
THEOLOGISCHER IMPULS VON PFARRER MARKUS EISELE, THEOLOGISCHER VORSTAND DER GRAF RECKE STIFTUNG Furchtlos? D ie Furcht und das Mitgefühl wohnen im Herzen. Jeder kennt es, wenn es einem das Herz zusammenzieht. Aus Sorge um liebe und nahe Menschen, auch um sich selbst. Oder weil man mit dem Herzen Anteil nimmt am Schicksal der Nächsten. Anlässe und Katastrophen gab es in letzter Zeit genug: Corona, das Hochwasser, den Klimawandel, Afghanistan, Haiti, unzählige politische und gesellschaftliche Entwicklungen. WAS HILFT GEGEN FURCHT? Kinder und Jugendliche lernen beim Klet- tern in unserem Hochseilgarten spielerisch wieder Selbstvertrauen und Vertrauen. Die Gewissheit, dass die Gurte halten und vor allem ein Helfer unten wachsam absichert, gibt ihnen die nötige Sicherheit. Sie kön- nen nicht ungebremst fallen. Es ist das gute Gefühl: »Fürchte dich nicht, denn ich bin da.« Für mich ist es das Vertrauen auf Gott, der da ist und mich auffangen kann. Der zusagt: »Fürchte dich nicht« – für mich eine der schönsten Zusagen aus der Bibel. Dutzende Male zugesprochen in schweren Zeiten und zu Menschen, die in Furcht zu erstarren drohten. Diese oft von Engeln überbrachte göttliche Botschaft hat Menschen wieder in Bewegung gesetzt. Paulus von Tarsus hat einmal resümiert: »Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.« Im Geist der Liebe besonnen und kraftvoll zusammenzustehen, macht vielleicht nicht automatisch mutiger, aber sicher etwas furchtloser. Weil man nicht alleine ist. // 16 recke:in 3/2021
ERZIEHUNG & BILDUNG Mit 44 Jahren beendete Wolfram Hutsteiner im Sommer seine Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher bei der Graf Recke Stiftung. Sein Berufsweg bis dahin war ein verschlungener, aber erfüllender. Doch spätestens nach seinem Anerkennungsjahr in der Wohngruppe OHNE WENN Arche I fühlt er sich beruflich am Ziel. UND ABER Angekommen gebildet. Die Hälfte der externen Kandidaten hat im Sommer 2020 bestanden, Wolfram Hutsteiner gehörte dazu. Er war fast am Ziel. Doch während die anderen fürs Anerkennungsjahr in die Kita wollten, hat Von Achim Graf sich Wolfram Hutsteiner für ein Feld ent- schieden, das er noch nicht kannte: die W Jugendhilfe. Keinen Moment hat er diese Ent- olfram Hutsteiner hatte Das ist erfüllend, das macht Spaß.« Den scheidung bereut. In der Intensivwohngruppe schon manchen beruf- Wechsel an die Uni Köln und den späteren Arche I am Campus Hilden war er jetzt ein lichen Traum: Er wollte als Versuch, nebenberuflich Pädagogik an der Jahr lang »gleichwertiger Teil eines multi- Staatsanwalt die Belange Fernuni Hagen zu studieren, bezeichnet er professionellen Teams«, wie er es empfindet. der Gesellschaft vertreten; er wollte Schü- aus heutiger Sicht als »letztes Aufbäumen«. Er habe mit tollen Kolleginnen und Kollegen lern die deutsche Sprache näherbringen und Stattdessen nahm sein beruflicher Weg die in diesem Jahr »mehr gelernt als in der gesam- sie in die Geheimnisse der Philosophie ein- nächste Wendung. ten Unizeit«. Doch auch die Arbeit mit den weihen. Die Wege dahin aber stellten sich Wolfram Hutsteiner bewarb sich beim Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und für ihn jeweils recht schnell als Sackgasse Familien unterstützenden Dienst (FuD) 17 Jahren hat ihn begeistert – und die Heran- heraus. Daher ist er