DGAPbericht Ungarn in den Medien 2010-2014 Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung
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DGAPbericht Nr. 29 / Mai 2015 Ungarn in den Medien 2010-2014 Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Ungarn (Klaus von Dohnanyi (Vorsitz), Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs, Gereon Schuch)
DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
Inhalt Ungarn in den Medien 2010-2014 Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Ungarn (Klaus von Dohnanyi (Vorsitz), Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs, Gereon Schuch) 3 Einführung 4 Die historische Situation Ungarns 5 Einzelne Bereiche der internationalen Kritik 5 Rechtsstaatlichkeit Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion Kompetenzbeschränkung des Verfassungsgerichts Präambel der Verfassung Kardinalgesetze Mangelnde Legitimität, einseitige Umgestaltung des Landes? 8 Gewaltenteilung Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion 9 Unabhängigkeit der Justiz Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion 11 Wahlrecht Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion Die neue Wahlkarte – Gerrymandering Wahlwerbung – in Fernsehen und auf Plakatflächen Gewinnerkompensation DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
13 Medien Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion Pressefreiheit und Pressevielfalt Kurzüberblick der Medienlandschaft Mediengesetz und Medienrat Zentralisierung der Nachrichten durch MTI Ausbau eines konservativen Medienreichs 15 Soziale Gerechtigkeit und Korruption Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion 17 Antisemitismus Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion 19 Obdachlose Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion 20 Lage der Roma-Minderheit Beispiel aus der Presseberichterstattung Kritische Reflexion 21 Schlussfolgerungen 22 Empfehlungen 23 Anmerkungen DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
3 Ungarn in den Medien 2010-2014 Kritische Reflexionen über die Pressebericherstattung Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Ungarn (Klaus von Dohnanyi (Vorsitz), Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs, Gereon Schuch) Einführung Antwort gibt, die man nicht erwartet hatte und dann [das Interview] nicht veröffentlicht wird.“2 Verfolgt man in der deutschsprachigen, und teils auch Die von Imre Kertész beklagte „Zensur“ durch eine der internationalen Presse, die Berichterstattung über bedeutende US-amerikanische Zeitung scheint in einem die politische Entwicklung in Ungarn, so ergibt sich ein größeren Kontext zu stehen. So schreibt der Economist: widerspruchsvolles Bild: Einerseits – und durchaus über- „Die Europäische Union hat sich als nicht bereit oder nicht wiegend – scheint sich das Land unter der Regierung des in der Lage erwiesen, in Ungarn einzugreifen und so rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán kommt der Druck hauptsächlich aus den USA. Präsident zunehmend von den demokratischen Grundsätzen des Obama hatte kürzlich Ungarn in eine Reihe mit Ägypten Westens zu entfernen, andererseits fällt zugleich auf, dass und Aserbaidschan gestellt, wo sich die Zivilgesellschaft diese Berichterstattung auch Widersprüche aufweist. bedroht fühlt.“3 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung So besteht der ständige Vorwurf, die Regierung Orbán berichtet, US-Senator John McCain habe, offenbar aus begünstige ein antisemitisches Klima in Ungarn; sodann geopolitischen Gründen und im Zusammenhang mit berichtet aber der britische Economist, dass „Israelis mit der Ernennung einer neuen Botschafterin, Ungarn als aschkenasischer oder osteuropäischer Herkunft Schlan- ein Land bezeichnet, das an der Schwelle stehe, „seine gen vor deutschen, ungarischen und polnischen Konsula- Souveränität an einen neofaschistischen Diktator ab- ten bilden, um – was einst als eine Schande galt – einen zutreten“.4 Kann es da verwundern, wenn Viktor Orbán europäischen Pass zu bekommen.“1 vermutet, die USA versuchten in Ungarn einen Regime- Auch der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre wechsel zu organisieren? Kertész beklagte sich, dass ein Journalist der New York Oder: Ministerpräsident Orbán hält im Sommer 2014 Times mit einem Interview im Jahr 2013 ein vorgefertigtes im rumänischen Băile Tuşnad eine Rede, in der er den negatives Ungarnbild untermauern wollte. Kertész erfüllte wirtschaftsliberalen Staat aus sozialen Gründen kritisiert. anscheinend nicht die Erwartungen des Journalisten, Er verweist in diesem Zusammenhang auf die größere und als das Interview nicht veröffentlicht wurde, kom- staatliche Wirtschaftsverantwortung unter anderem in mentierte Kertész dies: „Er dachte, ich würde mich gegen Singapur, China und Russland – die deutsche und die Ungarn aussprechen, oder Ungarn heute oder so. Und ich internationale Presse aber zitieren „illiberale Demokratie“ tat das nicht. Er war mit der Absicht gekommen, dass ich anstelle der von Orbán gewählten Formulierung „illibera- sagen würde, Ungarn sei heute eine Diktatur, was es nicht ler Staat“ und stellen so einen von Orbán nicht formulier- ist ... Wenn man schreiben kann, offen sprechen, offen ten Bezug zur politischen Praxis dieser Länder her; seine abweichender Meinung sein, sogar das Land verlassen Kritik am „liberalen Staat“ bezog Orbán offensichtlich auf kann, dann ist es absurd von einer Diktatur zu sprechen. den Wirtschaftsliberalismus. Das habe ich gesagt. Ich bin nicht glücklich mit allem, was Solche Beispiele unterstreichen die Notwendigkeit, heute in Ungarn geschieht, ich glaube aber nicht, dass Lage und Entwicklung in Ungarn genau zu überprü- es jemals eine Zeit gab, in der ich mit allem, was hier fen. Angesichts der aktuellen Krise um die Ukraine geschieht, glücklich war ... Und dieses Interview wurde und des angespannten Verhältnisses zu Russland zeigt nie veröffentlicht. Was ein Freund von mir sehr präzise als sich erneut, wie wichtig für die Handlungsfähigkeit der eine Art Zensur bezeichnete, wenn nämlich jemand eine Europäischen Union der europäische Konsens ist. In diesem Kontext erscheinen die gestörten Beziehungen DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
