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5 2018 8. März 2018 71. Jahrgang FORSCHUNGSERGEBNISSE ZUR DISKUSSION GESTELLT Ist Ungleichheit gleich ungerecht? Diskussion um die Paolo Brunori, Paul Hufe und Daniel Mahler Krankenversicherung: Folgen längerer Öffnungs- zeiten von Wahllokalen Wie könnte ein Niklas Potrafke und Felix Rösel Zur Berechnung der Wachs- effizientes und solida- tumsbeiträge der Verwen- dungskomponenten des BIP risches Gesundheits- Robert Lehmann und Timo Wollmershäuser system funktionieren? Thomas Drabinski, Doris Pfeiffer, Stefan Greß, Mathias Kifmann DATEN UND PROGNOSEN Ökonomenpanel: Zu den Sondierungsgesprächen zwischen CDU/CSU und SPD Stefanie Gäbler, Björn Kauder, Manuela Krause, Luisa Lorenz und Niklas Potrafke Deutsche Industrie plant deut- liche Investitionserhöhung Annette Weichselberger IM BLICKPUNKT ifo Konjunkturumfragen Februar 2018 Klaus Wohlrabe
ifo Schnelldienst ISSN 0018-974 X (Druckversion) ISSN 2199-4455 (elektronische Version) Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München, Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: ifo@ifo.de. Redaktion: Dr. Marga Jennewein. Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Annette Marquardt, Prof. Dr. Chang Woon Nam. Vertrieb: ifo Institut. Erscheinungsweise: zweimal monatlich. Bezugspreis jährlich: Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,– Studenten EUR 48,– Preis des Einzelheftes: EUR 10,– jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Kochan & Partner GmbH. Satz: ifo Institut. Druck: Majer & Finckh, Stockdorf. Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars. im Internet: http://www.cesifo-group.de
SCHNELLDIENST 5/2018 ZUR DISKUSSION GESTELLT Diskussion um die Krankenversicherung: Wie könnte ein effizientes und solidarisches Gesundheitssystem funktionieren? 3 Die Sondierungsgespräche zwischen der Union und der SPD haben die Diskussion über eine Reform der Kran- kenversicherung wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Eine »Bürgerversicherung«, mit der die Trennung von privaten und gesetzlichen Krankenkassen aufgehoben würde, wird es nicht geben. Aber eine Reform des Kran- kenversicherungssystems in Deutschland ist nötig, um eine effiziente und solidarische Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Thomas Drabinski, Institut für Mikrodaten-Analyse, Kiel, bewertet die Ausgangslage für Reformen im deutschen Gesundheitssystem insgesamt als schwierig. Im Bereich der GKV müsste sich der Gesetzgeber mit seiner Politik hin zu einer Einheitskasse und hin zu einer Staatsmedizin deutlich zurücknehmen und im Bereich der PKV müsste er Reformen im Sinne der sozialen Marktwirtschaft überhaupt erst einmal in Erwägung ziehen. Denn wegen des demographischen Veränderungsprozesses sei eine Fortschreibung der Dualität von GKV und PKV auf dem heutigen Finanzierungs- und Versorgungsniveau nicht möglich. Doris Pfeiffer, GKV-Spitzenverband, betont, dass mit der gesetzlichen Krankenversicherung für 90% der Bevölkerung nicht nur ein stabiles, funktions- fähiges und überaus akzeptiertes, sondern auch ein solidarisches Gesundheitssystem existiert, das dem Wirt- schaftlichkeitsgebot im hohen Maße verpflichtet ist. Zugleich bestehe ein erheblicher Reformbedarf: im Hinblick auf die solidarische Ausgestaltung bei der Einstufung von Selbständigen und von Arbeitslosengeld-II-Beziehern, im Hinblick auf Effizienz bei der stationären Versorgung, der Notfallversorgung und der Arzneimittelversorgung. Stefan Greß, Hochschule Fulda, ist der Ansicht, dass eine Bürgerversicherung auf lange Sicht ohne Alternative sei, wobei ihr Kernelement die perspektivische Integration von GKV und PKV sei. Zudem sei eine Verbeitragung weiterer Einkommensarten dringend geboten. Für Mathias Kifmann, Universität Hamburg, führt die Koexistenz von gesetzlicher und privater Krankenversicherung nicht zu einem sinnvollen Systemwettbewerb, sondern läuft auf einen Selektionswettbewerb hinaus. Ein alternatives Konzept »Fairer Systemwettbewerb« sehe vor, dass sich jeder Bürger im Rahmen eines neu geordneten Systemwettbewerbs zwischen GKV und PKV entscheiden könne. Durch die Entscheidung für ein System ließe sich nicht mehr der Solidarbeitrag beeinflussen, den ein Bürger leiste bzw. erhalte, denn er leiste einen einkommensabhängigen Beitrag zum Gesundheitsfonds. Damit sichere das neue System nicht nur die Umverteilung zwischen hohen und niedrigen Einkommen, sondern erreiche auch eine Solidarität zwischen guten und schlechten Gesundheitsrisiken. FORSCHUNGSERGEBNISSE Wurzeln der Ungleichheit Ist Ungleichheit gleich ungerecht? 18 Paolo Brunori, Paul Hufe und Daniel Mahler Nicht erst seit der vergangenen Bundestagswahl gibt es in Deutschland eine öffentliche Diskussion, wie es hierzu- lande um die soziale Gerechtigkeit bestellt ist. In der Debatte wird hierbei oft auf die Entwicklung der Einkommens- ungleichheit rekurriert. Um die Gerechtigkeitsfrage sinnvoll zu beantworten, ist ein Vergleich mit historischen oder internationalen Referenzpunkten jedoch nur bedingt zielführend. Vielmehr gilt es zunächst zu klären, was unter Gerechtigkeit verstanden werden soll. Paolo Brunori, University of Florence, Paul Hufe, ifo Institut, und Daniel Mahler, University of Copenhagen, stellen ein neues Messkonzept für ein weit verbreitetes Gerechtigkeitsideal vor: die Idee der Chancengerechtigkeit. Danach beinhaltet Chancengerechtigkeit, dass die Möglichkeit zur Einkom- menserzielung nicht von Faktoren abhängt, die sich dem persönlichen Einfluss entziehen. Nach den Berechnun- gen der Autoren lassen sich etwa 25% der Einkommensungleichheiten auf die ungleiche Verteilung von Chancen zurückführen, wobei der Lebenserfolg vor allem von der Bildung und dem Beruf des Vaters beeinflusst wird.
