Die amtliche Registrierung des Geschlechts - Ethische Erwägung zum Umgang mit dem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister - Stellungnahme Nr ...
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Stellungnahme Nr. 36/2020 Bern, 5. Oktober 2020 Die amtliche Registrierung des Geschlechts Ethische Erwägung zum Umgang mit dem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4 2. Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 2.1 Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8 2.2 Relevante Entwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.3 Implikationen für betroffene Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.3.1 Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.3.2 Druck zu geschlechtsangleichenden Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.3.3 Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.3.4 Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3. Rechtlicher und politischer Rahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 3.1 Rechtslage in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.1.1 Das registerrechtliche Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.1.2 Die Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.2 Erfahrungen und Situation in anderen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 4. Ethische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 4.1 Orientierungslinien und Abwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 4.1.1 Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 4.1.2 Achtung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 4.1.3 Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 4.1.4 Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21 4.1.5 Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22 4.1.6 Schutz der persönlichen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22 4.2 Öffentliche und g esellschaftliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 5. Beurteilung der Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25 5.1 Verzicht auf jegliche R egistrierung des amtlichen Geschlechts bei der Geburt sowie nach der Geburt (a posteriori) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25 5.2 Allgemeine Abschaffung jeglicher amtlichen Registrierung des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 5.3 Einführung neuer Geschlechtskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28 5.4 Konsequenzen einer Umsetzung der Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .29 6. Zusammenfassung und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33 7. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 8. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43
Vorwort Das Schweizer Personenstandsregister kennt nur zwei Geschlechter: weiblich und männlich. Inter- geschlechtliche Menschen, Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität und viele Transmen- schen haben keine Möglichkeit, einen Eintrag vornehmen zu lassen, mit dem sie sich identifizieren können. Die Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität wird ihnen verwehrt. In der Schweiz, aber auch international, werden alternative Regelungen diskutiert, mit denen der amtliche Geschlechtseintrag der Vielfalt existierender Geschlechtsidentitäten Rechnung tragen kann. Die diskutierten Lösungs- vorschläge reichen von der Möglichkeit eines (temporären) Verzichts auf den Geschlechtseintrag über die Einführung einer dritten Eintragungsmöglichkeit bis zur gänzlichen Abschaffung der amtli- chen Registrierung des Geschlechts. Alle Optionen sind in der Schweiz Gegenstand einer laufenden politischen Debatte, in die sich die vorliegende Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE) – ausgelöst durch eine Anfrage des Bundesamtes für Justiz – einfügt. Diese Debatte ist durch unterschiedliche Identitätsauffassungen, Haltungen und kulturelle Vor stellungen geprägt. Sie schliesst die Frage ein, wie bedeutsam die Kategorie «Geschlecht» für die einzelnen Menschen und die gesellschaftliche Ordnung überhaupt ist. Eine Bandbreite an Meinun- gen besteht auch hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Binarität der heutigen Ordnung – also die wirkmächtige Unterscheidung in «weiblich» und «männlich» – für die einzelnen Menschen spielt. Das Thema rührt tiefgehend an tradierte Normen und konfrontiert jede und jeden Einzelnen mit dem eigenen Selbstverständnis in einem für viele sehr persönlichen Bereich. Die NEK-CNE hofft, mit den vorliegenden Überlegungen und ihrer Empfehlung für ein schrittweises Vorgehen zur Er- weiterung der Eintragungsmöglichkeiten einen Beitrag zur differenzierten gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit diesem vielschichtigen Thema zu leisten. Andrea Büchler Präsidentin der NEK
4 1. Einleitung Die ethische Auseinandersetzung mit der Frage, ob, des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Änderung des zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form eine amt- Geschlechts im Personenstandsregister)» des Bun- liche Registrierung des Geschlechts angebracht ist, desrats aufgenommen und berücksichtigt, die aktuell wurde in jüngerer Zeit insbesondere im Zusammen- in der parlamentarischen Beratung ist.1 In ihrer Ant- hang mit der Thematik der Intergeschlechtlichkeit ge- wort auf die Vernehmlassung zum Vorentwurf dieser führt (vgl. z.B. ausführlich Deutscher Ethikrat 2012). Änderung sprach sich die NEK-CNE am 20. Septem- Auch die Nationale Ethikkommission im Bereich der ber 2018 für die rasche Fortsetzung der Arbeiten an Humanmedizin (NEK-CNE) hat sich in ihrer Stellung- einer (oder mehreren) zusätzlichen Kategorie(n) aus. nahme 20/2012 «Zum Umgang mit Varianten der Ge- Sie vertrat dabei die Ansicht, dass die Möglichkeit schlechtsentwicklung – Ethische Fragen zur ’Interse- weiterer positiver Optionen die Rechte der betroffe- xualität’» mit der Thematik befasst. Bis anhin bezog nen Personen am ehesten respektieren würde und sich die Auseinandersetzung zum einen auf die Prob- würdigte dadurch die Entwicklungen, die seit der Stel- lematik der Behandlung, Beratung und Begleitung von lungnahme 2012 eingetreten waren. Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwick- lung, zum andern auf die Frage der ethisch ratsamen Im Kontext der aktuellen öffentlichen Diskussion Weiterentwicklung des Personenstandsrechts. Es gilt über die mögliche Einführung einer dritten Eintra- hervorzuheben, dass die Thematik des Geschlechts- gungsmöglichkeit hat das Bundesamt für Justiz (BJ) eintrags nicht nur einen begrenzten Personenkreis in der Person von Herrn Michael Schöll, Vizedirektor, betrifft. Vielmehr führt sie stets die Grundfrage nach Chef Direktionsbereich Privatrecht, die Kommission der normativen Funktion der Geschlechterkategorien mit Schreiben vom 5. November 2019 gebeten, zu mit sich. Die zu treffende Regelung ist somit auch folgenden Fragen hinsichtlich alternativer Ausgestal- hinsichtlich der Auswirkungen, die sie auf die grund- tungsmöglichkeiten der Registrierung des amtlichen legenden Strukturen innerhalb der Gesellschaft haben Geschlechts Stellung zu nehmen: könnte, und ihrer Potenziale, Geschlechterverhältnis- se dauerhaft gerechter zu gestalten, zu betrachten. «1. Verzicht auf jegliche Registrierung des amtlichen Geschlechts bei der Geburt: In ihrer Stellungnahme 20/2012 vertrat die Kommis- – Ist es angebracht, der Inhaberin / dem Inhaber der sion die Auffassung, dass die beiden bestehenden elterlichen Sorge zu gestatten, auf die Eintragung Geschlechtskategorien aufgrund ihrer tiefen kulturel- des Geschlechts eines neugeborenen Kindes zu len und sozialen Verwurzelung vorerst beibehalten verzichten. Wenn ja: ist es angebracht, diese Op- werden sollten. Zudem würden Menschen mit Vari- tion an Bedingungen zu knüpfen? Falls ja: Welche anten der Geschlechtsentwicklung ihren Platz in der Bedingungen sind dies (z.B. ärztliches Attest über Gesellschaft oft als Frauen oder Männer finden wol- eine Variante der Geschlechtsentwicklung, Dauer len. Die Kommission war auch der Ansicht, dass die der fehlenden Geschlechtsregistrierung, usw.)? Einführung neuer Geschlechtskategorien zu einer wei- – Sollte das Fehlen der Geschlechtsregistrierung teren Stigmatisierung der Betroffenen führen könnte gegebenenfalls von Amtes wegen ergänzt wer- (NEK-CNE 2012). Die Empfehlungen der NEK-CNE den, z.B. zu dem Zeitpunkt, zu dem es möglich wurden denn auch in der «Botschaft zur Änderung wäre, das Geschlecht medizinisch zu bestim- 1 Vgl. Geschäft 19.081 (ZGB. Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister), https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/ geschaeft?AffairId=20190081 [2020.10.05].
