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Türkei im Wandel Ein Land am Scheideweg – Beobachtungen aus Medien, Wirtschaft und Politik Can Dündar
Impressum Herausgeber Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Karl-Marx-Straße 2 14482 Potsdam-Babelsberg /freiheit.org /FriedrichNaumannStiftungFreiheit /FNFreiheit Verantwortlich Can Dündar Redaktion Can Dündar, Mustafa Sönmez, Kemal Can, Çiğdem Akyol, Ragıp Duran, Irfan Aktan, Erk Acarer, Nil Mutluer, Margherita Bettoni, Catharina Felke, Claudia Gürkov, Frederik Richter, Christian Kleinschmidt, Fatma Uzun Titelfoto Stringer / AFP Rechte bei CORRECTIV - Recherchen für die Gesellschaft gemeinnützige GmbH Huyssenallee 11 45128 Essen Handelsregister Essen HRB 25135 Geschäftsführer: David Schraven https://correctiv.org/
Inhalt Vorwort 4 Guck dir den Hans an! 5 Die Rückkehr des Ungeheuers namens Inflation 11 Wohin geht die türkische Politik? 16 Vom Hoffnungsträger zum Despoten 20 Was wird aus den Medien? Ein Blick nach vorn 24 Die Kurden: Leben nach dem Ausrufezeichen 30 Die Türkei kennt den Mörder 35 Politische Hetze in Deutschland – gesteuert aus der türkischen Botschaft? 41 Waffenhandel: Ein offenes Geheimnis 44 Deutsche Unternehmen in der Türkei: Politische Spannungen 47 und spannende Geschäfte
Vorwort Das freie Wort ist hohes Gut, das tolerante und liberale Gesellschaften auszeichnet. Es ist in vielen, auch europäischen, Ländern unter Druck – aus unterschiedlichen Gründen: polarisierte Gesellschaften, bewusste Instrumentalisierung und falsche Wiedergabe zumeist durch populistische Strömungen, ein radikales Verständnis von politischer Korrektheit. Konstruktive gesellschaftliche Debatten werden immer schwieriger, die Verurteilung anders Denkender und Sprechender wird immer rabiater. Doch die Entwicklungen in der Türkei sind ungleich dramatischer. Hier werden unabhängige und kritische Stimmen von Regierung und staatlichen Stellen mundtot gemacht. Professionelle und unabhängige Jour- nalisten, Akademiker, Schriftsteller und Intellektuelle sitzen entweder im Gefängnis oder sind im Exil – viele davon in Deutschland. Der Verkauf der Mediengruppe Dogan, zu der die auflagenstarke Tageszei- tung „ Hürriyet“ und der Fernsehsender“ CNN-Turk“ gehören, an den Unternehmer Erdogan Demirören, der für seine Nähe zum türkischen Präsidenten bekannt ist, lässt Kritiker mittlerweile von einer „Gleichschal- tung“ der Medien in der Türkei sprechen. Der türkische Journalist Can Dündar und die Redaktion des Online-Magazins Özgürüz in Berlin arbeiten in Kooperation mit Journalisten des Recherchezentrums Correctiv daran, unabhängigen Stimmen von Deutschland aus Gehör zu verschaffen. Sie wollen die Öffentlichkeit weiterhin mit unabhängigen Infor- mationen und unterschiedlichen Meinungen zur Entwicklung in der Türkei und den deutsch-türkischen Beziehungen versorgen. Dieses zweisprachige E-Book soll einen Beitrag dazu leisten. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unterstützt weltweit Organisationen und Personen, wel- che die Presse- und Meinungsfreiheit sowie die Informationsfreiheit in ihren Ländern verteidigen. Auch die Arbeit mit Exil-Journalisten in Deutschland dient diesem Ziel. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Presse sind lebenswichtig für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft und Ord- nung. Andrea Nüsse Referatsleiterin Internationales Journalisten- und Mediendialogprogramm Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit 4-5
Can Dündar baut gemeinsam mit CORRECTIV die türkischsprachige Exilredaktion ÖZGÜRÜZ auf. Foto: Ivo Mayr Guck dir den Hans an! von Can Dündar Deutschland in der türkischen Presse Manchmal sieht es so aus, als erschöpfe sich das Phänomen regierungstreuer Presse in der Türkei in den schön gefärbten Blättern ohne größeren Verbreitunsggrad, die eigentlich nur gedruckt werden, damit Erdoğan sich freuen kann, wenn er sie liest. Tatsächlich taugt die regierungstreue Presse der Türkei aber auch für andere Zwecke. Zum Beispiel kann man aus ihr den Pulsschlag der Mächtigen ablesen. Wenn sie etwas zu sagen haben, steht es in den Schlagzeilen. Wird ein Politikwechsel vorbereitet, finden sich dessen Anzeichen in der Regimepresse. Bevor die Polizei im großen Stil zuschlägt, leakt sie Informatio- nen über die Betroffenen an staatsnahe Medien. Tatsächlich erscheinen diese Blätter wie ein Psychogram der Machthaber: Sind sie in Angriffsstimmung, kübeln die Schlagzeilen Hass aus; sind sie defensiv, werden Zeitungsbögen Stahlschilde. Die regierungs- treue Presse bietet also auch mehr als genug Material, um den Verlauf der deutsch-türkischen Beziehun- gen nachzuzeichnen. Im vergangenen Jahr fanden in den beiden Ländern jeweils kritische Wahlen statt: In der Türkei das Verfassungsreferendum vom 16. April und in Deutschland die Bundestagswahlen vom 24. September. Diese beiden Daten bildeten Peaks der politischen Spannungen. In der Diskussion um die Rolle der Medien in den bilateralen Beziehungen kommt den Schlagzeilen der sechs Monate zwischen diesen beiden Wahlen eine besondere, politische Bedeutung zu. Meine Analyse bezieht sich exemplarisch auf die Akşam (Der Abend). Diese Tageszeitung wird von Erdoğan besonders geschätzt. Wir dokumentieren, wie sich die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei in diesem Zeitraum auf den Titelseiten der Akşam widerspiegeln. Ihre Auflage gibt die Akşam selbst mit 100.000 Exemplaren an, unabhängige Schätzungen liegen eher bei nur etwa 10.000 verkauften Exemplaren. Seit 2013 gehört das Blatt Ethem Sancak, dessen Medien-Grup- pe Es Medya drei Tageszeitungen und zwei Fernsehsender besitzt. Sancak ist ein Erdoğan persönlich nahestehender Unternehmer. Er ist Vorstandsvorsitzender seiner Mediengruppe und gleichzeitig Mitglied im Parteivorstand der AKP. In einer Talkshow sagte er einmal, er habe sich in Erdoğans Ehrlichkeit ver- liebt, direkt als er ihn kennenlernte. „So eine göttliche Liebe kann es auch zwischen zwei Männern geben“,