Umwege gegangen, der Graf Recke Stiftung als Inklusions- gehensweise in der Arche I. ebenso verschlungene wie erfüllende. Mit 44 begleiter. Das hat gepasst: Sieben Jahre Jahren hat er nun seinen Platz gefunden, in lang betreute er Kinder mit Förderbedarf VERBINDLICHKEIT UND WERTSCHÄTZUNG der Jugendhilfe. Und mit einem Abschluss: in einer Grundschule in Köln-Ehrenfeld, »Drei Dinge sind uns wichtig«, erläutert er. Er ist staatlich anerkannter Erzieher. Sein hatte sich zwischendurch zudem zum »Unsere Kinder werden von uns gesehen, Anerkennungsjahr bei der Graf Recke Stif- Inklusionsassistenten zertifizieren lassen. wertschätzend behandelt und achtsam tung ging in diesem Sommer zu Ende. Für ein Jahr arbeitete er im Anschluss in begleitet.« Das gehe nur über Bindung, klare Wolfram Hutsteiner lacht: »Ich wollte einer Kita. »Bei alldem dachte ich davor: Regeln und das Setzen von Grenzen. Den jun- einfach mal etwas zu Ende bringen, außer Ich kann’s nicht. Aber ich konnte es – und gen Menschen war das zuvor zumeist nicht Abitur und Führerschein«, meint er dann es hat Spaß gemacht.« Für ihn, dessen Part- vergönnt. »Die Kinder aber wünschen sich mit breitem Grinsen. Ein Stückchen Wahr- nerin als Ergotherapeutin in Kaarst mittler- das, gerade weil ihr voriges Umfeld meistens heit aber steckt in dieser Aussage. Sein weile ebenfalls für die Stiftung tätig ist, nicht verlässlich war«, sagt er. Dabei sei es Jurastudium in Bonn, direkt nach Abitur war das der Zeitpunkt, Nägel mit Köpfen unbedingte Voraussetzung, authentisch zu und Bundeswehrzeit, hatte der gebürtige zu machen. sein. »Kinder haben dafür ein feines Gespür«, Mayener nach drei Semestern abgebrochen, Mit knapp über 40 bemühte sich Wolf- hat er erkannt. weil ihn die Inhalte gelangweilt haben. Das ram Hutsteiner um die Zulassung zur Wo ihn sein Weg in der Stiftung nach anschließende Lehramtsstudium gab er externen Prüfung als Erzieher am Berufs- dem Jahr im Dorotheenviertel Hilden hin- nach einigen Jahren auf, weil er mittler- kolleg Opladen, unweit des gemeinsamen führen wird, ist jetzt, Anfang August, noch weile erkannt hatte, wie viel Freude ihm die Wohnorts. Die Grundlage hatte er mit offen. Wichtig ist für ihn, weiter mit jungen Arbeit in einer Einrichtung für Menschen bestandenem Abitur sowie der Erfahrung Menschen zu arbeiten. »Wenn ich spüre, dass mit Behinderung machte. aus zwei Praxisbereichen gelegt, »aber ohne sich eine Beziehung aufbaut, ich zu den Kin- Als Nebenjob war diese eigentlich dass ich wusste, was mich erwartet«. Er dern durchdringe, empfinde ich Bestätigung gedacht, »doch es wurde immer mehr. Zum wurde angenommen und sei in der Folge mit in meinem Handeln«, sagt er. Weitere beruf- Schluss arbeitete ich auf einer Dreiviertel- sieben weiteren Externen vom Berufskolleg liche Sackgassen sind für Wolfram Hutsteiner stelle«, erinnert er sich. Als Mitarbeiter im hervorragend durch die insgesamt drei Prü- kein Thema mehr. Aus gutem Grund: Wenn Gruppendienst sei er im Prinzip für alles fungen und ein Projekt begleitet worden, er merke, dass er im Job etwas bewirke, und zuständig gewesen, von Einkauf bis Pflege. wie er erzählt. Man habe sich die emp- das passiere immer häufiger, »dann fühle ich »Und zum ersten Mal habe ich erkannt: fohlenen Bücher gekauft und Lerngruppen mich angekommen«. // 3/2021 recke:in 17