5 men, wenn die betroffene Person oder der / die Geschlechts in das Personenstandsregister ist Ge- Inhaber / Inhaberin der elterlichen Gewalt dies genstand der drei Postulate Arslan (17.4121), Ruiz nicht spontan beantragt hat / haben? (17.4185) und Flach (18.3690), die den Bundesrat be- auftragen, in einem Bericht zu prüfen, welche Anpas- 2. Verzicht auf jegliche Registrierung des amtlichen sungen im elektronischen Personenstandsregister für Geschlechts nach der Geburt (a posteriori): die Einführung einer dritten Eintragungsmöglichkeit – Ist es angemessen, dass eine Person a poste- notwendig sind. Der Nationalrat hat die beiden ersten riori beantragen kann, dass die Eintragung ihres Postulate am 17. September 2018 angenommen und Geschlechts gelöscht wird, sodass das Geschlecht das dritte am 13. Juni 2019 abgelehnt. im Personenstandsregister nicht mehr erwähnt wird (Registrierung leer gelassen)? Die vom BJ genannten Fragen und Ausgestaltungs- möglichkeiten betreffen einige grundlegende ethische 3. Allgemeine Abschaffung jeglicher amtlichen Re- Problemstellungen, die in den vorliegenden Erwägun- gistrierung des Geschlechts: gen der NEK-CNE im Zentrum stehen. Die Kommis- – Ist es nach Ansicht der Kommission angebracht, sion nimmt die Anfrage denn auch zum Anlass, ihre generell auf die Registrierung des Geschlechts Überlegungen aus den Jahren 2012 und 2018 im Licht im Personenstandsregister zu verzichten? der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen – Wenn ja. Wie rasch sollte das geschehen und hinsichtlich der Sichtbarkeit und Akzeptanz der Vielfalt unter welchen Bedingungen? der Geschlechtsidentitäten zu überprüfen und weiter- zuentwickeln. Zu diesem Zweck hörte die Kommission 4. Schaffung neuer Geschlechtskategorien: an ihrer Plenarsitzung vom 27. Januar 2020 Deborah – Ist es angebracht, neben «weiblich» und «männ- Abate und Alecs Recher an. Alecs Recher ist Gründer lich» eine dritte Geschlechtskategorie einzufüh- des Transgender Network Switzerland (TGNS), leite- ren? te die Organisation bis 2012 als Co-Präsident, baute – Ist es ratsam, weitere Geschlechterkategorien innerhalb TGNS eine professionelle Rechtsberatung einzuführen? für Trans*menschen auf, in der er noch immer als – Sollten diese Kategorien zusätzlich zu der Rechtsberater tätig ist, und war Vorstandsmitglied Möglichkeit, die Geschlechtskategorien leer zu von Transgender Europe (TGEU). Deborah Abate ist lassen (siehe Fragen 1 und 2 oben), verwendet Aktivistin und Mitgründerin von InterAction Schweiz werden? Wenn ja, geben Sie bitte an, welche (Association Suisse pour les Intersexes) und enga- Bezeichnungen diesen neuen Geschlechtskate- giert sich in verschiedenen Projekten und Organisatio- gorien gegeben werden sollen («divers», «an- nen, die für die Gleichberechtigung von Frauen, sexu- dere», usw.). ellen Minderheiten, intergeschlechtlichen Personen, Trans*menschen 3 sowie Menschen mit nichtbinärer 5. Folgen der Abschaffung der Geschlechterbinarität Geschlechtsidentität 4 kämpfen. für die Gesetzgebung.» 2 Die amtliche Registrierung des Geschlechts stellt einen Aspekt einer breiten Debatte über die vor- Die Einführung einer dritten Eintragungsmöglichkeit herrschenden binären Strukturen und deren Konse- bzw. der gänzliche Verzicht auf die Eintragung des quenzen dar. Für die NEK-CNE kann die Diskussion 2 Die Fragen wurden der NEK-CNE auf Französisch unterbreitet und für diese Version der Stellungnahme durch die Kommission übersetzt. 3 Die hier verwendete Schreibweise mit Asterisk (Trans*menschen), auch Gender-Stern genannt, betont die Inklusion nichtbinärer und anderer nicht-normativer sozialer Geschlechter, Geschlechtsidentitäten und -praktiken. Es bestehen weitere Möglichkeiten zur sprachlichen Inklusion, unter anderem der Gendergap (Trans_menschen). 4 Eine Erläuterung der für die Stellungnahme relevanten Begriffe folgt in Kapitel 2.1.
6 um den registerrechtlichen Eintrag des Geschlechts ligungen und bestehende Diskriminierung tatsächlich nicht unabhängig von dieser breiteren Debatte ge- verringern oder gar überwinden könnte. Vielmehr kön- führt werden. Nach ihrem Verständnis besteht eine ne der Versuch, den registerrechtlichen Eintrag abzu- Wechselwirkung zwischen dem staatlichen und dem schaffen, mit neuen Formen der Diskriminierung ein- gesellschaftlichen Umgang mit Geschlecht. Dabei hergehen – ohne sicherzustellen, dass die Nachteile ist unbestritten, dass letzterer sich in der staatlichen (vgl. Kapitel 2.3), die manche Menschen erfahren, Handhabung – wozu auch der registerrechtliche Ein- tatsächlich überwunden werden. Für die vorliegende trag gehört – widerspiegelt. Zugleich kann davon Fragestellung gilt es in diesem Spannungsfeld zu dis- ausgegangen werden, dass die rechtlichen Vorgaben kutieren, inwiefern der Staat ein legitimes Interesse auch gesellschaftlich normierend wirken. Der gesell- hat, an der Geschlechterbinarität festzuhalten, wobei schaftliche Umgang mit Geschlecht ist insbesondere nicht ausser Acht gelassen werden soll, dass die heu- von einer Vielfalt an Identitätsauffassungen, kulturel- tige Praxis, die eine Zuordnung verlangt, von vielen als len Einübungen, historischen Kontexten, biologischen ebenso selbstverständlich wie zutreffend empfunden Erfahrungen und daran anknüpfenden Haltungen ge- wird. Nicht nur die erwähnte Wechselwirkung zwi- prägt. Auf deren Entstehung und Legitimation kann schen staatlichem und gesellschaftlichem Umgang in der vorliegenden Stellungnahme nicht umfassend mit Geschlecht wird unterschiedlich beurteilt. Es be- eingegangen werden. Auch die Frage, wie die staat- stehen auch abweichende Sichtweisen auf die binäre liche Handhabung der Geschlechtsregistrierung mit Ordnung selbst. Zwar gilt der sozialwissenschaftliche der lebensweltlichen Wirklichkeit interagiert, steht im Befund, wonach die Geschlechterbinarität sozial kon- Folgenden nicht im Zentrum. Diesbezüglich besteht – struiert ist, als weitherum anerkannt. Dies ändert für so auch in den Reihen der NEK-CNE – eine grosse manche aber nichts an der Tatsache, dass sie lebens- Bandbreite an Meinungen und Einschätzungen. Dies weltlich stark verankert ist und nicht zuletzt für viele manifestiert sich unter anderem in den Erwartungen Menschen Identität und Schutz stiftet. Demgegen- betreffend Potenziale und Risiken einer Abschaffung über betonen andere, dass die binäre Geschlechter- des amtlichen Geschlechtseintrags und ihrer Auswir- ordnung unzutreffend normiere, für viele Menschen kungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem einengend wirke und mit Einschränkungen bezüg- Geschlecht. Während die einen damit die Aussicht auf lich der Wahl möglicher Lebensvollzüge verbunden Befreiung von gesellschaftlich auferlegten Zwängen sei. Diese Diversität der Sichtweisen ist auch in der und Diskriminierungen verbinden, bezweifeln die an- NEK-CNE vorhanden; eine künftige Regelung muss deren, dass eine solche Änderung heutige Benachtei- ihr Rechnung tragen.