sagte er wörtlich. Es ist also davon auszugehen, dass die Redaktionspolitik der Akşam die Perspektive Erdoğans recht treu wiedergibt. Sancak ist allerdings nicht nur Medienunternehmer. Ihm gehört auch die Gruppe BMC, die in der Rüs- tungsindustrie tätig ist. In einem Joint Venture mit Rheinmetall produziert BMC in der Türkei Panzer. Daher ist es sinnvoll, die hetzerischen Schlagzeilen der Zeitung und die Liebe ihres Besitzers zu Erdoğan auch aus dieser Perspektive zu betrachten. Schauen wir also, wie die Schlagzeilen der türkischen Re- gimepresse in den sechs Monaten der historischen Krise von chauvinistischen Prahlereien zu offener Hate Speech anschwollen. Sechs Krisen in sechs Monaten In den kritischen sechs Monaten zwischen den beiden Wahlen ereigneten sich mehr als sechs Einzelkri- sen: Die Bundesrepublik nahm Offiziere, die der Planung des versuchten Militärputsches verdächtigt werden, als Asylsuchende auf. Bestimmten deutschen Bundestagsabgeordneten wurde der Zugang zur Militärba- sis Incirlik verwehrt, woraufhin Deutschland den Stützpunkt aufgab. DITIB-Imame wurden der Spionage verdächtigt. Erdoğan und seinen Ministern wurde nicht gestattet, in Deutschland Wahlkampfveranstaltungen abzuhalten. Der deutsche Menschenrechtsverteidiger Peter Steudtner wurde in Istanbul verhaftet. Erdoğan brachte Nazivergleiche gegen die Bundesregierung und rief dazu auf, keine Parteien zu wählen, die „Feinde der Türkei“ seien. Es wurde eine Liste mit deutschen Firmen veröffentlicht, die Parteigänger der Gülen-Bewegung sein sollten. Sigmar Gabriel rief deutsche Firmen dazu auf, keine Investitionen in der Türkei mehr zu tätigen. Diese Krisen steigerten die Spannungen zwischen beiden Ländern täglich um eine neue Dosis. Sie fanden ihren Widerhall in den Schlagzeilen der regierungstreuen Presse, insbesondere der Akşam. Die Kriegspro- paganda eines Medienunternehmers, der mit den Deutschen im Waffengeschäft zusammenarbeitet, wird sicher in die Pressegeschichte eingehen. Wahlkampfauftritte Die ersten Anzeichen für einen Flächenbrand gab Erdoğans Ankündigung, in Deutschland auf Wahl- kampfveranstaltungen für sein Verfassungsreferendum auftreten zu wollen. Am 6. März 2017 titelte die Akşam: “Letztes Wort: Ich komme nach Deutschland!” - “Wenn ich will, dann komme ich auch. Wenn ihr mich nicht zur Türe reinlasst, versetze ich die Welt in Aufruhr“, hatte Erdoğan gesagt. Gleichzeitig hatte er kritisiert, dass Cemil Bayık im Namen der PKK-Führung über Satellit eine Live-Botschaft an eine Versammlung in Deutschland abgeben durfte und beschwerte sich: „Mir werden Auftritte verboten, aber Bayık darf das. Deutschland muss wegen Terrorunterstützung verurteilt werden.“ Die Akşam verstand die Botschaft und kam, während die diplomatischen Beziehungen durch Naziverglei- che vergiftet wurden, mit einer Titelseite raus, die Merkel unter der Schlagzeile „Terrorschwester“ zeigte. Der zugehörige Artikel listet die in Deutschland erlaubten Veranstaltungen der PKK auf und gibt eine Aus- sage eines Sprechers des Präsidentenpalastes wieder, der Merkel mit „Nazi“ gleichsetzt. Nur drei Tage später trifft das Adjektiv “Nazi” die Niederlande. Da die holländische Polizei die türkische Familienminis- 6-7
terin nicht ins türkische Konsulat ließ und eine Demonstration mit Polizeihunden auflöste, lautete die Überschrift „Nazihunde“. Warum die Zeitung das Nazi-Wort plötzlich so gern verwendete, löste sie einige Tage später auf. Erdoğan sagte in der Akşam: „Wenn ihr mich Diktator nennt, dann nenn ich euch Nazi.“ Deniz Yücel Die Akşam und allgemein die regierungsnahe Presse stürzen sich besonders häufig auf türkeistämmige deutsche Staatsbürger. Personen wie Deniz Yücel, Cem Özdemir oder Sevim Dağdelen werden in erster Linie nicht als Deutsche, sondern als Türken gesehen und folglich als „Vaterlandsverräter“ beschimpft. Am 14. März schießt die Akşam gegen Deniz Yücel, der im Gefängnis von Silivri in Einzelhaft gehalten wird, ohne dass (seit mittlerweile über 300 Tagen) eine Anklage verlautbart wurde. Es ist ein Beispiel für die Zusammenarbeit der Presse mit Polizei und Staatsanwaltschaft, denn Yücel werden in dem Artikel „schmutzige Beziehungen“ vorgeworfen. Unter der Überschrift „Das sind Deniz‘ Qualifikationen“ werden, vermutlich aus den Ermittlungsakten geleakte, Details über Telefongespräche veröffentlicht, die Yücel mit der PKK zugerechneten Personen geführt haben soll. Dazu gibt es ein Foto, das ihn in einer Interviewsitu- ation zeigt, mit der Frage: „Und das soll ein Journalist sein?“ Am nächsten Tag kommt die Vorverurteilung wieder direkt in die Überschrift: “FETÖ-Liebhaber und PKK- Freund”. Anlass ist die Nachricht, dass bei einer Durchsuchung der Wohnung von Deniz Yücel in seinem Bücherregal ein verstecktes Buch von Fethullah Gülen gefunden worden sei. Nach den strengen Maßstä- ben der regimetreuen Presse ist das Beleg genug dafür, dass hier jemand ein ausgemachter „FETÖ-Lieb- haber“ sein muss. Ebenso wie die Nachricht, dass in Äthiopien sechs von der Gülen-Bewegung geführte Privatschulen, nachdem sie schließen mussten, von deutschen Investoren übernommen wurden, dazu ausreichte, Merkel in einer Schlagzeile als „Kanzlerin von Pennsylvania“ zu bezeichnen (dort lebt Gülen). Als im April die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen eine kleine Anfrage stellt, die zu Ermittlungs- verfahren gegen 20 mutmaßliche türkische Spione führt, heißt es für die Akşam: “McCarty [sic] spukt in Deutschland wieder“ und es wird von einer „Hexenjagd in Berlin“ geschrieben. Der „Spionagekrieg“ zwischen Ankara und Berlin füllt eine lange Zeit die Titelseiten. Da soll der türkische Geheimdienst dem deutschen eine „Liste mit FETÖ-Mitgliedern“ übergeben und das die deutschen Geheimdienstler vor eini- gen der Namen gewarnt haben, und daraus wird: „Deutschland übertreibt es mit seiner blinden Liebe zur FETÖ“. In der gleichen Ausgabe wird übrigens berichtet, dass Mesut Özil darüber klage, aufgrund seiner türkischen Abstammung bei der WM-Qualifikation benachteiligt worden zu sein. Das Referendum Dass Erdoğan das Referendum über die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei um Haaresbreite gewann, führte bei den regimetreuen Medien aber nicht zu einem Abklingen der Streitlust mit Deutsch- land. Zwei Tage nach dem Volksentscheid schafft es Merkel mit der Überschrift „Verdauungsschwie- rigkeiten“ wieder auf die erste Seite der Akşam. Berichtet wird, dass „Der Westen“ monatelang daran gearbeitet habe, dass beim türkischen Verfassungsreferendum ein „Nein“ herauskommt und jetzt eine „Wahrnehmungsoperation“ durchführe, um die Legitimität des Ergebnisses zu untergraben. Das Foto von Merkel, das dazu veröffentlicht wird, spricht allerdings eher für eine „Wahrnehmungsoperation“ anderer Art. Es geht weiter mit der Nachricht über „PKK-Beobachter“ am nächsten Tag. Der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko, der als Wahlbeobachter beim Referendum vor Ort war, habe sich mit einer PKK-Flagge ablichten lassen. Das Foto dient als Beweis dazu, dass alle europäischen Beobachter nur das Referend- um in ein schlechtes Licht rücken wollten und „PKK-Anhänger, Faschisten und bestechlich“ seien. Auf der gleichen Seite erfahren wir, dass die deutsche Presse „Geschütze gegen die mit Ja stimmenden Ausland- stürken“ auffahre und zwar mit so unverschämten Behauptungen wie „Sie stimmten für einen Despoten.“
