DGAPbericht Ungarn in den Medien 2010-2014 Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung

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Ungarn in den Medien 2010-2014
Kritische Reflexionen über
die Presseberichterstattung
Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Ungarn
(Klaus von Dohnanyi (Vorsitz), Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs, Gereon Schuch)
DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
Inhalt

		 Ungarn in den Medien 2010-2014
   Kritische Reflexionen über die
   Presseberichterstattung
            Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Ungarn
            (Klaus von Dohnanyi (Vorsitz), Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs, Gereon Schuch)

       3    Einführung

       4    Die historische Situation Ungarns

       5    Einzelne Bereiche der internationalen Kritik

       5    Rechtsstaatlichkeit

		          Beispiel aus der Presseberichterstattung

		          Kritische Reflexion
                  Kompetenzbeschränkung des Verfassungsgerichts
                  Präambel der Verfassung
                  Kardinalgesetze
                  Mangelnde Legitimität, einseitige Umgestaltung des Landes?

       8    Gewaltenteilung

		          Beispiel aus der Presseberichterstattung

		          Kritische Reflexion

       9    Unabhängigkeit der Justiz

		          Beispiel aus der Presseberichterstattung

		          Kritische Reflexion

       11   Wahlrecht

		          Beispiel aus der Presseberichterstattung

		          Kritische Reflexion
                  Die neue Wahlkarte – Gerrymandering
                  Wahlwerbung – in Fernsehen und auf Plakatflächen
                  Gewinnerkompensation

                                                                DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
13     Medien

		                     Beispiel aus der Presseberichterstattung

		                     Kritische Reflexion
                             Pressefreiheit und Pressevielfalt
                             Kurzüberblick der Medienlandschaft
                             Mediengesetz und Medienrat
                             Zentralisierung der Nachrichten durch MTI
                             Ausbau eines konservativen Medienreichs

                15     Soziale Gerechtigkeit und Korruption

		                     Beispiel aus der Presseberichterstattung

		                     Kritische Reflexion

                17     Antisemitismus

		                     Beispiel aus der Presseberichterstattung

		                     Kritische Reflexion

                19     Obdachlose

		                     Beispiel aus der Presseberichterstattung

		                     Kritische Reflexion

                20     Lage der Roma-Minderheit

		                     Beispiel aus der Presseberichterstattung

		                     Kritische Reflexion

                21     Schlussfolgerungen

                22     Empfehlungen

                23     Anmerkungen

DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
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Ungarn in den Medien 2010-2014
Kritische Reflexionen über
die Pressebericherstattung
Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Ungarn
(Klaus von Dohnanyi (Vorsitz), Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs, Gereon Schuch)

Einführung                                                     Antwort gibt, die man nicht erwartet hatte und dann [das
                                                               Interview] nicht veröffentlicht wird.“2
Verfolgt man in der deutschsprachigen, und teils auch             Die von Imre Kertész beklagte „Zensur“ durch eine
der internationalen Presse, die Berichterstattung über         bedeutende US-amerikanische Zeitung scheint in einem
die politische Entwicklung in Ungarn, so ergibt sich ein       größeren Kontext zu stehen. So schreibt der Economist:
widerspruchsvolles Bild: Einerseits – und durchaus über-      „Die Europäische Union hat sich als nicht bereit oder nicht
wiegend – scheint sich das Land unter der Regierung des        in der Lage erwiesen, in Ungarn einzugreifen und so
rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán           kommt der Druck hauptsächlich aus den USA. Präsident
zunehmend von den demokratischen Grundsätzen des               Obama hatte kürzlich Ungarn in eine Reihe mit Ägypten
Westens zu entfernen, andererseits fällt zugleich auf, dass    und Aserbaidschan gestellt, wo sich die Zivilgesellschaft
diese Berichterstattung auch Widersprüche aufweist.            bedroht fühlt.“3 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
    So besteht der ständige Vorwurf, die ­Regierung Orbán      berichtet, US-Senator John McCain habe, offenbar aus
begünstige ein antisemitisches Klima in Ungarn; sodann         geopolitischen Gründen und im Zusammenhang mit
berichtet aber der britische Economist, dass „Israelis mit     der Ernennung einer neuen Botschafterin, Ungarn als
aschkenasischer oder osteuropäischer Herkunft Schlan-          ein Land bezeichnet, das an der Schwelle stehe, „seine
gen vor deutschen, ungarischen und polnischen Konsula-         Souveränität an einen neofaschistischen Diktator ab-
ten bilden, um – was einst als eine Schande galt – einen       zutreten“.4 Kann es da verwundern, wenn Viktor Orbán
europäischen Pass zu bekommen.“1                               vermutet, die USA versuchten in Ungarn einen Regime-
   Auch der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre          wechsel zu organisieren?
Kertész beklagte sich, dass ein Journalist der New York           Oder: Ministerpräsident Orbán hält im Sommer 2014
Times mit einem Interview im Jahr 2013 ein vorgefertigtes      im rumänischen Băile Tuşnad eine Rede, in der er den
negatives Ungarnbild untermauern wollte. Kertész erfüllte      wirtschaftsliberalen Staat aus sozialen Gründen kritisiert.
anscheinend nicht die Erwartungen des Journalisten,            Er verweist in diesem Zusammenhang auf die größere
und als das Interview nicht veröffentlicht wurde, kom-         staatliche Wirtschaftsverantwortung unter anderem in
mentierte Kertész dies: „Er dachte, ich würde mich gegen       Singapur, China und Russland – die deutsche und die
Ungarn aussprechen, oder Ungarn heute oder so. Und ich         internationale Presse aber zitieren „illiberale Demokratie“
tat das nicht. Er war mit der Absicht gekommen, dass ich       anstelle der von Orbán gewählten Formulierung „illibera-
sagen würde, Ungarn sei heute eine Diktatur, was es nicht      ler Staat“ und stellen so einen von Orbán nicht formulier-
ist ... Wenn man schreiben kann, offen sprechen, offen         ten Bezug zur politischen Praxis dieser Länder her; seine
abweichender Meinung sein, sogar das Land verlassen            Kritik am „liberalen Staat“ bezog Orbán offensichtlich auf
kann, dann ist es absurd von einer Diktatur zu sprechen.       den Wirtschaftsliberalismus.
Das habe ich gesagt. Ich bin nicht glücklich mit allem, was       Solche Beispiele unterstreichen die Notwendigkeit,
heute in Ungarn geschieht, ich glaube aber nicht, dass         Lage und Entwicklung in Ungarn genau zu überprü-
es jemals eine Zeit gab, in der ich mit allem, was hier        fen. Angesichts der aktuellen Krise um die Ukraine
geschieht, glücklich war ... Und dieses Interview wurde        und des angespannten Verhältnisses zu Russland zeigt
nie veröffentlicht. Was ein Freund von mir sehr präzise als    sich erneut, wie wichtig für die Handlungsfähigkeit der
eine Art Zensur bezeichnete, wenn nämlich jemand eine          Europäischen Union der europäische Konsens ist. In
                                                               diesem Kontext ­erscheinen die gestörten Beziehungen

