Deutschland auf Kurs bringen - Unionskonzepte 2005 bis 2009 - Wirtschaftsrat der CDU

 
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Deutschland
auf Kurs bringen

Unionskonzepte 2005 bis 2009
Dr. Angela Merkel MdB, Vorsitzende der CDU Deutschlands
und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag

I
  ch möchte mich beim Wirtschaftsrat für seine gute      Ansatz durchgesetzt hat, was er für nötig hielt. So
  Arbeit bedanken. Sie ist für uns immer ein Impuls,     wurden für die Menschen die Zusammenhänge klar.
  aus dem Blickwinkel der Wirtschaft darüber nach-       Es reicht nicht aus, hier und dort Einzelmaßnahmen
zudenken, was Deutschland voranbringt. Wir wissen,       zu beschließen. Wer erfolgreich sein will, muss in
dass es in Deutschland nicht vorangehen wird und         einer konzertierten Aktion vorgehen. Wolfgang
dass auch keine Arbeitsplätze geschaffen werden,         Schüssel hat diese Politik aus einem Guss nicht nur
wenn sich die Politik gegen die Wirtschaft aufstellt.    in ein Wahlprogramm gefasst, sondern er hat sie
Wir schaffen es nur mit der Wirtschaft gemeinsam.        gegen manche Widerstände, aber mit einem großen
                                                         Erfolg für die Österreicherinnen und Österreicher
   Der österreichische Bundeskanzler Wolfgang            verwirklicht. Auch Deutschland braucht wieder eine
Schüssel hat innerhalb einer überschaubaren Zeit         Politik aus einem Guss.
gezeigt, wie man das Schicksal eines Landes durch
entschlossenes Handeln wenden kann. Seine Regie-            Der Bundeskanzler hat nach den Erfolgen der
rungsarbeit zeichnet aus, dass er gleich am Anfang der   Union in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfa-
jeweiligen Legislaturperiode in einem umfassenden        len die Vertrauensfrage gestellt, mit dem Ziel, Neu- ...

III. Quartal 2005                                                                                       trend   7
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... wahlen herbeizuführen. Die Begründung dafür hat           Defizit, davon mindestens 40 Milliarden € im
    sich unter anderem auf die unterschiedlichen Mehr-        Bundeshaushalt (zum Vergleich: der Bundeshaushalt
    heitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat bezo-        umfasst etwa 250 Milliarden €). Wir haben 20 Mil-
    gen. Richtig ist, der Bundesrat ist mehrheitlich durch    liarden strukturelles Defizit in den sozialen Siche-
    unionsregierte Länder geprägt. Wir haben eine ganze       rungssystemen. Das ist im Wesentlichen auch auf die
    Fußballmannschaft von Ministerpräsidenten, zehn           sehr schlechte Beschäftigungssituation zurückzufüh-
    bei der CDU und den elften von der CSU.                   ren. Und wir haben noch einmal etwa 30 bis 40
                                                              Milliarden € Defizit in unseren Bundesländern. Die
       Aber nur, weil die Mehrheiten im Bundesrat uni-        Länderhaushalte sehen dramatisch aus.
    onsgeprägt sind, kann man nicht von Blockade spre-
    chen. Wir hatten in dieser Legislaturperiode 92               Vor 2010 kann beispielsweise Nordrhein-West-
    Gesetze, die in den Vermittlungsausschuss mussten.        falen keinen verfassungsgemäßen Haushalt, also
    Von diesen 92 Gesetzen sind 91 einvernehmlich mit         einen Haushalt, bei dem die Investitionen größer
    der rot-grünen Koalition zu einem Kompromiss              sind als die Netto-Kreditaufnahme, vorlegen. Das ist
    gebracht worden. Jedes dieser Gesetze ist besser aus      im größten Bundesland der Bundesrepublik
    dem Bundesrat herausgekommen, als es hineinge-            Deutschland die Hinterlassenschaft von Rot-Grün.
    kommen ist. Bei einem einzigen Gesetz, nämlich
    beim so genannten Verfütterungsverbotsgesetz ist es           Wir sind Letzter im Wirtschaftswachstum in
    zu keiner Einigung gekommen.                              Europa. Die rote Laterne für Deutschland kann man
                                                              nicht mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den
       In 91 von 92 Fällen hat es Kompromisse gegeben.        neuen Bundesländern entschuldigen. Aufgrund der
    Unser Prinzip dabei lautete immer: Wenn der Kom-          positiven Entwicklung im produktiven Bereich müss-
    promiss dem Lande dient, wenn die Vorteile die            ten die neuen Bundesländer eher höhere Wachstums-
    Nachteile überwiegen, werden wir zum Wohl des             raten haben. Dass Deutschland im Gegensatz zu
    Landes der Sache zustimmen. Diesen Weg haben wir          Österreich sehr viel schlechter abschneidet, ist haus-
    ganz konsequent fortgesetzt. Von Blockade kann also       gemachte Politik und hat nichts mit Globalisierungs-
    keine Rede sein.                                          effekten zu tun.

    Bilanz nach sieben Jahren                                 Globalisierung
    Rot-Grün im Bund                                          bestimmt unser Leben
        Angesichts der bevorstehenden Neuwahlen möchte           Die gute Nachricht ist, dass wir die Dinge an-
    ich die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Regierung     packen können, wenn wir uns über ein paar grund-
    ziehen. Wir haben fast fünf Millionen registrierte        legende Dinge einigen. Wir können die Frage, was
    Arbeitslose. Wir wissen, wie viele arbeitslose Menschen   unser Land voranbringt, nicht mehr allein entschei-
    darüber hinaus durch Tricks aus der Statistik gefallen    den. Denn die Globalisierung bedeutet auch eine
    sind, wie viele in den vorzeitigen Ruhestand geschickt    immer stärkere Durchdringung der verschiedenen
    wurden. Wir wissen, wie viele Menschen Angst haben,       Ökonomien. Damit ist das, was andere tun, für uns
    ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Jeden Tag verschwinden   immer auch ein Maßstab und eine Aufforderung,
    in Deutschland über tausend sozialversicherungspflich-    selber etwas zu tun. Physikalisch formuliert: Es zählt
    tige Beschäftigungsverhältnisse.                          heute nur die Relativgeschwindigkeit. Ob wir glau-
                                                              ben, dass wir uns angestrengt haben, ist bei der
      Wir haben 40.000 Insolvenzen pro Jahr. Wir              Betrachtung des Resultats relativ egal, wenn andere
    haben ungefähr hundert Milliarden € strukturelles         um uns herum sich mehr angestrengt haben.              ...

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...       Globalisierung bestimmt unser Leben, unser Tun.      macht auch den sozialen Charakter der Marktwirt-
      Globalisierung heißt für uns, dass wir uns entschei-     schaft aus. Es gibt in der politischen Diskussion jetzt
      den müssen, wo wir mitspielen wollen. Wo wollen          eine Tendenz, einen Gegensatz zwischen der Wirt-
      wir den Ton angeben? Deutschland wird sich, das hat      schaft und den Menschen zu konstruieren. Aber ohne
      der Bundespräsident wunderbar gesagt, sicher nicht       Menschen gäbe es keine Wirtschaft. Der Markt ist
      an dem Kampf um die niedrigsten Löhne in den ver-        der Aktionsraum, in dem sich einzelne Menschen
      schiedensten Bereichen beteiligen können. Wir müs-       einmischen und sich ihrem Gegenüber versuchen zu
      sen in Deutschland so viel besser sein wie wir teurer    bewähren, Angebote zu machen, in einen Wett-
      sind. Dieser ökonomischen Wahrheit müssen wir uns        bewerb einzutreten, um sich damit selbst zu verwirk-
      stellen.                                                 lichen, um ihre Produkte zu verkaufen. Wirtschaft
                                                               ohne Menschen gibt es nicht.
      Wachstum braucht Freiheit
          Schon die DDR hat es nicht geschafft, die Na-        Gerechtigkeit
      turgesetze außer Kraft zu setzen. Auch Demokratie        und Solidarität
      und Freiheit können das in dem Fall nicht. Wir müs-         Es geht darum, die Rahmenbedingungen so zu
      sen uns fragen, womit wollen wir in Zukunft eigent-      fassen, dass aus dem Wirtschaften ein möglichst
      lich unser Geld verdienen? Was können wir gut und        hohes Maß an Gerechtigkeit und Solidarität entsteht.
      was brauchen wir dafür? Für mich ist das Thema           Das setzt voraus, dass das, was geschaffen wird, erst
      Arbeit das zentrale Thema. Um mehr Arbeitsplätze         einmal mehr ist als das, was verbraucht wird, damit
      zu schaffen, brauchen wir Wachstum. Aus meiner           man für die Schwachen in der Gesellschaft noch
      Sicht ist sicher, dass Wachstum Freiheit braucht. Des-   etwas zum Verteilen hat. Das war auch viele Jahre bis
      halb ist die Diskussion darüber, was das bedeutet,       zur großen Koalition in den 60er Jahren in der
      zentral.                                                 Bundesrepublik Deutschland ganz klar. Erst danach
                                                               hat man angefangen, Schulden zu machen und
         Unser Freiheitsverständnis bedeutet keine Abwehr      Wachstum auf Pump zu finanzieren. Das können wir
      von irgendetwas. Sondern unser Freiheitsverständnis      uns nicht weiter leisten, schon gar nicht in der demo-
      resultiert aus dem christlichen Menschenbild. Das        graphischen Lage, in der wir uns befinden.             ...