ERZIEHUNG & BILDUNG Ein Gefühl von Freiheit Leon hat es gepackt: Er hat sein Abitur in der Tasche, strebt ein Studium der Biochemie an und bringt sich bei Musik- und Theaterprojekten ein. Doch der Weg des 18-Jährigen, der seit rund sechs Jahren in Einrichtungen der Graf Recke Stiftung lebt, war beileibe nicht immer leicht. Er kämpfte gegen Widerstände von außen wie von innen. Doch Leon hat sich befreit. Kerstin Sittig und ihr Team Von Achim Graf der Wohngruppe Kompass sind daran nicht ganz unschuldig. jedoch an seinem bestandenen Abitur. Ende Hintergründe oft nicht kenne. »Sie kämpfen Mai hat er am altehrwürdigen Landfer- häufig mit Vorurteilen«, hat sie festgestellt. mann-Gymnasium in Duisburg die letzte Doch Leon hat auch Lehrerinnen und Lehrer mündliche Prüfung in Mathe bestanden. erlebt, die sein Potenzial erkannt und ihn »Eine große Erleichterung« sei das gewesen, gefördert haben. sagt er. »Und ein Gefühl von Freiheit.« Dass er im Umgang nicht immer ein- Denn klar, die vergangenen knapp ein- fach war, er am Anfang »ein soziales Defizit einhalb Jahre waren für alle Abiturienten hatte«, räumt Leon offen ein. »Ich mag schwierig, für Leon aber wohl noch ein keine Menschen«, ist so ein Satz von ihm bisschen mehr. Dass er nun seinen eigenen aus dieser Zeit. Doch dies kam nicht von Haushalt schmeißt, war weniger das Pro- ungefähr: Er habe nicht gegen die Schule blem. »Wenn man alles in Etappen macht, rebelliert, macht er klar, »sondern gegen den bevor ein Berg Arbeit entsteht«, wie er Ex meiner Mutter«. Deren damaliger Partner Überraschungsparty nach dem Abi: schnell erkannt hat. Am Anfang der Pande- habe Macht auf ihn und seine Mutter aus- »Gemeinsam ein paar Tränchen verdrückt.« mie gab es allerdings nicht einmal Internet geübt, »mir ging es damals absolut scheiße«, I im Apartment, Leon musste alles Schulische sagt Leon. Seine aus Thailand stammen- m März 2020 wagte Leon den Schritt übers Handy erledigen. Ein Lehrer hatte ihn de Mutter, in Essen selbstständig mit einer ins Erwachsenenleben. Der damals zudem eine Zeit lang versehentlich nicht im Massagepraxis, habe zu der Zeit bis zu 15 17-Jährige wechselte nach Jahren in der E-Mail-Verteiler, die Tagesstruktur und der Stunden am Tag gearbeitet, berichtet Leon. Wohngruppe Kompass der Graf Recke Kontakt zu den Mitschülern fehlten ihm wie Sie sei einfach überlastet gewesen, glaubt Stiftung in ein benachbartes Apartment auf allen anderen zudem. er. Als die Situation sich zuspitzte, er nicht dem Campus in Düsseldorf-Wittlaer. Der mehr in der Familie verbleiben konnte, zog Umzug und das selbstständige Leben sollten NOCH IMMER KEINE LOBBY Leon zunächst als Zwölfjähriger in die Fünf- eigentlich seine Herausforderung werden, »Die Bedingungen waren schlechter, aber die Tage-Gruppe der Stiftung in Wittlaer, mit 14 sagt Kompass-Leiterin Kerstin Sittig. »Aber Anforderungen blieben gleich«, lautet Leons wechselte er dann in die Gruppe Kompass dann kam alles auf einmal: Corona, Lock- Fazit zum Abitur 2021. Es ärgert ihn, dass er von Kerstin Sittig. down, Homeschooling.