Dialog - Staat statt Vertrag? Im Fokus: Tarifpartnerschaft in der Sackgasse - CSS Versicherung
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Tarifpartnerschaft von der Rolle Seite 4 Plötzlich schwingt das Pendel zurück Seite 8 dialog im Staat statt Vertrag? Im Fokus: Tarifpartnerschaft in der Sackgasse Ausgabe 1 / 2015
Echo Andreas Faller, Berater im Gesundheitswesen und Rechtsanwalt Albert Einstein Selbst ist Einstein der Weisen der Mann «Die Akteure sind sehr wohl in «Probleme kann man niemals der Lage, ohne staatliche mit derselben Denkweise lösen, Regelung gute Abmachungen durch die sie entstanden sind.» zu treffen.» Schweiz.-amerik. Physiker, Erfinder Basler Zeitung, 6. Oktober 2014 der Relativitätstheorie, Nobelpreisträger für Physik (1879–1955) Ernst Gähler, Vizepräsident der FMH Chefsache «Tarifrevision muss Sache der Tarifpartner bleiben.» Schweizerische Ärztezeitung, 23 /2013 Henry Kissinger Pareto- Optimum gesucht! Charles Favre, Präsident H+ «Ein Kompromiss ist nur dann Fischen mit gerecht, brauchbar und dauer- haft, wenn beide Parteien damit gleich unzufrieden sind.» Handgranaten «Wer mit dem Brecheisen in Amerikanischer Politiker und Friedensnobelpreisträger *1923 eine komplexe Tarifstruktur eingreift, erntet zu Recht Kritik und Widerstand.» H+ Jahresbericht 2013
Editorial/Inhalt Folgen Sie uns auf Twitter: twitter.com/CSSPolitik Rückbesinnung Philomena Colatrella ist tut not Generalsekretärin der CSS philomena.colatrella@css.ch Inhaltsverzeichnis Zwischenmenschlich gesehen bezeichnet Partnerschaft eine auf Freiwilligkeit basierende soziale Gemeinschaft zwischen zwei Menschen, die gewissen Spielregeln unterliegt. Was auf dieser Ebene in der Regel noch leidlich funktioniert, wird 4 Tarifpartnerschaften eine Stufe höher bereits sehr anspruchsvoll. Dann nämlich, Tarifpartnerschaft von der Rolle wenn sich Unternehmen, Institutionen oder Interessenver- 6 Standpunkt bände zugunsten eines gemeinsam angestrebten Vorhabens «Das drohende Ende der Tarifautonomie» finden sollen. Von Partnerschaft – also dem Streben, ein gemeinsames Ziel zu erreichen – bleibt in vielen Fällen nicht 8 Hintergrund mehr viel übrig. Aus Partnern werden nicht selten Gegen- «Plötzlich schwingt das Pendel zurück» spieler. Die gemeinsame Sache rückt zulasten der Eigeninte- 10 Praxis ressen in den Hintergrund. Suche nach dem gemeinsamen Nenner Das Schweizer Gesundheitswesen ist ein gutes Beispiel, wie 11 Die andere Sicht Tarifpartnerschaft in vielen Fällen nicht mehr funktioniert. Faire Preise zahlen sich aus Egal, ob TARMED oder Physiotarif: Immer häufiger zeigt sich, 12 Im Gespräch dass die involvierten Tarifpartner nicht mehr fähig sind, «Es geht um Milliarden! Klar, dass das sich auch nur schon auf den kleinsten gemeinsamen Nenner Zwist gibt.» zu einigen. Aber je löchriger eine Tarifpartnerschaft wird Persönlich 16 und je schwächer die Tarifpartner sind, desto eher lassen sich «Auf Kosten der Qualität» staatliche Regulierungen durchsetzen. Aus der Win-win- Situation, die der Tarifpartnerschaft ursprünglich zugrunde Santé! 18 gelegen hat, wird so immer mehr eine Situation, in der es «Will der Staat unsere Gesundheit nur noch Verlierer gibt – mit dem Staat als lachendem Dritten. oder unser Geld?» Die Tarifpartner müssen sich wieder auf die Bedeutung 19 Wissenschaft des Wortes «Partnerschaft» besinnen. Zum Wohle der Ver- Vom Preis- zum Qualitätswettbewerb sicherten. Impressum Erscheint dreimal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Herausgeber: CSS Versicherung, Tribschenstrasse 21, CH-6002 Luzern, E-Mail: dialog@css.ch, Internet: www.css.ch, Chefredaktion: Riccarda Schaller, Roland Hügi; Redaktionelle Mitarbeit, Produktion und Grafik: Infel Corporate Media, Claudia Sebald (Text) und Franziska Neugebauer (Art Direction) | Bildnachweis: zVg, mit freundlicher Unterstützung Sorell Hotel Ador, Manuela Specker, Beat Schweizer, Blatthirsch/Jeannette Meier Kamer, Grafilu, Berenika Oblonczyk, Olivier Vogelsang | Lithos: n c ag, 8902 Urdorf | Druck: Kromer Print AG, 5600 Lenzburg. Diese Publikation wird vollständig aus Mitteln aus dem Zusatzversicherungsgeschäft (VVG) finanziert. im dialog 1/2015 3
Tarifpartnerschaften Die Zuständigkeiten im Gesundheitswesen sind nicht mehr klar fest- gelegt. Die Folge davon: mangelndes Verantwortungsbewusstsein und fehlende Innovationen. Krankenversicherer brauchen nun dringend ein neues Selbstverständnis als mitverantwortliche Akteure. Nur so kann der stetig zunehmende Staatseinfluss zurückgedrängt werden. Von Heinz Locher Tarifpartnerschaft von der Rolle W erden in der Alpwirtschaft Wei- tischen Staaten wird diese ohnehin schon sehr hohe den nicht gemäht oder abge- Komplexität durch die «vertikale» Dimension des Ver- weidet, Gebüsch und unge- hältnisses zwischen Teilstaaten und dem Bundesstaat eignete Pflanzen nicht entfernt noch erhöht. Gemäss Artikel 117 der Bundesverfas- und der Wald nicht klar abge- sung erlässt der Bund Vorschriften über die Kran- trennt, überwuchert Gebüsch ken- und Unfallversicherung. Gestützt auf diesen die vormaligen Weiden, der Wald verkümmert, die Al- Auftrag ist das KVG erlassen worden. Weil aber eine pen verganden. Dieses Bild umschreibt das Geschehen entsprechende Aufgabenübertragung an den Bund im schweizerischen Gesundheitssystem treffend, man zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung fehlt, muss nur die Bezeichnungen Weiden, Wald, Gebüsch bleiben die Kantone hierfür zuständig. Dieses hybride durch Staat, Leistungserbringer und Versicherer erset- System führt zu vielfältigen Schnittstellen. Unter dem zen. Jeder Position waren ursprünglich klar nachvoll- Titel «Krankenversicherung» kann der Bund auch in ziehbare Rollen zugedacht, Regeln soll(t)en das Ge- die Gesundheitsversorgung eingreifen, beispielswei- schehen in geordnete Bahnen lenken. Leider sind die se mit den Vorschriften zur Ausstattung von Spitälern. vergangenen 18 Jahre seit Inkrafttreten des KVG durch Beide «Logiken» haben ihre eigene Legitimation. Das eine zunehmende Vermischung dieser Rollen charak- Beispiel der Interkantonalen Vereinbarung betreffend terisiert. Das Gesamtsystem die Hochspezialisierte Medizin zeigt dies deutlich auf: vergandet. Handelt es sich um die Abstimmung kantonaler Spital- planungen? Oder um die Konkretisierung der Bestim- In Kürze Worum geht es? mungen über die Voraussetzungen und den Umfang Die Gestaltung des recht- der Leistungsübernahme durch die obligatorische • Das Vertragsprimat ist lichen Rahmens und der Krankenpflegeversicherung? der Angelpunkt eines massgebenden Regeln ei- wettbewerblichen nes Wirtschaftsbereichs ist Vom Elend des Vertragsprimats Gesundheitswesens. Gegenstand der Ordnungs- Gemäss den Bestimmungen des KVG schliessen zudem politik. Sie fragt unter an- die Leistungserbringer und die Versicherer Tarifverträge • Die unklare Rollen- derem nach den Mechanis- ab. Dieses Vertragsprimat stellt den Angelpunkt eines trennung von Bund men, mittels deren Angebot wettbewerblich ausgestalteten Gesundheitssystems und Nachfrage aufeinander dar. Leider ist es in den vergangenen Jahren immer und Kantonen und abgestimmt werden, wer mehr verwässert worden, so insbesondere durch im- die Uneinigkeit der Eigentum an Produktions- mer engere Vorschriften bezüglich der geforderten ein- Tarifpartner haben zur mitteln erwerben kann oder heitlichen Tarifstruktur. Die Kantone wurden zudem zur jetzigen Blockade ob Vertragsfreiheit zwischen Mitfinanzierung der Leistungen im stationären Bereich geführt. den Akteuren besteht. Ideal- verpflichtet, ohne sie aber als Tarifpartner zu qualifizie- typisch wird zwischen plan- ren. Dieser fehlende Status hinderte sie aber nicht dar- • Die Krankenversicherer wirtschaftlichen und markt- an, eine Vertretung im Verwaltungsrat der SwissDRG AG sind in der Pflicht, mit wirtschaftlichen Systemen zu fordern und sogar wiederholt dessen Präsidium zu innovativen Ansätzen unterschieden. In föderalis- übernehmen. Die Leistungserbringer und Krankenversi- den Staatseinfluss zurückzudrängen.