7 2. Kontext Spätestens bei der Geburt, meist aber schon im Rah- und gesellschaftlichen Entwicklungen auszusöhnen men pränataler Untersuchungen und daher bereits vor wurden Ende des 18. Jahrhunderts Naturbegabun- der Geburt, wird einer Person ein Geschlecht zugewie- gen herausgearbeitet, die die menschliche Persön- sen. Ab diesem Augenblick wird dieses Geschlecht für lichkeit in weiblich und männlich aufspaltete (Hausen die Person zu einer sozialen und juristischen Tatsache 1976). Gründe hierzu lieferten auch die Geistes- und (Hammarberg 2010). Dies gründet auf der historisch Naturwissenschaften, die Frauen und Männern unter- gewachsenen, heute tief verankerten gesellschaftli- schiedliche gesellschaftliche Rollen zuschrieben, die chen Überzeugung, die sich in unserem Denken und primär auf anatomisch-physiologische Unterschiede Handeln manifestiert, dass sich Menschen in weibli- zurückgeführt wurden (Büchler und Cottier 2012). che und männliche Personen unterscheiden lassen. Obwohl die Herstellung des Gegensatzes eine Gleich- Entsprechend werden auch Rollenerwartungen an sie wertigkeit implizieren sollte, bedeutete sie faktisch herangetragen. Menschen, die sich nicht als Frau oder eine Zuweisung gesellschaftlicher Positionen und Mann identifizieren, fordern diese binäre Struktur der Räume (Haus vs. Öffentlichkeit) sowie die Einschrän- gesellschaftlichen und rechtlichen Anerkennung von kung von Rechten und Teilhabechancen in der Politik Geschlecht heraus. (Hausen 1976). Noch heute ist diese Geschlechter dichotomie – verbunden mit der Vorstellung, wonach Die Vorstellung eines fundamentalen Unterschieds Heterosexualität die Norm sei – ein zentrales Struktur- zwischen Frauen und Männern hat sich im europäi- merkmal und prägt das geltende Recht. schen Raum erst im 18. Jahrhundert entwickelt. Bis dahin galten Frauen und Männer als ein und dassel- In der Geschlechterforschung hat sich die Sichtweise be Menschengeschlecht, wobei der Mann als «voll- durchgesetzt, dass Geschlecht im sozialen Zusam- kommener» verstanden wurde als die Frau. Von einer menhang nicht als biologische Tatsache, sondern Gleichberechtigung der Geschlechter konnte jedoch als soziale Konstruktion zu verstehen ist. Geschlecht nicht die Rede sein. So definierte sich die Stellung und ist demnach keine vorgegebene Kategorie, son- Rolle der Frau, insbesondere innerhalb des Hauses, dern ein Produkt sozialer Interaktion, die auf einem über ihre soziale Position, die ihrem Ehemann, Vater Wechselspiel zwischen Geschlechtsdarstellung und und der herrschaftlichen Gesellschaft zugeordnet war Geschlechtszuschreibung beruht (Heintz und Nadai (Gender-Portal). Die Entwicklung vom Eingeschlech- 1998). Die Geschlechterdifferenz und «Geschlecht» ter- zum Zweigeschlechtermodell resultierte aus ei- an und für sich werden anhand erlernter und gesell- nem mehrschichtigen gesellschaftlichen und ideen- schaftlich vorausgesetzter Rollenerwartungen sowie geschichtlichen Wandel, mit dem ein Interesse am individueller Verhaltensweisen konstruiert, reprodu- Individuum sowie die Infragestellung theologischer ziert und verfestigt. Zudem wird die Geschlechter- Weltbilder und ständischer Herrschaftsordnungen ein- differenz durch bestehende institutionalisierte Ver- herging. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde auch haltensweisen und Strukturen reproduziert (Goffman die Emanzipation der Frauen aus dem Machtbereich 1994). Am Recht kann nicht nur sichtbar werden, wie von Ehemann und Vater sowie ihre gleichberechtigte Geschlecht konstruiert wird, sondern auch, wie ge- Integration in die bürgerliche Gesellschaft gefordert. sellschaftliche Vorstellungen davon, was Geschlecht Dies wurde als Bedrohung der etablierten Ordnung, ist, allgemeine Geltung beanspruchende Normen prä- insbesondere der Familienverhältnisse, eingeschätzt, gen können (Baer 2008). So setzt das gültige Recht und es galt, die Stellung und Rolle der Frau auf neue das biologische Geschlecht gemeinhin mit der Ge- Art zu legitimieren. Um die erwünschten Ehe- und schlechtsidentität der Person gleich und geht nicht Familienverhältnisse mit den ideengeschichtlichen nur von einer Geschlechterbinarität aus, sondern auch
8 von der Unveränderbarkeit von Geschlecht (Büchler che, Kleidung und Verhalten wie auch das eigene Kör- und Cottier 2012; Cannoot und Decoster 2020). Als perempfinden umfassen (The Yogyakarta Principles unveränderbare, gegebene Einheit, tief verwurzelt in 2007). Heute wird Geschlechtsidentität als ein Spek- der Persönlichkeit ist Geschlecht zudem ein Schlüssel trum verstanden, das sich zwischen den zwei Polen für die Zuteilung von Ansprüchen, Schutzmassnah- «weiblich» und «männlich» aufspannt: Wie sich eine men und Rechten (Venditti 2020). Die Registrierung Person innerhalb oder ausserhalb dieses Spektrums des Geschlechts organisiert aber auch die kollektive zwischen «weiblich» und «männlich» selbst einordnet, Wirklichkeit und bestimmt mit, welche Geschlechts- bezeichnet deren Geschlechtsidentität (Monro 2019; erfahrungen und -verkörperungen gesellschaftlich an- Silbermayr 2016; Thorne et al. 2019). erkannt und akzeptiert werden (Braunschweig 2020). Zwischen Recht und der gesellschaftlichen Praxis be- Identifiziert sich eine Person nicht in der Geschlech- steht demnach eine Wechselwirkung. In Anbetracht terbinarität von «weiblich» und «männlich», und also dieses Zusammenhangs wird denn auch gefragt, in- weder (exklusiv) als Frau noch (exklusiv) als Mann, wiefern die Aufhebung der Geschlechterbinarität im wird dies als nichtbinäre Geschlechtsidentität Recht einen Beitrag zum Aufbrechen der historisch (engl.: nonbinary gender identity) bezeichnet.5 Der etablierten hierarchischen Geschlechterbilder leisten Begriff der nichtbinären Geschlechtsidentität ist hier- kann (Baer 2008). Vor diesem Hintergrund impliziert bei als Sammelbegriff zu verstehen, um unterschied- die Diskussion um die amtliche