Deutschland auf Kurs bringen - Unionskonzepte 2005 bis 2009 - Wirtschaftsrat der CDU
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P E R S P E K T I V E N Deutschland auf Kurs bringen Unionskonzepte 2005 bis 2009 Dr. Angela Merkel MdB, Vorsitzende der CDU Deutschlands und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag I ch möchte mich beim Wirtschaftsrat für seine gute Ansatz durchgesetzt hat, was er für nötig hielt. So Arbeit bedanken. Sie ist für uns immer ein Impuls, wurden für die Menschen die Zusammenhänge klar. aus dem Blickwinkel der Wirtschaft darüber nach- Es reicht nicht aus, hier und dort Einzelmaßnahmen zudenken, was Deutschland voranbringt. Wir wissen, zu beschließen. Wer erfolgreich sein will, muss in dass es in Deutschland nicht vorangehen wird und einer konzertierten Aktion vorgehen. Wolfgang dass auch keine Arbeitsplätze geschaffen werden, Schüssel hat diese Politik aus einem Guss nicht nur wenn sich die Politik gegen die Wirtschaft aufstellt. in ein Wahlprogramm gefasst, sondern er hat sie Wir schaffen es nur mit der Wirtschaft gemeinsam. gegen manche Widerstände, aber mit einem großen Erfolg für die Österreicherinnen und Österreicher Der österreichische Bundeskanzler Wolfgang verwirklicht. Auch Deutschland braucht wieder eine Schüssel hat innerhalb einer überschaubaren Zeit Politik aus einem Guss. gezeigt, wie man das Schicksal eines Landes durch entschlossenes Handeln wenden kann. Seine Regie- Der Bundeskanzler hat nach den Erfolgen der rungsarbeit zeichnet aus, dass er gleich am Anfang der Union in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfa- jeweiligen Legislaturperiode in einem umfassenden len die Vertrauensfrage gestellt, mit dem Ziel, Neu- ... III. Quartal 2005 trend 7
P E R S P E K T I V E N ... wahlen herbeizuführen. Die Begründung dafür hat Defizit, davon mindestens 40 Milliarden € im sich unter anderem auf die unterschiedlichen Mehr- Bundeshaushalt (zum Vergleich: der Bundeshaushalt heitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat bezo- umfasst etwa 250 Milliarden €). Wir haben 20 Mil- gen. Richtig ist, der Bundesrat ist mehrheitlich durch liarden strukturelles Defizit in den sozialen Siche- unionsregierte Länder geprägt. Wir haben eine ganze rungssystemen. Das ist im Wesentlichen auch auf die Fußballmannschaft von Ministerpräsidenten, zehn sehr schlechte Beschäftigungssituation zurückzufüh- bei der CDU und den elften von der CSU. ren. Und wir haben noch einmal etwa 30 bis 40 Milliarden € Defizit in unseren Bundesländern. Die Aber nur, weil die Mehrheiten im Bundesrat uni- Länderhaushalte sehen dramatisch aus. onsgeprägt sind, kann man nicht von Blockade spre- chen. Wir hatten in dieser Legislaturperiode 92 Vor 2010 kann beispielsweise Nordrhein-West- Gesetze, die in den Vermittlungsausschuss mussten. falen keinen verfassungsgemäßen Haushalt, also Von diesen 92 Gesetzen sind 91 einvernehmlich mit einen Haushalt, bei dem die Investitionen größer der rot-grünen Koalition zu einem Kompromiss sind als die Netto-Kreditaufnahme, vorlegen. Das ist gebracht worden. Jedes dieser Gesetze ist besser aus im größten Bundesland der Bundesrepublik dem Bundesrat herausgekommen, als es hineinge- Deutschland die Hinterlassenschaft von Rot-Grün. kommen ist. Bei einem einzigen Gesetz, nämlich beim so genannten Verfütterungsverbotsgesetz ist es Wir sind Letzter im Wirtschaftswachstum in zu keiner Einigung gekommen. Europa. Die rote Laterne für Deutschland kann man nicht mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den In 91 von 92 Fällen hat es Kompromisse gegeben. neuen Bundesländern entschuldigen. Aufgrund der Unser Prinzip dabei lautete immer: Wenn der Kom- positiven Entwicklung im produktiven Bereich müss- promiss dem Lande dient, wenn die Vorteile die ten die neuen Bundesländer eher höhere Wachstums- Nachteile überwiegen, werden wir zum Wohl des raten haben. Dass Deutschland im Gegensatz zu Landes der Sache zustimmen. Diesen Weg haben wir Österreich sehr viel schlechter abschneidet, ist haus- ganz konsequent fortgesetzt. Von Blockade kann also gemachte Politik und hat nichts mit Globalisierungs- keine Rede sein. effekten zu tun. Bilanz nach sieben Jahren Globalisierung Rot-Grün im Bund bestimmt unser Leben Angesichts der bevorstehenden Neuwahlen möchte Die gute Nachricht ist, dass wir die Dinge an- ich die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Regierung packen können, wenn wir uns über ein paar grund- ziehen. Wir haben fast fünf Millionen registrierte legende Dinge einigen. Wir können die Frage, was Arbeitslose. Wir wissen, wie viele arbeitslose Menschen unser Land voranbringt, nicht mehr allein entschei- darüber hinaus durch Tricks aus der Statistik gefallen den. Denn die Globalisierung bedeutet auch eine sind, wie viele in den vorzeitigen Ruhestand geschickt immer stärkere Durchdringung der verschiedenen wurden. Wir wissen, wie viele Menschen Angst haben, Ökonomien. Damit ist das, was andere tun, für uns ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Jeden Tag verschwinden immer auch ein Maßstab und eine Aufforderung, in Deutschland über tausend sozialversicherungspflich- selber etwas zu tun. Physikalisch formuliert: Es zählt tige Beschäftigungsverhältnisse. heute nur die Relativgeschwindigkeit. Ob wir glau- ben, dass wir uns angestrengt haben, ist bei der Wir haben 40.000 Insolvenzen pro Jahr. Wir Betrachtung des Resultats relativ egal, wenn andere haben ungefähr hundert Milliarden € strukturelles um uns herum sich mehr angestrengt haben. ... 8 trend III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N ... Globalisierung bestimmt unser Leben, unser Tun. macht auch den sozialen Charakter der Marktwirt- Globalisierung heißt für uns, dass wir uns entschei- schaft aus. Es gibt in der politischen Diskussion jetzt den müssen, wo wir mitspielen wollen. Wo wollen eine Tendenz, einen Gegensatz zwischen der Wirt- wir den Ton angeben? Deutschland wird sich, das hat schaft und den Menschen zu konstruieren. Aber ohne der Bundespräsident wunderbar gesagt, sicher nicht Menschen gäbe es keine Wirtschaft. Der Markt ist an dem Kampf um die niedrigsten Löhne in den ver- der Aktionsraum, in dem sich einzelne Menschen schiedensten Bereichen beteiligen können. Wir müs- einmischen und sich ihrem Gegenüber versuchen zu sen in Deutschland so viel besser sein wie wir teurer bewähren, Angebote zu machen, in einen Wett- sind. Dieser ökonomischen Wahrheit müssen wir uns bewerb einzutreten, um sich damit selbst zu verwirk- stellen. lichen, um ihre Produkte zu verkaufen. Wirtschaft ohne Menschen gibt es nicht. Wachstum braucht Freiheit Schon die DDR hat es nicht geschafft, die Na- Gerechtigkeit turgesetze außer Kraft zu setzen. Auch Demokratie und Solidarität und Freiheit können das in dem Fall nicht. Wir müs- Es geht darum, die Rahmenbedingungen so zu sen uns fragen, womit wollen wir in Zukunft eigent- fassen, dass aus dem Wirtschaften ein möglichst lich unser Geld verdienen? Was können wir gut und hohes Maß an Gerechtigkeit und Solidarität entsteht. was brauchen wir dafür? Für mich ist das Thema Das setzt voraus, dass das, was geschaffen wird, erst Arbeit das zentrale Thema. Um mehr Arbeitsplätze einmal mehr ist als das, was verbraucht wird, damit zu schaffen, brauchen wir Wachstum. Aus meiner man für die Schwachen in der Gesellschaft noch Sicht ist sicher, dass Wachstum Freiheit braucht. Des- etwas zum Verteilen hat. Das war auch viele Jahre bis halb ist die Diskussion darüber, was das bedeutet, zur großen Koalition in den 60er Jahren in der zentral. Bundesrepublik Deutschland ganz klar. Erst danach hat man angefangen, Schulden zu machen und Unser Freiheitsverständnis bedeutet keine Abwehr Wachstum auf Pump zu finanzieren. Das können wir von irgendetwas. Sondern unser Freiheitsverständnis uns nicht weiter leisten, schon gar nicht in der demo- resultiert aus dem christlichen Menschenbild. Das graphischen Lage, in der wir uns befinden. ... III. Quartal 2005 trend 9