Der Showdown Nach dem Referendum hätte man eine Milderung des Klimas erwarten können, doch das Gegenteil traf ein: Die Spannungen stiegen erst so richtig und jetzt sprachen beide Seiten so manches letzte Wort aus. Auf den Beschluss des Europarates, aufgrund der antidemokratischen Maßnahmen des türkischen Aus- nahmezustandsregimes, die Türkei wieder unter Beobachtung zu stellen, reagierte die Akşam mit einer Form von Erpressung, die Erdoğan häufig anwendet: “Es reicht! Macht die Tore auf”, lautete die Schlagzeile, unter der angedroht wurde, dass die Türkei das Rücknahmeabkommen aufkündigen und alle Geflüchteten nach Europa „schicken“ würde. Mitte Mai bekamen dann einige der Bundestagsabgeordneten, die den deutschen Luftwaffenstützpunkt Incirlik besuchen wollten, von Ankara keine Einreiseerlaubnis und die Beziehungen waren belastet bis zu dem Punkt, an dem Merkel ankündigte, man wolle den Stützpunkt in der Türkei insgesamt aufgeben. “Dann geht doch woanders hin”, antwortete die Akşam in einer Schlagzeile, und nachdem Sigmar Gabriel noch einen letzten Besuch in der Hoffnung auf eine Verständigung absolviert hatte, quittierte die Akşam das mit einer Schlagzeile, die offensichtlich innenpolitisch motiviert war: „Türkei setzt Gabriel vor die Tür“. Ein Mann namens Hans Erdoğan hat in seinen Reden manchmal darauf hingewiesen, dass er sich nicht nach einem Hans oder ei- nem George richte, wenn er Entscheidungen fälle. Spätestens seither werden die Deutschen kollektiv als „Hans“ bezeichnet. Ich muss an dieser Stelle loswerden, dass ich in meiner Zeit hier in Deutschland noch keinem einzigen Mann begegnet bin, der den Namen Hans trägt. Aber als ich deutsche Reisedokumente erhielt, rief die regimetreue Presse: „Aus Can wurde Hans!“ Als die Deutschen dann am 8. Juni Incirlik verließen, titelte Akşam: “Güle güle Hans”. Und als Bundesin- nenminister zuließ, dass am Rande des G20-Gipfels in Hamburg gegen die Türkei protestiert wurde, be- kam auch er von der Zeitung seinen neuen Vornamen in Form der Schlagzeile “Guck dir den Hans(el) an”. Die Prinzeninsel-Kampagne Die wirkungsvollste Kampagne im sechsmonatigen Zeitraum, den wir uns angeschaut haben, ist die gegen das Seminar auf der Prinzeninsel Büyükada, das in Deutschland durch die Inhaftierung Peter Steudtners bekannt wurde. Eine Zeit lang wurde die Akşam quasi auf Grundlage der vom türkischen Ge- heimdienst bereitgestellten Informationen und Dokumente betrieben und betrieb systematische Vorver- urteilung. Am 7. Juli finden wir die Titelseite mit einem Erdoğan-Zitat als Aufmacher: „Deutschland ist zu einem Gastgeber für den Terror geworden“, wieder mit einem Foto von Merkel, und direkt darunter erfahren wir, dass „auf der Büyükada 11 Personen festgenommen wurden, die einen finsteren Plan zu einer Provokati- on umsetzen wollten“. Die eigentliche Nachricht über den Einsatz erschien erst am nächsten Tag: “Vor der Landkarte festge- nommen“, hieß es, denn „die an der geheimnisvollen Zusammenkunft auf der Büyükada Beteiligten wur- den geschnappt, als sie gerade vor sich eine riesige Türkeikarte ausgebreitet hatten, auf der sie planten, das Land in Chaos zu stürzen.“ Dem Bericht zufolge sei es der deutsche Staatsbürger Peter Steudtner gewesen, der den Aufstand organisiert habe. Deshalb nannte die Zeitung ihn in einer Titelzeile „Der pro- fessionelle Aufrührer“. Am gleichen Tag sprach Erdoğan davon, dass das Seminar auf der Büyükada als “Fortsetzung des 15. Juli [Putschversuch]” zu sehen sei. Die Akşam nutzte dann das Foto von „der augebreiteten Landkarte des Hochverrats“ im Zusammenhang mit der Titelzeile „Diese Beweise machen eine Begnadigung unmöglich“. Wobei das türkische Wort für Be- gnadigung oder Amnestie natürlich eine Anspielung auf Amnesty International sein sollte. Die Karte, aus der man den Plan konstruieren wollte, die Türkei zu spalten, entpuppte sich übrigens innerhalb kürzester 8-9
Zeit als eine Karte der Regionalsprachen – eine Information, die ihren Weg nicht auf die Seiten der Akşam fand. Und am 21. Juli fand ich mich selbst in den schreienden Lettern der Akşam wieder. “Ihr geistiger Zieh- vater ist Ajan Dündar”. Ein Wortspiel mit meinem Namen, wobei Ajan Agent heißt und mit Jan statt Can meinem Namen ein ausländischer, untürkischer Beigeschmack gegeben werden sollte. Man wollte mich mit dem Seminar auf der Prinzeninsel in Verbindung bringen. Belege? Ich hatte ein Interview mit Salil Shetty, dem Generalsekretär von Amnesty International gemacht und auf einem gemeinsamen Foto bestanden. Das war‘s … Die Zeitung bezeichnet Amnesty und die Reporter ohne Grenzen als „tiefe Strukturen“ [geheimdienstliche Netzwerke] und kürt Deutschland zum „Knotenpunkt des Ganzen“, und als Außenminister Gabriel einen Reisehinweis für deutsche Staatsbürger veröffentlicht, die in die Türkei fahren wollen, schreibt die Akşam: „Die Deutschen sind durchgedreht“. Die Aussagen von Peter Steudner gibt die Akşam mit der Schlagzeile „Deutscher Chip für die Spione“ wieder. Im Artikel selbst wird ausgeführt, was mit „Schock-Fakt bei Vernehmung“ gemeint war. Und zwar, dass das deutsche Konsulat mittels einer auf seinem Telefon installierten App Steudtners Standort nach- verfolgen konnte. Die Freilassung der auf diese Weise vorverurteilten acht Menschenrechtsverteidiger*innen einschließlich Steudner im Oktober konnte dann aber in der Akşam auf einen Einzeiler unter dem Header „Überraschen- de Haftentlassung“ runtergebrochen werden. Angst vor dem Embargo Eine wichtige Eigenschaft der Akşam ist, direktes Sprachrohr Erdoğans zu sein, eine andere hingegen, dass ihr Inhaber in der Rüstungsindustrie deutsche Geschäftspartner hat. Das heißt, während die Zeitung diese ganze laute Kampagne gegen Deutschland fährt, tätigt ihr Verleger im Stillen Investitionen mit Deutschen, ohne dass es jemand mitbekommt. Als dann infolge der angestiegenen Spannungen Berlin deutsche Firmen davor warnt, Investitionen in der Türkei zu tätigen, findet auch das seinen Niederschlag in den Überschriften. Zunächst in Form der Pressemitteilung der Handelskammer Istanbul, die darauf hinweist, dass die deutsche Geschäftswelt an dem Gebaren Berlins Anstoß nehme. Dann in einem größeren Aufmacher über Premierminister Yıldırıms Worte an die Vorstände von 19 großen deutschen Firmen, die in der Türkei aktiv sind: „Ihr seid keine deutschen, sondern türkische Firmen“. Siemens, die gerade eine milliardenschwere Ausschreibung zur Erzeugung von Windenergie gewonnen haben, bekommen einen Ehrenplatz oben auf der Seite, deutsche Urlauber, die allen Umständen zum Trotz noch in die Türkei kommen, kriegen ein dickes Lob ausgespro- chen und der ehemalige Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, der die Türkei eine Diktatur genannt hatte, wird aufgrund des Umstandes, dass er seinen Urlaub in Bodrum verbracht hat, als „Bild-Wendehals“ bezeichnet. In jenen Tagen druckte der Focus Aussagen des CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu ab, der in der Türkei „keine Garantien für Leben und Eigentum“ mehr sehen könne. Kılıçdaroğlu dementierte diese Aussagen, worauf der Focus mehrere Tage lang nicht reagierte. Die Akşam fand die sinnige Überschrift “Hokus, Focus” für einen Artikel darüber, wie das deutsche Magazin den türkischen Politiker Kılıçdaroğlu in Schutz nehme, und schoss gegen den Korrespondenten Frank Nordhausen, der das Interview geführt hatte, und nun „Frankenstein“ heißen müsse. Leider veröffentlichte der Focus am nächsten Tag ein Transkript des Interviews und eine Mail, in der die CHP es autorisiert. Aber auch das ist der Akşam einen Aufmacher wert, ganz so als wäre sie es gar nicht selbst gewesen, die das Magazin in Grund und Boden kritisiert hatte.