                                                                                              DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
4 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung

der ­EU-Kommission und einiger EU-Mitgliedstaaten zu                       Wichtig war es der Arbeitsgruppe, die jeweiligen Ent-
Ungarn auffällig: Kein Mitgliedstaat der EU hat in den                     wicklungen auch im Rahmen nationaler kultureller Tra-
  letzten Jahren so viel Kritik für seine Innen- und Außen-                ditionen zu betrachten: Inwieweit handelt es sich bei den
  politik erfahren wie Ungarn.                                             kritisierten Entwicklungen um kulturhistorisch erklärba-
     Deutschland und Ungarn haben traditionell gute                        re, besondere nationale Ausprägungen demokratischer
­Beziehungen; Ungarn war auch ein mutiger Schrittma-                       Praxis, die vor dem Hintergrund nationaler Souveränität
cher auf dem Weg zum Fall der Mauer. Wie passt dies                        und des Subsidiaritätsprinzips der EU zu akzeptieren
  zu dem Bild, das heute von der Regierung unter Viktor                    wären? Die vielfache Kritik an der ungarischen Regierung
Orbán gezeichnet wird? Seit ihrem Wahlsieg im Früh-                        wurde deswegen auch in einem internationalen Kontext
  jahr 2010 steht sie international in der Kritik, weil sie                betrachtet und mit der Praxis anderer demokratischer
  seitdem mit parlamentarischer Zweidrittelmehrheit                        Staaten verglichen. Es sollte deutlich unterschieden wer-
weitreichende verfassungsrechtliche und gesetzgeberi-                      den zwischen politischen Entscheidungen in Ungarn, die
  sche Veränderungen herbeigeführt hat. Insbesondere im                    man in Deutschland eventuell anders treffen würde, und
deutschsprachigen Raum spitzte sich die Kritik an dieser                   solchen, die man aus grundsätzlichen demokratischen
  politischen Entwicklung Ungarns zu. Doch sollten die                     Erwägungen kritisieren müsste.
 ­EU-Kommission, der Europäische Rat, das Europäische
  Parlament und die Regierungen der Mitgliedstaaten
ihre Kritik an einem Mitgliedsland zuvor den Tatsachen                     Die historische Situation Ungarns
entsprechend sorgfältig überprüfen. Dies sollte auch                       Viktor Orbán hatte schon vor den Wahlen 2010 angekün-
gegenüber Ungarn gelten, dessen Regierung bei den EU-                      digt – nach seinem in der ersten Regierung (1998-2002)
  Parlamentswahlen 2014 mit 51 Prozent der Stimmen den                     gescheiterten Versuch umfassenderer Reformen – einen
deutlichsten Wahlsieg in der Europäischen Union für den                    weitreichenderen Reformdurchbruch unternehmen zu
  konservativ-bürgerlichen Wahlblock der Europäischen                      wollen. Strukturell war seit 1989 vieles in postkommu­
Volksparteien (EVP) erringen konnte, ohne – wider der                      nistischen Bahnen geblieben, wenn auch unter demo­
  Entwicklung beispielsweise in Großbritannien und ande-                   kratischen Bedingungen. Zahlreiche Positionen in
  ren europäischen Ländern – Stimmen an euroskeptische                     Wirtschaft, Gesellschaft und Politik waren aus der Sicht
  Parteien abtreten zu müssen.                                             von Orbáns Partei Fidesz,6 die in einer Listenverbindung
     Was sind die wesentlichen Kritikpunkte, die gegenüber                 mit KDNP7 antrat, auch nach der Wende noch mit kom-
Ungarn seitens der Europäischen Union und in der inter-                    munistischen Parteigängern oder Personen besetzt, die
  nationalen Presse formuliert werden? Stimmen Fakten                      sich mit dem Staatssozialismus arrangiert hatten. Trotz
  und Kritik überein? Wo gibt es zwischen Ungarn und an-                   dieses antikommunistischen Ansatzes von Fidesz ­sollte
deren EU-Staaten tatsächlich unterschiedliche Ansichten                    allerdings nicht vergessen werden, dass zahlreiche
  und Standpunkte? Wo gibt es Missverständnisse, und wie                   Vertreter der Eliten von vor 1989 auch in dieser Partei
  könnten diese geklärt werden, um eine bessere Verstän-                   ein neues politisches Zuhause gefunden hatten. Um die
digung zwischen Ungarn und der EU zu ermöglichen?                          unausweichlichen Reformen zu ermöglichen, fehlte es
Welche Rolle könnte dabei Deutschland spielen?                             in Ungarn jedoch – nach überwiegender Meinung der
     Um zu diesen Fragen verlässlichere Antworten zu                       befragten Experten – in den Jahren vor 2010 an partei-
finden, rief die DGAP eine Arbeitsgruppe deutscher und                     übergreifenden Konsensmöglichkeiten, wie sie Deutsch-
  ungarischer Experten ins Leben.5 Diese bestand aus Klaus                 land kennt. Mit den Wahlen im Jahr 2010 erlangte Orbán
von Dohnanyi, Ágnes Gelencsér, Dániel Hegedűs und Ge-                      nicht nur eine stabile Regierungsmehrheit, sondern sogar
  reon Schuch. Zunächst sammelte die Arbeitsgruppe über                    eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit, die ihm
einen längeren Zeitraum aus vorwiegend deutschspra-                        weitreichende Handlungsspielräume eröffnete.
chigen Medien die wesentlichen Schwerpunkte der Kritik                         Um Orbáns zweiten Wahlsieg und seine mit einer ver-
  und gliederte sie thematisch. Sodann wurden im Rahmen                    fassungsgebenden Zweidrittelmehrheit umgesetzte Po-
  mehrerer Sitzungen die politischen Forschungsinstitute                   litik beurteilen zu können, muss man also bedenken: Es
  Political Capital und Nézőpont aus Ungarn, 15 Rechts- und                gab 2010 einen erheblichen Reformstau, den die vorange-
  Politikwissenschaftler, Medienexperten sowie Experten                    gangenen sozialistisch-liberalen Regierungen (2002‑2010)
  für Minderheitenfragen aus Deutschland und Ungarn                        nicht aufgelöst hatten. Diese Tatsache machte die Bewäl-
  angehört. Ferner wurde eine Vielzahl von Studien und                     tigung der Wirtschaftskrise nach 2008 besonders schwie-
  Berichten zur politischen Lage in Ungarn herangezogen.                   rig. Hinzu kamen für die nun regierende Fidesz‑Partei die