P E R S P E K T I V E N ... Wenn wir nun so viel besser sein müssen wie wir dungsgrundversorgung gewährleistet ist. Wir brau- teurer sind, müssen wir uns unserer Ressourcen, chen einen funktionierenden Staat, der diese Grund- Fähigkeiten und Kräfte besinnen. Das sind in allerers- bildung unserer Kinder endlich wieder sicherstellt. ter Linie die Menschen in unserem Land. Wir haben noch die Steinkohle als Rohstoff, aber die bringt uns Ein weiteres wichtiges Thema ist das duale Ausbil- wenig Gewinn. Wir haben die Braunkohle, die ist da dungssystem, bis heute ein echter Schlager der etwas besser. Aber im Wesentlichen sind wir auf die Bundesrepublik – da, wo duale Ausbildung stattfin- Fähigkeiten der Menschen angewiesen. Aus diesem det. In Wirklichkeit aber bekommt nur noch jeder Grund lautet die zentrale Frage: Wie ist unser Bil- zweite Schulabgänger einen Berufsausbildungsplatz dungssystem ausgerichtet? Wie können wir mit ande- im klassischen dualen System. 50 Prozent der Schul- ren Ländern der Welt mithalten, die vielleicht sogar abgänger werden durch verschiedenste staatliche noch über Rohstoffe verfügen und sich gar nicht so Ersatzmaßnahmen erst einmal weitergebildet. Es hat sehr auf die menschliche Kreativität stützen müssen? keinen Sinn, über Ausbildungsplatzabgaben und ähnliches zu reden, wir müssen endlich wieder mehr Bildung auf dem Prüfstand Ausbildungsplätze bekommen. Wir müssen die Wir müssen alle Ebenen der Bildungspolitik mittelständische Wirtschaft so stärken, dass sie nicht immer wieder auf den Prüfstand stellen und hinter- ständig vom Konkurs bedroht ist, sondern eine Per- fragen. Zu einem modernen, hoch entwickelten spektive hat. Dann stellen die Unternehmen auch Industrieland, zu einem Land, das sich der Wissens- wieder junge Leute ein, weil sie Nachwuchs brauchen gesellschaft öffnen will, gehört nach meinem festen für die Prosperität ihres Unternehmens. Verständnis eine Schulausbildung, bei der die Kinder am Ende Lesen, Schreiben und Rechnen können. Seit vielen Jahren beschäftigt uns das Thema Selbst das ist heute nicht mehr hundertprozentig ga- Studiengebühren. Es bedurfte eines Verfassungsge- rantiert. Nun ist es bereits eine große Verheißung, richtsprozesses, damit die Bundesbildungsministerin wenn die Stunden, die auf dem Stundenplan stehen, einsah, dass das Verbot im Bundesgesetz nicht auch gegeben werden. Roland Koch hat das in verfassungsgerecht ist. Jetzt lautet die Frage: wie kön- Hessen verwirklicht und Jürgen Rüttgers wird das für nen Studiengebühren ausgestaltet sein. Leider ist es in Nordrhein-Westfalen jetzt auch tun. Deutschland ja so, dass im internationalen Vergleich verhältnismäßig wenig Kinder aus Nichtakademiker- Wir müssen auch den Leistungsgedanken in der familien studieren. Mit Gerechtigkeit hat das heutige Schule wieder voll anwenden. In Nordrhein-Westfa- Studiensystem wenig zu tun. Deshalb halten wir es für len ist die „geniale“ Idee geboren worden – die mit richtig, dass Universitäten selbst darüber entscheiden, uns jetzt natürlich wieder rückgängig gemacht wird ob sie Gebühren erheben wollen, und dass dafür die – in den Klassen fünf, sechs, sieben und acht Biolo- Möglichkeit von Darlehen eröffnet wird. Wenn man gie, Physik und Chemie zu einem Fach – zu Natur- von maximal 500 € ausgeht, wie die Kultusminister wissenschaften – zusammenzulegen. Das sieht dann das jetzt pro Semester ins Auge gefasst haben, dann so aus: Wer sich mit der Schwerkraft nicht so befas- bedeutet das: Falls man in zehn Semestern fertig sen möchte, kann drei Blumennamen auswendig ler- geworden ist, muss man ein Darlehen von 5.000 € nen, dann kriegt er die gleiche Zensur. Es ist auch zurückzahlen. hochgradig verlogen, wenn bis weit in Gewerk- schaftsfunktionärskreise hinein jeder versucht, sein 5.000 € Darlehen, die man zurückzahlen muss, so- Kind auf einer Privatschule unterzubringen, während bald man einen Arbeitsplatz hat, sind eine machbare bei staatlichen Schulen nicht einmal mehr die Bil- Herausforderung. Für diejenigen, die schneller studie- ... 10 trend III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N ... ren wollen, kann man Stipendien als Leistungsanreize einseitige Abhängigkeiten kommen. Wir brauchen setzen. Ich bin auch der Meinung, dass die Universitä- natürlich erneuerbare Energien, aber Degression und ten sich ihre Studenten vollständig selbst aussuchen die langfristige Wirtschaftlichkeit dieser erneuer- sollten, damit hier wieder eine persönliche Bindung baren Energien dürfen nicht aus dem Auge geraten. entsteht. Außerdem halte ich Langzeitstudiengebüh- Die Gesamtheit der staatlichen Mittel, CO2-Emis- ren für völlig angemessen. Es gibt nicht den geringsten sionszertifikate, Erneuerbare-Energiegesetz, Öko- Grund, dass Krankenschwestern und Facharbeiter mit steuer, dürfen nicht kumulieren. Sie müssen so ein- ihren Steuergeldern das Studium von Menschen gesetzt werden, dass die notwendigen Anreizwirkun- bezahlen sollen, die 16, 17, 18 Semester studieren. gen entfacht werden. Wenn der Mensch sich dann fertig gebildet und Bei der Ökosteuer existiert so gut wie keine An- ausstudiert hat, stellt sich die Frage, was er mit seinem reizwirkung. Leider wird es bei der von mir beschrie- Wissen macht. Da kommt für mich der zentrale benen Haushaltslage nicht möglich sein, den Weg, Punkt, der auch über das Schicksal Deutschlands, den man da gegangen ist, nun sofort wieder umzu- über seine Zukunft entscheiden wird. Wie inno- kehren. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns vationsbereit sind wir? Wie viel Kraft haben wir, neue beim Erneuerbaren-Energiengesetz und dem Zu- Wege zu gehen? Welche Hindernisse müssen aus dem sammenspiel mit den CO2-Zertifikaten nicht Bürden Weg geräumt werden? auferlegen, die wir später im Energiepreis nicht mehr rechtfertigen können und die zur Abwanderung von Energiepolitik im Focus verschiedenen Industrien führen. Wenn man davon ausgeht, dass Energie auch in den nächsten Jahren der Blutkreis einer entwickelten Bei der unbegrenzten Förderung von Wind- und Volkswirtschaft ist, müssen wir als erstes unsere Ener- Sonnenenergie müssen wir uns ebenfalls fragen, ob giepolitik in den Fokus nehmen. Der Strom kommt das dem Industriestandort Deutschland entspricht. nicht einfach aus der Steckdose, sondern muss Wir werden nach der Erprobungsphase der CO2- irgendwo erzeugt werden und zwar zu wettbewerbs- Zertifikate fragen müssen, ob dabei Wachstums- fähigen Preisen. restriktionen entstehen. Österreich hat z. B. immer Wachstumsmargen in die CO2-Zertifikate mit einge- Die gesamte Liberalisierung, die im Strommarkt rechnet, während Deutschland da sehr restriktiv vor- in den Jahren 97/98 durchgeführt wurde und die gegangen ist. Wir dürfen uns durch solche Maßnah- Preissenkungen in Höhe von 20, 25 Prozent erbracht men im europäischen Wettbewerb nicht Nachteile haben könnte, ist im Grunde durch zusätzliche staat- schaffen, für die uns nachher keiner bedauern wird, liche Maßnahmen wieder aufgefressen worden. Des- weil wir sie uns selbst geschaffen haben. Wir brau- halb heißt für mich die Devise: Es ist ein ideolo- chen eine wettbewerbsfähige Energiepolitik, die gischer Beschluss gewesen, volkswirtschaftlich durch zukunftsgewandt ist und uns nicht in einseitige nichts zu rechtfertigen, nach bestimmten Zeiten Abhängigkeiten bringt. Wir brauchen im Übrigen Kernkraftwerke abzuschalten. Die Frage, wie lange auch eine sehr viel breiter angelegte Energiefor- ein Kernkraftwerk in Deutschland läuft, muss sich schung. Auch dort sind wir auf dem besten Wege, uns am Stand von Wissenschaft und Technik, also am von internationalen Entwicklungen abzukoppeln. Sicherheitsstand orientieren und an nichts anderem. Alles andere ist volkswirtschaftlicher Unsinn. Wir Grüne Gentechnologie brauchen einen Mix von Energieträgern. Wir müs- Ich kann zum zweiten Gebiet übergehen, zur grü- sen aber aufpassen, dass wir gerade beim Gas nicht in nen Gentechnologie: Wenn wir die Möglichkeit ... III. Quartal 2005 trend 11
P E R S P E K T I V E N ... bekommen, Politik in diesem Land zu gestalten, dann Nun hatten der Bundeskanzler, Tony Blair und werden wir die einseitige Risikoabladung beim Nut- Jacques Chirac zusammen die gute Idee, eine Initia- zer der grünen Gentechnologie verändern. Denn dies tive zu ergreifen, die Chemikalienrichtlinie nicht nur ist ein Wachstumsbereich, der weit über die Frage im Umweltausschuss, sondern auch im Wettbewerbs- hinausgeht, ob man Babynahrung nun mit gentech- ausschuss beraten zu lassen, um sie auch industriepo- nisch veränderten Lebensmitteln macht oder nicht. litisch zu bewerten. Sie liegt jetzt beim Wettbewerbs- Darüber soll jeder Verbraucher selbst entscheiden. rat und wer kommt für Deutschland? Trittin! Weil die nationale Kabinettsordnung vorsieht, dass immer Aber die grüne Gentechnologie ist unmittelbar derjenige in den Rat geht, dessen Thema dort behan- mit der weißen Gentechnologie, mit der gesamten delt wird, und der Bundeskanzler seine Kompetenz Enzymforschung verbunden. Wenn wir uns auf dem nicht nutzt, um genau das in diesem Fall zu ändern. Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe nicht zu- Dann brauchen wir solche Initiativen nicht. Dann trauen, dass wir hier ganz gezielte Eigenschaftsverän- werden im Wettbewerbsrat die gleichen Anträge derungen machen, werden wir in der Enzymfor- gestellt wie im Umweltministerrat. Damit ist das schung zurückfallen. Das hat dann tiefste Auswirkun- Ganze erledigt. gen bis hinein in die chemische Industrie. Wir wissen, dass wir in einem starken Wettbewerb REACH – stehen, in der pharmazeutischen Industrie und in vie- zusätzliche Lasten len anderen Bereichen. Aber unter dem Strich ist die Ich kann sofort bei der chemischen Industrie Zahl der Beschäftigungsfelder, die Zahl der Bereiche, weitermachen. Da richte ich meinen Blick nach in denen wir weltführend sind, nicht mehr geworden, Europa. Die viel gelobte Richtlinie REACH hat sondern weniger und sie reicht für 80 Millionen 4.000 Änderungsanträge im Europäischen Parlament Menschen nicht aus. Deshalb müssen wir an dieser erfahren. Diese Richtlinie hat über tausend Seiten Stelle wieder besser werden. und ist aus meiner Sicht der sichere Weg, Europa und damit natürlich die Chemiestandorte, also auch in Halten, was zu halten ist ganz besonderer Weise Deutschland, in eine Situa- Das psychologisch Dramatische an dieser Situa- tion hineinzubringen, in der wir mit Sicherheit tion ist, dass viele Menschen befürchten, dass dort, Marktanteile im Weltwettbewerb verlieren werden. wo sie arbeiten, pro Stunde mehr hergestellt werden könnte durch Rationalisierung und höhere Effizienz. Wir konkurrieren mit Importen aus außereuro- Sie ziehen für sich die Schlussfolgerung, dass die päischen Ländern, die nach den WTO-Regeln längst Summe der Arbeit in Deutschland immer weniger nicht die Anforderungen an die Produkte stellen wird. Die Zahl der Menschen, die die Erfahrung müssen, die wir uns in Europa mit Reach selber auf- machen, dass es Arbeitsgebiete gibt, die wir gestern erlegen. Eine KPMG-Studie zeigt zwar, dass der und vorgestern noch gar nicht kannten, dass völlig Mehraufwand geringer ist als erwartet, nur 20 Pro- neue Beschäftigungsfelder entstehen können, reicht zent Mehraufwand und nicht 40 Prozent. Wenn ich nicht aus für Optimismus in die Zukunft und für die mir aber die Rendite von kleinen und mittelstän- Überzeugung, dass die Arbeit nicht weniger wird. dischen Chemieunternehmen anschaue, so liegt die weder bei 20 noch bei 40 Prozent, sondern eher zwi- Ich habe kürzlich SAP besucht. Was ist aus der schen drei und fünf Prozent. Es ist das sichere Aus für Tatsache geworden, dass der erste Computer in viele kleine Chemikalienhersteller, wenn wir ihnen Deutschland erfunden wurde? Wenn wir uns heute solche zusätzliche Lasten aufbürden. angucken, wie viel Prozent der Wertschöpfung im ... 12 trend III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N ... Software-, im Hardwarebereich und im Internet- schen 60 Millionen Eier im Jahr außerhalb Deutsch- bereich in Deutschland stattfindet, dann ist das eines lands gekauft und in Deutschland gegessen. Es hat Industrielandes wie Deutschland nicht würdig und zum Schluss noch nicht mal die deutsche Henne so haben wir den Schritt in die Wissensgesellschaft etwas davon, weil sie in Deutschland überhaupt nicht nicht geschafft. mehr gehalten wird, weil sie hier nicht mehr brüten kann, weil ihre Eier teurer sind und vom Kunden Es ist, wenn man einmal den Anschluss verloren nicht gekauft werden. Das nützt niemandem etwas: hat, unendlich schwer, im globalen Wettbewerb wie- Weder dem deutschen Arbeitsplatz noch dem deut- der mitspielen zu können. Deshalb heißt die Devise: schen Huhn. Halten, was zu halten ist. Es heißt vor allen Dingen auch, verlässliche Rahmenbedingungen für Investo- Wir müssen uns überlegen, wie wir insbesondere ren von außen zu schaffen, denn wir werden von kleine Unternehmen von Bürokratie entlasten. Das innen heraus nicht alle zusätzlichen Investitionen ist sicherlich auch eine Gemeinschaftsaufgabe von tätigen können. Das heißt, es muss auch das Bewusst- Bund und Ländern. Gerade bei den kleinen Unter- sein dafür geschärft werden, Investoren, die zu uns nehmen werden die Renditen durch die Bürokratie- kommen, willkommen zu heißen, weil sie zum Teil aufwendungen nahezu aufgefressen oder, anders auch völlig neue Wertschöpfungsmöglichkeiten nach herum, die Eigenkapitalbasis der kleinen Unterneh- Deutschland bringen. Ansonsten werden wir unsere men könnte wesentlich besser aussehen, wenn wir die Wachstumsmöglichkeiten niemals voll ausschöpfen. Bürokratieaufwendungen runterfahren würden. Kein Draufsatteln mehr bei EU-Richtlinien Gegen große Koalition – Ich will das Thema Bürokratiehindernisse nur Für grundlegenden Wechsel streifen. Für mich ist klar: EU-Richtlinien werden An die Adresse derjenigen, die sagen: „Vielleicht mit uns nur noch 1:1 umgesetzt, kein Draufsatteln wäre eine große Koalition ja auch nicht schlecht“: mehr, weil alles Draufsatteln uns Wettbewerbsnach- Schauen Sie sich die Summe der sozialdemokra- teile verschafft. Man kann das wunderbar an der tischen Abgeordneten an. Es reicht nicht, einmal mit Legehennenverordnung sehen. Da werden inzwi- Herrn Clement Abendbrot zu essen, weil die sozial- ... III. Quartal 2005 trend 13