4 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung der EU-Kommission und einiger EU-Mitgliedstaaten zu Wichtig war es der Arbeitsgruppe, die jeweiligen Ent- Ungarn auffällig: Kein Mitgliedstaat der EU hat in den wicklungen auch im Rahmen nationaler kultureller Tra- letzten Jahren so viel Kritik für seine Innen- und Außen- ditionen zu betrachten: Inwieweit handelt es sich bei den politik erfahren wie Ungarn. kritisierten Entwicklungen um kulturhistorisch erklärba- Deutschland und Ungarn haben traditionell gute re, besondere nationale Ausprägungen demokratischer Beziehungen; Ungarn war auch ein mutiger Schrittma- Praxis, die vor dem Hintergrund nationaler Souveränität cher auf dem Weg zum Fall der Mauer. Wie passt dies und des Subsidiaritätsprinzips der EU zu akzeptieren zu dem Bild, das heute von der Regierung unter Viktor wären? Die vielfache Kritik an der ungarischen Regierung Orbán gezeichnet wird? Seit ihrem Wahlsieg im Früh- wurde deswegen auch in einem internationalen Kontext jahr 2010 steht sie international in der Kritik, weil sie betrachtet und mit der Praxis anderer demokratischer seitdem mit parlamentarischer Zweidrittelmehrheit Staaten verglichen. Es sollte deutlich unterschieden wer- weitreichende verfassungsrechtliche und gesetzgeberi- den zwischen politischen Entscheidungen in Ungarn, die sche Veränderungen herbeigeführt hat. Insbesondere im man in Deutschland eventuell anders treffen würde, und deutschsprachigen Raum spitzte sich die Kritik an dieser solchen, die man aus grundsätzlichen demokratischen politischen Entwicklung Ungarns zu. Doch sollten die Erwägungen kritisieren müsste. EU-Kommission, der Europäische Rat, das Europäische Parlament und die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Kritik an einem Mitgliedsland zuvor den Tatsachen Die historische Situation Ungarns entsprechend sorgfältig überprüfen. Dies sollte auch Viktor Orbán hatte schon vor den Wahlen 2010 angekün- gegenüber Ungarn gelten, dessen Regierung bei den EU- digt – nach seinem in der ersten Regierung (1998-2002) Parlamentswahlen 2014 mit 51 Prozent der Stimmen den gescheiterten Versuch umfassenderer Reformen – einen deutlichsten Wahlsieg in der Europäischen Union für den weitreichenderen Reformdurchbruch unternehmen zu konservativ-bürgerlichen Wahlblock der Europäischen wollen. Strukturell war seit 1989 vieles in postkommu Volksparteien (EVP) erringen konnte, ohne – wider der nistischen Bahnen geblieben, wenn auch unter demo Entwicklung beispielsweise in Großbritannien und ande- kratischen Bedingungen. Zahlreiche Positionen in ren europäischen Ländern – Stimmen an euroskeptische Wirtschaft, Gesellschaft und Politik waren aus der Sicht Parteien abtreten zu müssen. von Orbáns Partei Fidesz,6 die in einer Listenverbindung Was sind die wesentlichen Kritikpunkte, die gegenüber mit KDNP7 antrat, auch nach der Wende noch mit kom- Ungarn seitens der Europäischen Union und in der inter- munistischen Parteigängern oder Personen besetzt, die nationalen Presse formuliert werden? Stimmen Fakten sich mit dem Staatssozialismus arrangiert hatten. Trotz und Kritik überein? Wo gibt es zwischen Ungarn und an- dieses antikommunistischen Ansatzes von Fidesz sollte deren EU-Staaten tatsächlich unterschiedliche Ansichten allerdings nicht vergessen werden, dass zahlreiche und Standpunkte? Wo gibt es Missverständnisse, und wie Vertreter der Eliten von vor 1989 auch in dieser Partei könnten diese geklärt werden, um eine bessere Verstän- ein neues politisches Zuhause gefunden hatten. Um die digung zwischen Ungarn und der EU zu ermöglichen? unausweichlichen Reformen zu ermöglichen, fehlte es Welche Rolle könnte dabei Deutschland spielen? in Ungarn jedoch – nach überwiegender Meinung der Um zu diesen Fragen verlässlichere Antworten zu befragten Experten – in den Jahren vor 2010 an partei- finden, rief die DGAP eine Arbeitsgruppe deutscher und übergreifenden Konsensmöglichkeiten, wie sie Deutsch- ungarischer Experten ins Leben.5 Diese bestand aus Klaus land kennt. Mit den Wahlen im Jahr 2010 erlangte Orbán von Dohnanyi, Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs und Ge- nicht nur eine stabile Regierungsmehrheit, sondern sogar reon Schuch. Zunächst sammelte die Arbeitsgruppe über eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit, die ihm einen längeren Zeitraum aus vorwiegend deutschspra- weitreichende Handlungsspielräume eröffnete. chigen Medien die wesentlichen Schwerpunkte der Kritik Um Orbáns zweiten Wahlsieg und seine mit einer ver- und gliederte sie thematisch. Sodann wurden im Rahmen fassungsgebenden Zweidrittelmehrheit umgesetzte Po- mehrerer Sitzungen die politischen Forschungsinstitute litik beurteilen zu können, muss man also bedenken: Es Political Capital und Nézőpont aus Ungarn, 15 Rechts- und gab 2010 einen erheblichen Reformstau, den die vorange- Politikwissenschaftler, Medienexperten sowie Experten gangenen sozialistisch-liberalen Regierungen (2002‑2010) für Minderheitenfragen aus Deutschland und Ungarn nicht aufgelöst hatten. Diese Tatsache machte die Bewäl- angehört. Ferner wurde eine Vielzahl von Studien und tigung der Wirtschaftskrise nach 2008 besonders schwie- Berichten zur politischen Lage in Ungarn herangezogen. rig. Hinzu kamen für die nun regierende Fidesz‑Partei die DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung 5 Erfahrungen der ersten Orbán-Regierung von 1998 bis Heute, in einer Zeit, in der kulturhistorisch abgeleitete 2002: Damals erlebte diese medial einen starken linken Identitäten offenbar wieder an Gewicht gewinnen Gegenwind, gelegentlich aus ihrer Sicht auch eine gewis- (erinnert sei hier nur an Nordirland, Schottland, Katalo- se politische „Gegenarbeit“ alter Kader. nien, Norditalien, Korsika und andere), ist zu beachten, Um ihre Reformpolitik und die dafür erforderlichen dass auch die nationale Erinnerung in Ungarn wieder Mehrheiten längerfristig zu sichern, bemühte sich die zunimmt – doch oft fühlt sich das Land in seiner natio- Regierung Orbán um einen breiten Konsens in der Bevöl- nalen Rückbesinnung unverstanden. Manche Handlun- kerung, indem sie auf eine Erneuerung der über Jahrhun- gen und Äußerungen der Regierung Orbán werden vor derte gewachsenen Besonderheiten national-ungarischer diesem Hintergrund verständlicher. Identität Bezug nahm. Ungarns singuläre sprachliche und kulturelle Ausformung, die weder slawischen noch roma- nischen oder germanischen Ursprungs ist (Ungarisch ist Einzelne Bereiche der keine indogermanische Sprache), sowie die Jahrhunderte internationalen Kritik der Fremdherrschaft hatten historisch zur Betonung einer Im Folgenden werden zu jedem Bereich Zitate herangezo- besonderen ungarischen Identität geführt; die Regierung gen, an welchen beispielhaft die in den Medien erhobene sah hier vermutlich eine Möglichkeit, das politisch tief Kritik untersucht wird. Aus praktischen Gründen wurden gespaltene Land jenseits der Parteien