Welche Folgen haben längere Öffnungszeiten von Wahllokalen? 23 Niklas Potrafke und Felix Rösel Eine neue Studie des ifo Instituts untersucht anhand einer Reform im österreichischen Burgenland die Folgen von verlängerten Öffnungszeiten von Wahllokalen auf die Wahlbeteiligung und Stimmenanteile von Parteien. Die Ergebnisse zeigen, dass sich durch eine Verlängerung der Öffnungszeiten die Wahlbeteiligung zumindest leicht erhöhen lässt. Von den längeren Öffnungszeiten profitieren jedoch nicht alle Parteien. Längere Wahllokalöff- nungszeiten mobilisieren sozialdemokratische, grüne und rechtspopulistische Wähler. Wähler konservativer Parteien empfinden ihr Wahlrecht als »Bürgerpflicht«, verlängerte Öffnungszeiten haben bei ihnen keine Effekte. Zur Berechnung eines nach Importanteilen korrigierten Wachstumsbeitrages der Verwendungskomponenten des deutschen Bruttoinlandsprodukts 27 Robert Lehmann und Timo Wollmershäuser Der Artikel schlägt eine alternative Methode zur Berechnung der verwendungsseitigen Wachstumsbeiträge vor, bei der die Einfuhr von Waren und Dienstleistungen auf die einzelnen Verwendungskomponenten gemäß ihrer Importanteile verteilt wird. Demnach spielen die deutschen Ausfuhren eine weit größere Rolle für die Erholungs- phase nach der Weltfinanz- und Eurokrise, als eine traditionelle Wachstumszerlegung vermuten lässt. Anstelle des rein rechnerischen Beitrags des Außenhandels von 0,2 Prozentpunkten zum Anstieg des realen Bruttoinlands produkts im vergangenen Jahr nach der traditionellen Zerlegung erhöht sich der nach Importanteilen korrigierte Wachstumsbeitrag der Exporte auf 0,9 Prozentpunkte. Damit erklärt die Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen über 40% des BIP-Zuwachses in Höhe von 2,2%. DATEN UND PROGNOSEN Auf der Suche nach einer Regierung – zu den Ergebnissen der Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU und SPD 30 Stefanie Gäbler, Björn Kauder, Manuela Krause, Luisa Lorenz und Niklas Potrafke In der Februar-Umfrage des Ökonomenpanels von ifo und FAZ wurden Professoren für Volkswirtschaftslehre an deutschen Universitäten zu den Ergebnissen der Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU und SPD befragt. Eine Mehrzahl der Teilnehmer zeigte sich weitgehend enttäuscht von diesen Ergebnissen. Insbesondere die geplanten Steuerentlastungen niedriger und mittlerer Einkommen durch einen Abbau des Solidaritätszuschlags erscheint als zu wenig ambitioniert. Anstelle einer Fortführung der großen Koalition hätte sich eine relative Mehrheit der befragten Ökonomen eine Minderheitsregierung unter Führung der Unionsparteien gewünscht. Deutsche Industrie: Deutliche Investitionserhöhung geplant 35 Annette Weichselberger Nach den aktuellen Ergebnissen der ifo Investitionsumfrage wollen die Unternehmen des deutschen Verarbeiten- den Gewerbes 2018 ihre Investitionen in neue Maschinen und Bauten um nominal rund 9% erhöhen. Für das Jahr 2017 ergaben die Meldungen der Befragungsteilnehmer einen Anstieg von knapp 4%. Damit blieb die Investitions- entwicklung im Verarbeitenden Gewerbe 2017 deutlich hinter der ursprünglichen Planung zurück. Erweiterungs- investitionen und Investitionen in Ersatzbeschaffungen dominieren in den beiden hier betrachteten Jahren, 2017 und 2018. Rationalisierungsmaßnahmen spielen mit einem Anteil von rund einem Neuntel im Vergleich zu den 1990er Jahren nur noch eine untergeordnete Rolle. IM BLICKPUNKT ifo Konjunkturumfragen im Februar 2018 auf einen Blick: Die deutsche Wirtschaft verliert an Euphorie 39 Klaus Wohlrabe Der ifo Geschäftsklimaindex für die Gewerbliche Wirtschaft Deutschlands ist im Februar gesunken. Die Unterneh- mer waren weniger zufrieden mit ihrer aktuellen Geschäftslage, dennoch war der Wert der zweithöchste seit 1991. Den optimistischen Ausblick auf die kommenden Monate nahmen sie aber merklich zurück.
ZUR DISKUSSION GESTELLT Diskussion um die Krankenversicherung: Wie könnte ein effizientes und solidarisches Gesundheitssystem funktionieren? Die Sondierungsgespräche zwischen der Union und der SPD haben die Diskussion über eine Reform der Krankenversicherung wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Eine »Bürgerversi- cherung«, mit der die Trennung von privaten und gesetzlichen Krankenkassen aufgehoben würde, wird es nicht geben. Aber eine Reform des Krankenversicherungssystems in Deutsch- land ist nötig, um eine effiziente und solidarische Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Welche Änderungen sind sinnvoll und finanzierbar? Thomas Drabinski* problemen des Gesundheitsfonds zurücklegen müssen oder weil sie sich nicht mehr so wie früher um langfris- Reformierte Dualität zur tige Ausgabenstrategien (z.B. Präventionsprogramme) Auflösung von Insuffizienzen kümmern können. Zudem führen die Krankenkassen und Kassenar- in GKV und PKV ten heftige Auseinandersetzungen um den niedrigsten Zusatzbeitrag und über die Deutungshoheit über das AUSGANGSLAGE Zuweisungssystem des Bundesversicherungsamtes (BVA) mit dem Allokationsmechanismus »Morbi-RSA«. Thomas Drabinski Im November 2019 wird die Berliner Mauer 30 Jahre Das BVA versucht dabei mit immer neuer Gutachten gefallen sein. Dies entspricht dem Zeitraum einer des hauseigenen Beirats die Auseinandersetzungen Generation. Im deutschen Gesundheitssystem sind in zu entschärfen. Aktuelles Beispiel hierfür ist das Gut- diesem Zeitraum hunderte Gesetze, Gesetzesände- achten des BVA-Beirats, das im Ergebnis – getreu dem rungen und Verordnungen verabschiedet worden. In Motto »Der Berg kreißte und gebar eine Maus« – einen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat sich weiteren Ausbau des fehlallokierenden BVA-Zuwei- dadurch mittlerweile ein Zustand eingestellt, bei dem sungssystems dem Bundesministerium für Gesundheit aktuelle Gesetzgebungen primär darauf ausgerichtet empfiehlt. sind, eine Schadensbegrenzung der Outcomes alter Die Entwicklungen auf der Finanzierungsseite der Gesundheitsgesetze zu betreiben. GKV werden deshalb immer häufiger als politischer Ein- Es waren vor allem das Gesundheits-Reformge- stieg in die »Einheitskasse« interpretiert. setz (1989) und das Gesundheitsstrukturgesetz (1993), Neben den Fehlentwicklungen auf der Finan- die die GKV in ihrer heutigen Struktur geprägt haben. zierungsseite werden zeitgleich auf der GKV-Versor- Zusätzlich ist das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gungsseite sehr große Anstrengungen darauf gelegt, zu nennen, das mit der Einführung von Gesundheits- eine politisch administrierte Staatsmedizin auf- und fonds und Morbi-RSA im Jahr 2009 als bisher gravie- auszubauen. Auffällig ist dabei eine Strategie, die sich rendste politische Fehlentscheidung im deutschen mit drei Punkten zusammenfassen lässt: Gesundheitssystem gilt. –– Erstens wird die Selbstverwaltung als grundle- EINHEITSKASSE UND STAATSMEDIZIN gendes Organisationsprinzip der GKV sukzessive geschwächt, um der direkten staatlichen Verwal- Seit Einführung des Gesundheitsfonds hat sich die Zahl tung (z.B. Bundesministerium für Gesundheit oder der gesetzlichen Krankenkassen halbiert. Zudem sind anderen Bundes- und Landesbehörden) mehr Kom- mittlerweile mindestens 50 Mrd. Euro im GKV-System petenzen beim Durchgriff auf die medizinischen wegen der Insuffizienzeffekte des Gesundheitsfonds Leistungserbringer (z.B. Arztpraxen, Kranken- untergegangen, z.B. weil die Krankenkassen zusätzli- häuser, Apotheken) zu ermöglichen. Beispielhaft che Reserven wegen zufällig auftretenden Allokations- sind hier z.B. die Terminservicestellen zu nennen, * Dr. Thomas Drabinski leitet das Institut für Mikrodaten-Analyse die bisher kaum ein sinnvolles Ergebnis gebracht (IfMDA), Kiel. ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018 3