P E R S P E K T I V E N ... demokratische Fraktion im Allgemeinen das Gegen- Menschen sind doch inzwischen bereit, um des teil von dem macht, was Herr Clement für richtig Erhalts ihres Arbeitsplatzes willen, gerade auch bei hält. Es geht bei allem, was in der Politik umgesetzt der Arbeitszeit Kompromisse einzugehen. Ich finde, werden muss, nicht nur darum, dass der zuständige man muss an das Selbstbewusstsein der Menschen Minister eine gute Idee hat, sondern man muss auch glauben. Die Soziale Marktwirtschaft wäre in eine parlamentarische Mehrheit finden. Deshalb Deutschland niemals zustande gekommen, wenn brauchen wir einen grundlegenden Politikwechsel in Erhard der Meinung gewesen wäre, man müsse den Deutschland. Alles andere hält uns auf und bringt Leuten alles vorschreiben, sondern sein Konzept war uns wieder nur Halbheiten. ein Vertrauensbeweis an den einzelnen Menschen. Ein Stück müssen wir genau da wieder hinkommen. Weil wir nicht in allen Bereichen von vornherein schon Weltspitze sein können, ist es wichtig, dass wir Deshalb ist die Frage nach der Zumutbarkeit auch unser Arbeitsrecht an die veränderten globalen immer eine sehr differenziert zu beantwortende Bedingungen anpassen. Wir wollen, dass die Betriebe Frage. Ist es eine Zumutung, seinen Arbeitsplatz zu die Möglichkeit erhalten, während der Dauer des verlieren? Ich finde, es ist die schwierigste soziale Tarifvertrages in spezifischen Fragen davon abzuwei- Zumutung, die mir widerfahren kann. Gemessen an chen, wenn die Mehrheit der Belegschaft und die der Frage, ob ich stattdessen vielleicht eine oder zwei Betriebsleitung das für richtig halten. Das sind die so Stunden in der Woche mehr arbeite, ist es doch voll- genannten betrieblichen Bündnisse. kommen klar, dass die meisten Menschen sich dann für die Variante, etwas länger zu arbeiten, entschei- Ich halte sie für die adäquate Antwort auf die He- den. rausforderung der Globalisierung. Als Unternehmer muss ich mich nämlich schnell entscheiden. Ich kann Veränderungen sind nicht nicht wochenlang warten, ob die Gewerkschaftszen- unbedingt Zumutungen trale mir nun das o.k. gibt oder ob sie es mir nicht Auch wenn wir über den Kündigungsschutz gibt. Alles andere führt dazu, dass zunehmend reden, bin ich weit davon entfernt, hier Veränderun- Arbeitsplätze in andere Länder abwandern. Viele gen gleich als Zumutung zu empfinden. Wir haben ... 14 trend III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N ... heute folgende Situation: In vielen kleinen und mitt- ausgiebig diskutiert –, eine Entkoppelung des Fak- leren Betrieben werden Überstunden gemacht. tors Arbeit von den sozialen Sicherungssystemen zu Gleichzeitig wissen wir, dass fünf Millionen Men- erreichen. schen auf einen Arbeitsplatz warten. Viele sagen, ich tue mir das nicht an, in einer konjunkturell unsiche- Lohn- und Sozialkosten entkoppeln ren Zeit Neueinstellungen vorzunehmen. Dann lasse Ich sehe mit großer Sorge, dass die im Grundsatz ich lieber die Leute, die ich habe, Überstunden richtigen Minijobs zu einem Ausweichfeld zu werden machen. Ehe ich mich nachher bei einer notwen- drohen, weil sie bei den Minijobs nur 20 Prozent digen Entlassung vorm Arbeitsgericht wiederfinde, Lohnzusatzkosten zahlen gegenüber den klassischen lasse ich das lieber sein. Jetzt haben wir gesagt: Jeder, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält- der einen Arbeitsplatz hat, soll diesen Arbeitsplatz nissen. Wenn sich das in den Bereichen festmacht, behalten, mit dem Kündigungsschutz, der ihm die heute noch alle mit sozialversicherungspflichtigen gewährt worden ist. Aber für diejenigen, die neu in Beschäftigungsverhältnissen ausgestattet sind, hat Arbeit kommen, soll die Option bestehen, dass bei diese natürlich einen dramatischen Einnahme- Einstellung vereinbart wird, welche Höhe von Abfin- schwund der sozialen Sicherungssysteme zur Folge, dung er bekommt, falls er entlassen werden muss. den wir überhaupt nicht verkraften können. Deshalb ist für mich die geregelte, die geordnete Entkoppe- Für wen ist das eine Zumutung? Für den Arbeit- lung der Lohnkosten von den Sozialkosten einer der geber ist es keine, weil er das Arbeitsgericht nicht ganz zentralen Punkte. Deshalb haben wir auch die mehr im Nacken hat. Für den, der gar nicht so gerne Diskussion über die Gesundheitsprämie geführt. Überstunden macht, ist es auch keine, weil er nicht mehr so viele Überstunden machen muss. Und für Mit der Gesundheitsprämie den, der in einen Job kommt, ist es nun schon gar mehr Wettbewerb keine, weil er endlich wieder eine Chance hat, Arbeit Die Gesundheitsprämie bietet die Chance, mehr zu finden. Ich finde, dass wir diese Dinge so diskutie- Wettbewerb im System zu haben. Wir können den ren müssen, dass wir in ihnen auch einmal die Chan- Menschen im Übrigen sagen, niemand zahlt mehr als cen sehen. In Deutschland wird an vielen Stellen die sieben Prozent seines Einkommens. Ich weiß, dass die Chancendebatte immer unterdrückt, indem man erst Wirtschaft den Kompromiss mit der CSU sehr kriti- mal langwierig über die Risiken einer möglichen Ver- siert hat. Ich bitte Sie aber im Kopf zu behalten: Wir änderung spricht. haben den Arbeitgeberbeitrag auf 6,5 Prozent festge- legt und dauerhaft eingefroren. Ob Sie so ein Ange- Dieses Denken muss sich ändern. Das braucht bot noch einmal bekommen? Das würde ich mir einen Mentalitätswandel. Wir sollten die EU- überlegen, bevor Sie unseren Kompromiss kritisieren. Arbeitszeitrichtlinie umsetzen. Ich begegne bei so vie- Das ist ein ganz festes Versprechen, das wir auch len Betriebsbesuchen der Tatsache, dass die Unflexi- umsetzen werden. bilität des deutschen Arbeitsrechts, nämlich dass man pro Tag nicht länger als zehn Stunden arbeiten darf, Wir werden dann die Prämie haben mit der dazu führt, dass zum Teil sogar unentgeltlich länger Zusage, niemand leistet mehr als sieben Prozent sei- gearbeitet wird. In den unteren Lohnbereichen haben nes Einkommens. Die Gesundheit der Kinder wird wir in Deutschland das Problem, dass wir nicht nur nicht mehr nur eine Aufgabe der Beitragszahler, son- die Löhne haben, sondern natürlich auch die Lohn- dern eine Aufgabe des Steuerzahlers sein. Denn es ist zusatzkosten. Das heißt, hier besteht die Notwendig- nicht sozial gerecht, dass jemand wie ich zur Gesund- keit – die haben wir zwischen CDU und CSU auch heit der gesetzlich krankenversicherten Kinder über- ... III. Quartal 2005 trend 15