wieder zu einen. vorrangig deutsche Zeitungen gewählt, obwohl sich Bei- So fällt die ungarische Regierung deswegen auch spiele auch in der internationalen Presse finden lassen. heute in Europa durch eine außerordentlich historisch orientierte Selbstdarstellung auf. Die ungarische Kultur geschichte kann in diesem Zusammenhang auch als Rechtsstaatlichkeit Hintergrund der oft überdeutlichen Abgrenzung gegen- über politischen Ansprüchen (und politischer Kritik) Beispiel aus der Presseberichterstattung aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland „Die neue ungarische Verfassung unterminiert das Rechts- gesehen werden. Ministerpräsident Orbán „wehrt“ sich staatsprinzip. Sie nimmt dem Verfassungsgericht dauer- zur „Verteidigung“ seiner Nation gegen das „Hereinreden“ haft das Recht, Steuer- und Haushaltsgesetze zu überprü- vonseiten der Europäischen Kommission und anderer fen. Damit schafft sie Spielräume, verfassungswidriges Nationen in, wie er meint, „ungarische Angelegenheiten“ . Recht in Kraft zu setzen, ohne dass irgendjemand etwas Er fühlt sich missverstanden und sieht bei den Kritikern dagegen unternehmen könnte, und rüttelt damit an der oft einen verantwortungslosen Mangel an Kenntnissen Autorität des Gerichts. der Besonderheiten seines Landes. Das Rechtsstaatsprinzip wird zusätzlich ausgehöhlt, Um diese oft überzogen wirkende Reaktion besser ver- weil der neuen Verfassung eine überlange, inkonsis- stehen zu können, sollte man versuchen, den historisch- tente und ideologisch einseitige Präambel vorsteht, die politischen Hintergrund einer verbreiteten ungarischen sich ‚Nationales Glaubensbekenntnis‘ nennt. Dieses Darstellung etwas schärfer ins Auge zu fassen: Ungarn Nationale Glaubensbekenntnis ist keine bedeutungslose ist ein Land, das seine Freiheit immer wieder gegenüber Verfassungslyrik, sondern wird explizit zum verbindli- ausländischen Mächten erstreiten musste. Die lange tür- chen Interpretationsmaßstab der Verfassung erklärt ... kische Besatzung, die spätere österreichische Herrschaft Aber auch das Demokratieprinzip droht substan- und die deutsche und lange sowjetische Besatzung sind ziell Schaden zu nehmen. Die Verfassung schränkt den nicht vergessen. Ungarns Geschichte war zwangsläufig Handlungsspielraum jeder künftigen Regierung ein. Viele immer eine Geschichte der Selbstbehauptung. Vielleicht Gesetze, etwa grundlegende Steuer- und Rentenreformen, auch deswegen waren es die Ungarn, die – nach dem Auf- können künftig nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit stand der Deutschen in der DDR 1953 – im Jahre 1956 den geändert werden. Dass Regierungen Zweidrittelmehrhei- einzigen militärisch ausgetragenen Befreiungsaufstand ten im Parlament haben wie derzeit Premier Orbáns Par- gegen die sowjetische Herrschaft führten. Keiner der tei Fidesz, ist aber nicht die Regel, sondern die Ausnahme. späteren Aufstände in Mitteleuropa gegen das Sowjet Der Verfassungsgebungsprozess hat die Legitimität regime wurde mit derartiger Konsequenz geführt. In dieser Verfassung stark beschädigt: Die Opposition diesem damaligen Selbstverständnis stehend forderte der verweigerte die Zusammenarbeit, es gab keine Studentenführer Orbán schon im Sommer 1989 öffentlich Nationalversammlung, die über den Entwurf beraten hat, mutig den Abzug aller sowjetischen Truppen aus Ungarn. auch auf ein Referendum wurde verzichtet. Das macht DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
6 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung sich auch im Inhalt der Verfassung bemerkbar: Dieses Staatsverschuldung aber wieder auf 82 Prozent (im Jahr Dokument will nicht unterschiedlichen politischen Inter- 2008, also noch vor der Krise) steigen ließ. Nur Notkre- essen und Präferenzen die Koexistenz ermöglichen. Es ist dite des Internationalen Währungsfonds und der EU in vielmehr der Versuch, Ungarn einseitig nach den Interes- Höhe von rund 12,5 Milliarden Euro konnten Ungarn sen und Präferenzen des Premiers Viktor Orbán und der damals vor der Zahlungsunfähigkeit bewahren. politischen Kräfte, die ihn unterstützen, umzugestalten. Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass Artikel 37, Dieser Umgestaltung hat außer Orbán und seinen Leuten Absatz 4 der Verfassung ein teilweises Verbot der niemand zugestimmt. Obwohl eine neue Verfassung in Normenkontrolle bei Steuer- und Finanzgesetzen Orbáns Wahlkampf keine Rolle spielte, vollendet er so bedeutet; dies wird von einer Mehrheit der ungarischen seine ‚Revolution an den Wahlurnen‘, die er nach seinem Rechtswissenschaft als „rechtsstaatswidrig“ angegriffen. Wahlsieg im vergangenen Jahr ausrief.“8 Zu dieser Beurteilung trug allerdings auch der besondere Hintergrund dieser Regelung bei: Das Verfassungsgericht Kritische Reflexion hatte noch unter den Regeln der alten Verfassung eine von der Regierung Orbán rückwirkend eingeführte Son- Kompetenzbeschränkung des dersteuer in Höhe von 98 Prozent auf Abfindungen von Verfassungsgerichts Staatsangestellten für verfassungswidrig erklärt. Auch Diese Kritik erhebt den Vorwurf, die neue ungarische aus diesem Grund entzog die Regierungsmehrheit mit der Verfassung unterminiere das Rechtsstaatsprinzip, da das Neuregelung von Artikel 37, Absatz 4 dem Verfassungsge- Verfassungsgericht Steuer- und Haushaltsgesetze nicht richt die Kontrollkompetenz in oben genanntem Umfang. mehr überprüfen könne. Tatsächlich enthält die Verfas- Einige Experten wiesen darauf hin, dass die Regierung sung aber folgende Regelung (Artikel 37, Absatz 4): bei der versuchten Einführung der Sondersteuer von 98 „Solange die Staatsverschuldung die Hälfte des gesam- Prozent ein politisches Problem zwar richtig erkannt, die- ten Bruttoinlandsprodukts übersteigt, darf das Verfas- ses aber undifferenziert und daher in vielen Fällen auch sungsgericht in seinem Kompetenzbereich gemäß Artikel ungerecht gelöst habe. 24 Absatz 2 Buchstaben b)-e) die Konformität der Gesetze Das ungarische Verfassungsgericht kann auch heute in über den zentralen Staatshaushalt, über dessen Durch- Haushalts- und Finanzfragen seine Kontrollkompetenzen führung, über die zentralen Steuerarten, über Gebühren mit Hinweis auf Verletzung der in Artikel 37, Absatz 4 und Beiträge, über Zölle sowie über die zentralen Bedin- aufgeführten bürgerlichen Grundrechte ausüben. Es gibt gungen für örtliche Steuern mit dem Grundgesetz aus- auch bereits Beispiele für solche Fälle. Die Aussage, die schließlich hinsichtlich der Rechte auf das Leben und die neue Verfassung unterminiere hier das Rechtsstaatsprin- Menschenwürde, auf den Schutz der personenbezogenen zip grundsätzlich, erscheint deshalb unzutreffend. Daten, auf die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfrei- heit oder der Rechte, die mit der ungarischen Staatsange- Präambel der Verfassung hörigkeit einhergehen, überprüfen und wegen Verstoßes Einen weiteren Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip gegen diese kassieren.