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Erfahrungen der ersten Orbán-Regierung von 1998 bis            Heute, in einer Zeit, in der kulturhistorisch ­abgeleitete
2002: Damals erlebte diese medial einen starken linken         Identitäten offenbar wieder an Gewicht gewinnen
Gegenwind, gelegentlich aus ihrer Sicht auch eine gewis-       (erinnert sei hier nur an Nordirland, Schottland, Katalo-
se politische „Gegenarbeit“ alter Kader.                       nien, Norditalien, Korsika und andere), ist zu beachten,
    Um ihre Reformpolitik und die dafür erforderlichen         dass auch die nationale Erinnerung in Ungarn wieder
Mehrheiten längerfristig zu sichern, bemühte sich die          ­zunimmt – doch oft fühlt sich das Land in seiner natio-
Regierung Orbán um einen breiten Konsens in der Bevöl-         nalen Rückbesinnung unverstanden. Manche Handlun-
kerung, indem sie auf eine Erneuerung der über Jahrhun-        gen und Äußerungen der Regierung Orbán werden vor
derte gewachsenen Besonderheiten national-ungarischer          diesem Hintergrund verständlicher.
Identität Bezug nahm. Ungarns singuläre sprachliche und
kulturelle Ausformung, die weder slawischen noch roma-
nischen oder germanischen Ursprungs ist (Ungarisch ist         Einzelne Bereiche der
keine indogermanische Sprache), sowie die Jahrhunderte         internationalen Kritik
der Fremdherrschaft hatten historisch zur Betonung einer       Im Folgenden werden zu jedem Bereich Zitate herangezo-
besonderen ungarischen Identität geführt; die Regierung        gen, an welchen beispielhaft die in den Medien erhobene
sah hier vermutlich eine Möglichkeit, das politisch tief       Kritik untersucht wird. Aus praktischen Gründen wurden
gespaltene Land jenseits der Parteien wieder zu einen.         vorrangig deutsche Zeitungen gewählt, obwohl sich Bei-
    So fällt die ungarische Regierung deswegen auch            spiele auch in der internationalen Presse finden lassen.
heute in Europa durch eine außerordentlich historisch
orientierte Selbstdarstellung auf. Die ungarische Kultur­
geschichte kann in diesem Zusammenhang auch als                Rechtsstaatlichkeit
Hintergrund der oft überdeutlichen Abgrenzung gegen-
über politischen Ansprüchen (und politischer Kritik)           Beispiel aus der Presseberichterstattung
aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland            „Die neue ungarische Verfassung unterminiert das Rechts-
gesehen werden. Ministerpräsident Orbán „wehrt“ sich             staatsprinzip. Sie nimmt dem Verfassungsgericht dauer-
zur „Verteidigung“ seiner Nation gegen das „Hereinreden“         haft das Recht, Steuer- und Haushaltsgesetze zu überprü-
vonseiten der Europäischen Kommission und anderer               fen. Damit schafft sie Spielräume, verfassungswidriges
Nationen in, wie er meint, „ungarische Angelegenheiten“ .       Recht in Kraft zu setzen, ohne dass irgendjemand etwas
Er fühlt sich missverstanden und sieht bei den Kritikern        dagegen unternehmen könnte, und rüttelt damit an der
oft einen verantwortungslosen Mangel an Kenntnissen            Autorität des Gerichts.
der Besonderheiten seines Landes.                                   Das Rechtsstaatsprinzip wird zusätzlich ausgehöhlt,
    Um diese oft überzogen wirkende Reaktion besser ver-        weil der neuen Verfassung eine überlange, inkonsis-
stehen zu können, sollte man versuchen, den historisch-          tente und ideologisch einseitige Präambel vorsteht, die
politischen Hintergrund einer verbreiteten ungarischen           sich ‚Nationales Glaubensbekenntnis‘ nennt. Dieses
Darstellung etwas schärfer ins Auge zu fassen: Ungarn           Nationale Glaubensbekenntnis ist keine bedeutungslose
ist ein Land, das seine Freiheit immer wieder gegenüber        ­Verfassungslyrik, sondern wird explizit zum verbindli-
ausländischen Mächten erstreiten musste. Die lange tür-         chen Interpretationsmaßstab der Verfassung erklärt ...
kische Besatzung, die spätere österreichische Herrschaft            Aber auch das Demokratieprinzip droht substan-
und die deutsche und lange sowjetische Besatzung sind            ziell Schaden zu nehmen. Die Verfassung schränkt den
nicht vergessen. Ungarns Geschichte war zwangsläufig            Handlungsspielraum jeder künftigen Regierung ein. Viele
immer eine Geschichte der Selbstbehauptung. Vielleicht          Gesetze, etwa grundlegende Steuer- und Rentenreformen,
auch deswegen waren es die Ungarn, die – nach dem Auf-           können künftig nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit
stand der Deutschen in der DDR 1953 – im Jahre 1956 den         geändert werden. Dass Regierungen Zweidrittelmehrhei-
einzigen militärisch ausgetragenen Befreiungsaufstand            ten im Parlament haben wie derzeit Premier Orbáns Par-
gegen die sowjetische Herrschaft führten. Keiner der             tei Fidesz, ist aber nicht die Regel, sondern die Ausnahme.
späteren Aufstände in Mitteleuropa gegen das Sowjet­                Der Verfassungsgebungsprozess hat die Legitimität
regime wurde mit derartiger Konsequenz geführt. In              dieser Verfassung stark beschädigt: Die ­Opposition
diesem damaligen Selbstverständnis stehend forderte der         verweigerte die Zusammenarbeit, es gab keine
Studentenführer Orbán schon im Sommer 1989 öffentlich           ­Nationalversammlung, die über den Entwurf beraten hat,
mutig den Abzug aller sowjetischen Truppen aus Ungarn.          auch auf ein Referendum wurde verzichtet. Das macht

                                                                                                     DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
6 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung

sich auch im Inhalt der Verfassung bemerkbar: Dieses                        Staatsverschuldung aber wieder auf 82 Prozent (im Jahr
Dokument will nicht unterschiedlichen politischen Inter-                    2008, also noch vor der Krise) steigen ließ. Nur Notkre-
essen und Präferenzen die Koexistenz ermöglichen. Es ist                    dite des Internationalen Währungsfonds und der EU in
vielmehr der Versuch, Ungarn einseitig nach den Interes-                    Höhe von rund 12,5 Milliarden Euro konnten Ungarn
sen und Präferenzen des Premiers Viktor Orbán und der                       damals vor der Zahlungsunfähigkeit bewahren.
politischen Kräfte, die ihn unterstützen, umzugestalten.                        Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass Artikel 37,
Dieser Umgestaltung hat außer Orbán und seinen Leuten                      ­Absatz 4 der Verfassung ein teilweises Verbot der
niemand zugestimmt. Obwohl eine neue Verfassung in                          Normen­kontrolle bei Steuer- und Finanzgesetzen
Orbáns Wahlkampf keine Rolle spielte, vollendet er so                       ­bedeutet; dies wird von einer Mehrheit der ungarischen
seine ‚Revolution an den Wahlurnen‘, die er nach seinem                     Rechtswissenschaft als „rechtsstaatswidrig“ angegriffen.
Wahlsieg im vergangenen Jahr ausrief.“8                                     Zu dieser Beurteilung trug allerdings auch der besondere
                                                                            Hintergrund dieser Regelung bei: Das Verfassungsgericht
Kritische Reflexion                                                          hatte noch unter den Regeln der alten Verfassung eine
                                                                            von der Regierung Orbán rückwirkend eingeführte Son-
Kompetenzbeschränkung des                                                   dersteuer in Höhe von 98 Prozent auf Abfindungen von
Verfassungsgerichts                                                         Staatsangestellten für verfassungswidrig erklärt. Auch
Diese Kritik erhebt den Vorwurf, die neue ungarische                        aus diesem Grund entzog die Regierungsmehrheit mit der
Verfassung unterminiere das Rechtsstaatsprinzip, da das                     Neuregelung von Artikel 37, Absatz 4 dem Verfassungsge-
Verfassungsgericht Steuer- und Haushaltsgesetze nicht                       richt die Kontrollkompetenz in oben genanntem Umfang.
 mehr überprüfen könne. Tatsächlich enthält die Verfas-                         Einige Experten wiesen darauf hin, dass die Regierung
  sung aber folgende Regelung (Artikel 37, Absatz 4):                       bei der versuchten Einführung der Sondersteuer von 98
    „Solange die Staatsverschuldung die Hälfte des gesam-                   Prozent ein politisches Problem zwar richtig erkannt, die-
  ten Bruttoinlandsprodukts übersteigt, darf das Verfas-                     ses aber undifferenziert und daher in vielen Fällen auch
  sungsgericht in seinem Kompetenzbereich gemäß Artikel                     ungerecht gelöst habe.
24 Absatz 2 Buchstaben b)-e) die Konformität der Gesetze                        Das ungarische Verfassungsgericht kann auch heute in
 über den zentralen Staatshaushalt, über dessen Durch-                      Haushalts- und Finanzfragen seine Kontrollkompetenzen
 führung, über die zentralen Steuerarten, über ­Gebühren                    mit Hinweis auf Verletzung der in Artikel 37, Absatz 4
 und Beiträge, über Zölle sowie über die zentralen Bedin-                   aufgeführten bürgerlichen Grundrechte ausüben. Es gibt
gungen für örtliche Steuern mit dem Grundgesetz aus-                        auch bereits Beispiele für solche Fälle. Die Aussage, die
  schließlich hinsichtlich der Rechte auf das Leben und die                 neue Verfassung unterminiere hier das Rechtsstaatsprin-
 Menschenwürde, auf den Schutz der personenbezogenen                         zip grundsätzlich, erscheint deshalb unzutreffend.
Daten, auf die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfrei-
  heit oder der Rechte, die mit der ungarischen Staatsange-                Präambel der Verfassung
  hörigkeit einhergehen, überprüfen und wegen Verstoßes                    Einen weiteren Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip
gegen diese kassieren.“9                                                    sehen die Kritiker in der ideologischen Einseitigkeit der
     Diese Regelung öffnet tatsächlich „Spielräume für                      Präambel, die zum Interpretationsmaßstab der Verfas-
verfassungswidriges Recht… und rüttelt damit an der                         sung erklärt werde. Diese Präambel ist ein Wertebekennt-
Autorität des [Verfassungs]Gerichts“, wie der zitierte                      nis, das bestimmte, für die verfassungsgebende Mehrheit
Zeitungsbericht feststellt. Auf der anderen Seite kann                     im Parlament besonders wichtige Werte hervorhebt,
diese Regelung aber auch zur Stärkung des Primats des                       zugleich werden dort aber auch alle anderen „Minder-
  Parlaments in Sachen der Haushaltspolitik beitragen, was                  heitenwerte- und Rechte“ ausdrücklich anerkannt.10 Hier
 nach allgemeiner demokratischer Auffassung auch ein                        bleibt die Meinung der Experten gespalten; nach Meinung
 fundamentales Recht des Parlaments darstellt.                             einiger Verfassungsexperten ist am Inhalt der Präambel
     Die Verankerung einer Schuldenbremse in der                           ­rechtsstaatlich nichts auszusetzen.
 neuen Verfassung wird grundsätzlich auch von den                          Vielleicht wäre es politisch klüger gewesen, über eine so
 ­angehörten Experten begrüßt und damit begründet,                         weitreichende Präambel einen breiteren Konsens her-
dass die erste Orbán-Regierung zwar zwischen 1998                           zustellen, weil eine Betonung einiger bestimmter Werte
  und 2002 die Verschuldung von 60,4 auf 52 Prozent des                    eine pluralistische Gesellschaft möglicherweise nicht
­Bruttoinlandsprodukts zurückgeführt hatte, die nach-                       ausreichend widerspiegelt und so unnötigen Anlass zur
 folgende sozialistisch-liberale Regierung (2002-2010) die                 weiteren Spaltung der ungarischen Gesellschaft bietet.

DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung   7

Für eine fundamentale rechtsstaatliche Kritik, wie sie oft        ­Regierung ein – auch einer Fidesz-Regierung, die gegen-
geäußert wird, scheint es keine zutreffenden Argumente            wärtig nur noch über eine einfache Mehrheit verfügt.
zu geben.
                                                                  Mangelnde Legitimität,
Kardinalgesetze                                                   einseitige Umgestaltung des Landes?
Der zitierte Presseartikel sieht auch in den sogenannten           Schließlich kritisiert der zitierte Artikel die mangelnde
Kardinalgesetzen eine Bedrohung der Demokratie. Diese              Legitimität der neuen Verfassung wegen unzureichender
Kardinalgesetze (Gesetze, die nur mit einer Zweidrittel-           Einbeziehung der Opposition. Man wirft der Regierung
 mehrheit der im Parlament anwesenden Abgeordneten                 Orbán eine einseitige Umgestaltung Ungarns nach den
geändert werden können, ohne jedoch Verfassungs­rang zu            Interessen und Präferenzen des Premiers vor, weil dieser
 haben) hat allerdings nicht die Orbán-Regierung einge-           Verfassung „außer Orbán und seinen Leuten niemand
 führt, etwa um den Handlungsspielraum künftiger Regie-            zugestimmt“ habe.
 rungen einzuschränken: Vielmehr existieren sie seit dem              Wenn man die Legitimität der Verfassungsgebung
demokratischen Umbruch 1989. Kardinalgesetze waren                 von einer vorangehenden Volksabstimmung ableiten
die Folge des Misstrauens zwischen der damaligen demo-             will, könnte man vielleicht folgern, ihre Legitimität sei
 kratischen Opposition und der Staatspartei; sie sollten ein       beschädigt: Die Sozialisten boykottierten im Parlament
Wiedererstarken der kommunistischen Macht verhindern               die Verfassungsdebatte auch mit der Begründung, dass
 und für die Stabilität der Demokratisierungsprozesse              dafür nur eine – in der Tat – sehr kurze Zeit (ein Monat)
   sorgen. Damals dienten sie also gerade zur Stärkung des         zur Verfügung stünde. Außerdem wollte die Oppositi-
Demokratieprinzips. Seitdem wurde zwar immer wieder                on wohl eine Pseudopartizipation vermeiden und ließ
 beklagt, dass sie heute auch die ungarische Politik blo-          immer wieder erkennen, dass sie auch deswegen keinen
ckieren können, aber bislang hat sich keine Mehrheit für           Konsens wünsche. Fidesz wiederum warf den Sozialisten
ihre Abschaffung gefunden, was nach einigen Experten­              vor, die Debatte nicht wegen der Inhalte, sondern aus
meinungen wünschenswert wäre und weitere Schritte in               tagesaktuel­len, politischen Gründen verweigert zu haben.
Richtung zu mehr Demokratie eröffnen könnte. Es stellt             Die Jobbik-Partei12 votierte ohnehin gegen den Entwurf.
 sich die Frage, ob eine Praxis, die auch Bereiche wie das            Somit wären eigentlich alle politischen Kräfte für diese
Steuerrecht in die Kardinalgesetze einbezieht, zukünftige          angeblich mangelnde Legitimität verantwortlich, nicht
Regierungen unangemessen beeinträchtigt.                           nur „Orbán und seine Leute“. Änderungsvorschläge zum
      Andere Experten argumentieren wiederum mit der              Verfassungsentwurf kamen lediglich von der unabhängi-
 ­stabilitätssichernden Rolle der Kardinalgesetze und             gen Abgeordneten Katalin Szili (früher MSZP13), und es
  ­sehen sie gerade in der Wirtschaftskrise und Umbruch-          gab zwei Alternativentwürfe von Verfassungsrechtlern,
 phase, in der sich auch Ungarn befindet, als weiterhin            deren Vorschläge in einigen – ihrer Meinung nach aber
­notwendig an. Nach dieser Ansicht sollten Angelegen-              eher unwichtigen – Punkten auch beachtet wurden.
 heiten „von andauerndem öffentlichen Belang“, die von                Die Debattenversäumnisse lagen auch bei der
einem einheitlichen konstitutionellen Rahmen abhängig             ­Opposition. Auf ein Referendum wurde verzichtet (wie
   sind, in Kardinalgesetzen geregelt werden, um einen             übrigens auch in Deutschland, sowohl 1949 als auch 1990),
Wechsel der Regierungen von Wahlperiode zu Wahlpe-                 stattdessen fand auf Veranlassung der Regierung eine
riode stabiler zu überdauern. Zu den Kardinalgesetzen            „Nationale Konsultation“ in Form einer Umfrage statt, die
gehören beispielsweise die Gesetze über die Parteienfi-            von der Opposition insofern zu Recht kritisiert wurde,
nanzierung; über den Schutz der nationalen Minderhei-              als die Fragestellung die ­A ntworten beeinflusst hätte.
 ten; die Schaffung von Kontrollbehörden; die Regelung            Von den verschickten 8 Millionen Fragebögen wurden
der Gerichtsbarkeit; die Aufteilung der Zuständigkeiten            ohnehin nur 917 000 ­ausgefüllt ­zurückgesandt.
 zwischen Zentralregie­r ung und Kommunalverwaltung;                  Die Legitimität der Verfassungsgebung ließe sich
 und über den steuerrechtlichen Status der Kirchen.11              allerdings auch mit der Zweidrittelmehrheit der Orbán-
      Es ist demnach eine Frage der Perspektive, ob die            Regierung, also der verfassungsgebenden Mehrheit im
Kardinalgesetze dem Demokratieprinzip schaden, oder                Parlament, begründen. In diesem Fall würden allerdings
ob sie nicht eher der Stärkung der demokratischen                  die Wähler selbst zu „Orbán und seine[n] Leuten“. Der
Stabilität des Landes dienen. Schließlich schränken               Vorwurf der Opposition, dass „eine neue Verfassung
die ­K ardinalgesetze den Handlungsspielraum jeder                 in Orbáns Wahlkampf 2010 keine Rolle spielte“, wurde
                                                                   von der Regierung mehrmals zurückgewiesen.14 Die