Tarifpartnerschaften Schweizerische Tarifstrukturen, aufgeschlüsselt in Struktur und Preis1 FMH 5,119 Mrd.2 H+ Spitalleistungen SwissDRG 3,354 Mrd.2 stationär GDK Arztleistungen im Spital KVV FMH H+ Spital Die Krankenversicherer oder Einkaufs- TARMED gemeinschaften verhandeln mit jedem der MTK KV 289 Spitäler oder Spitalverbunde einzeln. KVV EG EG KA KA TI TG EG EG KA KA EG UR VS EG KA SZ KA SO EG VD EG EG KA EG KA SH ZG KA EG 3,201 Mrd.2 KVV KA SG 5,670 Mrd. 2 ZH Leistungsorientierte KA Abgeltung der EG Arztleistungen in EG OW AG Apotheker (LOA) der Praxis inkl. SL/ALT PS KA KA EG NW AR AI KA EG EG NE EG KA KA KA BL EG BE EG JU GL KA LU EG KA FR PTV EG EG KA KA EG KA EG PTV GR KA BS EG PTV ZH PTV EG GE EG EG VS AI EG KA KA VD PTV PTV KA EG EG EG EG PTV PTV EG AG EG BE EG PTV arifstruktur (Genehmigungsbehörde: Bund) T ZG UR AR Preis (Genehmigungsbehörde: Kanton) PTV PTV PTV TI Keine Trennung von Tarifstruktur und Preis BL EG BS EG MH (Verbindung der Schweizer Ärztinnen F PTV und Ärzte) MTK (UVG, IV, MV) FR EG H+ (Die Spitäler der Schweiz) KVV 663 Mio.2 PTV KVV (Krankenversichererverbände) GE GDK (Schweiz. Konferenz der kant. Gesund- Physiotarif PTV EG heitsdirektorinnen und -direktoren) GL PTV Physiotherapie in EG PTV (Physiotherapieverbände) freier Praxis PS (Pharmasuisse) EG GR Kantone JU PTV KA (Kantonale Ärztegesellschaften) EG KV (Einzelne Krankenversicherer) PTV SZ EG (Einkaufsgemeinschaften der Kranken- PTV SH versicherer) PTV TG OW EG NE LU PTV (Kantonale Physiotherapeutenverbände) PTV EG EG EG EG EG PTV PTV PTV SO NW 1 Beschränkung auf TARMED, SwissDRG, LOA inkl. SL/ALT und Physiotherapie. Weitere verhandelte Tarifstrukturen im PTV SG Gesundheitswesen: Chiropraktoren-Tarif, Tarif für Ernährungsberatung, Tarif für Diabetesberatung, Tarif für Ergotherapie, EG PTV Schweiz. Hebammentarif, Logopädie-Tarif, Tarifstruktur für Primär- und Sekundärtransporte etc. PTV EG EG 2 Quelle: Bruttoleistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) im Jahr 2013, Datenpool SASIS. im dialog 1/2015 5
Standpunkt Die Tarifpartner sind zu stark von Eigeninteressen geleitet. Es wird Zeit, dass sie endlich ihre Verantwortung wahrnehmen – sonst drohen Staatstarife. «Das drohende Ende der Tarifautonomie» Die tarifpartnerschaftliche Verantwortung arztmedizin ist eine bittere Kerbe für die von Leistungserbringern und Kranken- Tarifautonomie, aber durch die Tarif- versicherern würde darin liegen, ihren partner selbst verschuldet. Allgemeines Gerd Marschall ist Gestaltungsspielraum zu nutzen und Wehklagen und Kritik am Bundesrat Fachspezialist Tarifstrukturen/ gemeinsam tragfähige und innovative sind nicht angebracht. Vielmehr müssen Gesundheitspolitik bei der CSS Lösungen zu entwickeln. Im Rahmen die Tarifpartner – und zwar alle – jetzt gerd.marschall@css.ch der Tarifautonomie hätten sie durchaus ihre Verantwortung wahrnehmen. Nur Möglichkeiten, Einfluss auf die Ausge- wenn das gelingt, lässt sich das Mass staltung des Gesundheitswesens zu neh- staatlicher Eingriffe beschränken. men. Dieser Rahmen ist zweifellos Es muss den Tarifpartnern bewusst sehr eng, weil gesetzliche Vorgaben die sein, dass Verhandlungsergebnisse nur Verhandlungsfreiheit einschränken. dann umsetzbar sind, wenn sie den Die vorhandenen Möglichkeiten sind in Genehmigungsanforderungen der Be- der Vergangenheit aber nicht wahr- hörden entsprechen. Im Falle der genommen worden. laufenden TARMED-Revision käme es Die Tarifstruktur TARMED ist das beste einem Vabanquespiel gleich, wider Beispiel. Die bisherigen, über Jahre besseres Wissen eine Tarifstruktur zur dauernden Versuche einer gemeinsamen Genehmigung einzureichen, welche Revision der Tarifstruktur waren über- diese Anforderungen nicht erfüllt. Wird auf wiegend geleitet von Eigeninteressen mit diese Karte gesetzt, geht das Spiel der Folge einer dauerhaften Blockade. verloren. Der Bundesrat wird erneut die Dass die Politik aufgrund dieses Versagens aus seiner Sicht notwendigen Anpas- der Tarifpartner handeln musste, darf sungen an der Tarifstruktur vornehmen, kaum jemanden überraschen. Es war auch der TARMED wird für lange Zeit zu absehbar, dass der Bundesrat, nach- einem Staatstarif und die Tarifautonomie dem er seit dem 1. Januar 2013 über die zu einer leeren Hülle. Schuld daran subsidiäre Kompetenz verfügt, Anpas- werden diejenigen sein, die – getrieben sungen an Tarifstrukturen vornehmen zu von Eigeninteressen – ihre Verant- können, diese früher oder später an- wortung für die Entwicklung des Gesund- wenden wird. Seine Verordnung zur An- heitswesens nicht wahrnehmen. Und passung der Tarifstruktur TARMED zum vergessen wir nicht: Verlierer sind letztlich Zweck der Besserstellung der Haus- Patienten und Versicherte. cherer haben das Ihrige zur Aufweichung des Vertrags- werden – ebenso auf der Spitalseite, um ein Gegen- primats beigetragen, namentlich durch das immer häu- gewicht zu schaffen. figere Zulassen von vertragslosen Zuständen. Sie haben Dem Vertragsprimat kommt auch eine hohe Be- damit breite Einfallspforten für staatliche Interventionen deutung für die Ausgestaltung der Gesundheitsver- geöffnet, deren Höhepunkt die Zubilligung von Kompe- sorgung und der Innovationen in diesem Bereich zu, tenzen an den Bundesrat zur materiellen Ausgestaltung haben Tarife doch einen grossen Einfluss auf das Ver- des Tarifs für ambulante Leistungen darstellt. halten der Tarifpartner. So ist die erste Schweizer HMO Aus ordnungspolitischer Sicht ist auch der Zusam- aus einer Initiative von Exponenten einzelner Kranken- menschluss der Krankenversicherer in einer zeitweise versicherer und Ärztepionieren entstanden, notabene mehr als zwei Drittel des Marktes umfassenden Ein- trotz ursprünglich fehlender gesetzlicher Grundlage, kaufsorganisation mehr als problematisch, da sie einer die auf Verordnungsstufe erst noch geschaffen werden wettbewerblichen Ausgestaltung des Gesundheitssys- musste. Dass in der Zwischenzeit solche Innovationen tems völlig widerspricht. Dass die Krankenversicherer weitgehend ausbleiben, ist nicht zuletzt auch eine Fol- gleichzeitig die Aufhebung des Kontrahierungszwangs ge des fehlenden Verantwortungsbewusstseins vie- mit Leistungserbringern fordern, ohne sich der inne- ler Krankenversicherer und Leistungserbringer für die ren Widersprüche beider Aspekte bewusst zu sein, ist Gestaltung der Gesundheitsversorgung. Das alleine bedenklich. Aus wettbewerblicher Sicht müsste eine zeigt, dass es im KVG einen «Experimentierartikel» integrale Geltung des Kartellgesetzes auch für die braucht. Ein solcher Artikel gestattete es, in Abwei- obligatorische Krankenpflegeversicherung angestrebt chung der generellen gesetzlichen Regelungen zeit- 6 im dialog 1/2015