Registrierung des lichste Geschlechtsidentitäten zusammenzufassen Geschlechts auch die Frage, wie rechtlich und gesell- (Thorne et al. 2019).6 Meist werden Menschen mit schaftlich mit der Erkenntnis umzugehen ist, dass die nichtbinärer Geschlechtsidentität in folgenden drei Binarität der Rechtsordnung und weitgehend auch der Hinsichten unterschieden: (1) Menschen, die sich sozialen Praxis der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten zwischen «weiblich» und «männlich», oder ausser- nur ungenügend Rechnung zu tragen vermag. halb dieses binären Systems verorten (genderqueer); (2) Menschen, die zwei oder mehrere Geschlechter 2.1 Begriffe haben (polygender) oder sich jeweils zu unterschiedli- chen Zeitpunkten näher mit dem einen oder anderen Für den Zweck der Geschlechtsregistrierung wird die Geschlecht identifizieren (genderfluid); (3) Menschen, Vielfalt und die Komplexität der Geschlechtsidentitä- die sich innerlich (teilweise) als ungeschlechtlich emp- ten stark reduziert und in Kategorien gefasst, in de- finden oder sich nicht mit/über Geschlecht identifi- nen sich zwar die meisten, aber eben längst nicht alle zieren möchten (agender) (Monro 2019; Thorne et Menschen wiederfinden können. al. 2019). Die Verortung ausserhalb der Geschlech- terbinarität ist geprägt durch persönliche soziale und Der Begriff der Geschlechtsidentität bezieht sich gelebte Erfahrungen des Geschlechts. Oft nutzen die zunächst auf die innere, individuelle Erfahrung von Betroffenen selbst die Begrifflichkeiten daher oft an- Geschlecht. Diese Erfahrung kann mit dem biologi- ders konnotiert oder verwenden weitere Bezeichnun- schen Geschlecht in Einklang stehen – muss es aber gen, die jeweils nuanciert in Richtung einer präzisen nicht (vollumfänglich). Zusätzlich kann die Geschlecht- und oft sehr persönlichen Geschlechtsidentität und sidentität auch den Geschlechtsausdruck über Spra- -erfahrung weisen (Thorne et al. 2019). Insbesondere 5 Um die Bandbreite nichtbinärer Geschlechtsidentitäten zu bezeichnen werden unterschiedliche Begriffe verwendet. Nebst «nichtbinäre Geschlecht- sidentität» oft verwendet werden bspw. «geschlechtsspezifische Diversität» (engl.: gender diversity), «genderqueer», «gender nonconforming» und die Initialkürzungen NBGQ (non-binary, genderqueer). Aufgrund der momentan breiten Verwendung der Bezeichnung «nichtbinäre Geschlechts identität» in den deutschsprachigen Ländern wird diese auch hier verwendet. 6 Die Betonung muss nach wie vor darauf liegen, dass die einzelne Person die spezifische Bezeichnung, die sich für ihre eigene Identität für sie richtig anfühlt, unter diesem Sammelbegriff frei wählen kann (Thorne et al. 2019).
9 intergeschlechtliche und transident Personen 7 kön- identifizieren sich mit einem der binären Geschlech- nen sich mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität ter und leben als Frau oder Mann, können sich aber identifizieren. 8 auch in der Nichtbinarität verorten (Silbermayr 2016). In der Schweiz wurde die Anzahl Trans*menschen nie Vor oder bei der Geburt wird Personen ein biologi- gezählt (TGNS Information). Im Rahmen der FRA-Um- sches Geschlecht zugewiesen: «weiblich», «männ- frage gaben 51 Prozent der 19’572 befragten Trans*- lich» oder «intergeschlechtlich». Das biologische menschen ihre Geschlechtsidentität als nichtbinär an Geschlecht wird anhand von Merkmalen wie der Chro- (FRA 2020). Obwohl sich viele Menschen mit nicht- mosomenkonfiguration, der primären Geschlechts- binärer Geschlechtsidentität als transident identifizie- organe, der Geschlechtshormone und der daraus ren, tun dies nicht alle. Die Bezeichnung Transidentität resultierenden weiteren Geschlechtsmerkmale fest- kann mit einem «Gefühl des Übergangs» in Verbin- gelegt (Whyte et al. 2018). Intergeschlechtliche dung stehen und impliziert demnach einen Prozess, Personen werden mit Geschlechtsmerkmalen gebo- der zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine feste und ren, die nicht strikt zur weiblichen oder männlichen unveränderliche Geschlechtsidentität mündet. Von Kategorie gezählt werden können – oder die zu bei- Personen, die ihre Geschlechtsidentität als dynamisch den Kategorien gehören und in unterschiedlicher Aus- und nicht als zu einem Zeitpunkt feststehend betrach- prägung vorliegen (FRA 2020 ; vgl. auch Deutscher 9 ten, kann diese Beschreibung als nicht treffend emp- Ethikrat 2012 und NEK-CNE 2012). Es wird geschätzt, funden werden (Conlin et al. 2019). dass intergeschlechtliche Personen ungefähr 1,7 Pro- zent der Weltbevölkerung ausmachen (Blackless et Annahmen zur Gesamtzahl von Personen, die sich in al. 2000; Fausto-Sterling 2000). Umgerechnet auf die der Nichtbinarität verorten, variieren.10 Gemäss einer Schweiz wären dies etwa 140’000 Personen. Betrof- repräsentativen Umfrage siedeln sich in Deutschland fene können sich sowohl mit einem nichtbinären als zwei bis drei Prozent der Bevölkerung im Transspekt- auch mit einem binären Geschlecht identifizieren. In rum, das sowohl Trans*menschen, intergeschlechtli- der FRA-Umfrage gaben 20 Prozent der 1’398 befrag- che Menschen als auch weitere Menschen mit nicht- ten intergeschlechtlichen Personen ihre Geschlechts binärer Geschlechtsidentität umfasst, an. Von diesen identität als nichtbinär an (FRA 2020). zwei bis drei Prozent identifizieren sich 60 Prozent weder als weiblich noch als männlich. Umgerechnet Transidentität schliesslich ist ein Überbegriff für Ge- auf die Schweiz wären das somit etwa 103’000 bis schlechtsidentitäten von Personen, die sich nicht oder 154’000 Menschen mit nichtbinärer Geschlechts nur bedingt in ihrem bei der Geburt zugewiesenen bio- identität (Recher 2018).11 logischen Geschlecht wiederfinden. Trans*menschen 7 Erläuterungen zu den Begrifflichkeiten siehe nachfolgend. 8 Auch Personen, deren Körper in die medizinische Norm von weiblich oder männlich passen und die sich mit ihrem Körper identifizieren, können sich in der Nichtbinarität verorten. 