                                                                                                        DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
8 Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung

bisherige Verfassung war schon in ihrem Text als provi-                    Das Urteil, die Orbán-Regierung unterminiere das Rechts-
sorisch deklariert worden und trug formal sogar noch                       staatsprinzip und schade der Demokratie, sollte kritischer
die Bezeichnung „Gesetz XX. 1949“ aus den Jahren des                       hinterfragt und von der Tatsache der Zweidrittel­mehrheit
Staatssozialismus. Insofern stand seit der demokratischen                  der Regierung im Parlament unterschieden werden. Auch
Überarbeitung 1990 bei jedem Regierungswechsel die                         wenn bestimmte Gesetzesänderungen heute eventuell
Notwendigkeit einer neuen Verfassung auf der Tages-                        Lücken für mögliche verfassungswidrige Gesetzgebungen
ordnung. Jede Regierung hatte auch einen Beauftragten                      offenlassen – etwa weil das Verfassungsgericht gegenwär-
für die Ausarbeitung eines neuen Verfassungsentwurfs,                      tig Haushaltsgesetze nur unter den in Artikel 37, Absatz 4
jedoch fehlte entweder die notwendige Zweidrittel-                         der Verfassung genannten Gesichtspunkten überprüfen
mehrheit, oder die Regierung konnte – wie während der                      kann, oder auch weil das System der Kardinalgesetze blo-
sozialistisch-liberalen Regierungszeit 1994-1998 – trotz                   ckierend wirken könnte – bedeutet das als solches keine
ihrer Zweidrittelmehrheit keinen Konsens für eine neue                     Untergrabung der Demokratie und keine Umgestaltung
Verfassung in der eigenen Koalition finden.                                des Landes nach Gutdünken des Premiers. Wenn man
   Eine große Mehrheit der angehörten Verfassungs­                         dennoch bei der Ansicht einer „einseitigen Umgestaltung“
experten war sich im Übrigen einig, dass die 1990 überar-                  des Staates bleiben möchte, müsste man hinzufügen, dass
beitete alte Verfassung ihre Rolle zwar erfüllt habe, aber                 dies mit der Ermächtigung einer legitimen Parlaments-
ein Flickenteppich von Änderungen gewesen sei, und                         mehrheit erfolgt, die 2014 ein zweites Mal bestätigt und in
dass die neue Verfassung in ihrer Form von 2011 struktu­                   der Europawahl, stärker als in irgendeinem anderen Land
rell kohärenter sei. Schließlich ist es unstrittig, dass auch              in der EU, bekräftigt wurde. Allerdings kommt es auch
im Sinne eines symbolischen Schlussstriches nur mit                        bei Verfassungsänderungen immer auf die demokratische
einer neuen Verfassung formal mit der kommunistischen                      Qualität der Folgen an.
Vergangenheit gebrochen werden konnte.                                        Deshalb wäre es ratsam, dass Fidesz seine starke Mehr-
   Der Vorwurf einer „einseitigen Umgestaltung“ des Lan-                   heit so nutzt, dass auch die parlamentarische Minderheit
des stimmt insofern, als der neuen Verfassung parteipoli-                  in wichtige Entscheidungsprozesse einbezogen werden
tisch tatsächlich lediglich eine politische Seite zustimmte,               kann. Das allerdings setzt tolerante Bereitschaft hierzu
diese aber auch über die legitimierende Zweidrittelmehr-                   auf beiden Seiten voraus.
heit im Parlament verfügte.
   Durch die Formulierung, die neue Verfassung sei ein
Versuch, „Ungarn einseitig nach den Interessen und Prä-                    Gewaltenteilung
ferenzen des Premiers Viktor Orbán und der politischen
Kräfte, die ihn unterstützen, umzugestalten“ reflektiert                   Beispiel aus der Presseberichterstattung
der zitierte Artikel die in der deutschsprachigen Pres-                   „Orban hingegen nutzt heute die Zweidrittelmehrheit, wie
se häufige Kritik, in Ungarn herrsche eine „gelenkte                       das wohl auch andere Politiker in den ehemaligen kom-
Demo­k ratie“. Diese Kritik wiesen jedoch, trotz mancher                   munistischen Staaten Osteuropas in seiner Lage tun wür-
Vorbehalte, alle angehörten Experten zurück. Im un-                        den, gnadenlos dazu aus, die Macht seiner eigenen Partei
garischen politischen System – der deutschen Kanzler­                      zu zementieren. Nun ging Orban aber noch einen Schritt
demokratie ähnlich – sind die Exekutive und vor allem                      weiter. Mit der am Montag verabschiedeten vierten
der Regierungschef stark. Diese Entwicklung der Macht-                     Änderung des Grundgesetzes reagierte der Fidesz auch
verteilung hatte bereits Mitte der 1990er Jahre begonnen                   auf frühere Urteile des Verfassungsgerichts. Dieses hatte,
und ist seitdem weiter fortgeschritten. Der institutionelle                sehr zum Missfallen Orbans, eine Reihe von Regelungen
Aufbau der Verfassung von 2011 stärkt zwar erneut die                      in den Übergangsbestimmungen für ungültig erklärt.
Regierung und vor allem den Regierungschef; nach den                       Nun wurden einige von ihnen, zwar mit Modifikationen,
Expertenmeinungen aller Seiten bleiben aber die Rege-                      aber doch unter Umgehung des Urteils des obersten
lungen durchaus in einem rechtsstaatlichen Rahmen.                         Gerichts, in den Hauptteil der Verfassung eingeschleust.
Regierungschef Orbán ist sicherlich stärker, als es der                    Eine derartige Aushebelung des Verfassungsgerichts ist
Verfassungstext beschreibt: Er hat weder in den eigenen                    ein Verstoss gegen rechtsstaatliche Prinzipien und auch
Reihen Konkurrenten, noch in der Opposition einen aus-                     ein Schlag gegen die Gewaltenteilung. Das Verfassungs-
sichtsreichen Herausforderer. Zudem ist er eine äußerst                    gericht hatte schon früher Gesetzesprojekte beanstan-
selbstbewusste und machtorientierte Persönlichkeit, die                    det. Es scheint, dass Orban politische Niederlagen nicht
das politische Geschehen in Ungarn klar dominiert.                         ertragen kann. Nur so ist die neuerliche Einschränkung

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Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung   9