P E R S P E K T I V E N ... haupt keinen Beitrag leistet, dafür die gesamte ist das eigentliche Problem die extreme Kompliziert- Gesundheit aller Kinder in Deutschland nur von heit des Steuersystems. denen finanziert wird, die bis 3.500 € verdienen. Wer mehr verdient, zahlt nur bis 3.500 € ein. Das ist nicht Die radikale Vereinfachung darf dann aber nicht gerecht. Aus meiner Sicht ist es richtig, diese Entkop- so diskutiert werden, dass bei jeder Ausnahme – ob pelung einzuführen. Das macht etwa die Hälfte der das nun die Filmförderung oder die Windenergieför- Umverteilungssummen im deutschen Gesundheits- derung oder der Sonntagszuschlag ist oder die Pend- system aus und ist ein erheblicher Beitrag zur Ent- lerpauschale – gesagt wird: Ja, einfach soll es sein, koppelung und vor allem zum Abbau von Schwarz- aber bitte nicht an dieser Stelle. Das wird schlicht und arbeit. Der Facharbeiter wird dann nicht mehr ergreifend nicht gehen. gezwungen, für jede Überstunde wieder Beiträge zu bezahlen. Ich will auch darauf hinweisen, dass wir sehr große Freibeträge einführen, 8.000 € pro Person in einer Sie werden die Wahl haben bei dieser Bundestags- Familie. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mir ist wahl zwischen einer Bürgerversicherung und unserer besonders wichtig, dass diejenigen, die Kinder erzie- Gesundheitsprämie. Das erinnert an ganz alte hen, im Steuersystem nicht schlechter gestellt wer- Diskussionen mit Ludwig Erhard, als es schon mal den, sondern dass sie sozusagen einen Leistungsbo- Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre die Idee der nus bekommen. Ein Land wie Deutschland kann Zwangskollektivierung der sozialen Sicherungs- sich aus meiner Sicht nun wirklich nicht damit abfin- systeme gab. Ludwig Erhard vertrat aus meiner Sicht den, dass wir bei der Bewertung von Steuersystemen richtigerweise, dass es auf gar keinen Fall sein darf, in der Welt nur auf Platz 120 sind. Hier sollten wir dass alle in die gesetzlichen Systeme kommen, son- einen höheren Anspruch an uns selber haben. Es ist dern dass die, die nun erwiesenermaßen für die Risi- sicher nicht so einfach wie in Mittel- und Osteuropa, ken ihres Lebens alleine einstehen können, dieses wo man ganz neue Steuersysteme installieren kann. auch tun sollten. Darin besteht doch auch ein Leis- Aber die Erfahrung von Ländern wie der Slowakei tungsanreiz, sich im Wettbewerb der Versicherungs- oder Estland zeigt, dass nicht weniger Steuern einge- möglichkeiten zu bewähren. sammelt werden, sondern im Gegenteil, diese Länder verzeichnen zum Teil steigende Steuereinnahmen. Ein zentraler Punkt Steuerrecht Das heißt: Das Gefühl für Gerechtigkeit in unserer Ein zentraler Punkt in der Diskussion wird das Gesellschaft könnte sich dramatisch verbessern, wenn Steuerrecht bleiben. Beim Steuerrecht wird in den man mit den vielen Schlupflöchern und Ausnahmen nächsten Jahren angesichts der Finanzlage der öffent- wirklich Schluss machen würde. lichen Kassen der Gedanke der Vereinfachung Vor- rang vor dem Gedanken der Steuersenkung haben. Entscheidungen sind zu langwierig Davon unabhängig muss man die Besteuerung von Ein Manko in der deutschen Politik ist, dass Unternehmen betrachten, wobei Sie alle wissen, dass unsere Entscheidungen langwierig sind. Die Väter wir hier in Deutschland das prinzipielle Problem zwi- und Mütter des Grundgesetzes hatten die Hoffnung, schen Personengesellschaften und Körperschaften dass 30 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig, haben. Das müssen wir lösen. Wir werden die Ein- 70 Prozent nicht zustimmungspflichtig sind. Wir kommensteuersätze nicht so weit senken können, haben heute genau eine umgekehrte Relation: 70 dass wir mit den Körperschaftssteuern international Prozent zustimmungspflichtig, 30 Prozent nicht. wettbewerbsfähig sind. Dafür müssen wir eine Deshalb bleibt aus meiner Sicht die Föderalismusre- Lösung finden. Aber im Einkommenssteuerbereich form ganz oben auf der Agenda. Es ist ausgesprochen ... 16 trend III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N ... bedauerlich, dass die Sozialdemokraten jetzt nicht nicht“. Wenn die Europäer es mit dem Lissabon-Ziel, mehr die Kraft hatten, die Dinge zu Ende zu führen. also dem Ziel, Wachstum zu kreieren und einer der Wir wären dazu bereit gewesen. Wir hatten sehr wohl dynamischsten Kontinente der Welt zu werden, ernst Ministerpräsidenten, die befürchtet haben, auch Ein- meinen, wenn wir dieses Ziel zur Priorität erheben, flussmöglichkeiten zu verlieren. Aber wir haben muss sich jede Richtlinie, die in Europa verabschie- gesagt: Um der Schnelligkeit von Entscheidungen det wird, an der Frage messen lassen: Dient das die- willen und um der Tatsache willen, dass man wieder sem Ziel? Oder dient das diesem Ziel nicht? sagen kann, wer ist für was verantwortlich, ist es wün- schenswert, dass wir diese Föderalismusreform Politischer Steuerungsprozess haben. Wir werden dafür auch weiter kämpfen. wieder notwendig Ich bin mir nicht sicher, ob wir 254 neue Richtli- Ausdruck des Unbehagens in Europa nien brauchen, wir müssen besser ein paar Richt- Ich bin damit fast automatisch beim Europäischen linien richtig gestalten. Es hat auch keinen Sinn, Verfassungsvertrag. Sie haben alle gehört, es wird jetzt bestimmte Richtlinien zu Hassobjekten zu erklären ein Jahr nicht mehr darüber gesprochen. Mal sehen, und andere ganz locker durchlaufen zu lassen. Ich bin ob es dann besser wird. Aber, es ist ja auch bei den mir nun wirklich ganz sicher, dass die Regelung der Entscheidungen in Frankreich und Holland gar nicht Sonnenschirmdichte in deutschen Biergärten nicht im Wesentlichen nur über diesen Verfassungsvertrag notwendigerweise durch die Europäische Union abgestimmt worden, die Menschen haben ihr Unbe- geregelt werden muss. Man hat das gemacht, weil hagen über das Europa, das sie vorfinden und erle- bestimmte Kellner sich beklagt haben, dass bei zu viel ben, ausgedrückt. Wenn ich höre, dass in der Kom- Sonnenschein die Köpfe rot werden. Deshalb braucht mission noch 700 Richtlinien in der Pipeline sind man einen bestimmten Besatz an Sonnenschirmen. und Herr Verheugen jetzt stolz sagt, wahrscheinlich Das mag ja in Portugal oder in Spanien ganz sinnvoll möchte er doch nur 254, dann befriedigt mich das sein. Aber dass wir es von Irland bis Norddeutschland alles nicht. Es gibt keinen politischen Mechanismus, brauchen und damit schon die Gründung von Bier- mit dem in Europa politisch relevant entschieden gärten verhindern, weil das Eigenkapital für den Kauf wird, „was brauchen wir jetzt eigentlich und was von so viel Sonnenschirmen gar nicht ausreicht, das ... III. Quartal 2005 trend 17