      III. Quartal 2005                                                                                         trend    9
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...       Wenn wir nun so viel besser sein müssen wie wir      dungsgrundversorgung gewährleistet ist. Wir brau-
      teurer sind, müssen wir uns unserer Ressourcen,          chen einen funktionierenden Staat, der diese Grund-
      Fähigkeiten und Kräfte besinnen. Das sind in allerers-   bildung unserer Kinder endlich wieder sicherstellt.
      ter Linie die Menschen in unserem Land. Wir haben
      noch die Steinkohle als Rohstoff, aber die bringt uns       Ein weiteres wichtiges Thema ist das duale Ausbil-
      wenig Gewinn. Wir haben die Braunkohle, die ist da       dungssystem, bis heute ein echter Schlager der
      etwas besser. Aber im Wesentlichen sind wir auf die      Bundesrepublik – da, wo duale Ausbildung stattfin-
      Fähigkeiten der Menschen angewiesen. Aus diesem          det. In Wirklichkeit aber bekommt nur noch jeder
      Grund lautet die zentrale Frage: Wie ist unser Bil-      zweite Schulabgänger einen Berufsausbildungsplatz
      dungssystem ausgerichtet? Wie können wir mit ande-       im klassischen dualen System. 50 Prozent der Schul-
      ren Ländern der Welt mithalten, die vielleicht sogar     abgänger werden durch verschiedenste staatliche
      noch über Rohstoffe verfügen und sich gar nicht so       Ersatzmaßnahmen erst einmal weitergebildet. Es hat
      sehr auf die menschliche Kreativität stützen müssen?     keinen Sinn, über Ausbildungsplatzabgaben und
                                                               ähnliches zu reden, wir müssen endlich wieder mehr
      Bildung auf dem Prüfstand                                Ausbildungsplätze bekommen. Wir müssen die
         Wir müssen alle Ebenen der Bildungspolitik            mittelständische Wirtschaft so stärken, dass sie nicht
      immer wieder auf den Prüfstand stellen und hinter-       ständig vom Konkurs bedroht ist, sondern eine Per-
      fragen. Zu einem modernen, hoch entwickelten             spektive hat. Dann stellen die Unternehmen auch
      Industrieland, zu einem Land, das sich der Wissens-      wieder junge Leute ein, weil sie Nachwuchs brauchen
      gesellschaft öffnen will, gehört nach meinem festen      für die Prosperität ihres Unternehmens.
      Verständnis eine Schulausbildung, bei der die Kinder
      am Ende Lesen, Schreiben und Rechnen können.                Seit vielen Jahren beschäftigt uns das Thema
      Selbst das ist heute nicht mehr hundertprozentig ga-     Studiengebühren. Es bedurfte eines Verfassungsge-
      rantiert. Nun ist es bereits eine große Verheißung,      richtsprozesses, damit die Bundesbildungsministerin
      wenn die Stunden, die auf dem Stundenplan stehen,        einsah, dass das Verbot im Bundesgesetz nicht
      auch gegeben werden. Roland Koch hat das in              verfassungsgerecht ist. Jetzt lautet die Frage: wie kön-
      Hessen verwirklicht und Jürgen Rüttgers wird das für     nen Studiengebühren ausgestaltet sein. Leider ist es in
      Nordrhein-Westfalen jetzt auch tun.                      Deutschland ja so, dass im internationalen Vergleich
                                                               verhältnismäßig wenig Kinder aus Nichtakademiker-
         Wir müssen auch den Leistungsgedanken in der          familien studieren. Mit Gerechtigkeit hat das heutige
      Schule wieder voll anwenden. In Nordrhein-Westfa-        Studiensystem wenig zu tun. Deshalb halten wir es für
      len ist die „geniale“ Idee geboren worden – die mit      richtig, dass Universitäten selbst darüber entscheiden,
      uns jetzt natürlich wieder rückgängig gemacht wird       ob sie Gebühren erheben wollen, und dass dafür die
      – in den Klassen fünf, sechs, sieben und acht Biolo-     Möglichkeit von Darlehen eröffnet wird. Wenn man
      gie, Physik und Chemie zu einem Fach – zu Natur-         von maximal 500 € ausgeht, wie die Kultusminister
      wissenschaften – zusammenzulegen. Das sieht dann         das jetzt pro Semester ins Auge gefasst haben, dann
      so aus: Wer sich mit der Schwerkraft nicht so befas-     bedeutet das: Falls man in zehn Semestern fertig
      sen möchte, kann drei Blumennamen auswendig ler-         geworden ist, muss man ein Darlehen von 5.000 €
      nen, dann kriegt er die gleiche Zensur. Es ist auch      zurückzahlen.
      hochgradig verlogen, wenn bis weit in Gewerk-
      schaftsfunktionärskreise hinein jeder versucht, sein        5.000 € Darlehen, die man zurückzahlen muss, so-
      Kind auf einer Privatschule unterzubringen, während      bald man einen Arbeitsplatz hat, sind eine machbare
      bei staatlichen Schulen nicht einmal mehr die Bil-       Herausforderung. Für diejenigen, die schneller studie- ...

10 trend                                                                                               III. Quartal 2005
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... ren wollen, kann man Stipendien als Leistungsanreize       einseitige Abhängigkeiten kommen. Wir brauchen
    setzen. Ich bin auch der Meinung, dass die Universitä-     natürlich erneuerbare Energien, aber Degression und
    ten sich ihre Studenten vollständig selbst aussuchen       die langfristige Wirtschaftlichkeit dieser erneuer-
    sollten, damit hier wieder eine persönliche Bindung        baren Energien dürfen nicht aus dem Auge geraten.
    entsteht. Außerdem halte ich Langzeitstudiengebüh-         Die Gesamtheit der staatlichen Mittel, CO2-Emis-
    ren für völlig angemessen. Es gibt nicht den geringsten    sionszertifikate, Erneuerbare-Energiegesetz, Öko-
    Grund, dass Krankenschwestern und Facharbeiter mit         steuer, dürfen nicht kumulieren. Sie müssen so ein-
    ihren Steuergeldern das Studium von Menschen               gesetzt werden, dass die notwendigen Anreizwirkun-
    bezahlen sollen, die 16, 17, 18 Semester studieren.        gen entfacht werden.

      Wenn der Mensch sich dann fertig gebildet und                Bei der Ökosteuer existiert so gut wie keine An-
   ausstudiert hat, stellt sich die Frage, was er mit seinem   reizwirkung. Leider wird es bei der von mir beschrie-
   Wissen macht. Da kommt für mich der zentrale                benen Haushaltslage nicht möglich sein, den Weg,
   Punkt, der auch über das Schicksal Deutschlands,            den man da gegangen ist, nun sofort wieder umzu-
   über seine Zukunft entscheiden wird. Wie inno-              kehren. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns
   vationsbereit sind wir? Wie viel Kraft haben wir, neue      beim Erneuerbaren-Energiengesetz und dem Zu-
   Wege zu gehen? Welche Hindernisse müssen aus dem            sammenspiel mit den CO2-Zertifikaten nicht Bürden
   Weg geräumt werden?                                         auferlegen, die wir später im Energiepreis nicht mehr
                                                               rechtfertigen können und die zur Abwanderung von
   Energiepolitik im Focus                                     verschiedenen Industrien führen.
      Wenn man davon ausgeht, dass Energie auch in
   den nächsten Jahren der Blutkreis einer entwickelten           Bei der unbegrenzten Förderung von Wind- und
   Volkswirtschaft ist, müssen wir als erstes unsere Ener-     Sonnenenergie müssen wir uns ebenfalls fragen, ob
   giepolitik in den Fokus nehmen. Der Strom kommt             das dem Industriestandort Deutschland entspricht.
   nicht einfach aus der Steckdose, sondern muss               Wir werden nach der Erprobungsphase der CO2-
   irgendwo erzeugt werden und zwar zu wettbewerbs-            Zertifikate fragen müssen, ob dabei Wachstums-
   fähigen Preisen.                                            restriktionen entstehen. Österreich hat z. B. immer
                                                               Wachstumsmargen in die CO2-Zertifikate mit einge-
       Die gesamte Liberalisierung, die im Strommarkt          rechnet, während Deutschland da sehr restriktiv vor-
   in den Jahren 97/98 durchgeführt wurde und die              gegangen ist. Wir dürfen uns durch solche Maßnah-
   Preissenkungen in Höhe von 20, 25 Prozent erbracht          men im europäischen Wettbewerb nicht Nachteile
   haben könnte, ist im Grunde durch zusätzliche staat-        schaffen, für die uns nachher keiner bedauern wird,
   liche Maßnahmen wieder aufgefressen worden. Des-            weil wir sie uns selbst geschaffen haben. Wir brau-
   halb heißt für mich die Devise: Es ist ein ideolo-          chen eine wettbewerbsfähige Energiepolitik, die
   gischer Beschluss gewesen, volkswirtschaftlich durch        zukunftsgewandt ist und uns nicht in einseitige
   nichts zu rechtfertigen, nach bestimmten Zeiten             Abhängigkeiten bringt. Wir brauchen im Übrigen
   Kernkraftwerke abzuschalten. Die Frage, wie lange           auch eine sehr viel breiter angelegte Energiefor-
   ein Kernkraftwerk in Deutschland läuft, muss sich           schung. Auch dort sind wir auf dem besten Wege, uns
   am Stand von Wissenschaft und Technik, also am              von internationalen Entwicklungen abzukoppeln.
   Sicherheitsstand orientieren und an nichts anderem.
   Alles andere ist volkswirtschaftlicher Unsinn. Wir          Grüne Gentechnologie
   brauchen einen Mix von Energieträgern. Wir müs-               Ich kann zum zweiten Gebiet übergehen, zur grü-
   sen aber aufpassen, dass wir gerade beim Gas nicht in       nen Gentechnologie: Wenn wir die Möglichkeit ...