der Kompetenzen des Verfassungsgerichts zu erklären,              auch von der Venedig-Kommission16 begrüßte Änderung.
die Vertreter der Regierung allerdings als Erweiterung            Nach der früheren Rechtslage durfte jeder Bürger im
von dessen Spielraum bezeichnen. Die obersten Richter             Wege der Popularklage Gesetze vor dem Verfassungsge-
dürfen künftig Verfassungsbestimmungen in der Regel               richt auf Verfassungskonformität überprüfen lassen und
nur noch auf ihr formal gültiges Zustandekommen über-             zu Fall bringen. Ein Mittel, das in der Wendezeit geeignet
prüfen. Der Inhalt wird damit ihrer Kontrolle entzogen.“15        war, den Ballast verfassungswidriger Gesetze möglichst
                                                                  schnell außer Kraft zu setzen. In jüngerer Zeit jedoch hat
Kritische Reflexion                                               die Popularklage zu einer enormen Belastung des Verfas-
Dass eine Partei ihre Zweidrittelmehrheit zur Stärkung            sungsgerichts geführt. Juristen befürworten aus diesem
ihrer Positionen nutzt, ist demokratisch nicht ungewöhn-          Grund den Wegfall der Popularklage und betonen, es sei
lich. Die Frage ist allerdings, wie weit dies geht: Wo sieht      ausreichend, wenn ein konkret Betroffener gegen einen
die Fidesz-Mehrheit ihre Grenzen? Wäre die verfassungs-           Akt der öffentlichen Gewalt vorgehen könne.
mäßige Ordnung heute noch imstande, der Orbán-Regie-                  Wie seit der Verabschiedung der neuen Verfassung die
rung die notwendigen Grenzen zu setzen?                           Kontrolle durch das Parlament funktioniert, konnte man
    Der zentrale Vorwurf zielt auf die Anwendung so-              angesichts der erneut erworbenen Zweidrittelmehrheit
genannter Verfassungstricks: Die Parlamentsmehrheit               von Fidesz schwer überprüfen: Es gibt keine ausreichend
nehme vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig                starke Opposition, um eine Kontrolle parlamentarisch
befundene Regelungen durch eine Verfassungsänderung               wirkungsvoll auszuüben.
in den Text der Verfassung auf und entziehe sie so einer              Dass es aber eine richterliche Kontrolle auch heute gibt,
verfassungsrechtlichen Kontrolle.                                 ist unbestritten. Allerdings könnte das Prinzip der Ge-
    Dass die parlamentarische Mehrheit die Kontroll-              waltenteilung insofern beeinträchtigt sein, als die Fidesz-
funktion eines Verfassungsgerichts einschränken kann,             Zweidrittelmehrheit bei der Besetzung des Verfassungs-
ist international übliche Praxis. So hat zum Beispiel             gerichts zwar vorrangig fachkundige, aber doch regie-
Deutschland eine Schuldenbremse in das Grundgesetz                rungsnahe Verfassungsrichter berief. Auch die Leitung der
eingefügt, die auch das Bundesverfassungsgericht bindet,          Justizbehörde durch eine regierungsnahe Juristin könnte
allerdings ohne die Einschränkungen, die im ungarischen           möglicher­weise keine ausreichende Unabhängigkeit ge-
Grundgesetz heute in Artikel 37 Absatz 4 gelten. Dass das         währleisten. Die Ausübung der Gewaltenteilung wäre dann
Verfassungsgericht nicht über inhaltliche, sondern ledig-         durch die Personalpolitik der Regierung beeinträchtigt.
lich über formale Kontrollfunktionen von Verfassungs-             Hier erscheint in der Tat eine Korrektur im Regierungshan-
vorschriften und -änderungen verfügt, war in Ungarn               deln geboten: Die Besetzung derartiger zentraler Funktio-
auch früher so und wurde in der neuen Verfassung erneut           nen im Rechtsstaat sollte unter allen Umständen transpa-
kodifiziert. Die Presse, etwa der zitierte Artikel, bewertet      rent und auch für die jeweilige Opposition zugänglich sein.
dies jedoch unrichtig als einen neuen Kompetenz-Entzug.
Im Übrigen diskutieren heute in Deutschland der Bundes-
minister des Inneren, Verfassungsexperten und Parteien            Unabhängigkeit der Justiz
offenbar auch, ob man nicht die Fünfprozentklausel des
deutschen Wahlrechts in die Verfassung aufnehmen                  Beispiel aus der Presseberichterstattung
sollte, nachdem das Bundesverfassungsgericht für die             „Aus Sorge um die Demokratie in Ungarn leitet die EU drei
Europawahl jede Prozentschwelle verboten hatte und                Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung von
man ein solches richterliches Verbot für die Wahlen zum           Viktor Orbán ein.
Deutschen Bundestag ausschließen möchte.                            …Das erste Verfahren richtet sich gegen ein Gesetz, das
    Das Verfassungsgericht in Ungarn wurde im Übrigen             das Rentenalter von Richtern von 70 auf 62 Jahre herun-
nicht „entmachtet“, gewisse Kompetenzen wurden aller-             tersetzt. Formal wird Budapest vorgeworfen, damit gegen
dings umgestaltet: In bestimmten Fällen bekam es weni-            das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters zu
ger Macht, in anderen Fällen wurde es mit mehr Macht              verstoßen. Das normale Rentenalter liegt auch in Ungarn
ausgestattet. So erfolgte beispielsweise die Abschaffung          höher. Tatsächlich aber unterstellt man in der Kommis-
der allgemeinen Popularklage (actio popularis) und die            sion, dass Orbán sich mit diesem Gesetz unliebsamer
Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Gerichts-           Richter entledigen und deren Stellen mit Gefolgsleuten
entscheidungen nach deutschem Muster – eine von der               besetzen will. Noch in diesem Jahr wären 274 Richter von
Rechtswissenschaft schon seit 20 Jahren geforderte und            der erzwungenen Frühpensionierung betroffen.

                                                                                                        DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
10   Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung

…Zusätzlich zur Eröffnung dieser drei Verfahren verlangt                    Wende als Richter wirkten; 2012 war von diesen jedoch
die Kommission von der Regierung Orbán schriftlich noch                      keiner mehr im Amt.
weitere Auskünfte über die Justizreform. In der Kommis-                         Zum Vergleich: In Deutschland sind nur noch sehr
sion gibt es die Sorge, dass die Unabhängigkeit der Justiz                   wenige ehemalige DDR-Richter im Amt;19 im Bundesver-
insgesamt nicht europäischen Standards entspricht.“17                        fassungsgericht sind sie nie vertreten gewesen. Hierbei
                                                                            gilt jedoch zu berücksichtigen, dass in Ostdeutschland
Kritische Reflexion                                                          alte Eliten durch neue Eliten aus der alten Bundesrepu-
Die umstrittene gesetzliche Regelung sah die Absenkung                       blik ersetzt werden konnten. Diese Situation war in den
des Pensionsalters für Richter (damals 70 Jahre) auf das                     postsozialistischen Staaten nicht gegeben, was zu den
 seinerzeit in Ungarn geltende allgemeine Renteneintritts-                   von der Orbán-Regierung beanstandeten Problemen
alter von 62 Jahren vor. Allerdings stand schon damals                       führte; allerdings wurde hier durch den Versuch einer
fest, dass das allgemeine Renteneintrittsalter demnächst                     vorzeitigen Pensionierung das Prinzip der richterlichen
auf 65 Jahre angehoben werden würde. Dieses sogenann-                       ­Unabhängigkeit verletzt.
te Richtergesetz sah die Entlassung der Richter (über 62)                       Ähnlich wie das Gesetz über die Frühverrentung der
auch bei entsprechender Reduzierung ihrer Rentenan-                          Richter wurde auch das Gesetz über die Verlegung von
 sprüche vor; ebenso der Staatsanwälte und Notare. Es                       Justizverfahren von einem Gericht an ein anderes als Ver-
ging um mehrere hundert Positionen. Angesichts des Be-                       stoß gegen die rechtsstaatlichen Grundprinzipien kritisiert
rechnungssystems der Pensionen waren damit zum Teil                          und auf Druck der EU rückgängig gemacht, obwohl die Fi-
erhebliche Einbußen bei der Altersrente der betroffenen                      desz-Regierung alle Gesetze der Staats- und Justizreform
Personen verbunden.                                                          als EU-konform betrachtete. So weigerte sie sich auch
    Die Europäische Kommission drohte mit einem                              zunächst, diese Gesetze zurückzunehmen. Die gesetzliche
Vertragsverletzungsverfahren. Brüssel begründete                             Möglichkeit der Verlegung von Justizverfahren von einem
dies ­damit, dass das Gesetz eine Altersdiskriminierung                      Gericht an ein anderes bezweckte nach nachvollziehbarer
­bedeute. Nachdem das Gesetz rückgängig gemacht ­w urde,                     offizieller Begründung eine gleichmäßigere Verteilung der
wurde für die Geburtsjahrgänge ab 1945 das Rentenein-                        Fälle auf alle Gerichte, da insbesondere die Budapester
trittsalter von 70 auf 65 Jahre stufenweise abgesenkt,                       Gerichte extrem überlastet waren.20 Alle Experten bestä-
ebenso wurden entsprechende rentenrechtliche Anpas-                          tigten die Überbelastung der Gerichte. Aufgrund dieses
 sungen eingeführt. Im europäischen Vergleich: Auch                          Zustands war vor 2010 die Qualität des Rechtsstaats inso-
das deutsche Grundgesetz erlaubt in Artikel 97, ­Absatz 2,                   fern problematisch geworden, als viele Fälle verjährten,
Richter früher in den Ruhestand zu versetzen. Von dieser                     bevor sie verhandelt werden konnten. Oft konnten selbst
Möglichkeit wurde auch durch ein Richtergesetz Ge-                           eindeutig schuldige Angeklagte nicht verurteilt werden;
 brauch gemacht. Oder: In Italien hat Ministerpräsident                      Ungarn war wegen zu langer Gerichtsverfahren sogar von
Matteo Renzi vor kurzem das richterliche Rentenalter von                     der EU kritisiert worden. Folglich beurteilte vor den Regie-
75 auf 70 heruntergesetzt, eine weitere Abstufung auf 66                     rungsmaßnahmen auch die Bevölkerung das Justizsystem
Jahre ist bis 2016 geplant. Diese Maßnahme wurde aller-                      nicht sehr positiv.
dings von der EU als Reform des Rentensystems und als                           Dennoch war die EU-Kritik berechtigt: Wenn Verfah-
Arbeitsplatzbeschaffung für junge Richter begrüßt. Eini-                     ren an ein anderes Gericht überwiesen werden können,
ge ungarische Journalisten meinen deshalb, die EU messe                      besteht immer die Möglichkeit, in bestimmten Fällen ein
bei Italien und Ungarn offenbar mit zweierlei Maß.18                         regierungsfreundlicheres Gericht auszuwählen. Auch
    Allerdings war in Ungarn die gesetzliche Absenkung                       bemängelten die Kritiker, dass die Verlegung in andere
des Rentenalters von Richtern von ursprünglich 70 auf 62                     Städte einen enormen Aufwand für die beteiligten Par-
Jahre offensichtlich auch eine parteipolitisch motivierte                    teien bedeuten könne, was ihr Recht auf ein faires und
Maßnahme der Fidesz-Regierung. Die Frühverrentung                            unabhängiges Verfahren einschränken könne.
der Richter sollte den Elitenwechsel auch bei der Rich-                         Es erscheint zwar verfehlt, der Orbán-Regierung vor-
terschaft ermöglichen. Vermutlich hegte die Regierung                        zuwerfen, in Ungarn sei heute der Rechtsstaat bedroht;
älteren Juristen gegenüber Misstrauen, weil in Ungarn bis                    dieser Meinung war keiner der Experten. Richtig bleibt
 heute noch Richter im Amt sind, die bereits vor 1989 in                     aber, dass bestimmte Schritte der Regierung, mit denen
diesem Beruf tätig waren. Auch im ungarischen Verfas-                        sie eine Ablösung von aus ihrer Sicht postkommunisti-
 sungsgericht waren Richter vertreten, die schon vor der                     schen Strukturen und Personalien anstrebte, rechtsstaat-
                                                                             liche Probleme auslösen konnten und insofern im Detail

 DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
Ungarn in den Medien 2010-2014: Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung   11

auch kritikwürdig und korrekturbedürftig waren. Daraus
jedoch eine die Demokratie gefährdende Tendenz zur Be-               Die neue Wahlkarte – „Gerrymandering“
drohung der Gewaltenteilung abzuleiten erscheint nach                Ein neues Wahlrecht war aus unterschiedlichen Gründen
allen Beratungsergebnissen so nicht haltbar.                         erforderlich: Einerseits wegen der von allen Seiten be-
                                                                     grüßten sinnvollen Verkleinerung des Parlaments von 386
                                                                       auf 199 Sitze.22 Andererseits war die frühere Aufteilung
Wahlrecht                                                            der Wahlbezirke verfassungswidrig und entsprach nicht
                                                                     den Empfehlungen der Venedig-Kommission, weil sie zu
Beispiel aus der Presseberichterstattung                             große, teilweise dreifache Unterschiede in der Einwoh-
„Dass Orban laut einigen Demoskopen sogar erneut mit                 nerzahl zwischen einzelnen Wahlbezirken enthielt. Diese
 einer verfassunggebenden Zweidrittelmehrheit rechnen                Verfassungswidrigkeit beanstandete das Verfassungsge-
 kann, liegt allerdings auch im tiefgreifend veränderten             richt bereits in einem Beschluss im Jahr 2005 und forderte
 Wahlrecht begründet, das seine Partei nach Ansicht vieler           das Parlament auf, mit Zweidrittelmehrheit die Unver-
 Kritiker in mehrerer Hinsicht bevorteilt.                             hältnismäßigkeiten in den Wahlbezirken zu beheben.
   … Beanstandet wird aber vor allem, dass die Eintei-               Dies erfolgte damals nicht, da die verfassungsmäßige
 lung der Wahlbezirke willkürlich erfolgte und einseitig             Änderung des Wahlgesetzes im Vorfeld der Parlaments-
 Fidesz nütze, denn traditionell linke Hochburgen wur-               wahlen 2006 nach der Meinung einiger Experten nicht im
 den aufgeteilt und konservativen Kreisen zugeschlagen               Interesse der damaligen sozialistisch-liberalen Regierung
 oder vergrößert. Dieses sogenannte Gerrymandering ist               war, ebenso wenig in ihrer zweiten Amtszeit 2007, nach
 zwar eine verbreitete Praxis regierender Parteien, das              einer zweiten Aufforderung des Verfassungsgerichts. Es
 Ausmaß erscheint aber beträchtlich. So hat etwa der                 ist auch nicht sicher, ob die Opposition in den Jahren 2005
 regierungskritische ungarische Think-Tank Political                 oder 2007 – damals also Fidesz – diese Gesetzesänderung,
 Capital ausgerechnet, dass das linke Oppositionsbündnis             für die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforder-
 etwa 300 000 Stimmen mehr braucht als Fidesz, um eine                 lich war, konstruktiv unterstützt hätte.
 Parlamentsmehrheit zu erlangen. Dies entspricht fast vier                Eine neue Wahlkreiskarte wäre demnach eigentlich
 Prozent der Wahlberechtigten. Heikel ist zudem, dass die              seit 2005 erforderlich gewesen. Es ist auch von allen
 Neuordnung als Kardinalgesetz erlassen wurde und des-               ­Seiten anerkannt, dass nach der neuen Wahlkreiskarte
 halb nur mit Zweidrittelmehrheit angepasst werden kann              die Bevölkerungszahlen der Wahlkreise ausgewogener
– was allerdings auch für das alte Wahlrecht galt.“21                  sind, als dies nach der alten Karte der Fall war, auch
                                                                     wenn man gewisse Züge des „Gerrymandering“ – d.h.
Kritische Reflexion                                                  Wahlkreiszuschnitte zugunsten von gestaltenden
 Der im zitierten Artikel erhobene Vorwurf, dass Fidesz               ­Mehrheiten – erkennen kann.
das Wahlrecht nach ihren eigenen Bedürfnissen ­gestaltet             Gerrymandering ist in vielen Demokratien üblich. Die
  habe, kam oft auch in den Wahlanalysen vor, welche                 USA, auch einige europäische Länder, sind dafür Vor-
die Parlamentswahlen 2014 als „frei, aber nicht fair“                  bilder. Diese Praxis stellt an sich noch kein Demokra-
charakterisierten. Zu diesem Schluss kamen auch das                    tiedefizit dar. Problematisch ist, dass die Fidesz-KDNP-
 ­ungarische Forschungsinstitut Political Capital und die            Regierung die Opposition nicht an der Gestaltung der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in                    Wahlkreise mitwirken ließ und ihr keine Möglichkeit zur
­Europa (OSZE): Die Wahlen nach dem neuen Wahlrecht                  Einflussnahme bot. Das bleibt auch dann problematisch,
  seien „frei“, weil für alle Parteien die gleichen Regeln gel-      wenn man weiß, dass die zuvor gültige Wahlkreiskarte
  ten, das neue Wahlrecht enthielte trotzdem Elemente, die             noch von der letzten kommunistischen Regierung und
die jetzige Regierungsseite begünstigten – deshalb seien             ebenfalls ohne jeglichen Konsens beschlossen worden
die Wahlen nicht „fair“.                                             war, was damals eindeutig die Linke begünstigte.
     Als problematische Elemente des Wahlrechts werden                    Auch wenn es, wie in allen demokratischen Staaten,
einerseits die neue Wahlkreiskarte, andererseits die                 eine Tendenz zum Zuschnitt der Wahlkreise zugunsten
Wahlwerbungsregelung und zudem die sogenannte Ge-                    entsprechender Mehrheiten gibt, war auch nach Ansicht
winnerkompensation angesehen.                                        der Kritiker des neuen Gesetzes die neue Wahlkreiskarte
                                                                       nicht Ursache von Orbáns Wahlsieg im Jahr 2014. Auch
                                                                       nach der alten Einteilung hätte Orbán die Wahl klar
                                                                     gewonnen – allerdings wohl nicht zum zweiten Mal eine