Tarifpartnerschaften lich begrenzte und wissenschaftlich begleitete Pilot- projekte durchzuführen, um neue Ideen zu erproben. Gerade im Tarifbereich drängen sich derartige Schritte auf, z.B. durch die Ergänzung von Einzelleistungsta- rifen mit qualitätsorientierten Erfolgskomponenten (payment for results) in Abweichung von der sonst ge- Die Tarifstruktur setzlich vorgegebenen einheitlichen Tarifstruktur. TARMED wurde seit Hauptprofiteure dieser Fehlentwicklung sind die über 13 Jahren Kantone, welche immer mehr Funktionen usurpieren nicht mehr revidiert. und damit ihre Rollenkumulationen und Widersprüche stetig vergrössern. Einen traurigen Höhepunkt hierzu stellt die neueste Vorlage über die Steuerung des am- bulanten Bereichs dar. «Ausgelagerte» Bundesbeamte? Die Schwächung der Krankenversicherer ist aber auch Praxisärzte und eine Folge ihres institutionellen Status als ausgelager- Krankenversicherer verhandeln te Einheiten der Bundesverwaltung. Dieses Mantra wird jährlich um Leistungen ungefragt nachgebetet, obschon seine konzeptionelle im Wert von 5670 Begründung mehr als schwach ist (Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe, Gewährleistung der Versorgungs- Millionen Franken. sicherheit als staatliche Aufgabe, hohe Regelungsdichte usw.). Bei konsequenter Anwendung dieser Grundsätze müsste beispielsweise auch den Landwirtschaftsbetrie- ben, den Detailhandelsfirmen oder den Tankstellen ein entsprechender Status zugeordnet werden. Diese schwache institutionelle Stellung der Kran- kenversicherer ist dem Gesundheitssystem abträglich. So ist es unverständlich, dass ihnen die Legitimation abgesprochen wird, Rechtsmittel gegen kantonale Spitalplanungen zu erheben. Damit fehlen alle «checks and balances» in diesem Bereich. Bei all diesen Um- ständen wirkt es schon fast höhnisch, wenn der zu grosse Einfluss der Lobbyisten der Krankenversicherer im eidgenössischen Parlament beklagt wird. Paradoxerweise muss gleichzeitig festgestellt wer- Was ist zu tun? den, dass der Bund nicht alle Aufgaben wahrnimmt, Es wäre sicher ungerecht, alle dargelegten Män- die ihm in einem ordnungspolitisch kohärenten Sys- gel lediglich den Krankenversicherern anzulasten. tem zukommen. Ein wettbewerblich ausgestaltetes Im Hinblick auf die hier postulierte wettbewerbliche Gesundheitssystem setzt zwingend voraus, dass der Ausgestaltung des Gesundheitssystems besteht aber Bund die Transparenz über das Leistungsgeschehen bei ihnen der grösste Handlungsbedarf, um den stets (Leistungsmengen, Qualität der Leistungen) gewähr- zunehmenden Staatseinfluss zurückzudrängen. Eine der grössten Herausforderungen für die Krankenver- sicherer wird sein, ein neues Selbstverständnis als ver- Die schwache institutionelle antwortliche Mitgestalter des Gesundheitssystems zu entwickeln. Dazu gehören beispielsweise eigene Kon- Stellung der Kranken- zeptionen für eine qualitativ und wirtschaftlich ver- versicherer ist dem Gesund- tretbare Spitalplanung. Weiter notwendig sind interne Regelungen der «Good Corporate Governance», wel- heitssystem abträglich. che den Einfluss der Versicherten auf die Geschäftspo- litik stärken sowie klare Konzeptionen für die Branche (politische Organisationen, Einkaufsorganisationen, leistet. Auch sollte er sicherstellen, dass die obliga- tiefgehende Bereinigung der Branchenstruktur). Die torische Krankenpflegeversicherung nur Leistungen Branche ist gefordert, neue Modelle der System- übernehmen muss, die wirksam, zweckmässig und finanzierung (Prämien, Steuergelder) sowie der Leis- wirtschaftlich sind. Falls die parlamentarische Behand- tungsfinanzierung (qualitätsorientiert, mit Förderung lung der nun durch den Bundesrat unterbreiteten Vor- der Nachhaltigkeit) zu entwickeln. lage nicht ungebührlich verzögert wird, könnten die Mit diesen Massnahmen könnte die zunehmende Bestimmungen über das Qualitätsinstitut und die HTA- Vergandung zumindest gestoppt werden. Verfahren «rechtzeitig» in Kraft treten – also 20 Jahre nach Einführung des KVG. Die Rechtsgrundlage hätte bereits seit 1996 bestanden. Auch hier hinterlassen die Kritiken insbesondere der Krankenversicherer einen schalen Nachgeschmack, haben sie es doch unterlas- sen, auf entsprechende wirksame Schritte zu pochen, — Dr. Heinz Locher ist Unternehmensberater und Dozent beispielsweise in Tarifverträgen. im Gesundheitswesen. im dialog 1/2015 7
Hintergrund Man signalisiere Kompromissbereitschaft, wenn es um die festgefahrene TARMED-Revision geht, sagt CSS-Konzernleiter Georg Portmann. Jetzt sei es an den Leistungserbringern, die Tarifautonomie zu verteidigen – und sich dem Qualitätswettbewerb zu stellen. Interview Lukas Hadorn «Plötzlich schwingt das Pendel zurück» Herr Portmann, diese Publikation heisst Warum sind die Fronten derart verhärtet? «im dialog». Kann man in der Tarifpartnerschaft Weil die Tarifpartner in grundsätzlichen und von überhaupt noch von einem Dialog sprechen? Eigeninteressen geprägten Positionen verharren und Ich denke schon, ja. Wir reden ja nach wie vor mitei- um keinen Preis davon abrücken wollen. Das nander. Aber die Situation ist tatsächlich blockiert. grundlegende Problem ist, dass die gegenwärtige Die Zielsetzungen der Parteien, die an diesem Dialog Tarifpartnerschaft auf Zwang beruht. Wir als Ver- beteiligt sind, gehen in ganz unterschiedliche sicherer werden gezwungen, Leistungen ungeachtet Richtungen. Das macht die Sache nicht ganz einfach. der Qualität abzunicken. Gleichzeitig ist es unsere 8 im dialog 1/2015
Hintergrund Aufgabe, den Kostenanstieg im Gesundheitswesen der Struktur und der Kosten voneinander zu trennen. zu dämpfen. Das passt nicht zusammen. In diesem Verhandeln wir doch zuerst einmal über eine zeit- und System können wir unsere Ziele nicht erreichen. sachgerechte Tarifstruktur. Dann schauen wir, wie sich die neue Struktur auf die Kosten auswirkt. Was würde sich ändern, wenn der Zwang wegfiele? Wenn Vertragsfreiheit herrschen würde? Bundesrat Berset erwartet ebenfalls eine kosten- Dann könnten wir mit den Leistungserbringern auf neutrale Revision. Augenhöhe diskutieren, weil sich diese plötzlich Das ist vermutlich blauäugig. Am Ende des Tages dem Qualitätswettbewerb stellen müssten. Und es bringt eine Neugestaltung der Tarifstruktur immer hö- würde zu einem Qualitätsanstieg im Gesundheits- here Kosten mit sich. Das ist jedenfalls meine lang- wesen führen. Das ist, was wir letztendlich wollen: jährige Erfahrung. Aber dass man sich deswegen gleich die bestmögliche Qualität in der Leistungserbrin- jeglicher Diskussion verschliesst, halte ich für falsch. gung zu einem vertretbaren Preis. Sind Sie denn mit dem Verzicht auf die Forde- Sie fordern also die Aufhebung des