9 Die European Union Agency For Fundamental Rights (FRA) hat 2020 den Bericht «EU LGBTI II – A Long Way to Go for LGBTI Equality» publiziert, der Ergebnisse aus der im Jahr 2019 durchgeführten Umfrage unter lesbischen, schwulen und bisexuellen Personen sowie Trans*personen und inter- geschlechtlichen Menschen aus 28 EU-Mitgliedstaaten, Nordmazedonien und Serbien ab 15 Jahren präsentiert. An der Umfrage nahmen 139’799 Personen teil, wovon 1’398 intergeschlechtliche und 19’572 transidente Personen waren. 20% der intergeschlechtlichen Personen und 51% der Trans*menschen gaben ihre Geschlechtsidentität als nichtbinär an. Noch immer werden die Grundrechte der untersuchten Personen in der EU verletzt und sie sind Hass, Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. Die Umfrageergebnisse liefern politischen Entscheidungsträger*innen die notwendigen Daten, um gezielte Massnahmen zur Gewährleistung der Einhaltung der Grundrechte von Betroffenen in der EU entwickeln zu können. Für weiter führende Daten vgl. auch https://fra.europa.eu/en/data-and-maps/2020/lgbti-survey-data-explorer [2020.07.16]. 10 In der FRA Umfrage unter 19’572 Trans*menschen gaben 51% ihre Geschlechtsidentität als nichtbinär an (FRA 2020). Eine Literaturanalyse von Nieder et al. (2018) ergab jedoch, dass sich nur ungefähr 20% der Trans*menschen mit einem nichtbinären Geschlecht identifizieren. 11 Die ungefähre Anzahl intergeschlechtlicher Menschen ist nahezu kongruent mit der Anzahl Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität. Nicht alle intergeschlechtlichen Menschen identifizieren sich jedoch mit einem nichtbinären Geschlecht.
10 2.2 Relevante Entwicklungen die am 25. Mai 2019 durch die World Health Orga- nization (WHO) verabschiedet worden ist, und in der Erst seit einigen Jahren sind Menschen mit nichtbinä- Transidentitäten aus dem Kapitel über psychische rer Geschlechtsidentität hierzulande gesellschaftlich Störungen und Verhaltensstörungen entfernt worden sichtbar (Meadow 2018; Richards et al. 2019). Das sind (Jacke 2019; WHO 2019). Sie gilt deshalb als Wissen um Varianten des biologischen Geschlechts wichtiger Schritt Richtung Entpathologisierung nicht- (Intergeschlechtlichkeit) und der Geschlechtsidentität binärer Geschlechtsidentitäten und Transidentitäten. ist jedoch keinesfalls neu und in unterschiedlichen Allerdings werden intergeschlechtliche Personen Kulturen seit Langem bekannt: Die frühesten Auf- auch gemäss ICD-11 weiterhin pathologisiert (OII Eu- zeichnungen sind Figuren des griechischen Gottes rope 2018; WHO 2019). Hermaphrodites und sumerischer Gala-Priester anti- ker mesopotamischer Städte. Sie zeigen Individuen, Auch auf rechtlicher Ebene erfolgten Schritte zum die sich nicht leicht als Frau oder Mann identifizie- Schutz und zur Anerkennung von Menschen mit nicht- ren lassen. Indigene Gemeinschaften Nordamerikas binärer Geschlechtsidentität, wie auch von interge- bezeichnen Personen, die eine weibliche und eine schlechtlichen und Transmenschen (van den Brink und männliche Seele in sich vereinen als «Two-Spirit», und Dunne 2018). So verabschiedete der UN-Menschen- in Indien wird die «Hijra» Identität als weder weiblich rechtsrat am 17. Juni 2011 die Resolution « Human noch männlich verstanden und vom Recht offiziell als rights, sexual orientation and gender identity» (Men- «drittes Geschlecht» anerkannt (Thorne et al. 2019). 12 schenrechtsrat 2011), die die Beendigung staatlicher Auch Europa kannte Regelungen für Menschen ohne Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung eindeutige Geschlechtszuordnung. In diesem Zusam oder der Geschlechtsidentität fordert. Von internatio- menhang steht beispielsweise das Preussische All- naler Bedeutung sind auch die Yogyakarta Principles gemeine Landrecht von 1794, das eine Regelung für und die Yogyakarta Principles plus 10 13 , die in 31 Prin- damals sogenannte «Zwitter» kannte (Büchler und zipien festhalten, welche Menschenrechte hinsicht- Cottier 2005). lich der sexuellen Orientierung und der Geschlecht- sidentität massgeblich sind. Die Prinzipien 3 und 31 Noch bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominierte thematisieren speziell das Recht auf rechtliche Aner- gemeinhin eine medizinisch-psychologische Perspek- kennung von Betroffenen (The Yogyakarta Principles tive, die die Zweigeschlechtlichkeit als naturgegeben 2007; The Yogyakarta Principles plus 10 2017). In der verstand. Personen mit nichtbinärer Geschlechtsiden- PACE Resolution Nr. 2048 vom Jahr 2015 empfiehlt tität bzw. Transidentitäten im Allgemeinen galten sodann der Europarat, die Schaffung einer dritten dementsprechend als Abweichung von dieser Norm Eintragungsmöglichkeit in Identitätsdokumenten zu und wurden meist pathologisiert. Von einer solchen prüfen (Europarat 2015). Die International Civic Avia- Sichtweise haben sich nicht zuletzt die medizinischen tion Organisation (ICAO), eine Sonderorganisation der Wissenschaften in jüngerer Zeit teilweise wegbewe- UNO, ermöglicht die Verwendung eines «X» (unspe- gt (Balzer, Suess und Sauer in Hammarberg 2010). cified gender/nicht spezifiziertes Geschlecht) nebst Zum Ausdruck kommt dies etwa in der 11. Revision «F» (female/weiblich) und «M» (masculine/männlich) der International Classification of Diseases (ICD-11), in internationalen Reisepässen. Ein Geschlechtsein- 12 Hijras haben jedoch trotz gesellschaftlicher und rechtlicher Anerkennung oft einen geringen sozialen Status, und ihre Rolle und Wichtigkeit ändert sich mit den Strukturen der Gesellschaft (Thorne et al. 2019). 13 Die Yogyakarta Principles sind von einer Gruppe von Menschenrechtsexpert*innen erstellt worden und stellen das einflussreichste internationale Dokument hinsichtlich der Rechte sexueller Minderheiten, Trans*menschen, intergeschlechtlicher Personen und Menschen mit nichtbinärer Ge- schlechtsidentität dar (Holzer 2020).