                                                                                                           DGAPbericht / Nr. 29 / Mai 2015
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Zweidrittelmehrheit erreicht – und somit die verfassungs-                    ­ iederum von ihr als oppositionsnah bezeichneten Zivil-
                                                                             w
ändernde Mehrheit verloren.                                                  organisationen vor, parteipolitische Kampagne gegen die
   Im Übrigen sind diese Wahlbedingungen in keiner                           Regierung zu betreiben, und zwar mit finanzieller Unter-
Demokratie perfekt gerecht: Man denke an das britische                        stützung der Norway Grants.23 In diesem Zusammenhang
Mehrheitswahlrecht oder die Rolle der Wahlmänner                             erhob Viktor Orbán in seiner Rede in Băile Tuşnad im
in den USA, die zum Beispiel im Jahr 2000 Präsident                           Sommer 2014 den Vorwurf, die Zahlungen „ausländischer
Georg W. Bush den Wahlsieg ermöglichten, obwohl er                           Interessengruppen“ wie der Norway Grants dienten der
bei den Wählerstimmen in der Minderheit war. Das                              politischen Einflussnahme in Ungarn anstatt der sozia-
ungarische Wahlsystem als undemokratisch zu charak-                           len Wohlfahrt, und aus diesem Grund sei eine staatliche
terisieren erweist sich im internationalen Vergleich als                     Kontrolle nötig. Auch wenn unabhängige Prüfer, wie die
unverhältnis­mäßig.                                                          Unternehmensberatung Ernst & Young, in ihren ­f rüheren
                                                                             Berichten Unregelmäßigkeiten bei den Stiftungen
Wahlwerbung – in Fernsehen und                                               Ökotárs und Demnet, die die Zuwendungen des Norway
auf Plakatflächen                                                            Grants in Ungarn verwalten, feststellten – etwa, dass
In den öffentlich-rechtlichen Medien sind die Wahl-                           über die Bewerbungen keine unabhängigen Gutachter,
werbezeiten unter den Parteien fair verteilt. Als unfair                      sondern Mitarbeiter aus dem Umfeld der Stiftung Ökotárs
wahrgenommen wird, dass in den öffentlich-rechtlichen                        entschieden, oder dass bestimmte Gruppen auffällig häu-
Medien Parteiwerbung nur in einem begrenzten Rah-                            fig begünstigt und andere nie unterstützt wurden –, soll-
men gesendet werden darf, Kampagnen der Regierung                             ten die Kontrollen dem Sachverhalt angemessen bleiben.
(sogenannte Informationskampagnen) hingegen unbe-                            Jedoch fiel die Kontrolle der Regierungsbehörde mit einer
grenzt möglich sind. Privatsender müssen allen Parteien                      Hausdurchsuchung unter Polizeieinsatz und Beschlag-
die gleiche Werbezeit zur Verfügung stellen, dürfen aber                      nahme von Dokumenten bei den Stiftungen Ökotárs und
Wahlwerbung nur kostenlos ausstrahlen. Wegen dieser                          Demnet völlig unangemessen aus, und sie kann mit Recht
Regelung sind Privatsender an Wahlwerbung wirtschaft-                         als Einschüchterungsversuch oder Machtdemonstration
lich nicht interessiert, obwohl man die meisten Menschen                      kritisiert werden. Umso mehr, da sich die Stiftungen bei
gerade über sie erreichen könnte. Deshalb verlagerte sich                     früheren Kontrollen den Behörden gegenüber koopera-
die ­K ampagne auf die Straße und in die Zeitungen – zwei                     tiv gezeigt hatten. Die große Besorgnis der ungarischen
Gebiete, auf denen Fidesz Marktvorteile besaß, denn die                      Opposition wie internationaler Beobachter kann vor
meisten Plakatwerbeflächen gehören dem bis Februar                           dem Hintergrund des Vorgehens gegenüber Ökotárs und
2015 Orbán-nahen Geschäftsmann Lajos Simicska.                               ­Demnet geteilt werden.
   Die Regelung der Plakatwerbeflächen für Wahlkampf-
zwecke bezieht sich wiederum einzig auf Parteien, nicht                      Gewinnerkompensation
aber auf Informationen der Regierung und auf Nichtre-                       Ist die im neuen Wahlgesetz eingeführte sogenannte
gierungsorganisationen (NGOs). Das hat einerseits zur                       Gewinnerkompensation kritikwürdig? International ist
Folge, dass auf Plakatflächen, auf denen die Parteien                       in gemischten Wahlsystemen meist eine Kompensation
keinen Wahlkampf führen dürfen, Regierungsinformati-                        der Verlierer bekannt: Das bedeutet, dass die ineffektiven
onen erscheinen können, sogar wenn diese wortwörtlich                       Stimmen, die auf Kandidaten der zweiten und dritten
identisch mit einer Parteiwahlwerbung sind. Andererseits                    Plätze abgegeben wurden, auf einer Kompensationsliste
führt diese Regelung zu einem großen Vorteil finanziell                     gesammelt werden und zu Mandaten führen können.
bessergestellter Parteien: Sie können einen Teil ihrer                      Doch nach dem neuen ungarischen Wahlrecht können
Kampagne in ihnen nahestehende NGOs auslagern und                           auch diejenigen Stimmen des Gewinners auf eine Kom-
so indirekt mehr Mittel als das für Parteien erlaubte Aus-                  pensationsliste kommen und zu Mandaten werden, die
gabenlimit von 995 Millionen Forint (etwa 3,3 Millionen                     den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten
Euro) für Kampagnenzwecke verwenden; eine Obergren-                         Kandidaten in einem Wahlbezirk ausmachen, d.h. die
ze von Werbeausgaben für Zivilorganisationen existiert                      zum Sieg nicht mehr nötig gewesen wären. Diese Rege-
nämlich nicht. Diese „Kooperation“ soll beim „Forum                         lung begünstigt überproportional die stärkste Kraft.
für zivilen Zusammenhalt“ (auf Ungarisch CÖF) der Fall                      Auch diese Regelung kann einen Sinn haben, soweit es
gewesen sein, das sich im Wahlkampf 2010 mit mehre-                         um die Herstellung einer regierungsfähigen Mehrheit
ren Großkundgebungen und Plakat-Aktionen für Fidesz                         geht. So wird zum Beispiel in Italien die Mandatenzahl
stark gemacht haben soll. Die Fidesz-Regierung wirft                        des Parteienbündnisses, das die relativ höchste Zahl der

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