P E R S P E K T I V E N ... kann ernsthafterweise nicht die Intention der Euro- Integrationskraft nicht überfordern päischen Union sein. Der zweite Punkt ist die Erweiterung der Euro- päischen Union. Ich kann sehr gut verstehen, dass Deshalb ist hier ein politischer Steuerungsprozess Bulgarien und Rumänien eine europäische Perspek- wieder notwendig. Es kann doch nicht sein, dass aus tive haben wollen. Ich finde es auch richtig, dass sie den Tiefen von Generaldirektionen unentwegt Richt- 2007 nur beitreten können, wenn sie die Kopen- linien hervorsprießen, die man durch nichts auf der hagener Kriterien erfüllen. Aber dass man in der Welt wieder wegkriegt, weil das Europäische Parla- Europäischen Union dann einstimmig beschließt, ment noch nicht mal das Diskontinuitätsprinzip wenn sie diese 2007 nicht erfüllen, kommen sie 2008 kennt, was besagt, dass ein noch nicht verabschiede- auf jeden Fall rein, ohne die Erfüllung der die Kopen- ter Entwurf das Ende einer Legislaturperiode nicht hagener Kriterien noch mal zu überprüfen, das kann überlebt. In Europa überlebt die Richtlinie schon per ich nicht verstehen und das kann ich auch keinem Gesetz. Das ist nicht richtig und auch ein Unter- Menschen in Deutschland erklären. Das ist das, was schied zu den nationalen Parlamenten. zurzeit in Europa schief läuft. Der Verfassungsvertrag war an vielen Stellen eine Auch in Wirtschaftskreisen wird die Frage der Antwort auf Beschwernisse mit der Europäischen Vollmitgliedschaft der Türkei kontrovers diskutiert. Union. Er hat Entscheidungsmechanismen einfacher Diese Frage ist viele Jahrzehnte hin- und hergewen- gemacht und nationale Parlamente in die Lage ver- det worden. Ich halte in der augenblicklichen Situa- setzt, Einspruch zu erheben, wenn man meint, tion und hinsichtlich der Frage, wie die Europäische Europa kümmert sich um etwas, wofür Europa gar Union auf absehbare Zeit ihre Integrationskraft nicht zuständig ist. Dafür muss der Blick wieder frei behalten kann, ohne überfordert zu werden, eine werden. Ich denke, dafür brauchen wir einige wirk- Vollmitgliedschaft der Türkei für nicht realistisch. Ich lich klare Signale, die zeigen, jawohl, die Staats- und halte es politisch auch deshalb für außerordentlich Regierungschefs, die politisch Verantwortlichen die- fragwürdig, der Türkei eine Perspektive zu eröffnen, ser Europäischen Union haben verstanden, was die weil ich nach heutigem Stand eigentlich sagen müss- Menschen beschwert. te: Selbst wenn Verhandlungen aufgenommen wer- ... 18 trend III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N ... den, kann man überhaupt nicht absehen, ob eine sol- Beitrag dazu zu leisten, dass diese Dinge dann zur che Entscheidung jemals die Mehrheit der Bevölke- Staatsraison oder zum Allgemeingut wurden. Als rung bekommen würde. Dann ist der politische Bundeskanzler Konrad Adenauer zum ersten mal im Schaden nämlich da. Wenn Sie zehn Jahre verhandelt Deutschen Bundestag über das Prinzip der Sozialen haben, mit der Türkei alles ausgemacht haben, Marktwirtschaft sprach, vermerkt der stenographische anschließend zu erleben, dass Frankreich oder irgend- Bericht im Deutschen Bundestag: „Lachen links“. ein anderes Land ein klares Nein dazu sagt. Soziale Marktwirtschaft Deshalb gebietet es die politische Verantwortung, oft nicht richtig verstanden zu sagen, was wir glauben leisten zu können und Wir können uns ja freuen, dass heute links nicht nicht irgendwelche Erwartungen zu erwecken, die mehr gelacht wird, aber wir müssen uns Sorgen hinterher zu ganz massiven Friktionen z. B. mit der machen, dass die Soziale Marktwirtschaft bis heute islamischen Welt führen können. Mein Gebot der in ihrem Wesen offensichtlich immer noch nicht Stunde ist an dieser Stelle: Ehrlichkeit zum rechten richtig verstanden wurde. Zeitpunkt und nicht Visionen, die niemals erfüllt werden können und die unrealistisch sind. Es ist notwendig, dass wir uns den Realitäten stel- len, dass wir Wege zur Veränderung finden und dass Damit bin ich abschließend auch bei dem, was wir diese Wege auch in einen Gesamtzusammenhang sich – wenn wir den Auftrag bekommen sollten – stellen. Die Dinge hängen miteinander zusammen, durch unsere Regierungsarbeit ziehen muss wie ein fast ein bisschen wie bei diesem so genannten Zau- roter Faden. Das sind Prinzipien. Es muss sich nicht berwürfel, den es mal in den 70er Jahren gab und den nur in der Sache in Deutschland etwas ändern, son- ich gerne aus dem Westpaket entnommen habe, um dern es muss sich vor allem auch an dem Stil, wie ihn dann meinem Bruder zu geben, damit er das Politik agiert und arbeitet, wieder etwas ändern. ordentlich einstellen kann. Die Dinge hängen zusam- men. Wir können nicht mit einer eindimensionalen Verlässlichkeit ist das Allerwichtigste Änderung erwarten, dass sich alles ändert, sondern Die Menschen erwarten, dass das, was gemacht wir müssen in den verschiedenen Richtungen die wird, handwerklich vernünftig ist. Sie erwarten, dass Zusammenhänge begreifen und das machen, was ich nicht alles und jedes nach einem halben oder dreivier- oft sage: Politik aus einem Guss. tel Jahr wieder nachgebessert werden muss. Die Men- schen erwarten, dass sie sich verlassen können. Für Politik aus einem Guss Investoren ist ja oft die Verlässlichkeit das Allerwich- Dieses auch den Menschen zu erläutern und nicht tigste. Wenn sie jedes halbe Jahr wieder eine neue die politischen Einzelmaßnahmen und Punkte immer Diskussion über die Veränderung der Mindestbesteu- wieder in Belastung und Entlastung und Zumutung erung bekommen, obwohl man die Mindestbe- und noch mehr Zumutung zu dividieren, das halte ich steuerung an sich schon für Unsinn hält, dann ist das für wichtig. Die Menschen haben das begründete für Investoren, die das Ganze vom Ausland her be- Recht, von der Politik einen Weg zu sehen, mit dem trachten, natürlich keine adäquate Möglichkeit. Dann Deutschland es schaffen kann, mit dem Licht am werden selbst Familienunternehmen sich noch fragen, Ende des Tunnels zu sehen ist. Wir wollen diesen Weg ob sie denn in diesem Land weiter investieren wollen aufzeigen. Und wir werden darum werben, dass nicht oder nicht. Die CDU war immer eine Partei, die keine Populismus regiert, sondern Realismus. 앬 Angst hatte, in bestimmten Phasen Dinge auch zu lösen, Widerstände zu durchbrechen und damit einen Aus Rede Wirtschaftstag 2005 III. Quartal 2005 trend 19