Kontrahierungs- rung nach Kostenneutralität einen Schritt weiter- zwangs. gekommen? Mittelfristig führt kein Weg daran vorbei, ja. Kurzfristig Nein, da haben wir mit curafutura noch nicht das werden wir versuchen, den Vertragszwang wenigs- erreicht, was wir uns vorgenommen haben. Daraus tens aufzulockern, indem wir mehr Transparenz bei ergibt sich für mich die den Kosten beziehungsweise Leistungen herstellen. Forderung, dass die Leis- So können wir die Spreu vom Weizen trennen und Leis- tungserbringer jetzt den tungserbringer, welche die Intransparenz des Sys- Beweis antreten müssen, «Es will mir ehrlich tems ausnützen, vom Markt ausschliessen. dass ihnen etwas an der Tarifautonomie liegt. Dies- gesagt nicht in Wie wollen Sie das erreichen? bezüglich bin ich mir nicht den Kopf, dass wir Da sehe ich zwei verschiedene Wege. Zum einen wer- bei allen Tarifpartnern ganz den wir ab dem kommenden Jahr damit begin- sicher. dieses Problem nen, die Leistungserbringer qualitativ zu bewerten. unter erwachsenen, Das ist zunächst ein internes Kontrollsystem, Wen meinen Sie konkret? aber mittelfristig sollen solche Informationen öffent- Ich spüre vor allem inner- logisch denken- lich verfügbar sein. Die Kunden wollen doch halb der FMH eine grosse den Menschen nicht wissen, ob ein Arzt oder ein Spital qualifiziert ist, eine Zurückhaltung, überhaupt bestimmte Behandlung vorzunehmen. Zum an- schon nur über strukturelle lösen können.» deren werden wir verstärkt bilateral mit Leistungser- Veränderungen zu debattie- bringern zusammenarbeiten, die sich ebenfalls ren. Dort wird abgeblockt, mehr Transparenz wünschen und bereit sind, gemein- obwohl wir Kompromissbereitschaft signalisieren. sam mit uns solche Qualitätskriterien zu erarbeiten. Ich werde den Verdacht nicht los, dass der Ärztever- band vielleicht sogar ein wenig mit einem Scheitern Das dürfte schwierig werden. Auf der Gegenseite ver- der Revision liebäugelt, damit man sich nicht in den tritt man den Standpunkt, dass man medizinische eigenen Reihen unbeliebt machen muss. Leistungen nicht ökonomischen und versicherungs- mathematischen Modellen unterwerfen kann. Dann droht schon bald ein staatlich verordneter Aber wenn wir doch wenigstens darüber diskutieren Tarif. würden! Ich bin überzeugt, dass man viele medi- So ist es. Und das darf nicht passieren. Es will mir zinische Behandlungen qualitativ beschreiben kann, ehrlich gesagt auch nicht in den Kopf, dass wir dieses das stellt man sich viel zu schwierig vor. Letztlich Problem unter erwachsenen, logisch denkenden geht es uns darum, den Versicherten eine gewisse Menschen nicht lösen können. Die Tarifautonomie gilt Gewähr geben zu können, dass sie sich am rich- es unbedingt am Leben zu erhalten. Denn plötz- tigen Ort behandeln lassen. lich schwingt das Pendel zurück, und die Chance zur Mitbestimmung und Selbstregulierung ist verspielt. Eine Gewähr? So weit darf es nicht kommen. Ich mache keinen Hehl daraus: Im Endeffekt geht es um Leistungsgarantien. Natürlich ist es mir klar, dass es in der Medizin niemals eine Funktionsgarantie geben wird wie beim Kauf eines Fernsehgeräts. Und ich glaube auch, dass es Bereiche wie die On- kologie gibt, in denen die Komplexität der Materie eine sehr differenzierte Herangehensweise erfordert. Leistungsgarantien sind eine Art Leuchtturm, an dem wir uns bei der Erarbeitung der Qualitätskriterien orientieren. — Georg Portmann ist Vorsitzender der Konzernleitung Sie fordern also Transparenz und Wettbewerb. In- der CSS Gruppe. wiefern kommen Sie den Tarifpartnern entgegen? Lukas Hadorn ist als Journalist BR und Corporate Indem wir uns – im Gegensatz zur Santésuisse – dazu Publisher für verschiedene Schweizer Medienhäuser bereit erklärt haben, in der TARMED-Revision Fragen und Unternehmen tätig. im dialog 1/2015 9
Praxis Versicherer und Spital können ihre Zusammenarbeit nicht auflösen, unabhängig vom Vertragszustand. Trotz Zielkonflikt beim Preis möchten beide Parteien Kundinnen und Kunden gewinnen. Der gemeinsame Kunde steht deshalb im Mittelpunkt der Verhandlungen. Von Lukas Eichenberger Suche nach dem gemeinsamen Nenner E gal ob Privatleben oder Wirtschaftsbereich: Verhandelt wird überall. Gerne lobt man dabei das partnerschaftliche Verhältnis – schielt aber gleichzeitig auf die Maximierung des eigenen Nutzens. Doch wie wird die Partnerschaft, im Speziellen die Tarifpartnerschaft, im Gesundheitswesen gelebt? Und welches sind deren Be- Die Privatklinikgruppe Hirslanden beschäftigt 7800 sonderheiten mit Blick auf Versicherungen und Spitäler? Mitarbeitende Im Unterschied zu andern Wirtschaftsbereichen und betreibt können eine Versicherung und ein Spital ihre Zusam- 16 Kliniken menarbeit nicht einfach auflösen. Tritt eine versicherte in 11Kantonen. Person in ein Spital ein, möchte sie behandelt werden, egal ob zwischen Spital und Versicherung eine ver- tragliche Einigung über den Preis erzielt wurde. Des- sen sind sich beide Seiten während der Verhandlungen Frage der Steuerungsmöglichkeiten der Versicherun- bewusst. Kommt keine Einigung zustande, steigt der gen. Erfolgreiche Verhandlungen basieren nicht auf dem Aufwand in der Kundenbetreuung für beide Seiten. Austausch von Fundamentalpositionen. Werden jedoch Der Kunde spürt dabei unweigerlich administrative und die Bedürfnisse und Leistungen von beiden Parteien klar eventuell sogar finanzielle Folgen. dargelegt und fokussieren diese auf die gemeinsamen Interessen, steigen die Chancen für ein zufriedenstellen- Die doppelte Kundensicht des Resultat. Damit ist eine weitere Eigenheit der Tarifpartnerschaft Verhandlungen sind keine einmalige Aktion. Als im Gesundheitswesen angesprochen: Beide Parteien Spital streben wir deshalb wenn immer möglich einen verhandeln zum Wohle ihres gemeinsamen Kunden – je Kompromiss mit dem Verhandlungspartner an. Glei- nach Sichtweise Versicherter oder Patient. Sowohl die ches erwarten wir von unseren Verhandlungspartnern. Versicherung als auch das Spital müssen sich dazu in Denn Tarifpartnerschaft darf nicht fremdbestimmt sein. die Lage des Kunden versetzen. «Was sind dessen Be- Gerade in der Grundversicherung stellen wir jedoch dürfnisse, und was ist er bereit zu zahlen?», lautet die bei unseren Verhandlungspartnern eine unterschied- entsprechende Frage. Die Beantwortung dieser Frage ist liche Haltung gegenüber der Rechtsprechung fest: Die insbesondere im Gesundheitswesen schwierig. Die im einen sehen diese als letzte Option, für die anderen Vergleich beschränkte Produktevielfalt führt dazu, dass ist sie ein grundlegendes Element, das vorgängig mit- Bedürfnisse und Finanzkraft der Personen im gleichen helfen soll, möglichst alle offenen Punkte zu klären. Produkt sehr