   III. Quartal 2005                                                                                          trend 11
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... bekommen, Politik in diesem Land zu gestalten, dann         Nun hatten der Bundeskanzler, Tony Blair und
    werden wir die einseitige Risikoabladung beim Nut-      Jacques Chirac zusammen die gute Idee, eine Initia-
    zer der grünen Gentechnologie verändern. Denn dies      tive zu ergreifen, die Chemikalienrichtlinie nicht nur
    ist ein Wachstumsbereich, der weit über die Frage       im Umweltausschuss, sondern auch im Wettbewerbs-
    hinausgeht, ob man Babynahrung nun mit gentech-         ausschuss beraten zu lassen, um sie auch industriepo-
    nisch veränderten Lebensmitteln macht oder nicht.       litisch zu bewerten. Sie liegt jetzt beim Wettbewerbs-
    Darüber soll jeder Verbraucher selbst entscheiden.      rat und wer kommt für Deutschland? Trittin! Weil
                                                            die nationale Kabinettsordnung vorsieht, dass immer
     Aber die grüne Gentechnologie ist unmittelbar          derjenige in den Rat geht, dessen Thema dort behan-
  mit der weißen Gentechnologie, mit der gesamten           delt wird, und der Bundeskanzler seine Kompetenz
  Enzymforschung verbunden. Wenn wir uns auf dem            nicht nutzt, um genau das in diesem Fall zu ändern.
  Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe nicht zu-             Dann brauchen wir solche Initiativen nicht. Dann
  trauen, dass wir hier ganz gezielte Eigenschaftsverän-    werden im Wettbewerbsrat die gleichen Anträge
  derungen machen, werden wir in der Enzymfor-              gestellt wie im Umweltministerrat. Damit ist das
  schung zurückfallen. Das hat dann tiefste Auswirkun-      Ganze erledigt.
  gen bis hinein in die chemische Industrie.
                                                               Wir wissen, dass wir in einem starken Wettbewerb
  REACH –                                                   stehen, in der pharmazeutischen Industrie und in vie-
  zusätzliche Lasten                                        len anderen Bereichen. Aber unter dem Strich ist die
     Ich kann sofort bei der chemischen Industrie           Zahl der Beschäftigungsfelder, die Zahl der Bereiche,
  weitermachen. Da richte ich meinen Blick nach             in denen wir weltführend sind, nicht mehr geworden,
  Europa. Die viel gelobte Richtlinie REACH hat             sondern weniger und sie reicht für 80 Millionen
  4.000 Änderungsanträge im Europäischen Parlament          Menschen nicht aus. Deshalb müssen wir an dieser
  erfahren. Diese Richtlinie hat über tausend Seiten        Stelle wieder besser werden.
  und ist aus meiner Sicht der sichere Weg, Europa und
  damit natürlich die Chemiestandorte, also auch in         Halten, was zu halten ist
  ganz besonderer Weise Deutschland, in eine Situa-            Das psychologisch Dramatische an dieser Situa-
  tion hineinzubringen, in der wir mit Sicherheit           tion ist, dass viele Menschen befürchten, dass dort,
  Marktanteile im Weltwettbewerb verlieren werden.          wo sie arbeiten, pro Stunde mehr hergestellt werden
                                                            könnte durch Rationalisierung und höhere Effizienz.
     Wir konkurrieren mit Importen aus außereuro-           Sie ziehen für sich die Schlussfolgerung, dass die
  päischen Ländern, die nach den WTO-Regeln längst          Summe der Arbeit in Deutschland immer weniger
  nicht die Anforderungen an die Produkte stellen           wird. Die Zahl der Menschen, die die Erfahrung
  müssen, die wir uns in Europa mit Reach selber auf-       machen, dass es Arbeitsgebiete gibt, die wir gestern
  erlegen. Eine KPMG-Studie zeigt zwar, dass der            und vorgestern noch gar nicht kannten, dass völlig
  Mehraufwand geringer ist als erwartet, nur 20 Pro-        neue Beschäftigungsfelder entstehen können, reicht
  zent Mehraufwand und nicht 40 Prozent. Wenn ich           nicht aus für Optimismus in die Zukunft und für die
  mir aber die Rendite von kleinen und mittelstän-          Überzeugung, dass die Arbeit nicht weniger wird.
  dischen Chemieunternehmen anschaue, so liegt die
  weder bei 20 noch bei 40 Prozent, sondern eher zwi-          Ich habe kürzlich SAP besucht. Was ist aus der
  schen drei und fünf Prozent. Es ist das sichere Aus für   Tatsache geworden, dass der erste Computer in
  viele kleine Chemikalienhersteller, wenn wir ihnen        Deutschland erfunden wurde? Wenn wir uns heute
  solche zusätzliche Lasten aufbürden.                      angucken, wie viel Prozent der Wertschöpfung im ...

12 trend                                                                                          III. Quartal 2005
Deutschland auf Kurs bringen - Unionskonzepte 2005 bis 2009 - Wirtschaftsrat der CDU
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... Software-, im Hardwarebereich und im Internet-           schen 60 Millionen Eier im Jahr außerhalb Deutsch-
    bereich in Deutschland stattfindet, dann ist das eines   lands gekauft und in Deutschland gegessen. Es hat
    Industrielandes wie Deutschland nicht würdig und         zum Schluss noch nicht mal die deutsche Henne
    so haben wir den Schritt in die Wissensgesellschaft      etwas davon, weil sie in Deutschland überhaupt nicht
    nicht geschafft.                                         mehr gehalten wird, weil sie hier nicht mehr brüten
                                                             kann, weil ihre Eier teurer sind und vom Kunden
       Es ist, wenn man einmal den Anschluss verloren        nicht gekauft werden. Das nützt niemandem etwas:
   hat, unendlich schwer, im globalen Wettbewerb wie-        Weder dem deutschen Arbeitsplatz noch dem deut-
   der mitspielen zu können. Deshalb heißt die Devise:       schen Huhn.
   Halten, was zu halten ist. Es heißt vor allen Dingen
   auch, verlässliche Rahmenbedingungen für Investo-             Wir müssen uns überlegen, wie wir insbesondere
   ren von außen zu schaffen, denn wir werden von            kleine Unternehmen von Bürokratie entlasten. Das
   innen heraus nicht alle zusätzlichen Investitionen        ist sicherlich auch eine Gemeinschaftsaufgabe von
   tätigen können. Das heißt, es muss auch das Bewusst-      Bund und Ländern. Gerade bei den kleinen Unter-
   sein dafür geschärft werden, Investoren, die zu uns       nehmen werden die Renditen durch die Bürokratie-
   kommen, willkommen zu heißen, weil sie zum Teil           aufwendungen nahezu aufgefressen oder, anders
   auch völlig neue Wertschöpfungsmöglichkeiten nach         herum, die Eigenkapitalbasis der kleinen Unterneh-
   Deutschland bringen. Ansonsten werden wir unsere          men könnte wesentlich besser aussehen, wenn wir die
   Wachstumsmöglichkeiten niemals voll ausschöpfen.          Bürokratieaufwendungen runterfahren würden.