11 trag ist aber nach wie vor obligatorisch (ICAO 2015).14 jedoch noch immer Herausforderungen, die auch für Nicht zuletzt wurde der Umgang mit der Vielfalt an die Politikgestaltung und die Ausgestaltung gesell- Geschlechtsidentitäten jüngst auch in den Medien schaftlicher und medizinischer Praktiken sowie recht- und der Öffentlichkeit vermehrt thematisiert. licher Regelungen relevant sind. Auch in der Schweiz vollzieht sich dieser Mentalitäts- 2.3 Implikationen für betroffene wandel sowohl in der medizinischen Fachwelt als Personen auch in anderen Bereichen. Intergeschlechtliche und transidente Personen sowie Personen mit nichtbinä- Negative Folgen der amtlichen Registrierung des rer Geschlechtsidentität sind vermehrt sichtbar, unter Geschlechts in einer binären Ordnung müssen ins- anderem in politischen Kampagnen wie jener zur «Ehe besondere Personen mit nichtbinärer Geschlechts für alle». Der Mentalitätswandel manifestiert sich aber identität und intergeschlechtliche Personen hinneh- auch in der Verwendung nichtbinärer Sprache durch men. Die Betroffenen sind aber auch oft negativen zahllose öffentliche wie private Akteure, wie etwa Erfahrungen ausgesetzt, die nicht mit der staatlichen die meisten öffentlichen Verwaltungen, Schweizer Handhabung der Registrierung des Geschlechts in Universitäten und Hochschulen (Tagblatt 2019), pri- Verbindung stehen, da die Identifikation mit einem vatwirtschaftliche Organisationen oder der Schwei- der binären Geschlechter gesellschaftlich meist noch zerische Evangelische Kirchenbund (Evangelischer immer stillschweigend vorausgesetzt wird und binä- Kirchenbund 2018), die sich Richtlinien für geschlech- re geschlechtliche Festlegungen visuell und sprach- tergerechte Sprache gegeben haben. Der Wandel lich omnipräsent sind. Viele leiden daher unter einem kommt auch in der Zustimmung des Nationalrats zu enormen Anpassungsdruck, diskriminierenden Ver- den Postulaten Arslan (17.4121) und Ruiz (17.4185) haltensweisen und fühlen sich unsichtbar (Brubaker zum Ausdruck (vgl. Kapitel 1). 2016; Jones et al. 2019; shuster und Lamont 2019; Silbermayr 2016).15 Im Folgenden werden in nicht Im Sinne eines Beispiels sei darüber hinaus auf eine abschliessender Weise negative Konsequenzen be- Bestimmung des Kantons Zürich verwiesen: Hier ist schrieben. Die NEK-CNE weist jedoch darauf hin, es seit 2019 möglich, den Vornamen und/oder ge- dass jede Diskussion rund um Geschlechtskategorien schlechtsspezifische Endungen von Familien- und und eine allfällige Erweiterung oder Auflösung der Zwischennamen an die selbstbestimmte Geschlecht- selben in Anbetracht ihrer potenziellen Auswirkungen sidentität anzupassen. Zusätzlich können ein ge- auf die gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen und auf schlechtsneutraler oder mehrere geschlechtsspezifi- Freiheiten der Persönlichkeitsentwicklung die Interes- sche Vornamen gewählt werden. Freilich ändert sich sen aller Personen berührt. mit der bewilligten Namensänderung, wie der Kanton Zürich ausdrücklich festhält, das amtliche Geschlecht 2.3.1 Alltag nicht (Gemeindeamt Kanton Zürich 2019). Dass für Menschen mit nichtbinärer Geschlechts Diese Veränderungen in der Schweiz verweisen auf identität und für intergeschlechtliche Personen kei- eine zunehmende gesellschaftliche Sensibilisierung ne registerrechtliche Geschlechtskategorie existiert, bezüglich nichtbinärer Geschlechtsidentitäten. Hin- kann für die Betroffenen eine grosse emotionale und sichtlich ihrer Sichtbarkeit und Anerkennung bestehen moralische Last darstellen, da sie dadurch vom Staat 14 Die ICAO legt internationale Standards und empfohlene Praktiken und Verfahren fest, die sich mit Zoll- und Einwanderungsverfahren befassen (https://www.icao.int/about-icao/Pages/default.aspx [2020.08.28]). Das Geschlecht ist als einer von vier obligatorischen persönlichen Identifikatoren, die in einem Reisepass enthalten sein müssen, festgelegt (ICAO 2015). 15 Im Rahmen der Umfrage des britischen Gleichstellungsbüros 2018 gaben 76% der 7’567 befragten Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität an, Angaben zu ihrer Geschlechtsidentität zu vermeiden, da sie negative Reaktionen befürchteten (Government Equalities Office 2018).
12 und teilweise von ihrem Umfeld in ihrer Geschlechts Belegt ist auch, dass Personen mit nichtbinärer Ge- identität oder Intergeschlechtlichkeit nicht anerkannt schlechtsidentität und Trans*personen vielfach Diskri- werden und so – jedenfalls in ihrer subjektiven Wahr- minierungen ausgesetzt sind, beispielsweise in den nehmung – für den Staat nicht existieren oder als Bereichen Arbeit und Bildung. So gaben im Rahmen unrechtmässig gelten (Braunschweig 2020). Die vor- einer Befragung durch das Transgender Network herrschende binäre Normierung prägt und formt das Switzerland (TGNS 2018) 20 Prozent der teilnehmen- Leben von Betroffenen und erschwert alternative Le- den Trans*personen an, arbeitslos zu sein. Die Ar- bensweisen. Zum Ausdruck kommt dies etwa in der beitslosenquote ist damit beinahe fünfmal höher als Selbstverständlichkeit geschlechterbinärer Toiletten in der Schweizer Gesamtbevölkerung.16 Und im U.S. und Uniformen, der seltenen Verwendung nichtbinä- Transgender Survey 2015 gaben 16 Prozent der Kin- rer Sprache, beispielsweise eines nichtbinären Pro- der und Jugendlichen mit nichtbinärem Geschlecht nomens («es» o.ä.), aber auch in Registrierungsfor- an, in der Schule wegen ihrer Geschlechtsidentität mularen im staatlichen und medizinischen Bereich. körperlich angegriffen worden zu sein, und 10 Prozent Sie kennen meist zwei Geschlechter (Agius 2015; verliessen die Schule wegen Misshandlung (James Deutscher Ethikrat 2012; Herman 2013; Monro 2019; et al. 2016; Liszewski et al. 2018). Scottish Trans Alliance 2015; Taylor et al. 2018). Insbe- sondere die Nicht-Übereinstimmung der Geschlechts- 2.3.2 Druck zu geschlechtsangleichenden kategorie mit der Geschlechtsidentität, dem biologi- Eingriffen schen Geschlecht und / oder dem Geschlechtsausdruck in Identitätsdokumenten ist für Trans*personen und Operative Eingriffe oder hormonelle Behandlungen intergeschlechtliche Menschen belastend. Denn die zur Angleichung des Körpers an ein Geschlecht ent- Betroffenen sind auf täglicher Basis dazu gezwungen, springen bei Personen mit nichtbinärer Geschlechts die Details ihrer Geschlechtsidentität oder Interge- identität sowie intergeschlechtlichen Menschen oft schlechtlichkeit, sowie die damit in Verbindung stehen- keiner medizinischen Indikation. Auch wünschen