heterogen sind. Hinzu kommt, dass bei Hirslanden legt Wert auf ein stabiles Vertragsverhältnis. Krankheit oder Unfall viele Patienten die maximale Leis- Deshalb haben wir unsere Beziehungen zu den Versi- tung beziehen wollen. cherungen vertraglich breit abgestützt. Im Mittelpunkt der Verhandlungen soll stets der gemeinsame Kunde Es besteht ein Zielkonflikt stehen. Angesichts der (fehlenden) Option, gar keine Wie wird vor diesem Hintergrund die Tarifpartnerschaft Zusammenarbeit einzugehen, und der gemeinsamen im Gesundheitswesen gelebt? Die Versicherung möchte Interessen folgen wir als Privatklinikgruppe der Ma- mit attraktiven Preisen und Leistungen Kunden anziehen. xime: «Gut verhandelt haben Sie erst dann, wenn Ihr Das Spital möchte für seine Leistungen fair abgegolten Gegenüber in Zukunft wieder mit Ihnen verhandeln werden und aus eigener Finanzkraft das Geschäft nach- möchte». haltig im Sinne der Kunden betreiben können. Bezüglich Preis für eine Behandlung besteht also einerseits ein Ziel- konflikt zwischen Versicherung und Spital, andererseits aber auch ein gemeinsames Interesse: Beide Parteien — Lukas Eichenberger ist Ökonom und für Tarife und möchten viele Kunden gewinnen. Hier stellt sich die Verträge der Privatklinikgruppe Hirslanden zuständig. 10 im dialog 1/2015
Die andere Sicht Verhandeln ist eine Kunst, die viel mit Fairness und Flexibilität zu tun hat. Als Flohmarkt-Händler stelle ich so sicher, am Ende eines Verkaufstages nicht auf meinen Sachen sitzen zu bleiben. Von Herbert Kuster Faire Preise zahlen sich aus Bilder, Geschirr und Haushaltartikel laufen gut. Schwie- riger wird es bei den Möbeln. Noch vor zehn Jahren konnte ich mit einem Lastwagen voller Möbel vorfah- ren, die Leute haben sie mir regelrecht aus den Hän- den gerissen. Die jüngeren Generationen können mit antiken Möbeln nicht mehr viel anfangen. Das hat ganz bestimmt auch mit der neuen Art des Wohnens zu tun: überall diese riesigen Fensterfronten, da hat es einfach keinen Platz mehr für Möbel. Ich komme durch Woh- nungsräumungen zu meiner Ware. Weil Möbel kaum mehr gefragt sind, muss ich das meiste entsorgen, sonst würde sich mein Geschäft rasch nicht mehr lohnen. Die Zunahme des Online-Handels ging auch an mir nicht spurlos vorüber. Ich erhalte bedeutend we- niger Ware, weil manche ihre Sachen gleich sel- ber online zu versteigern Ich bin überzeugt: versuchen. Die Preise, die So wie man geschäf- dort festgelegt werden, sind zum Teil jenseits von tet, kommt es Gut und Böse. Und dann irgendwann zurück. wundern sich die Leute, wenn sie auf den Sachen sitzen bleiben! Online-Por- tale haben aber keinen Einfluss auf den Besucheran- drang an Flohmärkten – es geht eben nicht nur ums Ersteigern, es geht doch auch um das Soziale und den Austausch. Eines meiner Erfolgsgeheimnisse beim Verkaufen W ist sicher die Tatsache, dass ich die Preise nicht unver- änderbar festlege, sondern dass ich sie im Verlauf des Tages anpasse und flexibel auf die Kunden reagiere. ann ist ein Preis fair? Als Flohmarkt- Händler habe ich ein gutes Gespür Bei jungen Leuten, die offensichtlich Freude haben an einem traditionellen Flohmarkt, gebe ich die Arti- dafür, wie viel die Leute bereit sind, für einen Gegenstand zu zahlen. Ist kel noch günstiger ab. Wenn sich jemand besonders der Preis zu hoch, greift niemand distanziert gibt, steigt der Preis eher. Es gibt Verkäu- fer, die, wenn sie Geld riechen, einen richtig «melken» zu. Ich setze die Preise so tief an, dass sich jede Diskus- sion erübrigt. Manchmal kommt es vor, dass jemand möchten. Mein oberstes Gebot ist Fairness. Ich bin einen Gegenstand für acht Franken überzeugt: So wie man geschäftet, auf vier Franken herunterhandeln kommt es irgendwann zurück. will. Wir einigen uns dann auf sie- In Kürze ben Franken. So hat der Kunde das • Laien setzen im Gefühl, ein gutes Geschäft gemacht Online-Handel die zu haben, obwohl doch schon der Ursprungspreis sehr attraktiv war. Preise oft viel zu — Herbert Kuster (64) war lange Meine Frau sagt mir manchmal, hoch an. als Berufsschullehrer tätig und baute dass ich mehr verlangen sollte, aber nebenbei eine Werkstatt für das das ist nicht meine Art. Am Ende ei- • An traditionellen Renovieren von Antiquitäten auf. Seit nes Verkaufstages will ich schliess- Flohmärkten geht es seiner Frühpensionierung mit 58 widmet er sich vollumgänglich dem lich möglichst alle Produkte losha- auch um den sozia- Flohmarkt-Handel. Kuster ist ben – ich lebe von der Menge. len Aspekt. auch Präsident des Vereins Flohmarkt Besonders begehrt sind Kleider. Kanzlei in Zürich. Der Flohmarkt Was einst Mode war, ist heute wie- • Kleider sind bei den findet jeden Samstag zwischen 8 und der sehr gefragt. Auch Werkzeuge, 16 Uhr beim Helvetiaplatz statt. Kunden im Moment sehr gefragt. im dialog 1/2015 11
Im Gespräch Erst etwas mehr als zehn Jahre alt, ist das Tarifsystem TARMED dringend revisionsbedürftig. Eine Einigung zwischen den Tarifpartnern dürfte allerdings nicht so leicht zu finden sein, wie das Gespräch mit FMH-Vizepräsident Ernst Gähler und Tarifstrukturen-Spezialist Christian Affolter von der CSS zeigt. Interview Patrick Rohr «Es geht um Milliarden! Klar, dass das Zwist gibt.» — Ernst Gähler ist Facharzt Allgemeine Medizin FMH mit eigener Praxis in Herisau (AR). Er ist Vizepräsident der Schweizer Ärzteverbindung FMH und in dieser verantwortlich für das Departement Ambulante Tarife und Verträge. 12 im dialog 1/2015
Im Gespräch Weil die Tarifpartner sich nicht einigen konnten, hat der Bundesrat von seiner subsidiären Kompetenz Gebrauch ge- macht und per Verordnung entschieden, wie das neue Tarifsystem aussehen soll. Zufrieden ist damit ja niemand. Ernst Gähler (EG): Das stimmt. Aber dass es eine Revision braucht, ist unbestritten. Nur hätten die Tarifpartner die Revision selber gestalten dürfen, wenn sie sich einig gewesen wären. EG: Wenn man sich geeinigt hätte, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass der Bundesrat von der subsidiären Kompetenz macht, sicher geringer gewesen. Christian Affolter (CA): Es ist ein Versagen von uns Verhandlungspartnern, das muss man zugestehen. Wenn es nicht gelingt, gemeinsam Lösungen zu finden, dann muss — Christian Affolter ist Verantwortlicher Public der Schiedsrichter kommen und ent- Affairs Tarifstrukturen beim Krankenversi- scheiden. Das kann ich akzeptieren. Aber cherer CSS. Davor war er Direktionsmitglied bei Santésuisse und Leiter der Direktion ich bin klar der Meinung, dass es hier Gesundheitspolitik beim Bundesamt für Ge- auch um einen Missbrauch geht. Und zwar sundheit (BAG). missbraucht Herr Berset die subsidiäre Kompetenz für seine Politik. Er versucht auf diesem Weg, die Staatsmedizin