Hitler und die Nazis Als in Deutschland die Wahlen ins Haus stehen und die Türkeipolitik zu einem Top-Wahlkampfthema avanciert, erhöht auch die türkische Presse und besonders die Akşam ihre tägliche Dosis Berlinkritik. Es kommt sogar zu beeindruckenden Doppelpässen zwischen Erdoğan und der Zeitung. Am 18. August reagierte man auf Merkels Aussage, das Nein-Lager habe berechtigte Erwartungen an die Bundesrepublik mit der Schlagzeile „Deutsche Staatspolitik: Türkeifeindlichkeit“. Natürlich haben sie wieder eigens ein besonderes Foto ausgewählt. Am nächsten Tag kommt Erdoğans Aufruf „Keine Stimme den Türkeifeinden“. Unter der Überschrift „Mö- gen Türken ihnen an der Urne einen Denkzettel verpassen“ gab es zunächst die Zeile „Die Deutschen sind verrückt geworden“ zu lesen. Am gleichen Tag gibt Erdoğan von sich, die Deutschen könnten vor lauter Wut nicht mehr stillsitzen, und diese Stilblüte wird am nächsten Tag zur Schlagzeile. Es ging um eine Äußerung, in der Erdoğan Außenminister Gabriel angegangen war: “Wer bist du überhaupt, dass du mit dem Präsidenten der Türkei sprichst? Kenne deine Grenzen. Was ist deine politische Vergangenheit? Wie alt bist du überhaupt?“, hatte er gesagt. Diese Wut auf Gabriel führte die Akşam am nächsten Tag mit der Schlagzeile „Grenzenlose Unverschämt- heit“ fort und arbeitete sich an der Initiative des Außenministers ab, den in Spanien festgenommenen Schriftsteller Doğan Akhanlı nicht an die Türkei auszuliefern. Je näher die Wahlen rücken, desto heftiger wird die Kritik und in den letzten Wochen macht die Akşam regelmäßig mit einem Angriff auf Deutschland auf. Am 22. August gab es das Statement eines Günther Meinel, Präsident der „Diplomaten DMW Interna- tional“, der sagte, Deniz Yücel sei kein Journalist, und am 30. August wurde Merkel als „Kanzlerin mit Obsession für Deniz“ betitelt. Als sie dann Ankaras Forderung, das Vermögen von Gülen-Anhängern in Deutschland einzufrieren, nicht entsprach, bekam sie sogar den Titel „Neo-FETÖ Merkel“ verliehen. Und über ihr Duell mit Martin Schulz wurde unter der Überschrift „Gemeinsamer Nenner: Türkeifeindschaft“ berichtet. Und schließlich, als die deutschen Vorbehalte gegen Erdoğans Machtausbau Widerhall in der EU fanden, brachte Akşam unter der Headline „Hitlerüberreste“ ein Foto von Merkel verziert mit Hitlerbärtchen und Hakenkreuz. Das Wahlergebnis kommentierte die Akşam mit der Beobachtung „Der Nazismus geht wieder um“, und die Schwierigkeiten bei der Koalitionsbildung „feierte“ die Zeitung mit einer Fotomontage, auf der Merkel kopfüber hinabstürzt. Die Akşam ist nur eine von Dutzenden regierungstreuen Medienoutlets. Wenn man sich vorstellt, was für eine geballte Hasskampagne hinter der Gesamtheit dieser Institutionen steht, ver- steht man vielleicht besser, was für eine Propagandamaschine da in Gang gesetzt worden ist. Übersetzung aus dem Deutschen: Oliver Kontny 10 - 11
Die Rückkehr des Ungeheuers namens Inflation Zunehmende politische Unsicherheit, Sicherheitsprobleme und Schulden in Fremdwährung: Die Türki- sche Wirtschaft ist unter Druck. Und die Prognosen sind beunruhigend. von Mustafa Sönmez Nach der globalen Krise 2009 konnten Länder wie die USA und der Euroraum keine stabile Wachstums- dynamik mehr entwickeln. Die Folgen waren Frustration, die Abwendung von etablierter Politik und die Suche nach neuen politischen Orientierungen. In der Türkei wiederum ist anzunehmen, dass die politische Instabilität auch in der zweiten Jahreshälfte 2017 die Wirtschaft ausbremsen wird – begleitet von einem altbekannten Film: „Die Rückkehr des Unge- heuers namens Inflation!“ Zwischen 1999 und 2008 wuchs die Weltwirtschaft durchschnittlich um 4,2 Prozent. 2009 wurde sie von einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte erschüttert und schrumpfte um 0,1 Prozent. In der Eurozone betrug der Einbruch 4,5 Prozent, in der Türkei sogar 4,7 Prozent. In den Folgejahren verfolgten Regierungen eine expansive Geldpolitik: Firmenrettungen und Nullzinsen haben zwar große Konkurse verhindert, aber die Wirtschaften in eine langjährige Rezession gestürzt. Die Maßnahmen gegen die Krise haben die öffentlichen Haushalte belastet, die Staatsschulden haben ein Rekordniveau erreicht, die Finanzstabilität wurde zerstört. In den Zentren schrumpfte die Wirtschaft zwar nicht weiter (außer 2012 in der Eurozone), aber sie mussten sich mit Wachstumsraten von einem oder zwei Prozent zufriedengeben. Das reichte nicht aus, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die Ungerechtigkeit in der Einkommensverteilung nahm zu. Heute erleben wir die politi- schen Folgen dieser Entwicklung: Während die politische Mitte schwächer wird, bekommt die radikale Politik Aufwind. Die expansive Geldpolitik in den Zentren kam der Peripherie zugute, also jenen Ländern, die wirtschaftlich eher passiv sind. Der Fluss der Geldströme beschleunigte sich und ermöglichte ihr Wachstumsraten von 5 bis 6 Prozent. Das galt auch für die Türkei. Die AKP-Regierung hatte auf die Krise vor allem mit
der Erhöhung der öffentlichen Ausgaben reagiert. Mit ausländischem Kapital, das wieder ins Land floss, erreichte die Türkei bis 2015 Wachstumsraten von 6 bis 7 Prozent. Doch 2016 wuchs die Wirtschaft nur noch um 2,9 Prozent. Vor allem die zweite Jahreshälfte lief schlecht – mit nur einem Prozent Wirt- schaftswachstum. Prognosen für 2017 In seinem Bericht vom April 2017 geht der Internationale Währungsfond IWF davon aus, dass das weltweite Wirtschaftswachstum von 3,1 Prozent (2016) auf zunächst 3,5 (2017) und schließlich auf 3,6 Prozent (2018) steigen wird. Diese Prognose stützt sich auf die Annahme, dass sich der wirtschaftliche Aufschwung in den USA beschleunigt, positive Entwicklungen in der EU und in Japan anhalten und in China weiterhin hohe Wachstumsraten erzielt werden. In der Peripherie überwiegen dagegen die negativen Entwicklungen. Die Abschottung stellt dabei das größte Risiko dar. Falls das eintritt, werden Exporte aus der Peripherie abnehmen, ebenso der Fluss des ausländi- schen Kapitals in die Peripherie, und die Wachstumsraten werden sinken. Der IWF erwähnt auch nicht-wirt- schaftliche Risiken wie etwa geopolitische Bedrohungen, Sicherheitsprobleme, Korruption, politische Probleme und Spannungen und weist darauf hin, dass sie die Kreditnoten der Peripherie senken würden. Sollte die US-Zentralbank FED die Zinsen schneller als erwartet erhöhen, wird der Dollar aufgewertet, die Geldströme in die Peripherie nehmen ab und fragile Volkswirtschaften, zu denen auch die türkische gehört, werden negativ beeinflusst. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Die instabile und unberechenbare Außen- und Wirtschaftspolitik der Trump-Regierung hat dazu geführt, dass globale Fonds, von denen man erwartet hätte, dass sie die USA und andere Zentren favorisieren würden, erst einmal abwarten. So hat das heiße Geld vor allem seit Februar 2007 begonnen, aufstrebende Länder, nicht zuletzt wegen der Attraktivität der erhöhten Zinsen, als Zwischenparkplatz zu nutzen. Die Währungen dieser Länder konnten sich gegenüber dem Dollar ein wenig erholen. Verschiedene finanzielle Maßnahmen, die Länder wie die Türkei zur Bewältigung der Krise getroffen haben, und ihre Zinspolitik waren dabei sicher hilfreich. Auch Entwicklungen, die politische Risi- ken mindern, etwa das Referendum für die Verfassungsänderung – ungeachtet aller Unregelmäßigkeiten und Wahlfälschungen – spielen bei dem erneuten Fluss des spekulativen Geldes ins Land eine Rolle. Der IWF prognostiziert der türkischen Wirtschaft für 2017 eine Wachstumsrate von 2,5 Prozent. Das ist auffallend niedrig, weil die Wachstumsprognose für die insgesamt 153 Peripherieländer im Durchschnitt 4,5 Prozent beträgt. Laut IWF-Bericht ist die Türkei in Mittel- und Osteuropa das einzige Land, dessen Wirtschaft ein zunehmend schlechtes Bild abgibt. Auf Seite 18 des Berichts wird das wie folgt begründet: “Zunehmende politische Unsicherheit, Sicherheitsprobleme und die Zunahme der Schuldenlast in Fremd- währung infolge der Abwertung der Lira führen zu einem schlechteren Bild der türkischen Wirtschaft.” Das Hauptproblem ist die Inflation Auch die Prognosen für Inflation, Leistungsbilanzdefizit und Arbeitslosigkeit in der Türkei sind alles ande- re als erfreulich. Der aktuell zweistellige Anstieg der Konsumentenpreise wird laut IWF auch im weiteren Verlauf des Jahres nicht auf einstellige Zahlen zurückgehen. Für 2017 werden 10,1 Prozent prognostiziert. Über 2018 heißt es in dem Bericht, dass die Inflation „im besten Fall auf 9,1 Prozent zurückgehen kann“. Vergleicht man diese Prognosen mit der tatsächlichen Inflation im April, kann man sogar sagen, dass der IWF optimistisch war. Im April erreichte der Erzeugerpreisindex – die durchschnittliche Änderung des Preises, den inländische Erzeuger für ihre Güter erzielen – 16,4 Prozent. Und das, obwohl die Energieprei- se mit staatlichem Druck um 5 Prozent gesenkt wurden. Wenn man bedenkt, dass dieser Wert im Vorjahr 2,8 Prozent betrug, wird man besser verstehen, mit was für einem Ungeheuer man zu tun hat. Nimmt man die Industriepreise etwas genauer unter die Lupe, stellt man fest, dass die jährliche Preisstei- gerung bei Zwischenprodukten 22 Prozent und in der Fertigungsindustrie mehr als 18 Prozent beträgt. Firmen, die auf den Import von Maschinen und Ausrüstung angewiesen sind, müssen dafür bis zu 25 12 - 13
Prozent mehr bezahlen, weil die Lira gegenüber dem Dollar um 25 abgewertet wurde. Diese verteuerten Importe führen natürlich zu erhöhten Preisen im Inland. Es liegt in der Natur der Sache, dass Produzenten steigende Produktionskosten auf die Preise abwälzen und Einzelverkäufer ihre Preise entsprechend erhöhen. Tatsächlich haben die jährlichen Preissteigerun- gen für den Endverbraucher fast 12 Prozent erreicht, auch wenn sie bei manchen Gütern und Dienstleis- tungen erst mit Verzögerung auftreten. Wenn man die Dienstleistungen nicht mitrechnet und nur von den Gütern ausgeht, beträgt der jährliche Preisanstieg 13,2 Prozent. Ein besonderes Problem stellen dabei die Lebensmittelpreise dar. Seit dem regelrechten Zusammen- bruch der Landwirtschaft steigen sie jährlich um mehr als 15 Prozent. Der Preisanstieg für frisches Obst und Gemüse ist schwindelerregend. Er beträgt 43 Prozent. Der viel zu hohe Dollarkurs Der steigende Dollarkurs ist der wichtigste Auslöser der Inflation. Er ist auch für die schweren Verluste von Firmen verantwortlich, die Schulden in Fremdwährungen haben. Er schwächt den Investitionswillen und bremst das Wachstum. Die Nettoschulden privater Firmen in Fremdwährung betragen mehr als 200 Millionen Dollar. Die Bilanzen vieler Firmen gleichen einer Ruine, weil ihre Schulden durch den Wertverlust der Lira weiter anwachsen. Die Unsicherheiten in der Weltwirtschaft haben dazu geführt, dass das heiße Geld, das die Türkei verlas- sen hatte, nach Ende Februar teilweise zurückgekehrt ist. Das hat den Dollarkurs etwas entlastet und der Dollar fiel auf 3,50 bis 3,60 Lira zurück. Doch selbst dieser Kurs treibt die Inflation an und stellt eine große Bedrohung für verschuldete Firmen und für das Wachstum allgemein dar. Nun versucht die Zentralbank, durch geringfügige Zinserhöhungen den Dollarkurs einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Die Zentralbank wollte den Druck der Wechselkurse nicht mit einer Erhöhung der politischen Zinsen begleichen. Im Januar verwandelte sie das „Late Liquidity Window“ – den Zinssatz für Kredite, die sich Banken bei der Zentralbank besorgen können – von einer außerordentlichen Maßnahme zu einer ständi- gen Option und versuchte auf diesem Wege, den Wertverfall der türkischen Lira zu bremsen. Das „Late Liquidity Window“ wurde auf 11,8 Prozent angehoben und ist tonangebend bei den Kreditzinsen. Die Inflation ist aber immer noch höher als die angehobenen Zinsen. Zwischen den Zinsen und dem Erzeugerpreisindex gibt es einen Unterschied von fast 5 Prozent. Zusammenfassend kann man sagen, dass heute sowohl die Zinsen als auch der Dollarkurs und die Inflation hoch sind. Das hat wiederum mit der faschistoiden und instabilen politischen Wirklichkeit, die ständig neue Risiken produziert, zu tun. Haushaltsdefizit Die türkische Wirtschaft verzeichnete im dritten Quartal von 2016 ein negatives Wachstum. Im letzten Quartal hat sie sich zwar ein wenig erholt, trotzdem betrug das Wachstum in der zweiten Hälfte von 2016 insgesamt nur 1 Prozent. Selbst das war nur durch staatliche Eingriffe möglich, mit denen man riskierte, das Haushaltsdefizit weiter zu erhöhen. Um die sich anbahnende Krise abzuwenden und beim Verfassungsreferendum eine Mehrheit für das “Ja” zu bekommen, bediente man sich einer populistischen Finanzpolitik, die in den ersten drei Monaten des Jahres den Haushalt um 20 Milliarden Lira belastete. Finanzminister Naci Ağbal erklärte, dass durch die bisherigen Ausgaben, Steuervergünstigungen und Be- schäftigungszuschüsse ein Haushaltsdefizit von 0,74 Prozent des Nationaleinkommens entstanden sei. 2018 würde es auf 0,38 Prozent sinken und 2019 auf nur 0,30 Prozent. „Die Türkei hat die Haushaltsdis- ziplin niemals aufgegeben“, erklärte der Minister. „Einer der wichtigsten Antriebskräfte unserer Wirtschaft ist nach wie vor ein solider öffentlicher Haushalt. Die Haushaltsdisziplin wird auch in Zukunft mit der gleichen Konsequenz fortgeführt.“