   Kein Draufsatteln mehr bei EU-Richtlinien                 Gegen große Koalition –
       Ich will das Thema Bürokratiehindernisse nur          Für grundlegenden Wechsel
   streifen. Für mich ist klar: EU-Richtlinien werden            An die Adresse derjenigen, die sagen: „Vielleicht
   mit uns nur noch 1:1 umgesetzt, kein Draufsatteln         wäre eine große Koalition ja auch nicht schlecht“:
   mehr, weil alles Draufsatteln uns Wettbewerbsnach-        Schauen Sie sich die Summe der sozialdemokra-
   teile verschafft. Man kann das wunderbar an der           tischen Abgeordneten an. Es reicht nicht, einmal mit
   Legehennenverordnung sehen. Da werden inzwi-              Herrn Clement Abendbrot zu essen, weil die sozial- ...

   III. Quartal 2005                                                                                       trend 13
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... demokratische Fraktion im Allgemeinen das Gegen-        Menschen sind doch inzwischen bereit, um des
    teil von dem macht, was Herr Clement für richtig        Erhalts ihres Arbeitsplatzes willen, gerade auch bei
    hält. Es geht bei allem, was in der Politik umgesetzt   der Arbeitszeit Kompromisse einzugehen. Ich finde,
    werden muss, nicht nur darum, dass der zuständige       man muss an das Selbstbewusstsein der Menschen
    Minister eine gute Idee hat, sondern man muss auch      glauben. Die Soziale Marktwirtschaft wäre in
    eine parlamentarische Mehrheit finden. Deshalb          Deutschland niemals zustande gekommen, wenn
    brauchen wir einen grundlegenden Politikwechsel in      Erhard der Meinung gewesen wäre, man müsse den
    Deutschland. Alles andere hält uns auf und bringt       Leuten alles vorschreiben, sondern sein Konzept war
    uns wieder nur Halbheiten.                              ein Vertrauensbeweis an den einzelnen Menschen.
                                                            Ein Stück müssen wir genau da wieder hinkommen.
     Weil wir nicht in allen Bereichen von vornherein
  schon Weltspitze sein können, ist es wichtig, dass wir       Deshalb ist die Frage nach der Zumutbarkeit auch
  unser Arbeitsrecht an die veränderten globalen            immer eine sehr differenziert zu beantwortende
  Bedingungen anpassen. Wir wollen, dass die Betriebe       Frage. Ist es eine Zumutung, seinen Arbeitsplatz zu
  die Möglichkeit erhalten, während der Dauer des           verlieren? Ich finde, es ist die schwierigste soziale
  Tarifvertrages in spezifischen Fragen davon abzuwei-      Zumutung, die mir widerfahren kann. Gemessen an
  chen, wenn die Mehrheit der Belegschaft und die           der Frage, ob ich stattdessen vielleicht eine oder zwei
  Betriebsleitung das für richtig halten. Das sind die so   Stunden in der Woche mehr arbeite, ist es doch voll-
  genannten betrieblichen Bündnisse.                        kommen klar, dass die meisten Menschen sich dann
                                                            für die Variante, etwas länger zu arbeiten, entschei-
      Ich halte sie für die adäquate Antwort auf die He-    den.
  rausforderung der Globalisierung. Als Unternehmer
  muss ich mich nämlich schnell entscheiden. Ich kann       Veränderungen sind nicht
  nicht wochenlang warten, ob die Gewerkschaftszen-         unbedingt Zumutungen
  trale mir nun das o.k. gibt oder ob sie es mir nicht         Auch wenn wir über den Kündigungsschutz
  gibt. Alles andere führt dazu, dass zunehmend             reden, bin ich weit davon entfernt, hier Veränderun-
  Arbeitsplätze in andere Länder abwandern. Viele           gen gleich als Zumutung zu empfinden. Wir haben ...

14 trend                                                                                           III. Quartal 2005
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... heute folgende Situation: In vielen kleinen und mitt-       ausgiebig diskutiert –, eine Entkoppelung des Fak-
    leren Betrieben werden Überstunden gemacht.                 tors Arbeit von den sozialen Sicherungssystemen zu
    Gleichzeitig wissen wir, dass fünf Millionen Men-           erreichen.
    schen auf einen Arbeitsplatz warten. Viele sagen, ich
    tue mir das nicht an, in einer konjunkturell unsiche-       Lohn- und Sozialkosten entkoppeln
    ren Zeit Neueinstellungen vorzunehmen. Dann lasse               Ich sehe mit großer Sorge, dass die im Grundsatz
    ich lieber die Leute, die ich habe, Überstunden             richtigen Minijobs zu einem Ausweichfeld zu werden
    machen. Ehe ich mich nachher bei einer notwen-              drohen, weil sie bei den Minijobs nur 20 Prozent
    digen Entlassung vorm Arbeitsgericht wiederfinde,           Lohnzusatzkosten zahlen gegenüber den klassischen
    lasse ich das lieber sein. Jetzt haben wir gesagt: Jeder,   sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält-
    der einen Arbeitsplatz hat, soll diesen Arbeitsplatz        nissen. Wenn sich das in den Bereichen festmacht,
    behalten, mit dem Kündigungsschutz, der ihm                 die heute noch alle mit sozialversicherungspflichtigen
    gewährt worden ist. Aber für diejenigen, die neu in         Beschäftigungsverhältnissen ausgestattet sind, hat
    Arbeit kommen, soll die Option bestehen, dass bei           diese natürlich einen dramatischen Einnahme-
    Einstellung vereinbart wird, welche Höhe von Abfin-         schwund der sozialen Sicherungssysteme zur Folge,
    dung er bekommt, falls er entlassen werden muss.            den wir überhaupt nicht verkraften können. Deshalb
                                                                ist für mich die geregelte, die geordnete Entkoppe-
      Für wen ist das eine Zumutung? Für den Arbeit-            lung der Lohnkosten von den Sozialkosten einer der
   geber ist es keine, weil er das Arbeitsgericht nicht         ganz zentralen Punkte. Deshalb haben wir auch die
   mehr im Nacken hat. Für den, der gar nicht so gerne          Diskussion über die Gesundheitsprämie geführt.
   Überstunden macht, ist es auch keine, weil er nicht
   mehr so viele Überstunden machen muss. Und für               Mit der Gesundheitsprämie
   den, der in einen Job kommt, ist es nun schon gar            mehr Wettbewerb
   keine, weil er endlich wieder eine Chance hat, Arbeit            Die Gesundheitsprämie bietet die Chance, mehr
   zu finden. Ich finde, dass wir diese Dinge so diskutie-      Wettbewerb im System zu haben. Wir können den
   ren müssen, dass wir in ihnen auch einmal die Chan-          Menschen im Übrigen sagen, niemand zahlt mehr als
   cen sehen. In Deutschland wird an vielen Stellen die         sieben Prozent seines Einkommens. Ich weiß, dass die
   Chancendebatte immer unterdrückt, indem man erst             Wirtschaft den Kompromiss mit der CSU sehr kriti-
   mal langwierig über die Risiken einer möglichen Ver-         siert hat. Ich bitte Sie aber im Kopf zu behalten: Wir
   änderung spricht.                                            haben den Arbeitgeberbeitrag auf 6,5 Prozent festge-
                                                                legt und dauerhaft eingefroren. Ob Sie so ein Ange-
       Dieses Denken muss sich ändern. Das braucht              bot noch einmal bekommen? Das würde ich mir
   einen Mentalitätswandel. Wir sollten die EU-                 überlegen, bevor Sie unseren Kompromiss kritisieren.
   Arbeitszeitrichtlinie umsetzen. Ich begegne bei so vie-      Das ist ein ganz festes Versprechen, das wir auch
   len Betriebsbesuchen der Tatsache, dass die Unflexi-         umsetzen werden.
   bilität des deutschen Arbeitsrechts, nämlich dass man
   pro Tag nicht länger als zehn Stunden arbeiten darf,            Wir werden dann die Prämie haben mit der
   dazu führt, dass zum Teil sogar unentgeltlich länger         Zusage, niemand leistet mehr als sieben Prozent sei-
   gearbeitet wird. In den unteren Lohnbereichen haben          nes Einkommens. Die Gesundheit der Kinder wird
   wir in Deutschland das Problem, dass wir nicht nur           nicht mehr nur eine Aufgabe der Beitragszahler, son-
   die Löhne haben, sondern natürlich auch die Lohn-            dern eine Aufgabe des Steuerzahlers sein. Denn es ist
   zusatzkosten. Das heißt, hier besteht die Notwendig-         nicht sozial gerecht, dass jemand wie ich zur Gesund-
   keit – die haben wir zwischen CDU und CSU auch               heit der gesetzlich krankenversicherten Kinder über- ...