P E R S P E K T I V E N auch in Deutschland sagen, das ging uns zu schnell. Ich habe darauf eine Antwort: Wir können uns als verantwortliche Poli- tiker nicht die Aufgaben aussuchen, die die Geschichte uns stellt. So wie Deutsch- land sich 1989 nicht aussuchen konnte, wie es mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dem Fall der Mauer umgehen wollte. Hätte Bundeskanzler Helmut Kohl 1989 sagen sollen: Das las- sen wir erstmal liegen? Das ist im Augen- blick nicht so wichtig? Das geht vielleicht zu schnell für die Menschen? Natürlich nicht. Gleiches gilt für Europa. Hätte man einfach den Binnenmarkt und die Wäh- rungsunion lassen sollen? Hätte man sagen sollen, das geht vielleicht zu schnell? Es ist eine historische Notwendigkeit, Europa auf den schärferen Wettbewerb durch die Globalisierung vorzubereiten. Europa im Aufbruch Ich erinnere aber auch an die Wechsel- kursschwierigkeiten der achtziger Jahre, Neue Politik für an die Schwierigkeiten, die alle europäi- schen Volkswirtschaften damals hatten. Wenn ich heute sehe, dass die Gemein- Wachstum schaftswährung in Teilen der Öffentlich- keit in Frage gestellt wird, dann frage ich mich, welches kurze historische Gedächt- und Beschäftigung nis haben die Leute, die die Vorteile nicht sehen wollen? Die Dynamik des Eini- gungsprozesses ist nicht eine, die künst- lich geschaffen wurde, sondern sie ist eine, Günter Verheugen, die uns von historischen Gegebenheiten Vizepräsident der Europäischen Kommission, auferlegt wurde. Sie musste gestaltet wer- zuständig für Industrie und Unternehmen den. Der Streit über Europa, in dem wir uns im Moment befinden, kann ein heil- E uropa steckt nach den abschlägigen mente dessen, was wir in fünf Jahrzehnten samer Streit sein. Das Projekt einer Euro- Voten bei den Referenden in Frank- europäischer Integration geschaffen päischen Verfassung sollte nicht aufgege- reich und in den Niederlanden in haben, dürfen nicht erschüttert werden. ben werden. Ganz einfach deshalb nicht, einer Krise. Das kann man nicht bestrei- Die europäische Einigung ist die histo- weil es, so paradox das klingen mag, ja die ten. Es ist eine Krise mit einem ganz eige- risch notwendige und auch einzig mögli- Antwort gibt auf die Unzufriedenheit, nen Charakter. Es ist keine Krise zwischen che Antwort auf die unglückliche Unsicherheit und Ängste vieler Bürgerin- Mitgliedsländern oder führenden Staats- Geschichte Europas im 20. und 19. Jahr- nen und Bürger Europas. Eine Euro- männern. Sondern es ist offenkundig eine hundert. Es ist das Beste, was Europa in päische Verfassung schafft die Voraus- Krise des Vertrauens, eine Krise der seiner Geschichte politisch eingefallen ist. setzungen für mehr direkte Demokratie, Zustimmung und eine Krise wegen der Es ist die Grundlage für Frieden, Wohl- demokratische und transparente Ent- Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger stand und soziale Sicherheit in Europa. scheidungsstrukturen und eine klare Ab- Europas, den Weg der europäischen Inte- grenzung von Aufgaben zwischen Mit- gration weiter so wie bisher mitzugehen. Man kann, man muss über vieles strei- gliedsländern und EU-Institutionen. Und ten. Es geht darum, dass Europa nie wie- die Verfassung schafft auch die Instru- Es ist wichtig und richtig, dass in der zurückfallen darf in die Zeiten der mente, die Europa braucht, um auf der unseren Gesellschaften über Europa nationalen Egoismen und Rücksichtslo- Weltbühne als starker Akteur aufzutreten, diskutiert und gestritten wird. Es ist mir sigkeiten auf Kosten der anderen. Es ist der seine Interessen vertritt. Darum sollte viel lieber, es wird über Europa gestritten, richtig, dass die europäische Einigung das Projekt einer Europäischen Verfassung als dass mit Ahnungslosigkeit oder Teil- gerade in den vergangenen 15 Jahren eine nicht aufgegeben werden. nahmslosigkeit einfach das hingenommen ungeheuer starke Dynamik entfaltet hat. wird, was geschieht. Aber auf eines müs- Ich kann verstehen, dass viele Menschen Die von den Staats- und Regierungs- sen wir gemeinsam achten: Die Funda- in Frankreich, in den Niederlanden und chefs beschlossene Denkpause im Rah- ... 20 trend III. Quartal 2005
P E R S P E K T I V E N ... men des Ratifizierungsprozesses kann nur schen Superstaat oder ähnliches zu reden. Prozesse dauern und ob sie zum Erfolg als eine ,Pause zum Denken’ verstanden Ich möchte daran erinnern, dass die ver- führen werden. Damit ist dann das Maß werden. Sie sollte auch wirklich dazu schiedenen Erweiterungsrunden, die wir des für uns Möglichen erreicht. Das muss genutzt werden, um in einen Dialog mit seit 1957 erlebt haben, aus unterschied- dann erst einmal konsolidiert und verar- einer breiten europäischen Öffentlichkeit lichen Motiven erfolgt sind. Sie sind teil- beitet werden. Wir müssen Erfahrungen zu treten, um darüber zu reden, wie es weise aus wirtschaftlichen Gründen sammeln, wie das große, kontinentale weitergehen soll. Ich betone: Mit einer erfolgt. Sie sind teilweise aus strategischen Europa funktioniert. breiten europäischen Öffentlichkeit, nicht und außenpolitischen Gründen erfolgt. nur mit den Eliten. Die Probleme, die wir Und dann gab es die große Erweiterungs- Die Vollmitgliedschaft in der Euro- haben, hängen auch damit zusammen, runde, die im vergangenen Jahr vollzogen päischen Union ist im Übrigen nicht die dass es so schwer ist zu erklären, wohin die wurde, und die jetzt ein bisschen, wie ich einzige Möglichkeit, die Verbreitung der Reise gehen soll. Das ist vor allem deshalb überrascht zur Kenntnis nehme, ins europäischen Werte Freiheit und Demo- so schwer zu erklären, weil es darüber Gerede gekommen ist. kratie zu erreichen. Was wir jetzt brau- keine Einigkeit unter den 25 Mitglieds- chen, ist ein breiter Dialog. Ich bitte alle, staaten der Europäischen Union gibt. Wir Ich möchte daran erinnern, dass die die in der Wirtschaft und in der Gesell- müssen jetzt die Frage beantworten, was strategische Entscheidung, die Reform- schaft Verantwortung tragen, den Mythen Europa tun soll und was nicht. Ich plä- staaten Mittel- und Osteuropas dauerhaft entgegenzutreten, was Europa bewirkt diere entschieden dafür, dass wir uns sehr dadurch zu stabilisieren, dass man ihnen oder nicht bewirkt. Niemand darf zulas- viel mehr Zurückhaltung auferlegen bei den Weg in die Europäische Union ebnet, sen, dass die von allen deutschen Regie- der Inanspruchnahme von Kompetenzen im Jahre 1990 von der Bundesrepublik rungen seit Konrad Adenauer betriebene und Regelungsmöglichkeiten. Und dass Deutschland als erstem Land eingefordert Politik der offenen Grenzen, des Freihan- wir sehr viel stärker als bisher auf den worden ist. Der damalige Bundeskanzler dels und der Liberalisierung für die hohe Grundsatz der Subsidiarität achten. Es Helmut Kohl hat als erster die Auffassung Arbeitslosigkeit und die wirtschaftlichen muss zu einer ganz entscheidenden Frage vertreten, dass auch diese Länder das Probleme Deutschlands verantwortlich werden, ob wir bestimmte Dinge nicht Recht haben, voll an der europäischen gemacht werden. Die größte und stärkste besser national oder regional regeln kön- Integration teilzunehmen. Und das wir Exportnation der Welt, die Bundesrepu- nen. Wir dürfen Europa nicht auswu- die Pflicht haben, ihnen auf diesem Weg blik Deutschland, kann nicht ohne offene chern lassen in alle nur möglichen Lebens- zu helfen. Ich erwähne das Jahr 1990 des- Grenzen und freie Märkte existieren. bereiche. Europa soll da tätig werden, wo halb, weil man jetzt oft hört, die Osterwei- ein europäisches Land die Bedürfnisse sei- terung sei viel zu schnell gegangen. Ich Offenheit ist eine Existenzgrundlage ner Bevölkerung nicht mehr erfüllen finde das nicht. Ich finde nicht, dass 14 für uns. Niemand darf zulassen, dass bei kann, weil nationale Gestaltungskraft Jahre zu schnell sind. Ich