Diese Behauptung kann nur wahr werden, wenn das Löschwasser, das man aus den Tanks des öffentli- chen Haushalts holte, um den Brand kurzfristig zu löschen, wieder in jene Tanks zurückfließt. Und dafür braucht man Wachstum und Wachstumssteigerung. Investoren im In- und Ausland müssten mehr in die Industrie und die Landwirtschaft investieren, der Tourismus müsste wiederbelebt werden, die Exporte müssten steigen und das Wachstum müsste anhalten. Und für all das braucht man Vertrauen in die Zukunft. Wird das neue Regierungssystem der AKP, durchgesetzt mit Lug und Trug und Wahlmanipulati- onen, das Vertrauen vor allem ausländischer Investoren wiederherstellen können? Wie soll ein nennens- wertes, stabiles Wachstum möglich sein, während die Beziehungen mit der EU sich eher verschlechtern als verbessern? Trotzdem versucht man, das Wachstum mit allen Mitteln anzukurbeln. Der hohe Dollarkurs gibt den Exporteuren Ansporn, ihre Bemühungen zu vervielfachen, die Löhne sind niedrig und die industrielle Reservearmee wird durch die steigende Arbeitslosigkeit immer größer. Das alles führt zu einer Steigerung der Exporte. Auch in der Binnennachfrage tut sich etwas: dank staatlicher Subventionen und Kredite. Die AKP steigert sich sogar zu der Behauptung, dass diese beiden Faktoren ein Wachstum von 4 Prozent ermöglichen würden. Der Staat hat eine aktive Rolle übernommen, um das Kreditgeschäft anzukurbeln. Banken erhielten staat- liche Garantien auf die Kredite, die sie gewährten. Finanzminister Ağbal erklärte, etwa 204.000 Firmen hätten vom Kreditgarantiefonds profitiert, das Kreditvolumen betrage 146,4 Milliarden Lira. Er wies auch darauf hin, für Firmen seien über KOSGEB (die staatliche Entwicklungsagentur für kleine und mittelständi- sche Unternehmen) Kreditpakete entwickelt worden. Insgesamt 239.000 Unternehmen hätten Kredite im Wert von 5,8 Milliarden Lira bekommen. Der Staat gab die Garantien, die Banken das Geld. So konnten vor allem kleinere Firmen aufatmen, wenn auch nur vorübergehend. Und die Banken konnten ihre Bilanzen aufbessern und sich über steigende Aktienkurse freuen. Es ist jedoch ungewiss, ob diese Kredite zum Wachstum oder zur Schuldentilgung aufgewendet wurden. Auch wurden die Banken in ein riskantes Spiel hineingezogen, an dessen Ende sie mit einem Anwachsen ihrer faulen Kredite rechnen müssen, staatliche Garantien hin oder her. Die Gefahr des doppelten Defizits Der IWF prognostiziert der Türkei einerseits ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent für das Jahr 2017, andererseits weist er darauf hin, dass gleichzeitig das Leistungsbilanzdefizit anwachsen wird. Laut IWF wird das Defizit sowohl 2017 als auch 2018 nicht weniger als 4,7 Prozent des Nationaleinkommens betragen. 2016 betrug es 3,6 Prozent des nationalen Einkommens. Demnach wird das Leistungsbilanz- defizit der Türkei um einen Prozentpunkt steigen. Wie ist es möglich, dass das nationale Einkommen um einen halben Prozentpunkt weniger, das Leistungsbilanzdefizit gleichzeitig um einen Prozentpunkt mehr wird? Die naheliegendste Erklärung könnte in den steigenden Energiekosten liegen. Auch geht man davon aus, dass die Tourismusbranche sich von den herben Verlusten auch 2017 und 2018 nicht erholen wird. In der Tat tut die Türkei sehr wenig, um die Energiekosten zu senken. Den Tourismus wiederum kann man nur beleben, wenn man auf der nationalen und internationalen Ebene eine Atmosphäre des Friedens und der Verständigung schafft. Auch für die Arbeitslosigkeit liefert der IWF keine erleichternden Prognosen. Sie betrug 2016 nach offiziellen Zahlen 10,8 Prozent. 2017 soll sie analog zum geringen Wachstum auf 11,5 Prozent ansteigen. Die Lage wird sich auch 2018 nicht entspannen: Laut IWF werden 11 Prozent der Arbeitswilligen keinen Job finden. Wieder die Arbeitnehmer Es ist eine Zwickmühle, in die sich die AKP hinein manövriert hat: Wenn die Kapitalflüsse aus dem Ausland ausbleiben, steigt der Dollarkurs; wenn der Dollar teurer wird, steigt die Inflation und die Firmen stehen auf wackeligen Füßen. Um die Lira gegenüber dem Dollar ein wenig aufzuwerten, müssen die Zin- sen erhöht werden. Doch wenn man das tut, leiden Investitionen und Konsum darunter. Strebt man mehr Wachstum an, steigen die Importe und das Leistungsbilanzdefizit. Um diese Entwicklung aufzufangen, bemüht man öffentliche Finanzen und steigert das Haushaltsdefizit, ohne zu wissen, ob es in absehbarer 14 - 15
Zeit wieder gedeckt werden kann. So entsteht das Risiko des doppelten Defizits: Zu dem fast 5 prozenti- gen Leistungsbilanzdefizit kommen voraussichtlich 3 bis 4 Prozent Haushaltsdefizit hinzu. Wahrscheinlich wird das AKP-Regime die Lohnabhängigen zwingen, eine noch größere Ausbeutung hinzunehmen. Anders kann es sich nicht reproduzieren und die Akkumulation des Kapitals fortsetzen. Angesichts der Inflation, die sich der 20-Prozent-Marke immer weiter nähert, wurden die Löhne und der Mindestlohn zum Jahresanfang nur um 5 bis 6 Prozent erhöht. Eine aufreibende Ungerechtigkeit in der Einkommensverteilung ist im Alltag bereits spürbar geworden – zu Lasten von fast 16 Millionen Lohnab- hängigen. Und das ist noch nicht die ganze Geschichte: Immobilien in öffentlicher Hand, historische und kulturelle Güter – und nicht zuletzt die Steuern, die größtenteils von Lohnabhängigen entrichtet werden und mit denen man die Löhne und den Konsum belastet – werden beraubt und hauptsächlich dem regimetreuen Kapital zugespielt, um die weitere Kapitalanhäufung sicherzustellen. Bald wird ein weiterer Raub auf der Tagesordnung stehen. Es wird darum gehen, das Recht auf Abfin- dung, also die akkumulierten Schulden von Arbeitgebern an die Arbeitnehmer, in einem Fond zusammen- zuführen und zu dem gleichen Zweck einzusetzen. Das wird dann ein weiterer Schlag gegen die Arbeit- nehmer. Das alles wird zwangsläufig einen Aufstand der Arbeitnehmer beflügeln, einen Kampf für die Rechte der Lohnabhängigen. Wir können uns auf eine mächtige Welle aus der Tiefe gefasst machen. Dieser Text wurde von Recai Hallaç aus dem Türkischen übersetzt und redaktionell leicht verändert.