ZUR DISKUSSION GESTELLT haben, aber trotzdem zukünftig weiter ausgebaut Rolle für Reformanstrengungen im deutschen sozialen werden sollen. Sicherungssystem. Während sich für die Rentenversi- –– Zweitens werden die ökonomischen und struktu- cherung bereits ein gewisses Verständnis darüber ent- rellen Rahmenbedingungen vor allem für ambu- wickelt hat, welche Konsequenzen es haben wird, wenn lante Leistungserbringer verschlechtert. Dies die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, so ist führt mittelfristig dazu, dass die kleineren ambu- ein Problembewusstsein für Generationengerechtig- lanten Versorgungseinheiten verdrängt und durch keit für das Gesundheitssystem bisher eher schwach industrielle oder stationäre Anbieter ersetzt wer- ausgeprägt. den – und/oder die Angebote ersatzlos in der Flä- Die geburtenstarken Jahrgänge sind datiert zwi- che verschwinden. schen den Geburtsjahren 1952 und 1972 und umfas- –– Drittens wird durch politische Mutlosigkeit auf sen 2018 mehr als 1 Mio. Personen je Geburtsjahr- der Landes- und Kommunalebene vor notwendi- gang.1 Der erste geburtenstarke Jahrgang ist im letz- gen Entscheidungen zurückgeschreckt (zum Bei- ten Jahr (2017) offiziell in Rente gegangen, das heißt, spiel bei der Krankenhaus-Bettenplanung) und aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden. Der Jahrgang stattdessen der zentrale Planer in Berlin angeru- 1952 bezieht fortan Rente. Für das Gesundheitssys- fen, diese Dinge dann bundesweit einheitlich zu tem bedeutet dies, dass die Einnahmen der GKV für regeln. Und dies, obwohl in den meisten Fällen ein diesen Jahrgang (1952) im laufenden Jahr sinken, da bundeslandbezogenes und auch dort zu lösendes sich die Beiträge über die Höhe der Rente errechnen Problem vorliegt (und in nicht seltenen Fällen dies und nicht mehr über das höhere Erwerbseinkommen. etwas mit Nordrhein-Westfalen zu tun hat). Der Für PKV-Personen im 1952er Jahrgang wird begon- zentrale Planer widerspricht dieser Kompetenz- nen, die zugehörigen PKV-Alterungsrückstellungen abgabe nicht. aufzulösen. Der demographische Veränderungsprozess hat Während sich die Gesundheitspolitik im Bereich der begonnen. Und in den nächsten zwei Jahrzehnten wer- GKV weit mehr als notwendig verausgabt, ist das den alle Personen aus den geburtenstarken Jahrgän- Gegenteil im Bereich der privaten Krankenversiche- gen in den Ruhestand gehen. Insgesamt leben 2018 rung (PKV) zu erkennen. Dort kann man mittlerweile 25,97 Mio. Personen in den geburtenstarken Jahr- von einer mutwilligen Untätigkeit bei der Reform der gängen, das sind 31,3% der gesamten Bevölkerung. PKV sprechen. Noch immer gibt es keine verbindlichen Es bedarf wenig Vorstellungskraft, dass dieses Bevöl- Mindestkriterien für den medizinischen Leistungskata- kerungsdrittel mit zunehmendem Alter auch mehr log. Noch immer gibt es – mit Ausnahme von Bagatell- Gesundheitsleistungen benötigt. Und zwar für die beträgen – keine Portabilität von Alterungsrückstellun- nächsten 30–50 Jahre. gen (das Ersparte darf nicht beim Versichererwechsel Ob die geburtenstarken Jahrgänge diese Gesund- mitgenommen werden). Und noch immer ist die soziale heitsleistungen in der Zukunft bereitgestellt bekom- Absicherung von Einkommensschwächeren im Geiste men, ist noch nicht geklärt. Denn das medizinische einer sozialen Marktwirtschaft in der PKV nur als Fei- Angebot müsste mindestens auf seinem heutigen genblatt ausgeprägt. Niveau in die Zukunft fortgeschrieben, eher aber Vielmehr sieht sich der Gesetzgeber mit dem ausgebaut werden. In der Realität ist das Gegen- PKV-System einem kapitalstrotzenden Ungetüm – mit teil zu beobachten. Krankenhausbetten werden ab- knapp 250 Mrd. Euro an wie und wo auch immer ange- gebaut und Arztpraxen finden – nicht nur demogra- legten Versichertengeldern – gegenüber, bei dem der phiebedingt – keinen Nachfolger. Kurzum: Mit aller- Gebrauch von Begriffen wie etwa »verfassungsrecht- größter Wahrscheinlichkeit gibt es zukünftig einen lich geschützt« ebenso viel Unlust zur Reform bewirkt Nachfrageüberschuss nach medizinischen Leis- wie all die Beamten und sonstigen Beihilfeempfänger, tungen, der weder von der Finanzierungsseite des die im Fall einer Reform der Beihilfe mit einer Kündi- Gesundheitssystems noch vom fehlenden Angebot gung ihrer Freundschaft drohen. an medizinischer Infrastruktur (ärztliches und nicht- Insgesamt ist die Ausgangslage für Reformen im ärztliches Gesundheitspersonal) bedient werden deutschen Gesundheitssystem als schwierig zu bewer- kann. Die ersten Mangelerscheinungen sind bereits ten. Denn im Bereich der GKV müsste sich der Gesetz- heute im Bereich der Kranken- und Altenpflege zu geber mit seiner Politik hin zu einer Einheitskasse und erkennen. hin zu einer Staatsmedizin deutlich zurücknehmen Nur eine qualifizierte Zuwanderung bis zum Jahr und im Bereich der PKV müsste er Reformen im Sinne 2060 auf dem Niveau der letzten 30 Jahre (die Nettozu- der sozialen Marktwirtschaft überhaupt erst einmal in wanderung liegt seit der Wiedervereinigung bei durch- Erwägung ziehen. schnittlich 296 000 Personen im Jahr) könnte in diesem Bereich die Personalsorgen lösen. DEMOGRAPHIE 1 Grundlage der folgenden Quantifizierungen ist ein eigenständiges Demographiemodell zu Geburten, Sterbefällen, Wanderungen sowie Die Demographie oder vielmehr der demographi- zur Vorausberechnung auf den primären Datenquellen Statistisches sche Veränderungsprozess spielt eine entscheidende Bundesamt (2016; 2017a; 2017b; 2017c; 2018a; 2018b). 