   III. Quartal 2005                                                                                            trend 15
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... haupt keinen Beitrag leistet, dafür die gesamte           ist das eigentliche Problem die extreme Kompliziert-
    Gesundheit aller Kinder in Deutschland nur von            heit des Steuersystems.
    denen finanziert wird, die bis 3.500 € verdienen. Wer
    mehr verdient, zahlt nur bis 3.500 € ein. Das ist nicht      Die radikale Vereinfachung darf dann aber nicht
    gerecht. Aus meiner Sicht ist es richtig, diese Entkop-   so diskutiert werden, dass bei jeder Ausnahme – ob
    pelung einzuführen. Das macht etwa die Hälfte der         das nun die Filmförderung oder die Windenergieför-
    Umverteilungssummen im deutschen Gesundheits-             derung oder der Sonntagszuschlag ist oder die Pend-
    system aus und ist ein erheblicher Beitrag zur Ent-       lerpauschale – gesagt wird: Ja, einfach soll es sein,
    koppelung und vor allem zum Abbau von Schwarz-            aber bitte nicht an dieser Stelle. Das wird schlicht und
    arbeit. Der Facharbeiter wird dann nicht mehr             ergreifend nicht gehen.
    gezwungen, für jede Überstunde wieder Beiträge zu
    bezahlen.                                                    Ich will auch darauf hinweisen, dass wir sehr große
                                                              Freibeträge einführen, 8.000 € pro Person in einer
      Sie werden die Wahl haben bei dieser Bundestags-        Familie. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mir ist
   wahl zwischen einer Bürgerversicherung und unserer         besonders wichtig, dass diejenigen, die Kinder erzie-
   Gesundheitsprämie. Das erinnert an ganz alte               hen, im Steuersystem nicht schlechter gestellt wer-
   Diskussionen mit Ludwig Erhard, als es schon mal           den, sondern dass sie sozusagen einen Leistungsbo-
   Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre die Idee der          nus bekommen. Ein Land wie Deutschland kann
   Zwangskollektivierung der sozialen Sicherungs-             sich aus meiner Sicht nun wirklich nicht damit abfin-
   systeme gab. Ludwig Erhard vertrat aus meiner Sicht        den, dass wir bei der Bewertung von Steuersystemen
   richtigerweise, dass es auf gar keinen Fall sein darf,     in der Welt nur auf Platz 120 sind. Hier sollten wir
   dass alle in die gesetzlichen Systeme kommen, son-         einen höheren Anspruch an uns selber haben. Es ist
   dern dass die, die nun erwiesenermaßen für die Risi-       sicher nicht so einfach wie in Mittel- und Osteuropa,
   ken ihres Lebens alleine einstehen können, dieses          wo man ganz neue Steuersysteme installieren kann.
   auch tun sollten. Darin besteht doch auch ein Leis-        Aber die Erfahrung von Ländern wie der Slowakei
   tungsanreiz, sich im Wettbewerb der Versicherungs-         oder Estland zeigt, dass nicht weniger Steuern einge-
   möglichkeiten zu bewähren.                                 sammelt werden, sondern im Gegenteil, diese Länder
                                                              verzeichnen zum Teil steigende Steuereinnahmen.
   Ein zentraler Punkt Steuerrecht                            Das heißt: Das Gefühl für Gerechtigkeit in unserer
       Ein zentraler Punkt in der Diskussion wird das         Gesellschaft könnte sich dramatisch verbessern, wenn
   Steuerrecht bleiben. Beim Steuerrecht wird in den          man mit den vielen Schlupflöchern und Ausnahmen
   nächsten Jahren angesichts der Finanzlage der öffent-      wirklich Schluss machen würde.
   lichen Kassen der Gedanke der Vereinfachung Vor-
   rang vor dem Gedanken der Steuersenkung haben.             Entscheidungen sind zu langwierig
   Davon unabhängig muss man die Besteuerung von                 Ein Manko in der deutschen Politik ist, dass
   Unternehmen betrachten, wobei Sie alle wissen, dass        unsere Entscheidungen langwierig sind. Die Väter
   wir hier in Deutschland das prinzipielle Problem zwi-      und Mütter des Grundgesetzes hatten die Hoffnung,
   schen Personengesellschaften und Körperschaften            dass 30 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig,
   haben. Das müssen wir lösen. Wir werden die Ein-           70 Prozent nicht zustimmungspflichtig sind. Wir
   kommensteuersätze nicht so weit senken können,             haben heute genau eine umgekehrte Relation: 70
   dass wir mit den Körperschaftssteuern international        Prozent zustimmungspflichtig, 30 Prozent nicht.
   wettbewerbsfähig sind. Dafür müssen wir eine               Deshalb bleibt aus meiner Sicht die Föderalismusre-
   Lösung finden. Aber im Einkommenssteuerbereich             form ganz oben auf der Agenda. Es ist ausgesprochen ...

16 trend                                                                                              III. Quartal 2005
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... bedauerlich, dass die Sozialdemokraten jetzt nicht        nicht“. Wenn die Europäer es mit dem Lissabon-Ziel,
    mehr die Kraft hatten, die Dinge zu Ende zu führen.       also dem Ziel, Wachstum zu kreieren und einer der
    Wir wären dazu bereit gewesen. Wir hatten sehr wohl       dynamischsten Kontinente der Welt zu werden, ernst
    Ministerpräsidenten, die befürchtet haben, auch Ein-      meinen, wenn wir dieses Ziel zur Priorität erheben,
    flussmöglichkeiten zu verlieren. Aber wir haben           muss sich jede Richtlinie, die in Europa verabschie-
    gesagt: Um der Schnelligkeit von Entscheidungen           det wird, an der Frage messen lassen: Dient das die-
    willen und um der Tatsache willen, dass man wieder        sem Ziel? Oder dient das diesem Ziel nicht?
    sagen kann, wer ist für was verantwortlich, ist es wün-
    schenswert, dass wir diese Föderalismusreform             Politischer Steuerungsprozess
    haben. Wir werden dafür auch weiter kämpfen.              wieder notwendig
                                                                 Ich bin mir nicht sicher, ob wir 254 neue Richtli-
   Ausdruck des Unbehagens in Europa                          nien brauchen, wir müssen besser ein paar Richt-
       Ich bin damit fast automatisch beim Europäischen       linien richtig gestalten. Es hat auch keinen Sinn,
   Verfassungsvertrag. Sie haben alle gehört, es wird jetzt   bestimmte Richtlinien zu Hassobjekten zu erklären
   ein Jahr nicht mehr darüber gesprochen. Mal sehen,         und andere ganz locker durchlaufen zu lassen. Ich bin
   ob es dann besser wird. Aber, es ist ja auch bei den       mir nun wirklich ganz sicher, dass die Regelung der
   Entscheidungen in Frankreich und Holland gar nicht         Sonnenschirmdichte in deutschen Biergärten nicht
   im Wesentlichen nur über diesen Verfassungsvertrag         notwendigerweise durch die Europäische Union
   abgestimmt worden, die Menschen haben ihr Unbe-            geregelt werden muss. Man hat das gemacht, weil
   hagen über das Europa, das sie vorfinden und erle-         bestimmte Kellner sich beklagt haben, dass bei zu viel
   ben, ausgedrückt. Wenn ich höre, dass in der Kom-          Sonnenschein die Köpfe rot werden. Deshalb braucht
   mission noch 700 Richtlinien in der Pipeline sind          man einen bestimmten Besatz an Sonnenschirmen.
   und Herr Verheugen jetzt stolz sagt, wahrscheinlich        Das mag ja in Portugal oder in Spanien ganz sinnvoll
   möchte er doch nur 254, dann befriedigt mich das           sein. Aber dass wir es von Irland bis Norddeutschland
   alles nicht. Es gibt keinen politischen Mechanismus,       brauchen und damit schon die Gründung von Bier-
   mit dem in Europa politisch relevant entschieden           gärten verhindern, weil das Eigenkapital für den Kauf
   wird, „was brauchen wir jetzt eigentlich und was           von so viel Sonnenschirmen gar nicht ausreicht, das ...