zu fördern und das Gesundheitswesen zu verstaatlichen. Sehen Sie das auch so, Herr Gähler? EG: Da bin ich mit Herrn Affolter absolut einverstanden. Bundesrat Berset hat die Tarifstrukturrevision TARMED mit der Besserstellung der Hausarztmedi- durchführen wollen. Dieser Grundsatz zin einen politischen Entscheid ge- wurde von der Delegiertenversamm- fällt. Und er greift nicht nur in die Tarif- lung wiederholt genehmigt. In dieser Be- struktur ein, sondern redet auch auf ziehung sind wir uns absolut einig. der Preisebene mit, was er gar nicht dürf- te. Die Preisgestaltung, also die Frage, Aber inhaltlich nicht. wie viel ein Taxpunkt kostet, liegt nämlich EG: Doch! bei den Kantonen. Indem der Bundes- rat den Hausärzten 200 Millionen gibt, Jetzt muss ich doch Herrn Affolter mit greift er direkt in die Preisgestaltung ein. einbeziehen. Sehen Sie das auch so, hatten Sie mit den Ärzten einen einigen Das wäre alles zu verhindern gewesen, Verhandlungspartner? wenn die Tarifpartner sich geeinigt CA: Mein Verhandlungspartner war die hätten. FMH. Und ich muss sagen, dass ich EG: Wir sind nicht unfähig, die Tarifstruk- den Eindruck hatte, dass der Druck allein tur zu revidieren. Wir FMH-Ärzte sind innerhalb der FMH gewaltig gross ist. zum Beispiel seit 2010 am Erarbeiten einer Da gibt es verschiedene Interessen, die es aktualisierten Struktur, seit 2012 auch dem Verband enorm schwierig machen, zusammen mit unseren Partnern H+ und eine einheitliche Meinung zu vertreten. Und MTK. Und seit kurzem führen wir auch ich unterstelle der FMH jetzt mal, dass die intensive Gespräche mit Curafutura, mit Beweglichkeit des Verbandes eingeschränkt dem Ziel, uns wenigstens zu viert zu ist, weil es einfach sehr schwierig ist, einigen. die verschiedenen Interessen von allen Mitgliedern unter einen Hut zu bringen. Aber Hand aufs Herz, Herr Gähler, EG: Ich möchte schon noch einmal be- nicht einmal die Ärzte unter sich sind tonen: Die Tarifrevision ist eine rein sich einig. technische Revision, politische Gedanken EG: Jetzt unterstellen Sie uns aber etwas! und Ideen haben da nichts zu suchen. Und wir sind intensiv mit 18 Fachteams Herr Affolter schmunzelt ... daran, die verschiedenen Kapitel zu EG: Moment, für die Ärzteschaft kann ich revidieren. Bis jetzt funktioniert das sehr schon selber reden. Also: Wir haben am gut. Das Problem kommt dann, wenn 20. Oktober 2010 beschlossen, dass wir die Revision gemacht ist und sich die im dialog 1/2015 13
Im Gespräch Frage stellt, was man nun dafür be- men, verlieren die anderen – sich da Teilen Sie also den Optimismus von kommt. zu einigen, ist ein Ding der Unmöglich- Herrn Gähler? keit, nicht? CA: Nein, ich teile ihn nicht. Also geht es um Verteilkämpfe – und da EG: Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Ich beginnt die Uneinigkeit. Das wurde ja bin optimistisch. Dann müssen wir jetzt aber mal die Rolle auch deutlich, als der Bundesrat letztes der Versicherer anschauen. Sie treten Jahr die Verordnung in Kraft setzte. Teilen Sie diesen Optimismus, Herr ja auch nicht gerade geschlossen auf. Aus- EG: Jein. Was der Bundesrat gemacht Affolter? gerechnet die CSS hat sich, zusammen hat, war schlichtweg eine lineare Kürzung CA: Es ist doch wie bei streitenden mit drei anderen Kassen, aus der Santé- bei den Spezialisten. Kindern: Wenn man ihnen so viele Süssig- suisse verabschiedet und Curafutura keiten auf den Tisch legt, dass alle gegründet. Ein gespaltener Verhandlungs- Mit gleichzeitiger Besserstellung der genug haben, hat man den Frieden. Wenn partner macht es für die andere Seite Hausärzte. man das Gut verknappt, gibt es Ge- auch nicht gerade einfach … EG: Was der Bundesrat mit seiner winner und Verlierer. CA: Das stimmt, wir sind auch gespalten. linearen Kürzung gemacht hat, war, die Und wir von der CSS, da haben Sie recht, technische Leistung – also die Abgel- Aber dann bleibt ja das Problem, es gibt haben die Spaltung sogar vollzogen. Jetzt tung für die Infrastruktur – bei vielen ja nicht mehr zum Verteilen. haben wir zwei Verbände, und im Rah- TARMED-Kapiteln um 8,5 Prozent zu sen- CA: Das ist unbestritten so. Aber ich be- men der Tarifverhandlungen mit der FMH ken. Mit einem Grossteil der technischen haupte jetzt mal: Es ist genug Geld im haben wir eine ganz andere Position Leistungen werden aber nichtärztliche System, es ist einfach nicht richtig verteilt. als die Santésuisse. Sie hält an der Kosten- Löhne, also beispielsweise die Löhne der Wenn ich nur zum Beispiel an meinem neutralität fest, ist also der Meinung, Praxisassistentinnen, abgegolten. Die Wohnort schaue: Da haben in den letzten dass nichts eine Kostenauswirkung haben hatte man in der Tarifstruktur seit 15 Jah- zwei Jahren im Umkreis von zehn Kilo- darf. Das hat in den letzten Jahren zu ren nicht angepasst, als Hausarzt habe metern drei Grosspraxen, beinahe schon einer massiven Blockade geführt. Cura- ich also jede Lohnerhöhung in den letzten Ambulatorien, ihre Türen geöffnet – Jahren aus der eigenen Tasche bezahlt. und zwar mit je 10 bis 15 Ärzten, Grund- Und jetzt kommt der Bundesrat und senkt versorgern und Spezialisten. Da habe diese Löhne um 8,5 Prozent und be- ich schon den Eindruck, dass der ökono- hauptet dann auch noch, das sei «sachge- mische Anreiz offensichtlich immer recht». Das geht doch nicht auf! Das noch gross genug sein muss, um ein sol- ist unser Problem! ches Risiko einzugehen. Aber natür- «Es ist genug Geld im lich kann ein Arzt mit einer Einzelpraxis im System, es ist einfach Aber das zeigt ja genau, wie schwierig es Puschlav unter den gleichen Bedingun- ist, in diesen Fragen eine Einigkeit gen nicht gleich wirtschaftlich arbeiten. nicht richtig verteilt.» zu finden. Wenn die einen mehr bekom- Der Verteilkampf wird also bleiben. Christian Affolter 14 im dialog 1/2015