4 ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT Aktualisierte amtliche Prognosen des Bundesmi- sein, um den Volatilitäts-Druck aus den PKV-Prämien nisteriums für Gesundheit zur zukünftigen Nachfrage herauszunehmen. und zum zukünftigen Angebot von medizinischen Leis- tungen stehen noch aus. Beitragsautonomie für Krankenkassen DAS KONZEPT DER REFORMIERTEN DUALITÄT Die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) finanzieren sich zukünftig paritätisch über Beiträge von der Gruppe A Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass (Arbeitgeber-Beiträge/»AG-Beiträge«) und über Bei- wegen des demographischen Veränderungsprozesses träge von Gruppe B (Arbeitnehmer-Beiträge: »AN-Bei- und wegen gesundheitspolitischer Gesetzgebungsfeh- träge«). Während die AG-Beiträge über einen bis zum ler eine Fortschreibung der Dualität von GKV und PKV Jahr 2060 dauerhaft fixierten Beitragssatz von 8,00% auf dem heutigen Finanzierungs- und Versorgungs- auf Lohn, Gehalt und Rente (Lohnsumme) definiert niveau bis zum Jahr 2060 nicht möglich ist. Wird eine werden und global dem Prinzip der Parität folgen, Änderung dieser Problemlage als zielführend und erhalten die Krankenkassen die Beitrags-Autonomie gesellschaftspolitisch wünschenswert angesehen, für die AN-Beiträge vollständig zurück. dann müssten ordnungspolitische Änderungen umge- Anstelle der GKV-Beitrags- und Zusatzbeitrags- setzt werden. sätze tritt die Gesundheitspauschale (Synonyme: pau- Bausteine für ordnungspolitische Änderungen schaler Beitrag, Kopfpauschale, Gesundheitsprämie), sind im Folgenden dargestellt. Die kurz umrissenen die von jedem erwachsenen Versicherten einer Kran- Inhalte einer reformierten Dualität sind eine Aktu kenkasse in gleicher Höhe von 150 Euro im Monat alisierung und Erweiterung der Konzepte, die erst (zuzüglich jährlichem Inflationsausgleich) zu zahlen malig in Drabinski (2013) diskutiert worden sind. ist. Einkommensschwache Erwachsene zahlen eine Umfassendere Ausführungen können aus Platz geringere Gesundheitspauschale, da die Krankenkas- gründen nicht erfolgen. Zu den Bausteinen zählen: sen über einen sozialen Ausgleich für diese Personen- gruppe Bundeszuschüsse erhalten. Der soziale Aus- Interessenquote gleich wird von der Krankenkasse gegenüber dem Bun- deshaushalt über eine Belastungsgrenze von 8,00% In der GKV wird eine Interessenquote zwischen Rent- berechnet. nern, Erwerbstätigen und Kindern eingeführt, um In der PKV wird ein vergleichbares System einge- eine dauerhaft nachhaltige und generationengerechte führt. Insbesondere geht die Pflicht der Zahlung von Finanzierung der Gesundheitsausgaben sicherzu- Kinderprämien auf den Bundeshaushalt über. Die Bei- stellen. Über die Interessenquote werden nachwach- hilfe wird als AG-Beiträge interpretiert. sende Generationen vor einer finanziellen Überlastung geschützt. Gesundheitsfonds Eine solche Quote ist für die PKV nicht zu defi nieren, da die in der PKV gebildeten Alterungsrück Der Gesundheitsfonds (GKV) sowie das damit verwo- stellungen die Funktion einer Interessenquote er- bene Versichertenklassifikationsmodell des BVA wer- füllen. den nicht mehr benötigt und können aus dem SGB V gestrichen werden. Versicherungsfremde Leistungen Generationen-RSA In der GKV werden versicherungsfremde Leistungen im Zusammenhang mit der Interessenquote erstma- In der GKV wird ein neuer Risikostrukturausgleich lig rechtsverbindlich definiert, quantifiziert und über (RSA) eingeführt. Hierzu wird der heutige Morbi-RSA regelgebundene Bundeszuschüsse finanziert. durch einen Generationen-RSA ersetzt. Der Genera- tionen-RSA kann – anstelle des BVA – auch durch eine Parität geeignete andere Institution, z.B. durch den GKV-Spit- zenverband, organisiert werden. Eine neue Form der Parität wird zwischen Arbeitge- Die Einführung eines Generationen-RSA ist in der bern, Rentenversicherungsträgern und sonstigen PKV nicht notwendig, da dort grundsätzlich die Al- gleichgestellten Beitragszahlern auf der einen Seite terungsrückstellungen die Funktion des Generationen- (»Gruppe A«) und zwischen Arbeitnehmern, Rentnern ausgleichs übernehmen können. und anderen gleichgestellten Beitragszahlern auf der anderen Seite (»Gruppe B«) eingeführt. Die Parität ist E-Health derart ausgestaltet, dass Gruppe A und Gruppe B den gleichen Anteil an den GKV-Gesundheitsausgaben zu Im Zuge einer neuen Gesundheitsdigitalisierungs-Stra- tragen haben. tegie in der GKV werden von den Krankenkassen für Eine derartig definierte Parität sollte im Sinne der jeden Versicherten ein Gesundheitskonto und eine sozialen Marktwirtschaft auch in der PKV vorgesehen elektronische Gesundheitsakte angelegt. Über die ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018 5
ZUR DISKUSSION GESTELLT elektronische Gesundheitsakte, deren medizinische wieder aufgewertet. Jegliche Honorarbudgets sowie Informationen vom Versicherten kontrolliert wer- Mengen- und Preisabstaffelungssysteme in der ambu- den, erhält der Versicherte einen Überblick über alle lanten und stationären Versorgung entfallen, da sie vor relevanten Positionen seiner medizinischen Versor- dem Hintergrund des demografischen Veränderungs- gung, einschließlich der angefallenen Kosten. Auf dem prozesses als nicht mehr verantwortbar anzusehen Gesundheitskonto werden zum Beginn eines Jahres sind. Denn Honorar-Budgets sowie Mengen- und Preis 10% seiner erwarteten individuellen Gesundheitsaus- abstaffelungssysteme führen zu Fehlanreizen bei den gaben durch die Krankenkasse gutgeschrieben. Arbeitgebern im Gesundheitssystem und erschweren Auch für die PKV sollte analog eine Gesundheits-Di- eine angemessene zukünftige Beschäftigung und Ent- gitalisierungs-Strategie (PKV-Gesundheitskonto und lohnung des ärztlichen und nicht-ärztlichen Personals. Gesundheitsakte) umgesetzt werden. Im Unterschied zur GKV sollte in der elektronischen Gesundheitsakte Weitere Maßnahmen für die PKV zusätzlich die Höhe der individuell gebildeten Alte- rungsrückstellungen verzeichnet sein. Die Alterungsrückstellungen werden vollständig por- tabel ausgestaltet, damit PKV-Versicherte ihr Spargut- Eigenbeteiligung haben beim Wechsel des PKV-Unternehmens mitneh- men können. Zusätzlich werden flächendeckende Min- Eine flächendeckende Eigenbeteiligung von 10% auf destkriterien für den Versicherungsschutz eingeführt, die Behandlungskosten (ambulant, stationär, Arznei- damit jeder Versicherte zu jedem Zeitpunkt in seinem und Hilfsmittel, Zahnmedizin) wird in der GKV imple- Lebenszyklus umfassend medizinisch versorgt werden mentiert. Die Eigenbeteiligung in Höhe von 10% der kann und nicht von den Kann-Leistungen, das heißt, Behandlungskosten wird zwischen Krankenkassen und vom Wohlwollen und von der Finanzsituation seines Leistungserbringern abgerechnet und vom individuel- Versicherers, abhängig ist. len Gesundheitskonto abgebucht. Jeder PKV-Versicherte erhält eine Wechselmög- Ist das jährliche Guthaben auf dem Gesundheits- lichkeit in die GKV. Gleichzeitig erhält jeder GKV-Versi- konto aufgebraucht, so hat der Versicherte die darü- cherte eine Wechselmöglichkeit in die PKV. ber hinausgehende Eigenbeteiligung von 10% selbst zu finanzieren. Die selbst finanzierten Eigenbeteiligungen LITERATUR werden durch die Krankenkasse vom Versicherten ein- Drabinski, Th. (2013), GKV/PKV-Reformagenda: Reformierte Dualität – Kon- gezogen. Für Kinder, chronisch Kranke, soziale Härte- zept einer Generationen-Gerechtigkeit, IfMDA Schriftenreihe Band 24, Insti- fälle, Not- und Unfälle und bei hohen Einmal-Behand- tut für Mikrodaten-Analyse, Kiel. lungskosten über bestimmten Schwellenwerten kann Statistisches Bundesamt (2016), »Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Zusammenfassende Übersichten. Eheschließungen, Geborene und diese Regelung auf Antrag ausgesetzt werden. Gestorbene. 