die den Aspekte ihres Privatlebens Fremden gegenüber betroffenen Personen vielfach keine Interventionen. offenzulegen (Agius 2015; Government Equalities Of- Gleichwohl stehen sie oftmals unter einem grossen fice 2018; Holzer 2020; Human Rights Watch 2011). gesellschaftlichen Druck, da die Vorstellung der Kon- Die Erfahrung von Ablehnung und Diskriminierung, die gruenz von Geschlechtsidentität und sichtbarem die Angst vor zukünftigen Belästigungen schüren, kön- geschlechtlichem Körper kulturell stark wirksam ist nen zudem dazu führen, dass Betroffene auf berufliche (Brubaker 2016; Jacke 2019; Streuli et al. 2013). und soziale Chancen verzichten (müssen) oder soziale bzw. emotionale Isolation erfahren (Conlin et al. 2019; Die Situation intergeschlechtlicher Kinder stellt eine Deutscher Ethikrat 2012; James et al. 2016). Fortwäh- besondere Herausforderung dar. Noch immer wer- rende Richtigstellungen, beispielsweise hinsichtlich den Genitaloperationen, die nicht notwendig sind und der gewünschten Ansprache oder der Identitätsdoku- daher das Nicht-Schadensprinzip verletzen, an urteils mente, benötigen viel Energie und können zu weiterer unfähigen Kindern vorgenommen, was als Men- Diskriminierung und Gewalt führen (Taylor et al. 2018). schenrechtsverletzung gilt.17 In Deutschland findet Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität wer- seit 2005 eine öffentliche Debatte über geschlechts- den auch oft nicht als solche erkannt, was zu einem angleichende Operationen bei intergeschlechtlichen Gefühl der U nsichtbarkeit führen kann. Kindern statt, die 2013 zur Möglichkeit der Offenlas- 16 Auch im Rahmen der FRA Umfrage berichteten 35% der 19’572 Trans*menschen und 32% der 1’398 intergeschlechtlichen Personen über Diskrimi- nierungserfahrungen am Arbeitsplatz oder bei der Suche nach Arbeit im Jahr vor der Umfrage (FRA 2020, Informationen zur Identifikation mit einem nichtbinären Geschlecht vgl. Fussnote 10, S. 9). 17 Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Verbot von Sterilisationen, Eingriffen, die zur Fortpflanzungsunfähigkeit führen und Eingriffen, die die äussere Erscheinung dauerhaft verändern, beziehen sich auf Art. 8 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben).
13 sung des Geschlechtseintrags, 2018 zur Einführung tet, durcheinandergerät. Oftmals schlägt diese Angst einer «dritten Option» im Personenstandsgesetz (vgl. in Aggression um (Silbermayr 2016). So wurden von Kapitel 3.2) und zu Revisionen medizinischer Leitlini- 2009 bis 2014 in 28 Ländern Fälle extremer physischer en geführt hat. Ein Verbot der Operationen besteht Gewalt wie Folter und Vergewaltigung gegen Trans*- weiterhin nicht und trotz dieser Entwicklungen ist menschen dokumentiert. In 50 Ländern wurden Fälle die Anzahl kosmetischer Genitaloperationen bei inter körperlicher Angriffe erfasst. Psychische Gewalt wur- geschlechtlichen urteilsunfähigen Kindern zwischen de in 30 und Hassreden in 21 Ländern gemeldet. Auch 2005 und 2016 nicht rückläufig (Hoenes et al. 2019; die Schweiz dokumentierte Fälle körperlicher Angrif- Klöppel 2016; OII Deutschland 2013). Ein Grund dafür fe, psychischer Gewalt und Hassreden (TvT 2014).20 In ist, dass Eltern und ärztliches Fachpersonal oft davon den Jahren 2008 bis 2014 wurden zudem 1’700 Fälle überzeugt sind, dass ein intergeschlechtliches Kind von Morden an Trans*menschen erfasst (TGEU 2015). wegen seines Andersseins Diskriminierung erfahren Auch intergeschlechtliche Menschen sind sexuellen wird (Klöppel 2016; Streuli et al. 2013). Elterliche Ent- oder physischen Angriffen ausgesetzt, erfahren Be- scheidungen sind zudem stark von der Information lästigung und werden bedroht (FRA 2020). Die Dun- und Beratung durch medizinische Fachpersonen ab- kelziffer ist mit Sicherheit hoch, zumal Angriffe von hängig (de Clercq und Streuli 2019; Streuli et al. 2013). Betroffenen nur selten gemeldet werden (FRA 2020; Ob in Deutschland die Ende 2018 geschaffene Mög- Government Equalities Office 2018). lichkeit eines Geschlechtseintrags «divers» (vgl. Kapi- tel 3.2) Einfluss auf diese Zahlen hat, lässt sich zum 2.3.4 Gesundheit jetzigen Zeitpunkt noch nicht feststellen. Mangelnde Anerkennung und Abwertung durch das 2.3.3 Gewalt soziale Umfeld und die binären gesellschaftlichen Strukturen können weitreichende gesundheitliche Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen keine Daten zu Ge- Folgen haben (Deutscher Ethikrat 2012; Jones et walt an Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidenti- al. 2019; Silbermayr 2016). Menschen mit nichtbinärer tät, weil Übergriffe statistisch nicht gesondert erfasst Geschlechtsidentität weisen höhere Anteile chroni- werden. Einblick in die Dimensionen von Gewalt er- scher Probleme, Behinderungen oder Krankheit so- möglichen Erhebungen, die Trans*menschen und in- wie Depressionen auf als Menschen, die sich mit dem tergeschlechtliche Personen betreffen. 18 zugeschriebenen Geschlecht identifizieren (Burgwal et al. 2019). Insbesondere bei betroffenen Jugendli- Trans*personen und intergeschlechtliche Menschen chen liegt eine höhere Quote hinsichtlich Depression, sind mit weit verbreiteter Diskriminierung konfrontiert, Suizidalität, Gewalt und Missbrauch von Substanzen die allgemeine Belästigung, sexuelle Übergriffe und wie Alkohol und Drogen vor (Newcomb et al. 2020; körperliche Gewalt umfasst (Conlin et al. 2019). Das Rimes et al. 2017). Forschungsprojekt «Transrespect versus Transphobia Worldwide» (TvT) der Organisation Transgender Eu- Negative Erfahrungen in Einrichtungen des Gesund- rope (TGEU) erfasst transphobisch motivierte Gewalt heitswesens oder die Angst, derartige Erfahrungen weltweit.19 Der Begriff «Transphobie» verweist auf zu machen, führen überdies oft dazu, dass Trans*- die Angst, die Menschen empfinden können, wenn menschen und intergeschlechtliche Personen mit die Geschlechterordnung, die ihnen Orientierung bie- nichtbinärer wie auch binärer G eschlechtsidentität me- 18 Informationen zu Trans*personen und intergeschlechtlichen Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität siehe Kapitel 2.1. 19 Die erhältlichen Daten sind aus dem Jahr 2014 und umfassen 116 Länder. Ausser zu Tötungsdelikten werden keine expliziten Zahlen genannt. 20 Die FRA Umfrage ergab, dass 17% der befragten 19’572 Trans*menschen und 22% der befragten 1’398 intergeschlechtlichen Personen hassmotivierte sexuelle und körperliche Gewalt erfuhren (FRA 2020, Informationen zur Identifikation mit einem nichtbinären Geschlecht vgl. Fussnote 10, S. 9).