Im Gespräch sicherer, verhindern nämlich genauso Das freut mich. Sie wären also auch eine Lösung! bereit für Verhandlungen, Herr Affolter? CA: Natürlich ist es für die Partner, die CA: Ja. bis jetzt mit einem Verband verhandelt haben, nicht einfach, jetzt plötzlich Erlauben Sie mir, zum Abschluss noch mit zwei Verbänden konfrontiert zu sein. eine grundsätzliche Frage zu stellen. Wie Andererseits stehen wir auch für ein war es möglich, dass nur zehn Jahre wettbewerbliches System ein, und im nach Einführung des TARMED der Revisi- Wettbewerb muss man in der Lage onsbedarf und gleichzeitig die Un- sein, mit zwei Partnern zu verhandeln. einigkeit darüber so gross sein können? EG: Ich muss Ihnen den Vorwurf machen, EG: Das Problem ist, dass die Strukturen dass die Curafutura seit einiger Zeit nicht zehn Jahre, sondern fünfzehn unkompliziert die Revision hätte mit- und mehr Jahre alt sind. In dieser Zeit hat gestalten können, aber dass Sie sich sich vieles verändert: die Versicherungs- überhaupt nicht bewegt haben. prämien, die Mieten, die Löhne. Das muss man alles aktualisieren. Und dann haben Warum nicht, Herr Affolter? sich auch die medizinischen Leistungen CA: Es ist eine Pokerrunde. Da gibt es verändert, und es kamen neue dazu. eine Gruppe, die schon länger zusam- menarbeitet, eine «closed user group» Hat man also bei der Einführung des sozusagen, und jetzt kommt da ein TARMED schlicht nicht vorausgeschaut neuer Player dazu, und der soll einfach zu und ein zu unflexibles Modell kreiert? den bestehenden Bedingungen mit- EG: Nein, eher hat man im Schluss- spielen? Nein! Wir wollen zuerst zum spurt überschnell eine unausgereifte Lö- Beispiel wissen, wie die Strukturen sung präsentiert. und Kostenmodelle aussehen. Und wir CA: Eine hässliche Sache. hätten gerne Kostendaten der Ärzte, EG: Da gibt es schon einiges auszubügeln. denn wir denken wettbewerblich. Wir CA: Und kommt dazu, dass es um ein orientieren uns an denen, die die Milliardenbusiness geht. Da ist so viel Geld besten Geschäftsstrukturen haben, die drin, dass es sich lohnt, auch nur kleinste anderen sollen selber sehen, wie sie Schrauben zu drehen. Und klar, dass futura möchte konstruktiv und lö- sich durchschlagen. Wir brauchen also das dann Zwist gibt. sungsorientiert an die Verhandlungen Transparenz über diese Daten. herantreten ... Und Sie denken, dass Sie sich trotzdem je Und die haben Sie bislang nicht? einigen werden? … was die Santésuisse nicht macht? CA: Die haben wir bislang nicht! CA: Ich bin wie immer optimistisch. CA: Was die Santésuisse bis heute nicht macht. Sie beharrt auf der Kostenneu- Das heisst, Sie spielen den Ball wieder Wenn nur die Ärzte mitmachen? tralität, und das ist für die Leistungserbrin- zurück an die Ärzte. Diesmal verhindern CA: Nein, alle müssen ihren Teil dazu ger ein No-go. Sie eine Lösung, weil Sie intransparent beitragen und sich bewegen. sind, Herr Gähler. Das stelle ich mir für Sie wiederum nicht EG: Ich möchte betonen, dass wir immer sehr einfach vor, Herr Gähler – mit gesagt haben, dass wir die Curafutura zwei Verbänden statt mit nur einem zu bei den Verhandlungen als gleichwertigen verhandeln? Partner dabeihaben möchten. Das Pro- EG: Das macht uns das Leben natürlich blem war zunächst, dass die Santésuisse sehr schwer. Wir vier ursprünglichen Ver- handlungspartner, also FMH, H+, MTK das nicht wollte, weil die Curafutura aus ihrer Sicht kein Partner ist. Und be- — Patrick Rohr arbeitet als Journalist, Fotograf und Santésuisse, wollten im Zuge der Re- züglich der Transparenz der Daten: und Kommunikationsberater. Bis 2007 war vision eine Nachfolgeorganisation für Alle diejenigen, die bei dieser Tarifstruktur er Moderator und Redaktor beim Schweizer TARMED Suisse gründen, die künftig für mitarbeiten, haben Einblick in die Fernsehen (u.a. «Arena», «Quer»). die Umsetzung der Tarifstruktur verant- Daten. Da die Curafutura noch gar nicht wortlich sein soll. Im Sommer 2013 unter- irgendwo eingetreten ist, können wir schrieben alle vier Partner eine Absichts- ihr auch keinen Einblick ermöglichen. erklärung, dass man bis Ende 2014 diese Firma gegründet haben möchte. Und Jetzt ist also die Frage, wer zuerst dann hat sich Curafutura per 1. Januar nachgibt? 2014 abgespalten, und seither gibt es EG: Nein, das hat nichts mit Nachgeben Spitzengespräche, ein grosses Hin und zu tun! Her – und Santésuisse blockiert die Verhandlungen, weil sie Curafutura als Doch, wenn die Curafutura bereit wäre Partner nicht akzeptiert. zu verhandeln, dann würden Sie auch die Daten liefern. Dann dürfen Sie den Schwarzen Peter EG: Ja, dann wären die Daten offen. also nicht einfach so den Ärzten zu- CA: Dann haben wir ja heute ein Problem schieben, Herr Affolter. Sie, die Ver- gelöst! im dialog 1/2015 15
Persönlich Wie wirkt sich der Tarifstreit zwischen dem Verband physioswiss und den Krankenversicherern auf den Alltag eines Physiotherapeuten aus? Peter Ziegler, der in Altdorf (UR) eine Praxis führt, gibt Auskunft. Von Manuela Specker «Auf Kosten der Qualität» P eter Ziegler erinnert sich, als ob es gestern gewesen wäre. Im Jahr 2000, zu Beginn seiner vierjährigen Ausbildung zum Phy- siotherapeuten, bekam er vom damali- gen Ausbildungsleiter zu hören, dass ihre Berufsgattung am Ende der Ausbildung rund zehn Prozent mehr verdienen würde. Tatsächlich jedoch schaft etwas bewegte. Heute streiten sich der Verband physioswiss und die Krankenkassen CSS, Helsana, KPT und Sanitas um die Tarife. Gleiche Behandlung, verschiedene Tarife Für Peter Ziegler bedeutet die gegenwärtige Situation, dass er bei Patienten, die er über Krankenversicherer mussten 14 Jahre vergehen, bis sich in der Tarifland- abrechnet, zwei verschiedene Tarife anwenden muss. 16 im dialog 1/2015
Persönlich Solange es nicht rückwirkend zu Anpassungen kommt, müssen den Krankenversicherern und der Gesellschaft generiert das keinen Mehraufwand. Doch für die Prak- vielmehr zeigen, dass unsere Arbeit mehr wert ist», so tizierenden sind die verhärteten Fronten befremdend. Peter Ziegler. «Wie ist es möglich, dass man sich über eine so lange In der Tat lehnen CSS, Helsana, Sanitas und KPT Zeit nicht einigen kann?», fragt sich der Physiotherapeut. die Forderungen von physioswiss nicht deshalb ab, Peter Ziegler hat aber noch keine Sekunde lang weil sie den Physiotherapeuten partout keine höheren bereut, diesen Beruf ergriffen zu haben. Seit bald vier Tarife vergüten möchten. Vielmehr verlangen sie als Jahren ist er selbständig und beschäftigt mittlerweile Grundvoraussetzung für eine Tarifanpassung eine ak- zwei Mitarbeiterinnen in seiner Praxis in Altdorf. Der tualisierte Tarifstruktur. Denn die Forderungen der Phy- Grund seiner Berufswahl liegt in eigenen positiven siotherapeuten nach Abbildung ihrer Qualifikationen, Erfahrungen: Beim Snowboarden brach er sich beide sachgerechten Kosten und zeitgemässen Geschäfts- Ellbogen. «Ohne Physiotherapie wäre der Heilungspro- modellen machen das unumgänglich. zess nicht so reibungslos verlaufen», so der 37-Jährige. Nun ist es für ihn eine grosse Genugtuung, anderen Hohe Verantwortung, viel Autonomie Menschen zu helfen. «Ich erfahre sehr viel Wertschät- Die Freude am Beruf lässt sich Peter Ziegler durch die zung von meinen Patienten.» Tarifstreitigkeiten nicht nehmen. «Es ist für mich jedes Mal eine grosse Genugtuung, etwas dazu beizutragen, Physiotherapie anstatt Operation die Lebensqualität meiner Patienten zu erhöhen.» An- Mit einer korrekten Behandlung kann der Physiothe- sporn sind für ihn auch die hohe Verantwortung und rapeut unter Umständen nachfolgende Operationen Autonomie. «Es