1946–2015«, Wiesbaden. Auch für die PKV sollte diese Regelung zur Anwen- Statistisches Bundesamt (2017a), »Statistische Wochenberichte«, Stand: dung kommen. Die vielfältigen und für den PKV-Ver- 29. Dezember 2017, Wiesbaden. sicherten nicht mehr vergleichbaren Selbstbehalte Statistisches Bundesamt (2017b), »Statistik N 10 Eheschließungen, Gebo- könnten dann entfallen. rene und Gestorbene 2017 nach Ländern und Monaten«, Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2017c), »GENESIS-Datenbank, Statistiken zur Bevölkerung«, Wiesbaden. Wettbewerbsinstitut für Gesundheit Statistisches Bundesamt (2018a), »GENESIS-Datenbank, Vorausberech- neter Bevölkerungsstand: Deutschland, Stichtag, Varianten der Bevölke- Ein neues Wettbewerbsinstitut für Gesundheit wird rungsvorausberechnung, Geschlecht, Altersjahre«, Wiesbaden. geschaffen, das dem BMG zugeordnet sein könnte. Statistisches Bundesamt (2018b), »GENESIS-Datenbank, Wanderungssta- tistik«, Wiesbaden. Das neue Institut hätte die Aufgabe, Lösungen zu ent- wickeln, mit denen die Schnittstellen-Probleme zwi- schen ambulantem und stationärem Bereich gelöst werden. Ziel wäre es dann, die Interessenkonflikte zwi- schen ambulanter und stationärer Versorgung durch geeignete Maßnahmen abzubauen. Ebenso könnte das Wettbewerbsinstitut die Aufgabe haben, die Schnitt- stellen-Probleme zwischen GKV und PKV zu lösen. Der G-BA könnte Teil des neuen Wettbewerbsinstituts sein und könnte weiterhin für die Themen Leistungs- katalog, Qualität und Wirtschaftlichkeit Lösungen erarbeiten. Weitere Maßnahmen für die GKV Zur Sicherstellung der Qualität der Versorgung werden die Selbstverwaltungsorgane in ihrer Funktionalität 6 ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT Doris Pfeiffer* meisten Krankenkassen konnten ihre Zusatzbeitrags- GKV-Spitzenverband, ©Tom Maelsa sätze zum Jahreswechsel konstant halten. Bei nur acht Solidarische Finanzierung Beitragssatzanhebungen konnten 17 Krankenkassen stärken und bedarfsgerechte ihren Zusatzbeitragssatz zum 1. Januar 2018 senken. Seit dem Jahr 2012 wächst die GKV. Nach einem Angebotsstrukturen schaffen! Tiefstand im Jahr 2011 mit 69,6 Mio. Versicherten stieg die Zahl bis 2016 auf 71,4 Mio. Versicherte5; im Monat Dezember 2017 versicherte die GKV bereits 72,7 Mio. Doris Pfeiffer Rund 90% der bundesdeutschen Bevölkerung sind Menschen. Ein wesentlicher Grund liegt in der Zuwan- bei einer der 110 gesetzlichen Krankenkassen umfas- derung nach Deutschland, insbesondere in der EU-Ar- send gegen die wirtschaftlichen Folgen von Krankheit beitsmigration der vergangenen Jahre. Zugleich versichert. Nach dem Gesetz besteht die Aufgabe der gewinnt die GKV im Verhältnis zur privaten Kranken- gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) darin, als versicherung (PKV). Über Jahrzehnte überstiegen die Solidargemeinschaft die Gesundheit der Versicherten Abgänge freiwilliger Mitglieder in die PKV die Zugänge zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesund- aus der PKV in sechsstelliger Größenordnung.6 Seit heitszustand zu verbessern.1 Dabei haben sowohl die 2012 ist auch dieses »eherne« Gesetz gebrochen. Seit- Krankenkassen als auch die Leistungserbringer das her verliert die PKV mehr Versicherte an die gesetzli- Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten, wonach alle chen Krankenkassen als umgekehrt.7 Während die GKV Leistungen der Krankenversicherung ausreichend, wächst, schrumpft die PKV.8 zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben.2 Ange- Abgerundet wird das Bild, wenn man sich grund- sichts des gesetzlichen Anspruchs möchte ich diesem legende Zufriedenheits- und Zustimmungswerte Beitrag die These voranstellen, dass wir mit der GKV der Bevölkerung zum Krankenversicherungsschutz für 90% der Bevölkerung tatsächlich nicht nur ein sta- anschaut. Bei einer insgesamt hohen allgemeinen biles, funktionsfähiges und überaus akzeptiertes, son- Zufriedenheit mit der jeweils eigenen Krankenversiche- dern auch ein solidarisches Gesundheitssystem haben, rung9 fällt auf, dass das Solidarprinzip in der Bevölke- das dem Wirtschaftlichkeitsgebot im hohen Maße ver- rung besonders große Zustimmung erfährt – und dies pflichtet ist. Zugleich ist fraglos festzustellen, dass bei gesetzlich wie bei privat Versicherten. So stimm- nicht unerheblicher Reformbedarf besteht – im Hin- ten über 70% der vom WIdO repräsentativ Befrag- blick auf die solidarische Ausgestaltung und insbeson- ten der Aussage zu, dass »in einem Gesundheitssys- dere auf die Effizienz des Gesundheitssystems. tem Gesunde den gleichen Beitrag zahlen sollten wie Im abgelaufenen Jahr 2017 haben die Krankenkas- Kranke«. Über 80% hielten es für geboten, dass »in sen Versicherungsleistungen in Höhe von rd. 218 Mrd. einem Gesundheitssystem Kinder und Jugendliche Euro erbracht, im Durchschnitt etwa 3 000 Euro je Ver- kostenfrei mitversichert sein sollten.« (Zok 2012, S. 6) sicherten. Aufgrund der positiven Einnahmenentwick- Tatsächlich realisiert wird dieses solidarische Prinzip lung haben die Krankenkassen das Jahr 2017 mit einem allein in der GKV. Einnahmenüberschuss von rd. 3,2 Mrd. Euro abge- schlossen.3 Der Gesundheitsfonds realisierte ein Defizit REFORM DER SOLIDARISCHEN FINANZIERUNG in Höhe von rd. 500 Mio. Euro, dies aber allein deshalb, weil auch im vergangenen Jahr bewusst wesentliche Gegenwärtig befindet sich die GKV in einer erfreulich Teile der Liquiditätsreserve zur Finanzierung gesund- guten Verfassung. Doch wie steht es nun um ihre soli- heitsrelevanter Sonderaufgaben abgebaut wurden.4 darische Ausgestaltung? Unter solidarischer Finanzie- Insgesamt schloss damit die GKV das Jahr 2017 mit rung versteht der Gesetzgeber, dass erstens die Mitglie- einem deutlichen Einnahmenüberschuss ab. der und die Arbeitgeber Beiträge entrichten, die sich in Der Einnahmenüberschuss der Krankenkassen der Regel an den beitragspflichtigen Einnahmen aus- wirkt positiv auf ihre Vermögenslage, so dass sich diese richten, und zweitens, dass für versicherte Familienan- zum Jahresschluss 2017 – aggregiert über alle Kran- kenkassen – erneut verbessert. Die Betriebsmittel und 5 Jahresdurchschnittswerte nach der amtlichen Statistik KM 1/13 des BMG. Rücklagen, also die wesentlichen liquiden Finanzmittel 6 Siehe Verband der privaten Krankenversicherung e.V., Zahlenbe- der Krankenkassen, betragen rd. 19 Mrd. Euro und lie- richte, diverse Jahre. 