“9 sehen die Kritiker in der ideologischen Einseitigkeit der Diese Regelung öffnet tatsächlich „Spielräume für Präambel, die zum Interpretationsmaßstab der Verfas- verfassungswidriges Recht… und rüttelt damit an der sung erklärt werde. Diese Präambel ist ein Wertebekennt- Autorität des [Verfassungs]Gerichts“, wie der zitierte nis, das bestimmte, für die verfassungsgebende Mehrheit Zeitungsbericht feststellt. Auf der anderen Seite kann im Parlament besonders wichtige Werte hervorhebt, diese Regelung aber auch zur Stärkung des Primats des zugleich werden dort aber auch alle anderen „Minder- Parlaments in Sachen der Haushaltspolitik beitragen, was heitenwerte- und Rechte“ ausdrücklich anerkannt.10 Hier nach allgemeiner demokratischer Auffassung auch ein bleibt die Meinung der Experten gespalten; nach Meinung fundamentales Recht des Parlaments darstellt. einiger Verfassungsexperten ist am Inhalt der Präambel Die Verankerung einer Schuldenbremse in der rechtsstaatlich nichts auszusetzen. neuen Verfassung wird grundsätzlich auch von den Vielleicht wäre es politisch klüger gewesen, über eine so angehörten Experten begrüßt und damit begründet, weitreichende Präambel einen breiteren Konsens her- dass die erste Orbán-Regierung zwar zwischen 1998 zustellen, weil eine Betonung einiger bestimmter Werte und 2002 die Verschuldung von 60,4 auf 52 Prozent des eine pluralistische Gesellschaft möglicherweise nicht Bruttoinlandsprodukts zurückgeführt hatte, die nach- ausreichend widerspiegelt und so unnötigen Anlass zur folgende sozialistisch-liberale Regierung (2002-2010) die weiteren Spaltung der ungarischen Gesellschaft bietet. 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Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung 7 Für eine fundamentale rechtsstaatliche Kritik, wie sie oft Regierung ein – auch einer Fidesz-Regierung, die gegen- geäußert wird, scheint es keine zutreffenden Argumente wärtig nur noch über eine einfache Mehrheit verfügt. zu geben. Mangelnde Legitimität, Kardinalgesetze einseitige Umgestaltung des Landes? Der zitierte Presseartikel sieht auch in den sogenannten Schließlich kritisiert der zitierte Artikel die mangelnde Kardinalgesetzen eine Bedrohung der Demokratie. Diese Legitimität der neuen Verfassung wegen unzureichender Kardinalgesetze (Gesetze, die nur mit einer Zweidrittel- Einbeziehung der Opposition. Man wirft der Regierung mehrheit der im Parlament anwesenden Abgeordneten Orbán eine einseitige Umgestaltung Ungarns nach den geändert werden können, ohne jedoch Verfassungsrang zu Interessen und Präferenzen des Premiers vor, weil dieser haben) hat allerdings nicht die Orbán-Regierung einge- Verfassung „außer Orbán und seinen Leuten niemand führt, etwa um den Handlungsspielraum künftiger Regie- zugestimmt“ habe. rungen einzuschränken: Vielmehr existieren sie seit dem Wenn man die Legitimität der Verfassungsgebung demokratischen Umbruch 1989. Kardinalgesetze waren von einer vorangehenden Volksabstimmung ableiten die Folge des Misstrauens zwischen der damaligen demo- will, könnte man vielleicht folgern, ihre Legitimität sei kratischen Opposition und der Staatspartei; sie sollten ein beschädigt: Die Sozialisten boykottierten im Parlament Wiedererstarken der kommunistischen Macht verhindern die Verfassungsdebatte auch mit der Begründung, dass und für die Stabilität der Demokratisierungsprozesse dafür nur eine – in der Tat – sehr kurze Zeit (ein Monat) sorgen. Damals dienten sie also gerade zur Stärkung des zur Verfügung stünde. Außerdem wollte die Oppositi- Demokratieprinzips. Seitdem wurde zwar immer wieder on wohl eine Pseudopartizipation vermeiden und ließ beklagt, dass sie heute auch die ungarische Politik blo- immer wieder erkennen, dass sie auch deswegen keinen ckieren können, aber bislang hat sich keine Mehrheit für Konsens wünsche. Fidesz wiederum warf den Sozialisten ihre Abschaffung gefunden, was nach einigen Experten vor, die Debatte nicht wegen der Inhalte, sondern aus meinungen wünschenswert wäre und weitere Schritte in tagesaktuellen, politischen Gründen verweigert zu haben. Richtung zu mehr Demokratie eröffnen könnte. Es stellt Die Jobbik-Partei12 votierte ohnehin gegen den Entwurf. sich die Frage, ob eine Praxis, die auch Bereiche wie das Somit wären eigentlich alle politischen Kräfte für diese Steuerrecht in die Kardinalgesetze einbezieht, zukünftige angeblich mangelnde Legitimität verantwortlich, nicht Regierungen unangemessen beeinträchtigt. nur „Orbán und seine Leute“. Änderungsvorschläge zum Andere Experten argumentieren wiederum mit der Verfassungsentwurf kamen lediglich von der unabhängi- stabilitätssichernden Rolle der Kardinalgesetze und gen Abgeordneten Katalin Szili (früher MSZP13), und es sehen sie gerade in der Wirtschaftskrise und Umbruch- gab zwei Alternativentwürfe von Verfassungsrechtlern, phase, in der sich auch Ungarn befindet, als weiterhin deren Vorschläge in einigen – ihrer Meinung nach aber notwendig an. Nach dieser Ansicht sollten Angelegen- eher unwichtigen – Punkten auch beachtet wurden. heiten „von andauerndem öffentlichen Belang“, die von Die Debattenversäumnisse lagen auch bei der einem einheitlichen konstitutionellen Rahmen abhängig Opposition. Auf ein Referendum wurde verzichtet (wie sind, in Kardinalgesetzen geregelt werden, um einen übrigens auch in Deutschland, sowohl 1949 als auch 1990), Wechsel der Regierungen von Wahlperiode zu Wahlpe- stattdessen fand auf Veranlassung der Regierung eine riode stabiler zu überdauern. Zu den Kardinalgesetzen „Nationale Konsultation“ in Form einer Umfrage statt, die gehören beispielsweise die Gesetze über die Parteienfi- von der Opposition insofern zu Recht kritisiert wurde, nanzierung; über den Schutz der nationalen Minderhei- als die Fragestellung die A ntworten beeinflusst hätte. ten; die Schaffung von Kontrollbehörden; die Regelung Von den verschickten 8 Millionen Fragebögen wurden der Gerichtsbarkeit; die Aufteilung der Zuständigkeiten ohnehin nur 917 000 ausgefüllt zurückgesandt. zwischen Zentralregier ung und Kommunalverwaltung; Die Legitimität der Verfassungsgebung ließe sich und über den steuerrechtlichen Status der Kirchen.11 allerdings auch mit der Zweidrittelmehrheit der Orbán- Es ist demnach eine Frage der Perspektive, ob die Regierung, also der verfassungsgebenden Mehrheit im Kardinalgesetze dem Demokratieprinzip schaden, oder Parlament, begründen. In diesem Fall würden allerdings ob sie nicht eher der Stärkung der demokratischen die Wähler selbst zu „Orbán und seine[n] Leuten“. Der Stabilität des Landes dienen. Schließlich schränken Vorwurf der Opposition, dass „eine neue Verfassung die K ardinalgesetze den Handlungsspielraum jeder in Orbáns Wahlkampf 2010 keine Rolle spielte“, wurde von der Regierung mehrmals zurückgewiesen.14 Die DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