gibt so viele verhindern, oder er verhilft den Patienten zu mehr Richtungen, in die man sich als Bewegungsfreiheit. Die positiven Auswirkungen dieser Physiotherapeut vertiefen kann. «Wir müssen Arbeit sind allerdings längst nicht immer im Sinne der In der Arbeit mit den Patienten «evidence-based medicine» objektiv messbar. Darin entscheide ich dann selber, den Krankenver- ortet Peter Ziegler einen möglichen Grund, warum die welche Behandlung am ehes- sicherern und Physiotherapeuten schon so lange nach dem gleichen ten zum Ziel führt.» Physiothe- Tarif verrechnen müssen. Einen anderen Grund sieht rapeuten müssen ein grosses der Gesellschaft er darin, dass die Physiotherapie einst ein klassischer medizinisches Wissen mitbrin- zeigen, dass «Frauenberuf» war und somit nicht als Haupteinnah- gen und schnell erfassen, wo mequelle angeschaut wurde. Der Netto-Stundenlohn die Hauptquelle des Problems unsere Arbeit eines Physiotherapeuten liegt heute bei rund 33 Fran- liegt. Rückenschmerzen bei- mehr wert ist.» ken. «Den Physiotherapeuten fehlt eine starke Lobby», spielsweise können viele Ursa- ist Peter Ziegler überzeugt. chen haben, manchmal spielen auch psychosoziale Faktoren mit hinein. «Darum soll- Unflexibles Vergütungssystem ten Physiotherapeuten auch über eine hohe Sozial- Irritierender als die Tatsache, dass sich Verband und kompetenz verfügen», so Peter Ziegler. Krankenversicherer nicht auf einen Tarif einigen kön- Er hofft, dass der vertragslose Zustand bald der Ver- nen, ist für Peter Ziegler die Starrheit des Vergütungs- gangenheit angehört, sonst müsse man sich längerfris- systems. Unter den geltenden Tarifen kann ein Patient tig Sorgen um die Zukunft des Berufsstandes machen. kaum länger als 30 Minuten behandelt werden, wenn Gerade wegen der Einkommenssituation kommt es eine Praxis wirtschaftlich funktionieren soll. Möch- schon heute immer wieder vor, dass Physiotherapeu- te ein Physiotherapeut heute also mehr verdienen, ten dem Beruf den Rücken kehren. müsste er die reguläre halbstündige Behandlungszeit verkürzen, um mehr Patienten aufnehmen zu können. Das kommt für Peter Ziegler aber nicht in Frage. «Ich will ganz einfach das Beste für meine Patienten errei- chen und hinter meiner Arbeitsweise stehen können.» Das unflexible Vergütungssystem werde auch den Qualitätsansprüchen einzelner Physiotherapeuten nicht gerecht. «Ein Physiotherapeut, der sich laufend fort- bildet und dadurch auf eine breitere Palette an In Kürze Behandlungsmethoden zurückgreifen kann, ver- • Der Verband physioswiss dient gleich viel wie je- und die Krankenver- ner, der sein Wissen le- sicherer stehen im Clinch diglich im Rahmen der wegen der Tarife. minimal erwarteten Aus- bildungstage erweitert.» • Notwendig für die leis- Das gehe langfristig auf tungsgerechte Vergütung Kosten der Qualität. Es sei deshalb der falsche — Peter Ziegler arbeitet seit zehn Jahren als Physio- ist die Entwicklung einer Weg, in dieser verworre- therapeut, vier Jahre davon selbständig in seiner neuen Struktur. nen Situation Stimmung Praxis Physiotherapie Ziegler in Altdorf (UR). Er hat gegen die Krankenversi- ursprünglich Offsetdrucker gelernt und einst • Physiotherapeut Peter cherer zu machen. «Wir einen Wintersportshop geführt. Ziegler sieht die Zukunft des Berufsstan- des in Gefahr. im dialog 1/2015 17
Santé! Wolf im Schafspelz – Schaf im Wolfspelz. Ein Verwandlungskunststück, 2005/10. Zwei Tier-Präparate – ein Wolf, 92 × 136 × 32 cm, und ein Schaf, 84 × 136 × 30 cm – als Interpretation von Matthäus 7,15, auf Holzsockeln. «Will der Staat unsere Gesundheit oder unser Geld?» W ir Eltern sind für unsere Kinder da, solange sie unmündig sind. Wir entscheiden von der Zahnspange bis zur Impfung. Meine Tochter hat sich sogar für mein Tattoo-Verbot bedankt, als sie volljährig wurde. Väterchen Staat hat seine Rolle hingegen von mündigen Bürgern erhalten. Es ist somit nicht erstaunlich, dass die gut gemeinten Ratschläge des Staates prak- tisch nie von seinen mündigen «Kindern» befolgt werden. Seine Top-down- Empfehlungen zu Ernährung und Gesundheit haben bislang wenig gefruchtet. Der neueste Schildbürgerstreich, welcher die staatliche Bemutterung illustriert, ist die E-Zigarette. Es gibt genügend wissenschaftliche Daten, die belegen, dass das Dampfen 100 bis 1000 Mal weniger schädlich ist als das Rauchen. Tausende von Schweizer Rauchern haben ihr Laster zugunsten des Realisation: Werner Beckmann, LWL – Museum für Naturkunde, Münster Kunstmuseum Ahlen. Foto: Berenika Oblonczyk Wasserdampfs mit etwas Aroma aufgegeben. Die allermeisten Ex-Raucher möchten hingegen noch Nikotin im Dampf haben, weil sie schliesslich bereits — Beda M. Stadler, abhängig sind. Das ist verständlich und auch nicht schlimm, schliesslich verursacht Nikotin keinen Krebs und keine wirklichen Organschäden. geboren 1950 in Visp In allen umliegenden Ländern kann man die nikotinhaltigen Flüssigkeiten (VS), ist emeritierter zum Dampfen kaufen, nicht so in der Schweiz. Man darf sie zum Eigengebrauch Professor und war Direktor des Instituts für importieren, aber nicht mehr als 150 Milliliter in 60 Tagen und nicht mehr als Immunologie an zu einem Wert von 62 Franken, ansonsten droht Strafe. Der Schildbürgerstreich der Universität Bern. Er kommt übrigens von einem Staat, der selber den Tabakanbau subventioniert. ist bekannt für seine Der Staat will das Rauchen verbieten, weil es bissigen Aussagen zu ungesund ist. Würde ihn die Gesundheit der Raucher medizinischen wirklich interessieren, hätte er längst die E-Zigarette Würde ihn die Gesund- sowie gesundheits- und gesellschafts- als weniger schädliche Alternative empfohlen. Tut er heit der Raucher wirklich es vielleicht nicht, weil er sich mit mehr als der politischen Themen. Hälfte des Zigarettenpreises bereichert und damit die interessieren, hätte AHV und IV unterstützen kann? Als ob noch nicht er längst die E-Zigarette genug abgezockt wäre, schuf er den Tabakpräventions- fonds, welcher durch die Abgabe von 2,6 Rappen empfohlen. pro verkaufte Zigarettenpackung finanziert wird. Die staatliche Tabakprävention verfügt somit über rund 13,5 Millionen Franken. Vielleicht ist die Abnahme der Anzahl Raucher also gar nicht diesem immensen Propaganda-Aufwand zuzuschreiben, sondern mündigen Bürgern, die jetzt lieber dampfen, trotz Behinderung durch den Staat? Da kein Beamter sich bislang die Mühe gemacht hat, herauszufinden, wie viele der Ex-Raucher dank dem Dampfen vom Laster losgekommen sind, ist dies zumindest ein Beleg dafür, dass Väterchen Staat mehr an unseren Steuern als an unserer Gesundheit interessiert ist. twitter.com/CSSPolitik 18 im dialog 1/2015
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