   III. Quartal 2005                                                                                        trend 17
P E R S P E K T I V E N

... kann ernsthafterweise nicht die Intention der Euro-     Integrationskraft nicht überfordern
    päischen Union sein.                                       Der zweite Punkt ist die Erweiterung der Euro-
                                                            päischen Union. Ich kann sehr gut verstehen, dass
      Deshalb ist hier ein politischer Steuerungsprozess    Bulgarien und Rumänien eine europäische Perspek-
  wieder notwendig. Es kann doch nicht sein, dass aus       tive haben wollen. Ich finde es auch richtig, dass sie
  den Tiefen von Generaldirektionen unentwegt Richt-        2007 nur beitreten können, wenn sie die Kopen-
  linien hervorsprießen, die man durch nichts auf der       hagener Kriterien erfüllen. Aber dass man in der
  Welt wieder wegkriegt, weil das Europäische Parla-        Europäischen Union dann einstimmig beschließt,
  ment noch nicht mal das Diskontinuitätsprinzip            wenn sie diese 2007 nicht erfüllen, kommen sie 2008
  kennt, was besagt, dass ein noch nicht verabschiede-      auf jeden Fall rein, ohne die Erfüllung der die Kopen-
  ter Entwurf das Ende einer Legislaturperiode nicht        hagener Kriterien noch mal zu überprüfen, das kann
  überlebt. In Europa überlebt die Richtlinie schon per     ich nicht verstehen und das kann ich auch keinem
  Gesetz. Das ist nicht richtig und auch ein Unter-         Menschen in Deutschland erklären. Das ist das, was
  schied zu den nationalen Parlamenten.                     zurzeit in Europa schief läuft.

      Der Verfassungsvertrag war an vielen Stellen eine         Auch in Wirtschaftskreisen wird die Frage der
  Antwort auf Beschwernisse mit der Europäischen            Vollmitgliedschaft der Türkei kontrovers diskutiert.
  Union. Er hat Entscheidungsmechanismen einfacher          Diese Frage ist viele Jahrzehnte hin- und hergewen-
  gemacht und nationale Parlamente in die Lage ver-         det worden. Ich halte in der augenblicklichen Situa-
  setzt, Einspruch zu erheben, wenn man meint,              tion und hinsichtlich der Frage, wie die Europäische
  Europa kümmert sich um etwas, wofür Europa gar            Union auf absehbare Zeit ihre Integrationskraft
  nicht zuständig ist. Dafür muss der Blick wieder frei     behalten kann, ohne überfordert zu werden, eine
  werden. Ich denke, dafür brauchen wir einige wirk-        Vollmitgliedschaft der Türkei für nicht realistisch. Ich
  lich klare Signale, die zeigen, jawohl, die Staats- und   halte es politisch auch deshalb für außerordentlich
  Regierungschefs, die politisch Verantwortlichen die-      fragwürdig, der Türkei eine Perspektive zu eröffnen,
  ser Europäischen Union haben verstanden, was die          weil ich nach heutigem Stand eigentlich sagen müss-
  Menschen beschwert.                                       te: Selbst wenn Verhandlungen aufgenommen wer- ...

18 trend                                                                                          III. Quartal 2005
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... den, kann man überhaupt nicht absehen, ob eine sol-      Beitrag dazu zu leisten, dass diese Dinge dann zur
    che Entscheidung jemals die Mehrheit der Bevölke-        Staatsraison oder zum Allgemeingut wurden. Als
    rung bekommen würde. Dann ist der politische             Bundeskanzler Konrad Adenauer zum ersten mal im
    Schaden nämlich da. Wenn Sie zehn Jahre verhandelt       Deutschen Bundestag über das Prinzip der Sozialen
    haben, mit der Türkei alles ausgemacht haben,            Marktwirtschaft sprach, vermerkt der stenographische
    anschließend zu erleben, dass Frankreich oder irgend-    Bericht im Deutschen Bundestag: „Lachen links“.
    ein anderes Land ein klares Nein dazu sagt.
                                                             Soziale Marktwirtschaft
      Deshalb gebietet es die politische Verantwortung,      oft nicht richtig verstanden
  zu sagen, was wir glauben leisten zu können und               Wir können uns ja freuen, dass heute links nicht
  nicht irgendwelche Erwartungen zu erwecken, die            mehr gelacht wird, aber wir müssen uns Sorgen
  hinterher zu ganz massiven Friktionen z. B. mit der        machen, dass die Soziale Marktwirtschaft bis heute
  islamischen Welt führen können. Mein Gebot der             in ihrem Wesen offensichtlich immer noch nicht
  Stunde ist an dieser Stelle: Ehrlichkeit zum rechten       richtig verstanden wurde.
  Zeitpunkt und nicht Visionen, die niemals erfüllt
  werden können und die unrealistisch sind.                      Es ist notwendig, dass wir uns den Realitäten stel-
                                                             len, dass wir Wege zur Veränderung finden und dass
     Damit bin ich abschließend auch bei dem, was            wir diese Wege auch in einen Gesamtzusammenhang
  sich – wenn wir den Auftrag bekommen sollten –             stellen. Die Dinge hängen miteinander zusammen,
  durch unsere Regierungsarbeit ziehen muss wie ein          fast ein bisschen wie bei diesem so genannten Zau-
  roter Faden. Das sind Prinzipien. Es muss sich nicht       berwürfel, den es mal in den 70er Jahren gab und den
  nur in der Sache in Deutschland etwas ändern, son-         ich gerne aus dem Westpaket entnommen habe, um
  dern es muss sich vor allem auch an dem Stil, wie          ihn dann meinem Bruder zu geben, damit er das
  Politik agiert und arbeitet, wieder etwas ändern.          ordentlich einstellen kann. Die Dinge hängen zusam-
                                                             men. Wir können nicht mit einer eindimensionalen
  Verlässlichkeit ist das Allerwichtigste                    Änderung erwarten, dass sich alles ändert, sondern
      Die Menschen erwarten, dass das, was gemacht           wir müssen in den verschiedenen Richtungen die
  wird, handwerklich vernünftig ist. Sie erwarten, dass      Zusammenhänge begreifen und das machen, was ich
  nicht alles und jedes nach einem halben oder dreivier-     oft sage: Politik aus einem Guss.
  tel Jahr wieder nachgebessert werden muss. Die Men-
  schen erwarten, dass sie sich verlassen können. Für        Politik aus einem Guss
  Investoren ist ja oft die Verlässlichkeit das Allerwich-      Dieses auch den Menschen zu erläutern und nicht
  tigste. Wenn sie jedes halbe Jahr wieder eine neue         die politischen Einzelmaßnahmen und Punkte immer
  Diskussion über die Veränderung der Mindestbesteu-         wieder in Belastung und Entlastung und Zumutung
  erung bekommen, obwohl man die Mindestbe-                  und noch mehr Zumutung zu dividieren, das halte ich
  steuerung an sich schon für Unsinn hält, dann ist das      für wichtig. Die Menschen haben das begründete
  für Investoren, die das Ganze vom Ausland her be-          Recht, von der Politik einen Weg zu sehen, mit dem
  trachten, natürlich keine adäquate Möglichkeit. Dann       Deutschland es schaffen kann, mit dem Licht am
  werden selbst Familienunternehmen sich noch fragen,        Ende des Tunnels zu sehen ist. Wir wollen diesen Weg
  ob sie denn in diesem Land weiter investieren wollen       aufzeigen. Und wir werden darum werben, dass nicht
  oder nicht. Die CDU war immer eine Partei, die keine       Populismus regiert, sondern Realismus.            앬
  Angst hatte, in bestimmten Phasen Dinge auch zu
  lösen, Widerstände zu durchbrechen und damit einen         Aus Rede Wirtschaftstag 2005

  III. Quartal 2005                                                                                           trend 19
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                                                                                                auch in Deutschland sagen, das ging uns
                                                                                                zu schnell. Ich habe darauf eine Antwort:
                                                                                                Wir können uns als verantwortliche Poli-
                                                                                                tiker nicht die Aufgaben aussuchen, die
                                                                                                die Geschichte uns stellt. So wie Deutsch-
                                                                                                land sich 1989 nicht aussuchen konnte,
                                                                                                wie es mit dem Zusammenbruch des
                                                                                                Sowjetimperiums und dem Fall der Mauer
                                                                                                umgehen wollte. Hätte Bundeskanzler
                                                                                                Helmut Kohl 1989 sagen sollen: Das las-
                                                                                                sen wir erstmal liegen? Das ist im Augen-
                                                                                                blick nicht so wichtig? Das geht vielleicht
                                                                                                zu schnell für die Menschen? Natürlich
                                                                                                nicht. Gleiches gilt für Europa. Hätte man
                                                                                                einfach den Binnenmarkt und die Wäh-
                                                                                                rungsunion lassen sollen? Hätte man
                                                                                                sagen sollen, das geht vielleicht zu schnell?
                                                                                                Es ist eine historische Notwendigkeit,
                                                                                                Europa auf den schärferen Wettbewerb
                                                                                                durch die Globalisierung vorzubereiten.