Wohin geht die türkische Politik? Präsident Erdogan ist als Sieger aus dem Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 hervorgegangen. Doch sitzen er und seine Regierungspartei wirklich so fest im Sattel? Und was bedeutet das für die mittel- fristige Entwicklung in der Türkei? von Kemal Can Das neue Präsidialsystem könnte die Strukturen der Politik in der Türkei grundsätzlich verändern. Doch die nur scheinbar unangreifbare Macht Erdoğans könnte auch weiter erodieren. Denn ein genauer Blick auf das Abstimmungsergebnis zeigt: Erdoğan braucht eine neue politische Basis, um seine Macht auch künftig zu sichern. Die Regierungspartei AKP bekam die Unterstützung zweier weiterer Parteien: Dennoch konnte Erdoğan am 16. April nur knapp mehr als die Hälfte der Wählerstimmen holen. Diese drei Parteien hatten bei der Parlamentswahl am 1. November 2015 noch insgesamt 63 Prozent der Stimmen bekommen. Damit haben sie beim Referendum insgesamt 12 Prozent ihrer Wähler verloren. Man kann aber davon ausge- hen, dass die Wähler der rechtsextremen Partei MHP, dem Aufruf ihres Parteichefs, Erdoğans Referend- um zu unterstützen, nur teilweise gefolgt sind. Demnach hätte die AKP ihr Wählerpotential von 45 bis 50 Prozent noch weitgehend fest im Griff. Vor drei Jahren wurde Erdoğan mit 52 Prozent der Wählerstimmen zum Staatspräsidenten gewählt worden. Jetzt hat er mehr als 51 Prozent bekommen. Es stimmt also, dass die Wählerstimmen der AKP mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau geblieben sind. Richtig ist aber auch, dass die Partei ihr bestes Ergebnis aus dem Jahre 2011 nie wieder übertrumpfen konnte. Erdoğan konnte zwar die Ver- fassungsänderung mit dem umstrittenen Referendum, begleitet von Vorwürfen der Wahlmanipulation, durchsetzen. Doch dieses Ergebnis ist zu knapp, um eine stabile Regierungsmacht zu begründen. Doch man sollte nicht nur auf die Zahlen schauen, sondern auch auf die Details, die sich hinter ihnen ver- bergen. Und nicht zuletzt auf die Dynamiken, die das Wahlverhalten erst in Zukunft beeinflussen dürften. Es stellen sich die Fragen: Inwiefern ist die heutige Situation in der Türkei neu? Wenn wir es hier mit einer neuen Situation zu tun haben sollten – liegen ihr neue und zukunftsweisende Dynamiken zugrunde? 14 - 17 16 15
Wohin sollen wir schauen, wie sollen wir schauen? Die engen Beziehungen zwischen Erdoğans AKP mit der rechten Wählerschaft sind nicht neu. Seit der Einführung des Mehrparteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg waren rechte Parteien und eine konservative Gesinnung in der Türkei immer wahlentscheidend. Sie machen ungefähr zwei Drittel aller Wählerstimmen aus. Sie vertreten verschiedene Schattierungen des islamischen, konservativen und nati- onalistischen Gedankenguts und übersetzen sie mehr oder weniger in wirtschaftliche und soziale (und in den letzten Jahren: neoliberale) Politik. In der türkischen Politik spielen kulturelle, ethnische, religiöse und ideologische Identitäten und Zuge- hörigkeiten eine größere Rolle als etwa die gesellschaftliche Schicht oder Klasse, der man angehört. Deshalb unterscheiden sich die Definitionen von Rechts und Links oftmals von denen der klassischen Politikwissenschaft. Trotzdem haben sie für politische Akteure und für Wähler eine starke Bedeutung. Sie werden im Hinblick auf die Positionen der Parteien zu den Themen Verwestlichung, Modernisierung und Säkularisierung benutzt. Darauf bezog sich Erdoğan, als er nach dem Referendum verkündete: „Wir überschreiten gerade eine entscheidende Schwelle in einer 200 Jahre alten Diskussion.“ Eine Heimat aus Muslimen und Türken Der Dichter Necip Fazıl sprach einmal von einer „Heimat, die nur aus Muslimen und Türken besteht“. Für Erdoğan war er schon immer eine inspirierende Figur. Auch die gesamte politische Rechte der Türkei träumt von dieser muslimischen und türkischen Heimat. Sollte das nicht machbar sein, dann sollen Mus- lime und Türken zumindest die Kontrolle über den Staat besitzen. Wenigstens soll die Regierung nur auf diese Gruppen hören. Das bildet die Grundmotivation für den Rechtsruck der politischen Mitte und für die populistische rechte Politik. Für die Verfechter dieses Traums dient die politische Macht hehren Idealen und bedarf eines legendären Führers. Dieser Führer ist das Objekt der Sehnsucht und der ständigen Suche, und hat man ihn einmal gefunden, klammert man sich an ihn. Wie weit dies gehen kann, hängt von zwei Parametern ab: Was sind der Staat und die Wirtschaftseliten zu tolerieren bereit? Und welche Identität stellen die Parteien in den Mittelpunkt, verbunden mit wel- chen politischen Prioritäten, und welche Repräsentationskrisen entstehen dadurch. Die AKP hat in ihrer bisherigen Geschichte ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Dynamik gehabt. Demnach kann man die Geschichte der Partei in drei Perioden aufteilen. Die drei Perioden der AKP Die AKP kam 2002 mit absoluter Mehrheit an die Macht. Bis 2007 präsentierte sich die Partei als ein konservativ-demokratisches Projekt, vergleichbar mit den christdemokratischen Parteien im Westen. Sie stellte sich nicht in die Tradition der islamischen Parteien, die seit Ende der 60er existierten und auch die AKP hervorgebracht hatten. Vielmehr versuchte sie, das Vakuum im rechten politischen Zentrum zu füllen. Die Zentrumsparteien hatten mit diversen Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen. So bekam die AKP auf Anhieb die Unterstützung der Mitte-Rechts-Wähler. Auch religiös-konservative Kreise unterstüt- zen die AKP, nachdem ihre frühere Partei durch die Intervention des Militärs entmachtet worden war. Doch der AKP gelang es nicht, die Stimmen der Nationalisten zu gewinnen. Mit ihrer Haltung zur EU und der kurdischen Frage