14 dizinische Institutionen verzögert aufsuchen oder Frü- herkennungsmassnahmen vermeiden (Agius 2015; FRA 2020; Houben et al. 2019).21 Auch haben sie erschwer- ten Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdiensleistun- gen (Agius 2015; FRA 2020; Government Equalities Office 2018). So ist nachgewiesen, dass Schweizer Trans*personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität eine signifikant schlechtere Gesundheit und tiefere Le- bensqualität 22 haben als Trans*personen, die sich mit einem binären Geschlecht identifizieren und Perso- nen, die sich in der Zweigeschlechtlichkeit einordnen (Jellestad et al. 2018).23 Mit der tieferen Lebensqua- lität von Personen mit nichtbinärer Geschlechtsiden- tität und von intergeschlechtlichen Personen wird auch der Umstand in Verbindung gebracht, dass die Änderung des amtlichen Geschlechts stark erschwert ist und die Unterstützung durch die Gesellschaft fehlt (Jones et al. 2019). 21 In der FRA Umfrage gaben rund 59% der 1’398 intergeschlechtlichen Personen und 55% der 19’572 befragten Trans*menschen an, bereits Diskri- minierungserfahrungen im Gesundheitswesen gemacht zu haben (FRA 2020, Informationen zur Identifikation mit einem nichtbinären Geschlecht vgl. Fussnote 10, S. 9). 22 Lebensqualität bezeichnet die Bewertung von physischen, psychologischen, beziehungsrelevanten und umweltbezogenen Bereichen im Leben (Jones et al. 2019). 23 Einige Untersuchungen aus dem anglophonen Raum weisen jedoch darauf hin, dass die Lebensqualität und mentale Gesundheit von Trans*menschen mit binärer Geschlechtsidentität noch tiefer liegen als jene von Personen, die sich in der Nichtbinarität verorten. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass Trans*menschen mit binärer Geschlechtsidentität meist unter einer höheren Geschlechtsinkongruenz und Unzufriedenheit mit ihrem Körper leiden als Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität (Jones et al. 2019; Newcomb et al. 2020).
15 3. Rechtlicher und politischer Rahmen 3.1 Rechtslage in der Schweiz tern (EAZW 2014). Besteht ein zeitlicher oder thema- tischer Zusammenhang zwischen der ursprünglichen 3.1.1 Das registerrechtliche Geschlecht Geburtsmeldung des Neugeborenen bezüglich Ge- schlecht und der Änderung des Geschlechts im Per- Die Bundesverfassung hält fest, dass die Diskriminie- sonenenstandsregister, soll die Berichtigung auf einfa- rung aufgrund des Geschlechts unzulässig sei (Art. 8 chem Wege vorgenommen werden können, «gestützt Abs. 2 BV). Das amtliche Geschlecht dient aber nach auf eine berichtigte Geburtsmeldung, die ihrerseits wie vor in einer ganzen Reihe von Bereichen als An- durch das medizinische Fachpersonal zu ergehen hat» knüpfungspunkt, so in Bezug auf die Militärdienst- (EAZW 2014: 4). Dabei wird darauf hingewiesen, dass pflicht, im Sozialversicherungsrecht und im Familien «entsprechende medizinische Abklärungen […] durch- recht. Zudem wird es zu Identifikationszwecken aus eine gewisse Zeit (in Einzelfällen auch mehrere nebst, unter anderem, dem Zivilstand, Namen, Ort Jahre) in Anspruch nehmen» (EAZW 2014: 4) können. und Zeit der Geburt im Personenstandsregister fest- gehalten (Art. 8 ZStV). Zwar stellt dies eine Entlastung für die Betroffenen dar, allerdings geht die Regelung davon aus, dass Das Schweizer Recht geht heute von der Binarität es lediglich die beiden Geschlechter «weiblich» und der Geschlechter aus. Das Geschlecht wird im Per- «männlich» gibt, und die Zugehörigkeit zum einen sonenstandsregister geführt (Art. 8 lit. d ZStV). Die oder anderen dieser beiden Geschlechter eine Frage Geburt ist innerhalb von drei Tagen dem zuständigen ist, die der medizinischen Klärung zugänglich ist. Zivilstandesamt zu melden, wobei die Meldung auch Nichtbinäre Geschlechtsidentitäten bleiben unberück- das Geschlecht des Kindes umfasst (Art. 8, 34, 35, sichtigt. Im Übrigen kennt die Schweiz keine gesetz- 91 ZStV). Eine dritte Eintragungsmöglichkeit oder die liche Definition des Geschlechts oder Empfehlungen Möglichkeit, auf einen Eintrag zu verzichten, gibt es zur Bestimmung desselben, vielmehr legt das ärztli- nicht. Bis in die jüngste Zeit war es üblich, nicht nur che Fachpersonal dieses nach Ermessen fest. durch den Registereintrag, sondern auch durch eine operative Geschlechtsangleichung die Eindeutigkeit Stimmt die Geschlechtsidentität mit dem bei der des Geschlechts herzustellen. Diese medizinische Geburt zugewiesenen und im Personenstandsregis- Praxis wurde und wird stark kritisiert, nicht zuletzt von ter eingetragenen Geschlecht nicht überein, ist die der NEK-CNE selbst. Änderung des Geschlechtseintrags heute nur auf gerichtlichem Wege möglich. Lange Zeit wurden für Ein «falscher» Eintrag bei Geburt kann bereinigt wer- den Geschlechtswechsel erstens eine geschlechts- den (Art. 43 ZGB), andernfalls erfolgt die Änderung verändernde Operation und zweitens der Nachweis des Eintrags auf Klage der betroffenen Person oder verlangt, dass die Reproduktionsfähigkeit im ur- gegebenenfalls deren gesetzlichen Vertretung auf sprünglichen Geschlecht aufgehoben wurde. Weil gerichtlichem Weg (Art. 42 ZGB). Mit Blick auf die auch die Geschlechtsidentität zu den grundrechtlich Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter hat geschützten Interessen zählt, bedeutete dies, dass das Eidgenössische Amt für das Zivilstandswesen die betroffene Person sich zwischen der Ausübung (EAZW) eine Empfehlung der NEK-CNE aufgenom- zweier Grundrechte entscheiden musste: Sie konnte men und am 1. Februar 2014 eine Amtliche Mittei- das Recht auf Geschlechtsidentität nur unter Inkauf- lung in Kraft gesetzt, in der die Zivilstandsbehörden nahme eines Eingriffs in die körperliche Integrität und angehalten werden, die Berichtigung dieser Angaben die reproduktive Selbstbestimmung erreichen. gestützt auf eine ärztliche Bescheinigung zu erleich-
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