8 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung bisherige Verfassung war schon in ihrem Text als provi- Das Urteil, die Orbán-Regierung unterminiere das Rechts- sorisch deklariert worden und trug formal sogar noch staatsprinzip und schade der Demokratie, sollte kritischer die Bezeichnung „Gesetz XX. 1949“ aus den Jahren des hinterfragt und von der Tatsache der Zweidrittelmehrheit Staatssozialismus. Insofern stand seit der demokratischen der Regierung im Parlament unterschieden werden. Auch Überarbeitung 1990 bei jedem Regierungswechsel die wenn bestimmte Gesetzesänderungen heute eventuell Notwendigkeit einer neuen Verfassung auf der Tages- Lücken für mögliche verfassungswidrige Gesetzgebungen ordnung. Jede Regierung hatte auch einen Beauftragten offenlassen – etwa weil das Verfassungsgericht gegenwär- für die Ausarbeitung eines neuen Verfassungsentwurfs, tig Haushaltsgesetze nur unter den in Artikel 37, Absatz 4 jedoch fehlte entweder die notwendige Zweidrittel- der Verfassung genannten Gesichtspunkten überprüfen mehrheit, oder die Regierung konnte – wie während der kann, oder auch weil das System der Kardinalgesetze blo- sozialistisch-liberalen Regierungszeit 1994-1998 – trotz ckierend wirken könnte – bedeutet das als solches keine ihrer Zweidrittelmehrheit keinen Konsens für eine neue Untergrabung der Demokratie und keine Umgestaltung Verfassung in der eigenen Koalition finden. des Landes nach Gutdünken des Premiers. Wenn man Eine große Mehrheit der angehörten Verfassungs dennoch bei der Ansicht einer „einseitigen Umgestaltung“ experten war sich im Übrigen einig, dass die 1990 überar- des Staates bleiben möchte, müsste man hinzufügen, dass beitete alte Verfassung ihre Rolle zwar erfüllt habe, aber dies mit der Ermächtigung einer legitimen Parlaments- ein Flickenteppich von Änderungen gewesen sei, und mehrheit erfolgt, die 2014 ein zweites Mal bestätigt und in dass die neue Verfassung in ihrer Form von 2011 struktu der Europawahl, stärker als in irgendeinem anderen Land rell kohärenter sei. Schließlich ist es unstrittig, dass auch in der EU, bekräftigt wurde. Allerdings kommt es auch im Sinne eines symbolischen Schlussstriches nur mit bei Verfassungsänderungen immer auf die demokratische einer neuen Verfassung formal mit der kommunistischen Qualität der Folgen an. Vergangenheit gebrochen werden konnte. Deshalb wäre es ratsam, dass Fidesz seine starke Mehr- Der Vorwurf einer „einseitigen Umgestaltung“ des Lan- heit so nutzt, dass auch die parlamentarische Minderheit des stimmt insofern, als der neuen Verfassung parteipoli- in wichtige Entscheidungsprozesse einbezogen werden tisch tatsächlich lediglich eine politische Seite zustimmte, kann. Das allerdings setzt tolerante Bereitschaft hierzu diese aber auch über die legitimierende Zweidrittelmehr- auf beiden Seiten voraus. heit im Parlament verfügte. Durch die Formulierung, die neue Verfassung sei ein Versuch, „Ungarn einseitig nach den Interessen und Prä- Gewaltenteilung ferenzen des Premiers Viktor Orbán und der politischen Kräfte, die ihn unterstützen, umzugestalten“ reflektiert Beispiel aus der Presseberichterstattung der zitierte Artikel die in der deutschsprachigen Pres- „Orban hingegen nutzt heute die Zweidrittelmehrheit, wie se häufige Kritik, in Ungarn herrsche eine „gelenkte das wohl auch andere Politiker in den ehemaligen kom- Demok ratie“. Diese Kritik wiesen jedoch, trotz mancher munistischen Staaten Osteuropas in seiner Lage tun wür- Vorbehalte, alle angehörten Experten zurück. Im un- den, gnadenlos dazu aus, die Macht seiner eigenen Partei garischen politischen System – der deutschen Kanzler zu zementieren. Nun ging Orban aber noch einen Schritt demokratie ähnlich – sind die Exekutive und vor allem weiter. Mit der am Montag verabschiedeten vierten der Regierungschef stark. Diese Entwicklung der Macht- Änderung des Grundgesetzes reagierte der Fidesz auch verteilung hatte bereits Mitte der 1990er Jahre begonnen auf frühere Urteile des Verfassungsgerichts. Dieses hatte, und ist seitdem weiter fortgeschritten. Der institutionelle sehr zum Missfallen Orbans, eine Reihe von Regelungen Aufbau der Verfassung von 2011 stärkt zwar erneut die in den Übergangsbestimmungen für ungültig erklärt. Regierung und vor allem den Regierungschef; nach den Nun wurden einige von ihnen, zwar mit Modifikationen, Expertenmeinungen aller Seiten bleiben aber die Rege- aber doch unter Umgehung des Urteils des obersten lungen durchaus in einem rechtsstaatlichen Rahmen. Gerichts, in den Hauptteil der Verfassung eingeschleust. Regierungschef Orbán ist sicherlich stärker, als es der Eine derartige Aushebelung des Verfassungsgerichts ist Verfassungstext beschreibt: Er hat weder in den eigenen ein Verstoss gegen rechtsstaatliche Prinzipien und auch Reihen Konkurrenten, noch in der Opposition einen aus- ein Schlag gegen die Gewaltenteilung. Das Verfassungs- sichtsreichen Herausforderer. Zudem ist er eine äußerst gericht hatte schon früher Gesetzesprojekte beanstan- selbstbewusste und machtorientierte Persönlichkeit, die det. Es scheint, dass Orban politische Niederlagen nicht das politische Geschehen in Ungarn klar dominiert. ertragen kann. Nur so ist die neuerliche Einschränkung DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung 9 der Kompetenzen des Verfassungsgerichts zu erklären, auch von der Venedig-Kommission16 begrüßte Änderung. die Vertreter der Regierung allerdings als Erweiterung Nach der früheren Rechtslage durfte jeder Bürger im von dessen Spielraum bezeichnen. Die obersten Richter Wege der Popularklage Gesetze vor dem Verfassungsge- dürfen künftig Verfassungsbestimmungen in der Regel richt auf Verfassungskonformität überprüfen lassen und nur noch auf ihr formal gültiges Zustandekommen über- zu Fall bringen. Ein Mittel, das in der Wendezeit geeignet prüfen. Der Inhalt wird damit ihrer Kontrolle entzogen.