7 Grundsätzlich können privat Versicherte nicht aus freier Ent- gen damit in etwa in der Größenordnung einer GKV-Mo- scheidung in die GKV zurückkehren; sie können dies nur dann, wenn natsausgabe. Die Beitragszahlerinnen und Beitrags- sie – z. B. durch Aufnahme einer entsprechenden Beschäftigung oder infolge der jährlichen Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze zahler profitieren von dieser Entwicklung, denn die – wieder versicherungspflichtig werden und von z.T. bestehenden Befreiungsrechten keinen Gebrauch machen. * 8 Dr. Doris Pfeiffer ist Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverban- Auch der Nettoneuzugang der PKV ist seit 2012 negativ, da auch des, Berlin. der Saldo aus Neugeborenen/Todesfällen sowie aus Zu-/Auswande- 1 Vgl. § 1 Satz 1 SGB V. rung negativ ist. 2 9 Vgl. § 12 Abs. 1 SGB V. Mehr als zwei Drittel der in einer im Jahr 2012 durchgeführten re- 3 Vorläufige Rechnungsergebnisse der amtlichen Statistik KV45 des präsentativen Erhebung Befragten waren mit ihrer Krankenversiche- BMG. rung (privat wie gesetzlich) insgesamt »sehr zufrieden« oder »zufrie- 4 Neben den Finanzierungsverpflichtungen für den Innovations- den«; 84% der gesetzlich Versicherten würden sich »bestimmt oder fonds und den Krankenhausstrukturfonds wurden 2017 zusätzlich wahrscheinlich« wieder für ihre bisherige Krankenkasse entscheiden; 1,5 Mrd. Euro für die Anhebung des Zuweisungsvolumens verwendet. bei den privat Versicherten waren dies 75% (vgl. Zok 2012, S. 1). ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018 7
ZUR DISKUSSION GESTELLT gehörige keine Beiträge erhoben werden.10 Damit geht die gesetzlichen Vorgaben daher so zu ausgestalten, die solidarische Ausgestaltung deutlich über den rein dass eine finanzielle Überforderung – möglichst mani- versicherungsmäßigen Schadensausgleich zwischen pulationssicher – ausgeschlossen wird. In ihrem Koali- Gesunden und Kranken einer privaten Versicherung tionsvertrag haben sich Union und SPD hierzu bereits hinaus. Mit Blick auf die große Bedeutung der gesund- auf eine Neuregelung verständigt, die künftig »kleine heitlichen Versorgung für die Menschen wird das Prin- Selbständige« entlasten soll, indem für diese die Min- zip der Äquivalenz von Eigenbeitrag und Gegenleistung destbemessungsgrundlage in etwa halbiert wird (vgl. überwunden. Als normative Basis gilt, dass sich die CDU 2018, S. 103). Wie nun konkret der Gesetzge- Leistungen im Krankheitsfall für alle Versicherten allein ber diese Vereinbarung der Koalition umsetzen wird, nach ihrem medizinischen Bedarf richten. Der Beitrag bleibt abzuwarten. Festgehalten werden kann jeden- hingegen orientiert sich am Prinzip der Leistungsfähig- falls, dass hier eine bestehende Unwucht in der solida- keit; es werden einkommensabhängige Beiträge erho- rischen Ausgestaltung der GKV behoben werden soll. ben. Der Gesundheitszustand bei Versicherungsbe- Beitragsgerechtigkeit ist auch mit Blick auf die ginn, Alter und Geschlecht sind für die Beitragsbemes- gesetzlich versicherten Bezieherinnen und Bezie- sung bedeutungslos. her von Arbeitslosengeld II zu fordern. Im geglieder- Die solidarische Ausgestaltung findet ihre Gren- ten System der sozialen Sicherung obliegt den staat- zen in der Ausgestaltung derjenigen Leistungen, die lichen Fürsorgeträgern die Aufgabe der Sicherung des vom Gesetzgeber der Eigenverantwortung der Versi- Lebensunterhalts Bedürftiger. Zur Sicherung des Exis- cherten zugerechnet werden11, etwa durch die Bestim- tenzminimums gehört auch die notwendige Sicherstel- mung der als zumutbar definierten Zuzahlungen. Auf lung der gesundheitlichen Versorgung. Dass diese den der Beitragsseite liegen die Grenzen in der Existenz der gesetzlichen Krankenkassen durch die Schaffung einer Beitragsbemessungsgrenze sowie in den jeweils für gesetzlichen Versicherungspflicht übertragen wurde, die verschiedenen Mitgliedergruppen unterschiedlich ist durchaus sachgerecht, solange nicht zugleich die definierten beitragspflichtigen Einnahmen. An dieser Finanzverantwortung vom Steuerzahler auf die Sozi- Stelle sehe ich mit Blick auf bestimmte Mitgliedergrup- alversicherten abgewälzt wird. Genau dies ist aber der pen Reformbedarf. Fall. Die gegenwärtig vom Bund gezahlte Monatspau- Zur solidarischen Beitragsfinanzierung gehört, schale von rund 98 Euro ist für die GKV auch nicht annä- dass einzelne Mitgliedergruppen finanziell nicht über- hernd ausgabendeckend.15 Solange aber der Gesetzge- fordert werden. Dies sollte auch für die zunehmende ber den Krankenversicherungsschutz der Bevölkerung Gruppe der selbständig Erwerbstätigen gelten, die über ein duales System sicherstellt und damit einen zumeist selbst keine Arbeitnehmer beschäftigen Teil der – zudem besonders leistungsfähigen – Steu- (»Solo-Selbständige«) und vielfach Arbeitseinkommen erzahlerinnen und Steuerzahler nicht zugleich in den deutlich unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze solidarischen Ausgleich der GKV einbezieht, wider- erzielen. Das Gesetz bestimmt für die gesamte Gruppe spricht diese Lastverschiebung dem fairen Ausgleich der hauptberuflich Selbständigen eine Mindestbe- zwischen Steuer- und Beitragszahler. Die Zahlung messungsgrundlage, weil der Einkommensbegriff der angemessener Beiträge für die gesetzlich versicherten Selbständigen im Gegensatz zum Arbeitsentgelt der ALG-II-Beziehenden durch den Bund ist also ein weite- Beschäftigten infolge des Nettoprinzips der Gewinner- rer Baustein, die Finanzierung insgesamt solidarischer mittlung12 als »vorteilhafter« betrachtet wird.13 Diese auszugestalten. Mindestbemessungsgrundlage beträgt ¾ der monat- Als dritte Gruppe möchte ich die gesetzlich versi- lichen Bezugsgröße und damit im Jahr 2018 immer- cherten Beamtinnen und Beamten nennen. Auch hier hin 2 283,75 Euro. Dieses gesetzlich unterstellte Min- bestehen erhebliche Mängel in der solidarischen Aus- desteinkommen führt zu monatlichen Kranken- und gestaltung des Versicherungsschutzes. Dieser Mangel Pflegeversicherungsbeiträgen in der Größenordnung erwächst aber nicht aus den krankenversicherungs- von rd. 400 Euro14 – eine Beitragshöhe, die große rechtlichen Regelungen, sondern entsteht durch das Teile dieser Mitgliedergruppe nach den Erfahrungen starre Beihilferecht des Bundes und der Länder. Denn der Krankenkassen überfordert. Aus Sicht der GKV sind Beamtinnen und Beamte erhalten, da sie als GKV-Ver- sicherte primär Sachleistungen in Anspruch nehmen, 10 Vgl. § 3 SGB V. nahezu keine Beihilfezahlungen ihres Dienstherrn. 