  Europa im Aufbruch                                                                                Ich erinnere aber auch an die Wechsel-
                                                                                                kursschwierigkeiten der achtziger Jahre,
  Neue Politik für                                                                              an die Schwierigkeiten, die alle europäi-
                                                                                                schen Volkswirtschaften damals hatten.
                                                                                                Wenn ich heute sehe, dass die Gemein-
  Wachstum                                                                                      schaftswährung in Teilen der Öffentlich-
                                                                                                keit in Frage gestellt wird, dann frage ich
                                                                                                mich, welches kurze historische Gedächt-
  und Beschäftigung                                                                             nis haben die Leute, die die Vorteile nicht
                                                                                                sehen wollen? Die Dynamik des Eini-
                                                                                                gungsprozesses ist nicht eine, die künst-
                                                                                                lich geschaffen wurde, sondern sie ist eine,
  Günter Verheugen,                                                                             die uns von historischen Gegebenheiten
  Vizepräsident der Europäischen Kommission,                                                    auferlegt wurde. Sie musste gestaltet wer-
  zuständig für Industrie und Unternehmen                                                       den. Der Streit über Europa, in dem wir
                                                                                                uns im Moment befinden, kann ein heil-

  E
        uropa steckt nach den abschlägigen       mente dessen, was wir in fünf Jahrzehnten      samer Streit sein. Das Projekt einer Euro-
        Voten bei den Referenden in Frank-       europäischer Integration geschaffen            päischen Verfassung sollte nicht aufgege-
        reich und in den Niederlanden in         haben, dürfen nicht erschüttert werden.        ben werden. Ganz einfach deshalb nicht,
  einer Krise. Das kann man nicht bestrei-       Die europäische Einigung ist die histo-        weil es, so paradox das klingen mag, ja die
  ten. Es ist eine Krise mit einem ganz eige-    risch notwendige und auch einzig mögli-        Antwort gibt auf die Unzufriedenheit,
  nen Charakter. Es ist keine Krise zwischen     che Antwort auf die unglückliche               Unsicherheit und Ängste vieler Bürgerin-
  Mitgliedsländern oder führenden Staats-        Geschichte Europas im 20. und 19. Jahr-        nen und Bürger Europas. Eine Euro-
  männern. Sondern es ist offenkundig eine       hundert. Es ist das Beste, was Europa in       päische Verfassung schafft die Voraus-
  Krise des Vertrauens, eine Krise der           seiner Geschichte politisch eingefallen ist.   setzungen für mehr direkte Demokratie,
  Zustimmung und eine Krise wegen der            Es ist die Grundlage für Frieden, Wohl-        demokratische und transparente Ent-
  Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger        stand und soziale Sicherheit in Europa.        scheidungsstrukturen und eine klare Ab-
  Europas, den Weg der europäischen Inte-                                                       grenzung von Aufgaben zwischen Mit-
  gration weiter so wie bisher mitzugehen.           Man kann, man muss über vieles strei-      gliedsländern und EU-Institutionen. Und
                                                 ten. Es geht darum, dass Europa nie wie-       die Verfassung schafft auch die Instru-
      Es ist wichtig und richtig, dass in        der zurückfallen darf in die Zeiten der        mente, die Europa braucht, um auf der
  unseren Gesellschaften über Europa             nationalen Egoismen und Rücksichtslo-          Weltbühne als starker Akteur aufzutreten,
  diskutiert und gestritten wird. Es ist mir     sigkeiten auf Kosten der anderen. Es ist       der seine Interessen vertritt. Darum sollte
  viel lieber, es wird über Europa gestritten,   richtig, dass die europäische Einigung         das Projekt einer Europäischen Verfassung
  als dass mit Ahnungslosigkeit oder Teil-       gerade in den vergangenen 15 Jahren eine       nicht aufgegeben werden.
  nahmslosigkeit einfach das hingenommen         ungeheuer starke Dynamik entfaltet hat.
  wird, was geschieht. Aber auf eines müs-       Ich kann verstehen, dass viele Menschen           Die von den Staats- und Regierungs-
  sen wir gemeinsam achten: Die Funda-           in Frankreich, in den Niederlanden und         chefs beschlossene Denkpause im Rah-            ...

20 trend                                                                                                                 III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N

... men des Ratifizierungsprozesses kann nur      schen Superstaat oder ähnliches zu reden.       Prozesse dauern und ob sie zum Erfolg
   als eine ,Pause zum Denken’ verstanden         Ich möchte daran erinnern, dass die ver-        führen werden. Damit ist dann das Maß
   werden. Sie sollte auch wirklich dazu          schiedenen Erweiterungsrunden, die wir          des für uns Möglichen erreicht. Das muss
   genutzt werden, um in einen Dialog mit         seit 1957 erlebt haben, aus unterschied-        dann erst einmal konsolidiert und verar-
   einer breiten europäischen Öffentlichkeit      lichen Motiven erfolgt sind. Sie sind teil-     beitet werden. Wir müssen Erfahrungen
   zu treten, um darüber zu reden, wie es         weise aus wirtschaftlichen Gründen              sammeln, wie das große, kontinentale
   weitergehen soll. Ich betone: Mit einer        erfolgt. Sie sind teilweise aus strategischen   Europa funktioniert.
   breiten europäischen Öffentlichkeit, nicht     und außenpolitischen Gründen erfolgt.
   nur mit den Eliten. Die Probleme, die wir      Und dann gab es die große Erweiterungs-             Die Vollmitgliedschaft in der Euro-
   haben, hängen auch damit zusammen,             runde, die im vergangenen Jahr vollzogen        päischen Union ist im Übrigen nicht die
   dass es so schwer ist zu erklären, wohin die   wurde, und die jetzt ein bisschen, wie ich      einzige Möglichkeit, die Verbreitung der
   Reise gehen soll. Das ist vor allem deshalb    überrascht zur Kenntnis nehme, ins              europäischen Werte Freiheit und Demo-
   so schwer zu erklären, weil es darüber         Gerede gekommen ist.                            kratie zu erreichen. Was wir jetzt brau-
   keine Einigkeit unter den 25 Mitglieds-                                                        chen, ist ein breiter Dialog. Ich bitte alle,
   staaten der Europäischen Union gibt. Wir            Ich möchte daran erinnern, dass die        die in der Wirtschaft und in der Gesell-
   müssen jetzt die Frage beantworten, was        strategische Entscheidung, die Reform-          schaft Verantwortung tragen, den Mythen
   Europa tun soll und was nicht. Ich plä-        staaten Mittel- und Osteuropas dauerhaft        entgegenzutreten, was Europa bewirkt
   diere entschieden dafür, dass wir uns sehr     dadurch zu stabilisieren, dass man ihnen        oder nicht bewirkt. Niemand darf zulas-
   viel mehr Zurückhaltung auferlegen bei         den Weg in die Europäische Union ebnet,         sen, dass die von allen deutschen Regie-
   der Inanspruchnahme von Kompetenzen            im Jahre 1990 von der Bundesrepublik            rungen seit Konrad Adenauer betriebene
   und Regelungsmöglichkeiten. Und dass           Deutschland als erstem Land eingefordert        Politik der offenen Grenzen, des Freihan-
   wir sehr viel stärker als bisher auf den       worden ist. Der damalige Bundeskanzler          dels und der Liberalisierung für die hohe
   Grundsatz der Subsidiarität achten. Es         Helmut Kohl hat als erster die Auffassung       Arbeitslosigkeit und die wirtschaftlichen
   muss zu einer ganz entscheidenden Frage        vertreten, dass auch diese Länder das           Probleme Deutschlands verantwortlich
   werden, ob wir bestimmte Dinge nicht           Recht haben, voll an der europäischen           gemacht werden. Die größte und stärkste
   besser national oder regional regeln kön-      Integration teilzunehmen. Und das wir           Exportnation der Welt, die Bundesrepu-
   nen. Wir dürfen Europa nicht auswu-            die Pflicht haben, ihnen auf diesem Weg         blik Deutschland, kann nicht ohne offene
   chern lassen in alle nur möglichen Lebens-     zu helfen. Ich erwähne das Jahr 1990 des-       Grenzen und freie Märkte existieren.
   bereiche. Europa soll da tätig werden, wo      halb, weil man jetzt oft hört, die Osterwei-
   ein europäisches Land die Bedürfnisse sei-     terung sei viel zu schnell gegangen. Ich            Offenheit ist eine Existenzgrundlage
   ner Bevölkerung nicht mehr erfüllen            finde das nicht. Ich finde nicht, dass 14       für uns. Niemand darf zulassen, dass bei
   kann, weil nationale Gestaltungskraft          Jahre zu schnell sind. Ich bin der Auffas-      uns der Eindruck entsteht, dass wir von
   dazu nicht mehr ausreicht.                     sung, dass wir alle gemeinsam stolz darauf      Billiglöhnern aus unseren Nachbarlän-
                                                  sein können, dass es dank der europäi-          dern überrannt werden. Es mag solche
       Es muss auch die Frage beantwortet         schen Integration gelungen ist, die friedli-    Erscheinungen geben, aber diese sind ille-
   werden, wie weit die Vertiefung der euro-      che Transformation eines ganzen Dutzend         gal und müssen mit aller Kraft bekämpft
   päischen Integration noch gehen kann.          früherer kommunistischer Länder in              werden. In der EU gibt es eine ganz klare
   Können wir mit schnellen Schritten in          vitale junge Demokratien, in offene             Regel. Arbeitnehmer sollen nach den
   Richtung einer politischen Union gehen         Gesellschaften und in freie Marktwirt-          Regeln des Landes behandelt und bezahlt
   oder muss dieser Prozess verlangsamt wer-      schaften zu verwandeln – ohne, dass ein         werden, in dem sie arbeiten. Es ist auch
   den? Ich möchte es sehr deutlich sagen: Es     einziger Schuss abgegeben worden ist. Das       nicht im Interesse der osteuropäischen
   ist eine Illusion zu glauben, dass wir in      soll uns Europäern erst mal jemand nach-        Länder, Billigarbeit zu exportieren. Wer
   vorhersehbarer Zukunft einen europäi-          machen.                                         das tut, setzt eine Spirale nach unten in
   schen Bundesstaat erreichen können. Ich                                                        Gang. Und am Ende einer solchen Spirale
   bin noch nicht einmal sicher, ob das wün-          Bestimmte deutsche Medien, die den          sind alle ärmer. Ferner muss auch immer
   schenswert wäre. Ich bin nicht davon           Eindruck erwecken, Menschen, die öst-           wieder darauf hingewiesen werden, dass
   überzeugt, dass wir gut beraten sind, wenn     lich der Elbe leben, seien Europäer minde-      die mittel- und osteuropäischen Länder
   wir den Menschen in Europa ihre natio-         ren Rangs, muss ich schon daran erinnern,       einen enorm großen Markt für die
   nale Identität nehmen würden, die sich         dass diese europäische Einigung notwen-         Exportnation Deutschland bieten. Wir
   normalerweise festmacht an der Kultur,         dig geworden ist wegen unseres Landes,          dürfen nicht zulassen, dass die europäi-
   der Tradition, der Sprache und der             wegen der Verbrechen, die mit unserem           sche Integration zum Schuldigen gestem-
   Geschichte. Ich denke, dass der Versuch,       Namen verbunden sind – kein anderes             pelt wird für die Probleme des Struktur-
   den wir in Europa gemacht haben, eine          Land in Europa hat so viel Anlass wie           wandels, die wir in europäischen Ländern
   neue Art der Verschränkung zwischen            Deutschland, sich zur europäischen Eini-        haben. Wir können uns nicht gegen den
   souveränen Nationalstaaten herbeizufüh-        gung zu bekennen. Wenn die Erweite-             Wandel stemmen. Was wir aber tun kön-
   ren, der richtige Weg ist. Damit wird der      rungsrunde mit den zwölf mittel- und ost-       nen, ist den Wandel ökonomisch und
   Kompromiss zwischen Staaten zum                europäischen Ländern abgeschlossen ist,         sozial vernünftig begleiten.           앬
   Wesen der europäischen Politik. Darum          bleiben noch Kroatien und die Türkei. In
   sollte man aufhören, über einen europäi-       beiden Fällen weiß ich nicht, wie lange die     Aus Rede Wirtschaftstag 2005