“15 war, den Ballast verfassungswidriger Gesetze möglichst schnell außer Kraft zu setzen. In jüngerer Zeit jedoch hat Kritische Reflexion die Popularklage zu einer enormen Belastung des Verfas- Dass eine Partei ihre Zweidrittelmehrheit zur Stärkung sungsgerichts geführt. Juristen befürworten aus diesem ihrer Positionen nutzt, ist demokratisch nicht ungewöhn- Grund den Wegfall der Popularklage und betonen, es sei lich. Die Frage ist allerdings, wie weit dies geht: Wo sieht ausreichend, wenn ein konkret Betroffener gegen einen die Fidesz-Mehrheit ihre Grenzen? Wäre die verfassungs- Akt der öffentlichen Gewalt vorgehen könne. mäßige Ordnung heute noch imstande, der Orbán-Regie- Wie seit der Verabschiedung der neuen Verfassung die rung die notwendigen Grenzen zu setzen? Kontrolle durch das Parlament funktioniert, konnte man Der zentrale Vorwurf zielt auf die Anwendung so- angesichts der erneut erworbenen Zweidrittelmehrheit genannter Verfassungstricks: Die Parlamentsmehrheit von Fidesz schwer überprüfen: Es gibt keine ausreichend nehme vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig starke Opposition, um eine Kontrolle parlamentarisch befundene Regelungen durch eine Verfassungsänderung wirkungsvoll auszuüben. in den Text der Verfassung auf und entziehe sie so einer Dass es aber eine richterliche Kontrolle auch heute gibt, verfassungsrechtlichen Kontrolle. ist unbestritten. Allerdings könnte das Prinzip der Ge- Dass die parlamentarische Mehrheit die Kontroll- waltenteilung insofern beeinträchtigt sein, als die Fidesz- funktion eines Verfassungsgerichts einschränken kann, Zweidrittelmehrheit bei der Besetzung des Verfassungs- ist international übliche Praxis. So hat zum Beispiel gerichts zwar vorrangig fachkundige, aber doch regie- Deutschland eine Schuldenbremse in das Grundgesetz rungsnahe Verfassungsrichter berief. Auch die Leitung der eingefügt, die auch das Bundesverfassungsgericht bindet, Justizbehörde durch eine regierungsnahe Juristin könnte allerdings ohne die Einschränkungen, die im ungarischen möglicherweise keine ausreichende Unabhängigkeit ge- Grundgesetz heute in Artikel 37 Absatz 4 gelten. Dass das währleisten. Die Ausübung der Gewaltenteilung wäre dann Verfassungsgericht nicht über inhaltliche, sondern ledig- durch die Personalpolitik der Regierung beeinträchtigt. lich über formale Kontrollfunktionen von Verfassungs- Hier erscheint in der Tat eine Korrektur im Regierungshan- vorschriften und -änderungen verfügt, war in Ungarn deln geboten: Die Besetzung derartiger zentraler Funktio- auch früher so und wurde in der neuen Verfassung erneut nen im Rechtsstaat sollte unter allen Umständen transpa- kodifiziert. Die Presse, etwa der zitierte Artikel, bewertet rent und auch für die jeweilige Opposition zugänglich sein. dies jedoch unrichtig als einen neuen Kompetenz-Entzug. Im Übrigen diskutieren heute in Deutschland der Bundes- minister des Inneren, Verfassungsexperten und Parteien Unabhängigkeit der Justiz offenbar auch, ob man nicht die Fünfprozentklausel des deutschen Wahlrechts in die Verfassung aufnehmen Beispiel aus der Presseberichterstattung sollte, nachdem das Bundesverfassungsgericht für die „Aus Sorge um die Demokratie in Ungarn leitet die EU drei Europawahl jede Prozentschwelle verboten hatte und Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung von man ein solches richterliches Verbot für die Wahlen zum Viktor Orbán ein. Deutschen Bundestag ausschließen möchte. …Das erste Verfahren richtet sich gegen ein Gesetz, das Das Verfassungsgericht in Ungarn wurde im Übrigen das Rentenalter von Richtern von 70 auf 62 Jahre herun- nicht „entmachtet“, gewisse Kompetenzen wurden aller- tersetzt. Formal wird Budapest vorgeworfen, damit gegen dings umgestaltet: In bestimmten Fällen bekam es weni- das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters zu ger Macht, in anderen Fällen wurde es mit mehr Macht verstoßen. Das normale Rentenalter liegt auch in Ungarn ausgestattet. So erfolgte beispielsweise die Abschaffung höher. Tatsächlich aber unterstellt man in der Kommis- der allgemeinen Popularklage (actio popularis) und die sion, dass Orbán sich mit diesem Gesetz unliebsamer Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Gerichts- Richter entledigen und deren Stellen mit Gefolgsleuten entscheidungen nach deutschem Muster – eine von der besetzen will. Noch in diesem Jahr wären 274 Richter von Rechtswissenschaft schon seit 20 Jahren geforderte und der erzwungenen Frühpensionierung betroffen. DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
10 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung …Zusätzlich zur Eröffnung dieser drei Verfahren verlangt Wende als Richter wirkten; 2012 war von diesen jedoch die Kommission von der Regierung Orbán schriftlich noch keiner mehr im Amt. weitere Auskünfte über die Justizreform. In der Kommis- Zum Vergleich: In Deutschland sind nur noch sehr sion gibt es die Sorge, dass die Unabhängigkeit der Justiz wenige ehemalige DDR-Richter im Amt;19 im Bundesver- insgesamt nicht europäischen Standards entspricht.“17 fassungsgericht sind sie nie vertreten gewesen. Hierbei gilt jedoch zu berücksichtigen, dass in Ostdeutschland Kritische Reflexion alte Eliten durch neue Eliten aus der alten Bundesrepu- Die umstrittene gesetzliche Regelung sah die Absenkung blik ersetzt werden konnten. Diese Situation war in den des Pensionsalters für Richter (damals 70 Jahre) auf das postsozialistischen Staaten nicht gegeben, was zu den seinerzeit in Ungarn geltende allgemeine Renteneintritts- von der Orbán-Regierung beanstandeten Problemen alter von 62 Jahren vor. Allerdings stand schon damals führte; allerdings wurde hier durch den Versuch einer fest, dass das allgemeine Renteneintrittsalter demnächst vorzeitigen Pensionierung das Prinzip der richterlichen auf 65 Jahre angehoben werden würde. Dieses sogenann- Unabhängigkeit verletzt. te Richtergesetz sah die Entlassung der Richter (über 62) Ähnlich wie das Gesetz über die Frühverrentung der auch bei entsprechender Reduzierung ihrer Rentenan- Richter wurde auch das Gesetz über die Verlegung von sprüche vor; ebenso der Staatsanwälte und Notare. Es Justizverfahren von einem Gericht an ein anderes als Ver- ging um mehrere hundert Positionen. Angesichts des Be- stoß gegen die rechtsstaatlichen Grundprinzipien kritisiert rechnungssystems der Pensionen waren damit zum Teil und auf Druck der EU rückgängig gemacht, obwohl die Fi- erhebliche Einbußen bei der Altersrente der betroffenen desz-Regierung alle Gesetze der Staats- und Justizreform Personen verbunden. als EU-konform betrachtete. So weigerte sie sich auch Die Europäische Kommission drohte mit einem zunächst, diese Gesetze zurückzunehmen. Die gesetzliche