« Doch was soll man seinen eigenen Ansprüchen bezüglich der »Er war am Anfang sehr skeptisch und sagen? Leon hat es gepackt, allen Schwierig- Abschlussnote dadurch nicht ganz gerecht in sich gekehrt, hat alles mit sich selber aus- keiten zum Trotz. wurde. Das verdeutlicht seinen Ehrgeiz, aber gemacht«, erinnert sich die Teamleiterin. Es ist ein sonniger Tag Ende Juli, der auch, welche Entwicklung der 18-Jährige in »Ich hatte das Gefühl, dass alle gegen mich mittlerweile 18-Jährige hat es sich auf den vergangenen Jahren genommen hat. »Er sind«, erklärt Leon sein damaliges Ver- einem der Baumstämme im Park gemütlich musste sich alles selbst erkämpfen«, macht halten, »dass meine Probleme nicht wichtig gemacht – und wirkt gelassen. Das liegt Teamleiterin Kerstin Sittig deutlich. Kinder sind.« Obwohl er sich, gegen den Willen sicherlich auch am Urlaub in Italien, aus und Jugendliche aus Wohngruppen seien des Partners der Mutter, wie er sagt, von dem er gerade zurückgekehrt ist. Vor allem immer noch im Nachteil, weil man deren der Realschule bereits aufs Gymnasium 18 recke:in 3/2021
ERZIEHUNG & BILDUNG Potenzial erkannt und gefördert: Leon mit seinem Abizeugnis. alleine lassen. Nur so funktioniert Jugend- hilfe, der Weg darf da nicht zu Ende sein.« GEMEINSAM SO VIEL ERREICHT Zu sehr haben Leon und das Team der Gruppe Kompass in den vergangenen Jahren zusammen gekämpft und gemeinsam viel erreicht. »Er hat ja nicht nur genommen, sondern auch viel gegeben«, betont Kers- tin Sittig und meint damit nicht allein die Mathe-Nachhilfestunden für die Jüngeren in der Wohngruppe. Leon sei zudem ein tief- und feinsinniger Mensch und habe als ausgewiesener Einzelgänger »ein gehöriges Maß an Empathie entwickelt«, lobt sie. Sogar für einen echten Gänsehautmoment hat er gesorgt: Bei seinem Auftritt in der Graf gekämpft hatte, ließen seine schulischen Leistungskurs-Lehrerin im Landschaftspark Recke Kirche 2019 zum Abschluss eines Pro- Leistungen nun ebenfalls nach. Und klar, Nord in Duisburg sein Abiturzeugnis über- jekts von Musikstudenten mit Jugendlichen, innerlich habe er lange nur ein Ziel gehabt, reicht. Unter den Gästen waren auch seine wo Leon als Sänger überzeugte. sagt Leon: »Der Typ muss weg! Ich hatte Mutter und Kerstin Sittig. Gemeinsam habe Leon, der sich das Gitarrespielen wie das mich dadurch selber verloren.« man »ein paar Tränchen verdrückt«, gesteht Singen selbst beigebracht hat, hatte rich- Kerstin Sittig. Später gab es eine Über- tig Spaß, vor Publikum aufzutreten, wie er AM TAG X WURDE ALLES ANDERS raschungsparty seiner Wohngruppe im Res- mit einem Lächeln bekennt. Gern möchte Und so gab es für den Jugendlichen tatsäch- taurant »Jäger« in Wittlaer, und alle waren er auch einen Solopart für den Song zum lich den Tag X, an dem sich alles ändern gekommen. Besonders gefreut hat Leon ein Jubiläum der Graf Recke Stiftung im kom- sollte: den Tag der Trennung seiner Mutter selbst verfasstes Gedicht eines Betreuers menden Jahr übernehmen. Auch bei einem von ihrem Partner, so dramatisch diese auch und ein persönliches Abi-Handtuch. von Filmemacherin Anke Bruns und Michael war. Davor habe er sich nie getraut, offen Für Leon öffnen sich nun viele Möglich- Mertens, Geschäftsbereichsleiter Graf Recke zu sprechen, »weil ich geglaubt habe, dass keiten. Er hat sich für ein Studium der Bio- Erziehung & Bildung, initiierten Theater- sie ihn braucht«. Nun war das anders, nach chemie beworben, auch Biomedizin würde projekt mischt er mit. Es wird dabei ja auch und nach habe er sich geöffnet. »Das war ihn reizen. Naturwissenschaften