11 Vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V. 12 Das Arbeitseinkommen im Sinne des Sozialversicherungsrechts Zugleich erhalten sie im Gegensatz zu den nicht beam- ist der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des teten Bediensteten keinen Beitragszuschuss zum Einkommenssteuerrechts ermittelte Gewinn aus selbstständiger Tä- tigkeit (vgl. § 15 SGB IV). Krankenversicherungsbeitrag. Entsprechend müssen 13 Hinzu kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- sie diesen vollständig selbst tragen. Es wäre ein wei- gerichts, dass es legitim sei, das »Unternehmerrisiko« des hauptbe- ruflich Selbständigen nicht über die Beitragsbemessung partiell auf terer Schritt zu mehr Beitragsgerechtigkeit, würde die Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten abzu- der Gesetzgeber das Beihilferecht so anpassen, dass wälzen (siehe Beschluss des BVerfG vom 22.05.2001, Az. 1 BvL 4/96). 14 15 Je nach Zusatzbeitragssatz, Absicherung des Einkommensausfalls Laut Forschungsgutachten des IGES Instituts im Auftrag des BMG und Zahlung/Nichtzahlung des Beitragszuschlags für Kinderlose in zur Berechnung kostendeckender Beiträge für gesetzlich versicherte der Pflegeversicherung liegen die monatlichen Beiträge bei Zugrun- ALG II-Beziehende realisierte die GKV im Jahr 2016 aufgrund nicht delegung der Mindestbemessungsgrundlage zwischen 380 Euro und auskömmlicher Zahlungen des Bundes eine Unterfinanzierung von 440 Euro. bis zu 9,6 Mrd. Euro (vgl. IGES Institut 2017). 8 ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT die gesetzlich versicherten Beamtinnen und Beam- Doch zuerst möchte ich den Blick auf das klassi- ten anstelle der einzelfallbezogenen Beihilfen einen sche »Versicherungsgeschäft« der Krankenkassen rich- monatlichen Beitragszuschuss zum gesetzlichen Kran- ten. Mit Einführung des allgemeinen Krankenkassen- kenversicherungsbeitrag wählen könnten. Hamburg wahlrechts im Jahr 1996 wurden bereits vor 20 Jahren beabsichtigt, genau diesen Schritt zu gehen und ein entscheidende wettbewerbliche Anreize für eine stär- solches Wahlrecht für gesetzlich versicherte Beamtin- kere Kundenorientierung, für schlankere Verwaltungs- nen und Beamte der Hansestadt zu schaffen.16 verfahren und ein konsequentes Leistungsmanage- Damit wären drei Reformansätze benannt, mit ment gesetzt. Dabei hat sich der eingeführte Mitglie- denen die solidarische Ausgestaltung der GKV ver- derwettbewerb als erfolgreiches Instrument erwiesen. bessert werden kann. Hinsichtlich der Selbständigen Seit Mitte der 1990er Jahre konkurrieren die Kranken- sowie der ALG-II-Beziehenden stehen zudem die Chan- kassen mit erheblichem Engagement um ihre Mitglie- cen gut, dass der Bundesgesetzgeber diese Reformen der – mit vielfältigen Service- und Beratungsleistun- angeht. gen, Telefon-Hotlines und Online-Geschäftsstellen, Natürlich werden hinsichtlich der solidarischen mit Angeboten zur Primärprävention und betrieblichen Ausgestaltung mit den unterschiedlichen Bürgerver- Gesundheitsförderung, mit Hausarzt- und Rabattver- sicherungsmodellen von Parteien und Gewerkschaf- trägen, mit Gesundheitsprogrammen, Wahltarifen, ten auch wesentlich tiefgreifendere Reformen debat- Zusatzversicherungen und natürlich mit ihren unter- tiert, die grundsätzlichere Fragen nach den »richtigen« schiedlichen Beitragssätzen. Der Gestaltungsspiel- Bemessungsgrundlagen der Beitragsfinanzierung und raum wurde für die Krankenkassen auf dieser Wettbe- dem »richtigen« Zuschnitt der einbezogenen Personen- werbsebene nach und nach erweitert und wird spürbar kreise stellen. Diese normativen Fragestellungen gehö- zum Nutzen der Versicherten genutzt. Wer als Versi- ren in die gesellschaftspolitische Debatte und damit ins cherter das Gefühl hat, schlecht betreut zu werden, Parlament und können letztlich nur von diesem beant- stimmt mit den Füßen ab und geht zur Konkurrenz. wortet werden. Bis dato gibt es hierzu keinen gesell- Dank des versichertenfreundlichen Kündigungsrechts schaftlichen, zumindest keinen parlamentarischen ist ein Kassenwechsel einfach und kann im Gegensatz Konsens, sodass auch der vorliegende Koalitionsver- zu einem Wechsel innerhalb der PKV ohne finanzielle trag von Union und SPD diese Fragen nicht aufgreift. Nachteile in jedem Lebensalter vollzogen werden. Dass Bei isolierter Fokussierung auf die GKV kann man aber der Wettbewerbsdruck hoch ist, zeigt allein schon der zweifelsohne von einem funktionsfähigen solidari- Blick auf die Entwicklung der Anbieterzahl. Von 2000 bis schen Gesundheitssystem sprechen, erst Recht, wenn 2018 hat sich die Zahl der Krankenkassen – im Wesent- noch bestehende Defizite behoben werden. lichen durch Fusionen – von 420 auf 110 reduziert. Zugleich gelingt es durch den Risikostrukturausgleich, ERHÖHUNG DER EFFIZIENZ IM Risikoselektion zu Lasten einkommensschwacher oder GESUNDHEITSWESEN kranker Mitglieder zu verhindern. Der Mitgliederwett- bewerb funktioniert und sorgt für weitgehend effizi- Wie ist es nun mit der Effizienz im Gesundheitssystem ente Verwaltungsleistungen der Krankenkassen. bestellt? Mit dem eingangs bereits genannten Wirt- Schaut man sich das Verhältnis von Verwaltungs- schaftlichkeitsgebot sind Effektivität und Effizienz als zu Leistungsausgaben der GKV an, es liegt bei etwa gesetzlicher Anspruch der GKV formuliert. Effektivi- 1:20, so wird deutlich, dass der Schlüssel für ein ins- tät ist gefordert, weil notwendig und zugleich wirt- gesamt effizientes Gesundheitswesen auf Ebene der schaftlich können allein solche Leistungen sein, die Leistungserbringung liegt. Das Vertrauen der Politik tatsächlich auch wirksam sind. Zudem ist Effizienz in das Steuerungsinstrument Wettbewerb ist auf die- gefordert, d.h., die gewährten Leistungen sollten zu ser Ebene allerdings weit weniger ausgeprägt. Es fehlt möglichst niedrigen Kosten erbracht werden. Effekti- zumeist an Mut, Steuerungsinstrumente zu implemen- vität geht dabei vor Effizienz, denn was hilft es, wenn tieren, die das Leistungsangebot konsequent an Qua- wir eine gegebene Leistung zwar effizient zu minima- litätskriterien und tatsächlichen Versorgungsbedarfen len Kosten erstellen, diese aber gar keinen patien- ausrichten, wenn damit bestehende Angebotsstruk- tenrelevanten Nutzen hat? Um also auf ein effizientes turen gefährdet werden, seien sie qualitativ noch so Gesundheitssystem hinzuwirken, sind erstens unwirk- fragwürdig oder über Bedarf vorhanden. Dies gilt glei- same Leistungen möglichst von der Versorgung aus- chermaßen für sinnvolle planerische Maßnahmen, die zuschließen, zweitens für alle wirksamen Leistungen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz bedarfsgerechte Verfahren zu etablieren, die möglichst durchgängig Kapazitäten und eine effizientere Versorgung sicher- bedarfsgerechte Versorgungsstrukturen schaffen und stellen sollen. eine an Qualität und Nutzen orientierte Preisfindung In der stationären Versorgung scheitert eine effizi- ermöglichen. ente Versorgung bereits an der unzureichenden Inves- titionsfinanzierung der Krankenhäuser durch die Län- 16 Siehe Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Entwurf der. Bei einem jährlichen Investitionsbedarf von rd. eines Gesetzes über die Einführung einer pauschalen Beihilfe zur Flexibilisierung der Krankheitsvorsorge, Drucksache 21/11426 vom 6 Mrd. Euro liegt die Förderung der Länder unter 3 Mrd. 19. Dezember 2017. Euro. Dies führt dazu, dass die für die Behandlungs- ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018 9