Vertragsverletzungsverfahren. Brüssel begründete Möglichkeit der Verlegung von Justizverfahren von einem dies damit, dass das Gesetz eine Altersdiskriminierung Gericht an ein anderes bezweckte nach nachvollziehbarer bedeute. Nachdem das Gesetz rückgängig gemacht w urde, offizieller Begründung eine gleichmäßigere Verteilung der wurde für die Geburtsjahrgänge ab 1945 das Rentenein- Fälle auf alle Gerichte, da insbesondere die Budapester trittsalter von 70 auf 65 Jahre stufenweise abgesenkt, Gerichte extrem überlastet waren.20 Alle Experten bestä- ebenso wurden entsprechende rentenrechtliche Anpas- tigten die Überbelastung der Gerichte. Aufgrund dieses sungen eingeführt. Im europäischen Vergleich: Auch Zustands war vor 2010 die Qualität des Rechtsstaats inso- das deutsche Grundgesetz erlaubt in Artikel 97, Absatz 2, fern problematisch geworden, als viele Fälle verjährten, Richter früher in den Ruhestand zu versetzen. Von dieser bevor sie verhandelt werden konnten. Oft konnten selbst Möglichkeit wurde auch durch ein Richtergesetz Ge- eindeutig schuldige Angeklagte nicht verurteilt werden; brauch gemacht. Oder: In Italien hat Ministerpräsident Ungarn war wegen zu langer Gerichtsverfahren sogar von Matteo Renzi vor kurzem das richterliche Rentenalter von der EU kritisiert worden. Folglich beurteilte vor den Regie- 75 auf 70 heruntergesetzt, eine weitere Abstufung auf 66 rungsmaßnahmen auch die Bevölkerung das Justizsystem Jahre ist bis 2016 geplant. Diese Maßnahme wurde aller- nicht sehr positiv. dings von der EU als Reform des Rentensystems und als Dennoch war die EU-Kritik berechtigt: Wenn Verfah- Arbeitsplatzbeschaffung für junge Richter begrüßt. Eini- ren an ein anderes Gericht überwiesen werden können, ge ungarische Journalisten meinen deshalb, die EU messe besteht immer die Möglichkeit, in bestimmten Fällen ein bei Italien und Ungarn offenbar mit zweierlei Maß.18 regierungsfreundlicheres Gericht auszuwählen. Auch Allerdings war in Ungarn die gesetzliche Absenkung bemängelten die Kritiker, dass die Verlegung in andere des Rentenalters von Richtern von ursprünglich 70 auf 62 Städte einen enormen Aufwand für die beteiligten Par- Jahre offensichtlich auch eine parteipolitisch motivierte teien bedeuten könne, was ihr Recht auf ein faires und Maßnahme der Fidesz-Regierung. Die Frühverrentung unabhängiges Verfahren einschränken könne. der Richter sollte den Elitenwechsel auch bei der Rich- Es erscheint zwar verfehlt, der Orbán-Regierung vor- terschaft ermöglichen. Vermutlich hegte die Regierung zuwerfen, in Ungarn sei heute der Rechtsstaat bedroht; älteren Juristen gegenüber Misstrauen, weil in Ungarn bis dieser Meinung war keiner der Experten. Richtig bleibt heute noch Richter im Amt sind, die bereits vor 1989 in aber, dass bestimmte Schritte der Regierung, mit denen diesem Beruf tätig waren. Auch im ungarischen Verfas- sie eine Ablösung von aus ihrer Sicht postkommunisti- sungsgericht waren Richter vertreten, die schon vor der schen Strukturen und Personalien anstrebte, rechtsstaat- liche Probleme auslösen konnten und insofern im Detail DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung 11 auch kritikwürdig und korrekturbedürftig waren. Daraus jedoch eine die Demokratie gefährdende Tendenz zur Be- Die neue Wahlkarte – „Gerrymandering“ drohung der Gewaltenteilung abzuleiten erscheint nach Ein neues Wahlrecht war aus unterschiedlichen Gründen allen Beratungsergebnissen so nicht haltbar. erforderlich: Einerseits wegen der von allen Seiten be- grüßten sinnvollen Verkleinerung des Parlaments von 386 auf 199 Sitze.22 Andererseits war die frühere Aufteilung Wahlrecht der Wahlbezirke verfassungswidrig und entsprach nicht den Empfehlungen der Venedig-Kommission, weil sie zu Beispiel aus der Presseberichterstattung große, teilweise dreifache Unterschiede in der Einwoh- „Dass Orban laut einigen Demoskopen sogar erneut mit nerzahl zwischen einzelnen Wahlbezirken enthielt. Diese einer verfassunggebenden Zweidrittelmehrheit rechnen Verfassungswidrigkeit beanstandete das Verfassungsge- kann, liegt allerdings auch im tiefgreifend veränderten richt bereits in einem Beschluss im Jahr 2005 und forderte Wahlrecht begründet, das seine Partei nach Ansicht vieler das Parlament auf, mit Zweidrittelmehrheit die Unver- Kritiker in mehrerer Hinsicht bevorteilt. hältnismäßigkeiten in den Wahlbezirken zu beheben. … Beanstandet wird aber vor allem, dass die Eintei- Dies erfolgte damals nicht, da die verfassungsmäßige lung der Wahlbezirke willkürlich erfolgte und einseitig Änderung des Wahlgesetzes im Vorfeld der Parlaments- Fidesz nütze, denn traditionell linke Hochburgen wur- wahlen 2006 nach der Meinung einiger Experten nicht im den aufgeteilt und konservativen Kreisen zugeschlagen Interesse der damaligen sozialistisch-liberalen Regierung oder vergrößert. Dieses sogenannte Gerrymandering ist war, ebenso wenig in ihrer zweiten Amtszeit 2007, nach zwar eine verbreitete Praxis regierender Parteien, das einer zweiten Aufforderung des Verfassungsgerichts. Es Ausmaß erscheint aber beträchtlich. So hat etwa der ist auch nicht sicher, ob die Opposition in den Jahren 2005 regierungskritische ungarische Think-Tank Political oder 2007 – damals also Fidesz – diese Gesetzesänderung, Capital ausgerechnet, dass das linke Oppositionsbündnis für die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforder- etwa 300 000 Stimmen mehr braucht als Fidesz, um eine lich war, konstruktiv unterstützt hätte. Parlamentsmehrheit zu erlangen. Dies entspricht fast vier Eine neue Wahlkreiskarte wäre demnach eigentlich Prozent der Wahlberechtigten. Heikel ist zudem, dass die seit 2005 erforderlich gewesen. Es ist auch von allen Neuordnung als Kardinalgesetz erlassen wurde und des- Seiten anerkannt, dass nach der neuen Wahlkreiskarte halb nur mit Zweidrittelmehrheit angepasst werden kann die Bevölkerungszahlen der Wahlkreise ausgewogener – was allerdings auch für das alte Wahlrecht galt.