   III. Quartal 2005                                                                                                                   trend 21
P E R S P E K T I V E N

                                                                                                 Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der
                                                                                                 EU macht nur 72 Prozent des US-Niveaus
                                                                                                 aus. Auf der weltweiten Rangliste liegt
                                                                                                 Deutschland nur noch auf dem 17. Platz.
                                                                                                 Der Produktivitätszuwachs pro Arbeitneh-
                                                                                                 mer ist geringer als in den USA. Die EU
                                                                                                 investiert nur rund zwei Prozent des Brut-
                                                                                                 toinlandsprodukts in Forschung und Ent-
                                                                                                 wicklung. Europa steht vor großen
                                                                                                 Herausforderungen. Der internationale
                                                                                                 Wettbewerb verschärft sich. Europa wird
                                                                                                 von Asien und den USA gewissermaßen in
                                                                                                 die Zange genommen. Zugleich eröffnet
                                                                                                 der chinesische Markt ein großes Wachs-
                                                                                                 tumspotenzial. Europa steht jedoch auch
                                                                                                 vor dramatischen Veränderungen seiner
                                                                                                 Bevölkerungsstruktur. Heute steht vier
                                                                                                 Erwerbstätigen eine Person im Ruhestand
                                                                                                 gegenüber. Bis zum Jahr 2050 wird sich
                                                                                                 die Zahl der Rentner mindestens verdop-

  Was erwartet                                                                                   peln. Zwar soll die Lissabon-Strategie auf
                                                                                                 genau diese Schwächen Europas reagieren
                                                                                                 – die Bilanz jedoch ist enttäuschend. Auch
  die deutsche                                                                                   die Neuausrichtung, die im März dieses
                                                                                                 Jahres vorgenommen worden ist, ist mei-
                                                                                                 nes Erachtens nicht entschlossen genug.
  Wirtschaft von                                                                                     Von der dringend notwendigen Fokus-
                                                                                                 sierung auf Wachstum, Wettbewerbsfähig-
  der Europäischen                                                                               keit und Beschäftigung – wie sie von der
                                                                                                 EU-Kommission gefordert worden war, ist
                                                                                                 bis heute nur wenig erkennbar. Die Lissa-
  Union?                                                                                         bon-Strategie muss sich stärker auf die
                                                                                                 eigentlichen Ursachen der europäischen
                                                                                                 Wachstumsschwäche konzentrieren. Die
                                                                                                 Rahmenbedingungen für die Unterneh-
  Jürgen R. Thumann, Präsident des Bundesverbandes                                               men müssen jetzt im Vordergrund stehen.
  der Deutschen Industrie (BDI)                                                                  Denn nur Unternehmen sind in der Lage,
                                                                                                 dauerhaft und wirtschaftlich Arbeitsplätze

  E
       uropa liegt mir am Herzen: Als Bür-        Union darstellt. Die Staats- und Regie-        zu schaffen. Die Neuausrichtung der Lis-
       ger, als Unternehmer und auch als          rungschefs haben aus dem Nein der Fran-        sabon-Strategie muss sich dabei stärker als
       Präsident des BDI.                         zosen und Niederländer zur EU-Verfas-          bisher im Legislativprogramm der Europä-
                                                  sung die Konsequenz gezogen, den Prozess       ischen Kommission niederschlagen.
      Vor mehr als 50 Jahren waren Kohle          der Ratifizierung ein Jahr lang auszusetzen.
  und Stahl die Wirtschaftszweige, die die        Das gibt den Regierungen genügend Zeit,            Ein zweiter wichtiger Grund für die
  Gründungsstaaten der Europäischen               den Bürgerinnen und Bürgern den Verfas-        wachsende Skepsis der Bürger gegenüber
  Union zusammenbrachten. In der Mon-             sungsvertrag zu erläutern und die Vorteile     Europa ist die europäische Rechtsetzung.
  tanunion verpflichteten sich sechs Mit-         der EU besser zu vermitteln. Für die wach-     Bürger und Unternehmen fühlen sich
  gliedsstaaten zu enger Zusammenarbeit.          sende Distanz der Bevölkerung gegenüber        durch intransparente Entscheidungen und
  Dabei war es kein Zufall, dass die              Europa gibt es viele Ursachen. Auf drei will   einer Flut von Regulierungen zunehmend
  Geschichte der europäischen Integration         ich eingehen: Das Tempo der Erweite-           fremdbestimmt. Ich weiß zwar sehr wohl,
  mit Kohle und Stahl begann. Der Krieg           rung, die europäische Rechtsetzung und         dass ein vernünftiges Maß an Harmonisie-
  spielte eine Rolle, vor allem aber die inter-   die Wirtschaftssituation in Europa.            rung notwendig ist, wenn der Binnen-
  nationale industrielle Verflechtung zwi-                                                       markt funktionieren soll. Der Binnen-
  schen Deutschland, Frankreich, Luxem-               Die Performance der europäischen           markt und die Gemeinschaft haben den
  burg und Belgien. Stahl war die Boom-           Wirtschaft war trotz der Lissabon-Strate-      Bürgern und den Unternehmen in den
  branche in den Aufbaujahren der Europä-         gie in den vergangenen Jahren enttäu-          vergangenen Jahren unschätzbare Wettbe-
  ischen Gemeinschaft. Heute stehen wir           schend. Der Konjunkturaufschwung fiel          werbsvorteile und Wachstumsdynamik
  vor der Frage, wie sich die Europäische         schwächer aus als in den USA und Asien.        gebracht. Aber immer wieder versuchen         ...

22 trend                                                                                                                 III. Quartal 2005
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