ZUR DISKUSSION GESTELLT fälle von den Krankenkassen gezahlten Fallpauscha- tizierten systematischen Nutzenbewertung von len zweckentfremdet zur Investitionsfinanzierung ein- neu zugelassenen patentgeschützten Arzneimitteln gesetzt werden und den Krankenhäusern somit für die durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) Finanzierung ihrer Betriebskosten fehlen. Mit der Über- und den hierauf aufsetzenden Erstattungsbetrags- nahme einer zunehmenden Finanzierungslast seitens verhandlungen zwischen pharmazeutischem Unter- der Krankenkassen geht allerdings kein Zuwachs an nehmer und GKV-Spitzenverband wurde ein funk- Mitsprache- oder Planungsrechten einher. Die Kapazi- tionsfähiges Instrument zur effizienten Arzneimit- tätsplanung verbleibt trotz unzureichender Erfüllung telversorgung geschaffen. Der für Deutschland der Finanzverantwortung unverändert bei den Län- wegweisend neue Ansatz liegt darin, dass für ein Arz- dern. Und hier geschieht zu wenig. Solange wir auf der neimittel, für das durch die behördliche Zulassung einen Seite mit zusätzlichen Mitteln wie den Sicher- ein Wirksamkeitsbeleg vorliegt, ein angemessener stellungszuschlägen die stationäre Versorgung in dünn Erstattungsbetrag in Abhängigkeit vom patientenre- besiedelten Regionen aufrechterhalten, auf der ande- levanten Zusatznutzen verhandelt wird. Es entspricht ren Seite aber der notwendige Abbau von bestehen- dabei der Forderung nach einer effizienten Leistungs- den Überkapazitäten in Ballungsgebieten ausbleibt, erbringung, dass der Preis eines Arzneimittels ohne sind wir von einer effizienten Krankenhausversorgung festgestellten Zusatznutzen nicht höher sein darf als meilenweit entfernt. der für ein bereits im Markt befindliches Mittel, das Weitet man den Blick und schaut auf die gesamte nach wissenschaftlicher Expertise als zweckmäßige gesundheitliche Infrastruktur, so werden die Defizite in Vergleichstherapie gelten kann. Das gegenwärtige der Kapazitätsplanung noch deutlicher. Ineffizienzen Verfahren hat zu einer deutlichen Effizienzsteigerung erwachsen – ambulant wie stationär – aus der räum- in der Arzneimittelversorgung geführt. So konnten lichen Ungleichverteilung der Versorgungskapazitäten mit diesem Instrument im Jahr 2016 Effizienzreser- und der doppelten Angebotsstruktur im fachärztlichen ven von rd. 1,35 Mrd. Euro gehoben werden, rd. 21% Bereich. Dringend notwendig ist daher eine konse- der GKV-Ausgaben in diesem Marktsegment (vgl. Sta- quente sektorenübergreifende Bedarfsplanung. Dabei ckelberg et al. 2017). müssen Organisation und Verteilung der Behandlungs- Aber auch in diesem Bereich sind Verbesserun- kapazitäten strikt am jeweiligen regionalen Versor- gen möglich. So liegt ein Problem darin, dass der gungsbedarf ausgerichtet werden. Grundlage sollte G-BA vielfach eine nach Patientengruppen differen- aus GKV-Sicht ein sektorenübergreifendes Leistungs- zierte Nutzenbewertung abgibt, dass also für einige erbringerverzeichnis sein, das als wesentliches Aus- Teilindikationen ein Zusatznutzen festgestellt wird, wahlkriterium die messbare Qualität der Leistungen für andere hingegen nicht. Gleichwohl ist für das Arz- vorsieht. neimittel ein einheitlicher Erstattungsbetrag zu ver- Auch die Notfallversorgung ist unter Effizienzge- handeln. Die folglich praktizierte Mischpreisbildung sichtspunkten dringend reformbedürftig. Auch sie ist könnte aber nur dann wirklich wirtschaftlich sein, geprägt durch parallele Strukturen in der vertrags- wenn bei Vertragsschluss die nachfolgenden Ver- ärztlichen und in der stationären Versorgung. Für die ordnungsmengen in den jeweiligen Teilindikationen Patienten sind die Zuständigkeiten vielfach unklar. Die bekannt wären. Dass dies nicht der Fall ist, liegt auf vertragsärztliche Notfallversorgung ist lückenhaft, der Hand, so dass viel für die Verhandlung indikations- die bestehenden Angebote sind in der Bevölkerung spezifischer Preise bei Vorliegen eines differenzierten häufig unbekannt. Die Rettungsstellen der Kranken- Zusatznutzens spricht. häuser schließen vielfach die Lücken, so dass Patien- Bei generischen Arzneimitteln ermöglicht das ten häufig teure stationäre Leistungen gewährt wer- Festbetragssystem der GKV ein wirtschaftliches Preis- den, wo ambulante Leistungen ausreichend wären. An niveau. Zusätzliche Effizienzgewinne erschließen die Wochenenden und des Nachts sind Krankenhausam- Krankenkassen erfolgreich durch ihre Rabattverträge bulanzen vielfach überlastet, während vertragsärzt- mit pharmazeutischen Herstellern. Nach jüngsten Ein- liche Angebote ungenutzt bleiben. Eine verbesserte schnitten durch den Gesetzgeber sollte dieses wett- Koordination allein reicht hier nicht aus, um Defizite bewerbliche Instrument tunlichst wieder gestärkt zu beseitigen. Ambulante und stationäre Notfallver- werden. sorgung sollten daher künftig in einem integrierten Mehr Wettbewerb kann auch dem Apotheken- Konzept – unter Einbeziehung der Rettungsleitstellen markt zugemutet werden. Dies gilt sowohl mit Blick und Leitstellen des KV-Notdienstes – möglichst zentral auf das bestehende Fremd- und Mehrbesitzverbot »unter einem Dach« organisiert werden.17 Eine Reform als auch auf das von der kommenden Regierungsko- der Notfallversorgung birgt erhebliches Potenzial zur alition angestrebte Versandhandelsverbot für ver- Verbesserung der Qualität der Versorgung und ihrer schreibungspflichtige Arzneimittel. Im Sinne einer am Effizienz. Patientenwohl orientierten Versorgung sollten aber Einen guten Weg beschreitet die GKV im Bereich wettbewerbsbeschränkende Schutzzäune abgebaut der Arzneimittelversorgung. Mit der seit 2012 prak- und nicht verstärkt werden. Dass auch in der Apo- 17 Zu den Vorschlägen des GKV-Spitzenverbandes zur Reform der thekenvergütung noch erhebliche Effizienzreserven Notfallversorgung vgl. GKV-Spitzenverband (2017). schlummern, hat nicht zuletzt das kürzlich veröffent- 10 ifo Schnelldienst 5 / 2018 71. Jahrgang 8. März 2018
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