war sie zu liberal für diese Wählergruppen. Ab 2007 geriet die AKP unter Druck des Militärs und des Verfassungsgerichts. Doch sie beschloss, nicht zurückzuweichen, sondern ihnen die Stirn zu bieten. Der Wahlsieg 2007 gab der Partei das nötige Selbst- vertrauen dazu und die Allianz mit Fethullah Gülen lieferte die operationelle Unterstützung – und die AKP holte zum Gegenschlag aus. Die Prozesse „Ergenekon“ und „Balyoz“ führten zur Verhaftung zahlreicher Militärs und Zivilpersonen, denen vorgeworfen wurde, einen Putsch gegen die Regierung vorzubereiten. Ein Verfassungsreferendum brachte 2010 grundlegende Änderungen für die Justiz und erlaubte der Regierung – und vor allem der Gülen-Gemeinde – die obersten Gerichtshöfe stärker zu beeinflussen. Anders als ihre Vorgänger im konservativ-islamischen Spektrum hatte die AKP nicht zurückgerudert und versucht, das bereits Erreichte zu bewahren, sondern ihre Macht weiter ausgeweitet. Das gab den Wäh- lern im rechten Block die Genugtuung einer Revanche und bescherte ihr, der AKP, 2011 einen bemerkens- werten Wahlsieg. Sie konnte die Basis fast aller rechten Parteien außer der MHP für sich gewinnen und
bekam 49,8 Prozent der Stimmen. Doch statt sich als Partei weiter zu entwickeln, verwandelte sie sich in einen Machtapparat, in dessen Mitte Erdoğan stand. Die dritte Phase begann 2012 und dauert bis heute an. Sie ist geprägt von dem Bedürfnis nach Selbst- verteidigung dieses Machtapparates. Als Mittel wird massiv die gesellschaftliche Polarisierung einge- setzt, deren Samen die AKP bereits 2007 gesetzt hatte. Mit dieser Politik wurden die unterschiedlichsten Akteure mit offenen oder versteckten Drohungen gezwungen, ihr Schicksal an den Fortbestand der AKP-Herrschaft zu knüpfen: allen voran die AKP-Wähler, die staatliche Bürokratie, die Wirtschaft und schließlich – in der Flüchtlingskrise – die internationalen Akteure. Die Gezi-Proteste im Sommer 2013 und die Wahlen von 2015 machten deutlich, dass die AKP durch den „Versöhnungsprozess mit den Kur- den“ keine konservativen kurdischen Stimmen gewinnen konnte. Dies zwang die Regierung, sich auf eine nationalistisch-konservative Verteidigungslinie zurückzuziehen. Auch weitere Faktoren trugen dazu bei, dass die Empfindung einer Bedrohung wuchs: Der Streit mit der Gülen-Gemeinde wurde allgegenwärtig, die großangelegten Ermittlungen wegen Korruption am 17. und 25. Dezember 2013 machten auch vor Erdoğan und seiner Familie nicht halt. Die Syrien-Krise stellte die Außenpolitik vor neue Herausforderun- gen und die wirtschaftliche Konjunktur gab Anzeichen einer negativen Entwicklung. Die Regierung verlor den Anschluss an die Basis, an ihre Erwartungen und ihren Unmut, und konzentrierte sich nur noch auf die Verteidigung der eigenen Macht. Erdoğan und die AKP hatten ihren Erfolg günstigen Umständen und leicht zu bewältigenden Krisen zu verdanken. Doch angesichts der wachsenden Bedrohungen für seine Macht konnte und wollte sich Erdoğan nicht mehr darauf verlassen, dass ihm die Wähler auf Dauer die notwendige absolute Mehrheit sichern würden. Also krempelte er die Ärmel hoch, um die Spielregeln zu ändern und sich für immer abzusichern. Vor den Wahlen am 7. Juni 2015 machte er persönlich Wahlkampf mit dem Ziel einer Zweidrittelmehrheit, die ihm erlaubt hätte, nur mit den Stimmen der AKP das Präsidialsystem einzuführen. Stattdessen verlor seine Partei 10 Prozent und die absolute Mehrheit im Parlament. Überraschend kam dieses Ergebnis nicht, die Regierung war darauf vorbereitet. Sie reagierte mit einer Politik der Härte und der nackten Gewalt. Innerhalb von fünf Monaten, bis zu den Neuwahlen im November 2015, hatte die AKP die 10 Prozent zurückgeholt. Und nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016, von Erdoğan als „Segen Gottes“ bezeichnet, besetzte die Regierung alle Instanzen der politischen oder juristischen Kontrolle – oder setzte sie außer Gefecht. Back to the roots? Inwiefern unterscheidet sich diese 15-jährige Geschichte von den vorherigen populistischen rechten Regierungen in der Türkei? Seit den fünfziger Jahren hat es immer wieder rechte Parteien gegeben, die mehr als die Hälfte der Wählerstimmen bekommen haben. Der bemerkenswerte Unterschied liegt jedoch in der Konsolidierung der erreichten Stimmenanteile. Die oben skizzierte wechselhafte Chronologie und die Schwankungen in den Wahlergebnissen der AKP legen nahe, dass konjunkturelle Einflüsse eine stärkere Rolle spielen als die Dynamik an der Basis. Der geschickte Einsatz von Bedrohungsszenarien und Alarmismus machen den entscheidenden Unterschied der AKP zu den rechten Parteien der Vergan- genheit aus. In Erdoğans Diskurs und in seinem propagandistischen Sprachgebrauch tauchen immer häufiger uralte rechte Motive, Symbole und Slogans auf. Dabei sinkt sein Niveau mitunter tiefer als die alte populistische Rhetorik. Dieser Sprachgebrauch richtet sich nicht nur an die türkische Öffentlichkeit. Er wird auch gegenüber der internationalen Öffentlichkeit und in der Diplomatie eingesetzt. Begriffe wie „Demokratie“, „nationaler Wille“ oder „Freiheit“ werden einseitig als Synonym für Erdogans Ansichten verwendet und als Mittel zum Zweck eingesetzt. Der anti-westliche und anti-kapitalistische Diskurs ist komplexbeladen und doppelzün- gig. Das ist eine konsequente Fortführung populistischer rechter Tradition. Dagegen fallen große Unter- schiede in den Methoden auf. Der wichtigste unter ihnen passt in die Post-Truth-Ära: In blumiger Sprache werden widersprüchliche Argumente präsentiert – von jedem konsequenten Denken befreit. Ein weiterer Unterschied zu allen vorangegangenen populistischen Parteien ist die Kontrolle und Unterstützung der Medien. 18 - 19
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