bin der Auffas- uns der Eindruck entsteht, dass wir von dazu nicht mehr ausreicht. sung, dass wir alle gemeinsam stolz darauf Billiglöhnern aus unseren Nachbarlän- sein können, dass es dank der europäi- dern überrannt werden. Es mag solche Es muss auch die Frage beantwortet schen Integration gelungen ist, die friedli- Erscheinungen geben, aber diese sind ille- werden, wie weit die Vertiefung der euro- che Transformation eines ganzen Dutzend gal und müssen mit aller Kraft bekämpft päischen Integration noch gehen kann. früherer kommunistischer Länder in werden. In der EU gibt es eine ganz klare Können wir mit schnellen Schritten in vitale junge Demokratien, in offene Regel. Arbeitnehmer sollen nach den Richtung einer politischen Union gehen Gesellschaften und in freie Marktwirt- Regeln des Landes behandelt und bezahlt oder muss dieser Prozess verlangsamt wer- schaften zu verwandeln – ohne, dass ein werden, in dem sie arbeiten. Es ist auch den? Ich möchte es sehr deutlich sagen: Es einziger Schuss abgegeben worden ist. Das nicht im Interesse der osteuropäischen ist eine Illusion zu glauben, dass wir in soll uns Europäern erst mal jemand nach- Länder, Billigarbeit zu exportieren. Wer vorhersehbarer Zukunft einen europäi- machen. das tut, setzt eine Spirale nach unten in schen Bundesstaat erreichen können. Ich Gang. Und am Ende einer solchen Spirale bin noch nicht einmal sicher, ob das wün- Bestimmte deutsche Medien, die den sind alle ärmer. Ferner muss auch immer schenswert wäre. Ich bin nicht davon Eindruck erwecken, Menschen, die öst- wieder darauf hingewiesen werden, dass überzeugt, dass wir gut beraten sind, wenn lich der Elbe leben, seien Europäer minde- die mittel- und osteuropäischen Länder wir den Menschen in Europa ihre natio- ren Rangs, muss ich schon daran erinnern, einen enorm großen Markt für die nale Identität nehmen würden, die sich dass diese europäische Einigung notwen- Exportnation Deutschland bieten. Wir normalerweise festmacht an der Kultur, dig geworden ist wegen unseres Landes, dürfen nicht zulassen, dass die europäi- der Tradition, der Sprache und der wegen der Verbrechen, die mit unserem sche Integration zum Schuldigen gestem- Geschichte. Ich denke, dass der Versuch, Namen verbunden sind – kein anderes pelt wird für die Probleme des Struktur- den wir in Europa gemacht haben, eine Land in Europa hat so viel Anlass wie wandels, die wir in europäischen Ländern neue Art der Verschränkung zwischen Deutschland, sich zur europäischen Eini- haben. Wir können uns nicht gegen den souveränen Nationalstaaten herbeizufüh- gung zu bekennen. Wenn die Erweite- Wandel stemmen. Was wir aber tun kön- ren, der richtige Weg ist. Damit wird der rungsrunde mit den zwölf mittel- und ost- nen, ist den Wandel ökonomisch und Kompromiss zwischen Staaten zum europäischen Ländern abgeschlossen ist, sozial vernünftig begleiten. 앬 Wesen der europäischen Politik. Darum bleiben noch Kroatien und die Türkei. In sollte man aufhören, über einen europäi- beiden Fällen weiß ich nicht, wie lange die Aus Rede Wirtschaftstag 2005 III. Quartal 2005 trend 21
P E R S P E K T I V E N Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der EU macht nur 72 Prozent des US-Niveaus aus. Auf der weltweiten Rangliste liegt Deutschland nur noch auf dem 17. Platz. Der Produktivitätszuwachs pro Arbeitneh- mer ist geringer als in den USA. Die EU investiert nur rund zwei Prozent des Brut- toinlandsprodukts in Forschung und Ent- wicklung. Europa steht vor großen Herausforderungen. Der internationale Wettbewerb verschärft sich. Europa wird von Asien und den USA gewissermaßen in die Zange genommen. Zugleich eröffnet der chinesische Markt ein großes Wachs- tumspotenzial. Europa steht jedoch auch vor dramatischen Veränderungen seiner Bevölkerungsstruktur. Heute steht vier Erwerbstätigen eine Person im Ruhestand gegenüber. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Rentner mindestens verdop- Was erwartet peln. Zwar soll die Lissabon-Strategie auf genau diese Schwächen Europas reagieren – die Bilanz jedoch ist enttäuschend. Auch die deutsche die Neuausrichtung, die im März dieses Jahres vorgenommen worden ist, ist mei- nes Erachtens nicht entschlossen genug. Wirtschaft von Von der dringend notwendigen Fokus- sierung auf Wachstum, Wettbewerbsfähig- der Europäischen keit und Beschäftigung – wie sie von der EU-Kommission gefordert worden war, ist bis heute nur wenig erkennbar. Die Lissa- Union? bon-Strategie muss sich stärker auf die eigentlichen Ursachen der europäischen Wachstumsschwäche konzentrieren. Die Rahmenbedingungen für die Unterneh- Jürgen R. Thumann, Präsident des Bundesverbandes men müssen jetzt im Vordergrund stehen. der Deutschen Industrie (BDI) Denn nur Unternehmen sind in der Lage, dauerhaft und wirtschaftlich Arbeitsplätze E uropa liegt mir am Herzen: Als Bür- Union darstellt. Die Staats- und Regie- zu schaffen. Die Neuausrichtung der Lis- ger, als Unternehmer und auch als rungschefs haben aus dem Nein der Fran- sabon-Strategie muss sich dabei stärker als Präsident des BDI. zosen und Niederländer zur EU-Verfas- bisher im Legislativprogramm der Europä- sung die Konsequenz gezogen, den Prozess ischen Kommission niederschlagen. Vor mehr als 50 Jahren waren Kohle der Ratifizierung ein Jahr lang auszusetzen. und Stahl die Wirtschaftszweige, die die Das gibt den Regierungen genügend Zeit, Ein zweiter wichtiger Grund für die Gründungsstaaten der Europäischen den Bürgerinnen und Bürgern den Verfas- wachsende Skepsis der Bürger gegenüber Union zusammenbrachten. In der Mon- sungsvertrag zu erläutern und die Vorteile Europa ist die europäische Rechtsetzung. tanunion verpflichteten sich sechs Mit- der EU besser zu vermitteln. Für die wach- Bürger und Unternehmen fühlen sich gliedsstaaten zu enger Zusammenarbeit. sende Distanz der Bevölkerung gegenüber durch intransparente Entscheidungen und Dabei war es kein Zufall, dass die Europa gibt es viele Ursachen. Auf drei will einer Flut von Regulierungen zunehmend Geschichte der europäischen Integration ich eingehen: Das Tempo der Erweite- fremdbestimmt. Ich weiß zwar sehr wohl, mit Kohle und Stahl begann. Der Krieg rung, die europäische Rechtsetzung und dass ein vernünftiges Maß an Harmonisie- spielte eine Rolle, vor allem aber die inter- die Wirtschaftssituation in Europa. rung notwendig ist, wenn der Binnen- nationale industrielle Verflechtung zwi- markt funktionieren soll. Der Binnen- schen Deutschland, Frankreich, Luxem- Die Performance der europäischen markt und die Gemeinschaft haben den burg und Belgien. Stahl war die Boom- Wirtschaft war trotz der Lissabon-Strate- Bürgern und den Unternehmen in den branche in den Aufbaujahren der Europä- gie in den vergangenen Jahren enttäu- vergangenen Jahren unschätzbare Wettbe- ischen Gemeinschaft. Heute stehen wir schend. Der Konjunkturaufschwung fiel werbsvorteile und Wachstumsdynamik vor der Frage, wie sich die Europäische schwächer aus als in den USA und Asien. gebracht. Aber immer wieder versuchen ... 22 trend III. Quartal 2005
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