“21 sind, als dies nach der alten Karte der Fall war, auch wenn man gewisse Züge des „Gerrymandering“ – d.h. Kritische Reflexion Wahlkreiszuschnitte zugunsten von gestaltenden Der im zitierten Artikel erhobene Vorwurf, dass Fidesz Mehrheiten – erkennen kann. das Wahlrecht nach ihren eigenen Bedürfnissen gestaltet Gerrymandering ist in vielen Demokratien üblich. Die habe, kam oft auch in den Wahlanalysen vor, welche USA, auch einige europäische Länder, sind dafür Vor- die Parlamentswahlen 2014 als „frei, aber nicht fair“ bilder. Diese Praxis stellt an sich noch kein Demokra- charakterisierten. Zu diesem Schluss kamen auch das tiedefizit dar. Problematisch ist, dass die Fidesz-KDNP- ungarische Forschungsinstitut Political Capital und die Regierung die Opposition nicht an der Gestaltung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Wahlkreise mitwirken ließ und ihr keine Möglichkeit zur Europa (OSZE): Die Wahlen nach dem neuen Wahlrecht Einflussnahme bot. Das bleibt auch dann problematisch, seien „frei“, weil für alle Parteien die gleichen Regeln gel- wenn man weiß, dass die zuvor gültige Wahlkreiskarte ten, das neue Wahlrecht enthielte trotzdem Elemente, die noch von der letzten kommunistischen Regierung und die jetzige Regierungsseite begünstigten – deshalb seien ebenfalls ohne jeglichen Konsens beschlossen worden die Wahlen nicht „fair“. war, was damals eindeutig die Linke begünstigte. Als problematische Elemente des Wahlrechts werden Auch wenn es, wie in allen demokratischen Staaten, einerseits die neue Wahlkreiskarte, andererseits die eine Tendenz zum Zuschnitt der Wahlkreise zugunsten Wahlwerbungsregelung und zudem die sogenannte Ge- entsprechender Mehrheiten gibt, war auch nach Ansicht winnerkompensation angesehen. der Kritiker des neuen Gesetzes die neue Wahlkreiskarte nicht Ursache von Orbáns Wahlsieg im Jahr 2014. Auch nach der alten Einteilung hätte Orbán die Wahl klar gewonnen – allerdings wohl nicht zum zweiten Mal eine DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
12 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung Zweidrittelmehrheit erreicht – und somit die verfassungs- iederum von ihr als oppositionsnah bezeichneten Zivil- w ändernde Mehrheit verloren. organisationen vor, parteipolitische Kampagne gegen die Im Übrigen sind diese Wahlbedingungen in keiner Regierung zu betreiben, und zwar mit finanzieller Unter- Demokratie perfekt gerecht: Man denke an das britische stützung der Norway Grants.23 In diesem Zusammenhang Mehrheitswahlrecht oder die Rolle der Wahlmänner erhob Viktor Orbán in seiner Rede in Băile Tuşnad im in den USA, die zum Beispiel im Jahr 2000 Präsident Sommer 2014 den Vorwurf, die Zahlungen „ausländischer Georg W. Bush den Wahlsieg ermöglichten, obwohl er Interessengruppen“ wie der Norway Grants dienten der bei den Wählerstimmen in der Minderheit war. Das politischen Einflussnahme in Ungarn anstatt der sozia- ungarische Wahlsystem als undemokratisch zu charak- len Wohlfahrt, und aus diesem Grund sei eine staatliche terisieren erweist sich im internationalen Vergleich als Kontrolle nötig. Auch wenn unabhängige Prüfer, wie die unverhältnismäßig. Unternehmensberatung Ernst & Young, in ihren f rüheren Berichten Unregelmäßigkeiten bei den Stiftungen Wahlwerbung – in Fernsehen und Ökotárs und Demnet, die die Zuwendungen des Norway auf Plakatflächen Grants in Ungarn verwalten, feststellten – etwa, dass In den öffentlich-rechtlichen Medien sind die Wahl- über die Bewerbungen keine unabhängigen Gutachter, werbezeiten unter den Parteien fair verteilt. Als unfair sondern Mitarbeiter aus dem Umfeld der Stiftung Ökotárs wahrgenommen wird, dass in den öffentlich-rechtlichen entschieden, oder dass bestimmte Gruppen auffällig häu- Medien Parteiwerbung nur in einem begrenzten Rah- fig begünstigt und andere nie unterstützt wurden –, soll- men gesendet werden darf, Kampagnen der Regierung ten die Kontrollen dem Sachverhalt angemessen bleiben. (sogenannte Informationskampagnen) hingegen unbe- Jedoch fiel die Kontrolle der Regierungsbehörde mit einer grenzt möglich sind. Privatsender müssen allen Parteien Hausdurchsuchung unter Polizeieinsatz und Beschlag- die gleiche Werbezeit zur Verfügung stellen, dürfen aber nahme von Dokumenten bei den Stiftungen Ökotárs und Wahlwerbung nur kostenlos ausstrahlen. Wegen dieser Demnet völlig unangemessen aus, und sie kann mit Recht Regelung sind Privatsender an Wahlwerbung wirtschaft- als Einschüchterungsversuch oder Machtdemonstration lich nicht interessiert, obwohl man die meisten Menschen kritisiert werden. Umso mehr, da sich die Stiftungen bei gerade über sie erreichen könnte. Deshalb verlagerte sich früheren Kontrollen den Behörden gegenüber koopera- die K ampagne auf die Straße und in die Zeitungen – zwei tiv gezeigt hatten. Die große Besorgnis der ungarischen Gebiete, auf denen Fidesz Marktvorteile besaß, denn die Opposition wie internationaler Beobachter kann vor meisten Plakatwerbeflächen gehören dem bis Februar dem Hintergrund des Vorgehens gegenüber Ökotárs und 2015 Orbán-nahen Geschäftsmann Lajos Simicska. Demnet geteilt werden. Die Regelung der Plakatwerbeflächen für Wahlkampf- zwecke bezieht sich wiederum einzig auf Parteien, nicht Gewinnerkompensation aber auf Informationen der Regierung und auf Nichtre- Ist die im neuen Wahlgesetz eingeführte sogenannte gierungsorganisationen (NGOs). Das hat einerseits zur Gewinnerkompensation kritikwürdig? International ist Folge, dass auf Plakatflächen, auf denen die Parteien in gemischten Wahlsystemen meist eine Kompensation keinen Wahlkampf führen dürfen, Regierungsinformati- der Verlierer bekannt: Das bedeutet, dass die ineffektiven onen erscheinen können, sogar wenn diese wortwörtlich Stimmen, die auf Kandidaten der zweiten und dritten identisch mit einer Parteiwahlwerbung sind. Andererseits Plätze abgegeben wurden, auf einer Kompensationsliste führt diese Regelung zu einem großen Vorteil finanziell gesammelt werden und zu Mandaten führen können. bessergestellter Parteien: Sie können einen Teil ihrer Doch nach dem neuen ungarischen Wahlrecht können Kampagne in ihnen nahestehende NGOs auslagern und auch diejenigen Stimmen des Gewinners auf eine Kom- so indirekt mehr Mittel als das für Parteien erlaubte Aus- pensationsliste kommen und zu Mandaten werden, die gabenlimit von 995 Millionen Forint (etwa 3,3 Millionen den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Euro) für Kampagnenzwecke verwenden; eine Obergren- Kandidaten in einem Wahlbezirk ausmachen, d.h. die ze von Werbeausgaben für Zivilorganisationen existiert zum Sieg nicht mehr nötig gewesen wären. Diese Rege- nämlich nicht. Diese „Kooperation“ soll beim „Forum lung begünstigt überproportional die stärkste Kraft. für zivilen Zusammenhalt“ (auf Ungarisch CÖF) der Fall Auch diese Regelung kann einen Sinn haben, soweit es gewesen sein, das sich im Wahlkampf 2010 mit mehre- um die Herstellung einer regierungsfähigen Mehrheit ren Großkundgebungen und Plakat-Aktionen für Fidesz geht. So wird zum Beispiel in Italien die Mandatenzahl stark gemacht haben soll. Die Fidesz-Regierung wirft des Parteienbündnisses, das die relativ höchste Zahl der DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
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