waren um sein Thema gehen: die Überwindung sehr mutig von ihm. Aber auch der Moment, immer seine Leidenschaft. »Emergenz finde von Vorurteilen und Stigmatisierungen, die an dem er gemerkt hat: Sie sind auf meiner ich faszinierend. Dass etwas mehr sein kann Kinder und Jugendliche erleben, die außer- Seite«, meint Kerstin Sittig. Für Leon ein als die Summe seiner Einzelteile«, sagt er. halb ihrer Kernfamilie aufwachsen. Leons wichtiger Punkt: »Dass ich es doch geschafft Sollte es mit dem Studium nicht auf Anhieb Kampf geht also weiter, im positiven Sinn. // habe, lag daran, dass ich Leute hatte, an die klappen, kann er sich auch zunächst ein Frei- ich mich wenden kann.« Er lacht, wie so oft williges Soziales Jahr vorstellen. Während- Hier geht es zum Film, an diesem Nachmittag. dessen bemüht sich Kerstin Sittig um seinen von dem Leon erzählt hat: Doch der 18-Jährige hat auch allen Grund Verbleib im Apartment, trotz Volljährigkeit. www.wir-sind-doch-keine-heimkinder.de/ zur Freude: Am 25. Juni bekam er von seiner »Aber wir werden Leon so oder so nicht der-film/ 3/2021 recke:in 19
ERZIEHUNG & BILDUNG Kerstin Sittig unterwegs: »Kommt einer Therapie schon ganz nahe.« Momente für sich Von Achim Graf Will Kerstin Sittig den Kopf freikriegen, setzt sie sich aufs Motorrad. Denn wenn die Teamleiterin aus der Wohngruppe Kompass auf einer ihrer Hondas unterwegs ist, wird sie »eins mit dem Moped«. Das gelingt der 53-Jährigen bei ihren regelmäßigen Fahrten zur Arbeit genauso wie auf Ausflügen an die Mosel oder im Urlaub in Kroatien. Mit ihrer vor einem Vierteljahrhundert entfachten Leidenschaft hat sie nicht nur ihren Sohn angesteckt. 20 recke:in 3/2021
ERZIEHUNG & BILDUNG Seiten Was machen unsere Mitarbeitenden eigentlich, wenn sie nicht im Dienst sind? blick! M »Die Küste it 27 Jahren traf Kerstin Sit- Scheune, eine Honda 750er Chopper Sha- tig eine Entscheidung, die dow geschützt unterm Vordach. Mit dieser nicht nur ihr eigenes Leben war sie vor nicht allzu langer Zeit sogar entlangzufahren, bereichern sollte: Damals in Kroatien unterwegs. »Die Küste ent- das war ganz beschloss die heutige Teamleiterin der langzufahren, das war ganz wundervoll«, wundervoll.« Wohngruppe Kompass der Graf Recke Stif- schwärmt sie. In den Süden gelangte das Kerstin Sittig tung in Düsseldorf-Wittlaer, den Motor- Motorrad allerdings auf dem Hänger. Nicht, radführerschein zu machen. Ihr damaliger weil sich Sittig keine tausend Kilometer im Lebensgefährte war begeisterter Biker, »und Sattel zutrauen würde. »Ich will nicht mit ich hatte keine Lust, nur hintendrauf zu kleinem Gepäck anreisen. Aus dem Alter bin sitzen«, erklärt Kerstin Sittig ihre damalige ich raus«, sagt sie mit einem Grinsen. Motivation. Mit Folgen: Bis heute ist das Ihre Begeisterung hingegen ist mit Motorrad ihre größte Leidenschaft, wie sie den Maschinen offensichtlich ebenfalls bekennt. gewachsen. Und so war es für Kerstin Sittig Dabei waren die Anfänge durchaus gar keine Frage, dass sie ihrem gemeinsamen bescheiden: Eine kleine Suzuki hatte sich Hobby treu bleiben würde, als ihr Lebens- Kerstin Sittig nach bestandener Prüfung gefährte vor acht Jahren starb. Die Kontakte, zunächst zugelegt. »Die Maschine musste die sie in die Biker-Szene aufgebaut hatte, auch von einer nicht so großen Person gut waren in der Folge sehr hilfreich. Mit Freun- zu handeln sein«, erklärt die 53-Jährige. Man den macht sie sich weiterhin regelmäßig auf müsse sie auch schieben und im Zweifel zu gemeinsamen Touren an die Mosel oder aufrichten können. Das allerdings war bis Ausfahrten zu Biker-Treffs in der Eifel. heute kaum einmal notwendig, sie habe Doch ganz gleich, ob zu zweit oder in Kollegin beigebracht hat, bis hin zum Dach- sich »noch nie richtig auf die Nase gelegt«, einer größeren Gruppe: Wenn sie auf dem decken ihrer Gartenhütte. »Ich saß auch wie sie erzählt. Sie fahre mit dem Motorrad Moped sitze, konzentriere sie sich ganz aufs schon auf meinem Haus, rittlings auf dem vorausschauender als mit dem Auto, ver- Fahren, sagt Kerstin Sittig; sie habe auch Dachfirst, und habe den Schornstein ver- suche auch die anderen Verkehrsteilnehmer bewusst keine Sprechanlage im Helm. »Das putzt.« einzuschätzen. »Mir ist bewusst, dass ich sind Momente, die man ganz für sich alleine Noch lieber aber sitzt Kerstin Sittig keine Knautschzone habe.« hat.« Es ist ein wichtiger Ausgleich für die freilich auf einer ihrer beiden Hondas. Ein Was ebenfalls hilft: Es geht Kerstin Sittig 53-Jährige, die sonst »schon hauptsächlich Leben ohne Moped sei für sie nicht denkbar, nicht ums schnelle Fahren, sondern ums für andere da ist«, wie sie bekennt. Das gilt sagt sie. Ihren mittlerweile 32-jährigen Sohn sogenannte Cruisen, sie liebt die Kurven für ihre Arbeit als Erzieherin mit Kindern hatte sie daher schon mitgenommen, »als und die vorbeiziehende Landschaft, wie und Jugendlichen ganz besonders. Etwas der noch ganz klein war«. Keine Frage, dass sie betont. »Ich kann dabei wunderbar den anderes wäre für sie, die selbst in einem dieser nun ebenfalls Motorrad fährt, genau Kopf freikriegen. Ich werde dann eins mit sozialen Brennpunkt aufgewachsen ist, aber wie die Schwiegertochter. Doch auch in die dem Moped.« Das gelingt ihr sogar, wenn sie nie infrage gekommen, wie sie mit Über- andere Richtung blieb ihr Entschluss von den Arbeitsweg ab und an auf zwei statt auf zeugung sagt. damals nicht ohne Konsequenzen. vier Rädern fährt. Im Auto mache sie sich Als sie sich vor einem guten Viertel- auf dem Rückweg häufig noch Gedanken MOTORRAD UND ROCK jahrhundert für den Motorrad-Führerschein über den Tag in der Wohngruppe. »Auf dem GEHÖREN ZUSAMMEN angemeldet hatte, ihre ersten, vorsichtigen Motorrad ist das alles sofort weg. Da komm In ihrer Freizeit geht Kerstin Sittig gerne Runden auf einem Parkplatz drehte, ich ganz schnell runter, das kommt einer auf Konzerte. »Und natürlich stehe ich auf erwachte auch bei ihrem Vater eine offen- Therapie schon ganz nahe.« Sie lacht. Gitarrenmusik«, meint sie und lacht. Auf bar versteckte Leidenschaft. »Er war damals ihrer Playlist stehen daher Rockbands wie 50 und hat dann tatsächlich mit mir den BEGEISTERUNG WUCHS AC/DC oder Led Zeppelin ganz oben, sie Führerschein gemacht.« Kerstin Sittig freut MIT DEN MASCHINEN könne sich aber auch für Reinhard Mey das bis heute: Ihr Vater, sagt sie, sei mittler- Eine Honda CBF 500 Naked Bike steht bei begeistern. Dazu kommt ein Faible für alles weile 77 Jahre alt – »und er fährt immer Kerstin Sittig derzeit im alten Hof in der Handwerkliche; vom Häkeln, das ihr eine noch«. // 3/2021 recke:in 21
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