Die amtliche Registrierung des Geschlechts - Ethische Erwägung zum Umgang mit dem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister - Stellungnahme Nr ...

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Stellungnahme Nr. 36/2020
                                                     Bern, 5. Oktober 2020

Die amtliche Registrierung
des Geschlechts
Ethische Erwägung zum Umgang mit dem Geschlechtseintrag
im Personenstandsregister

Nationale Ethikkommission
im Bereich der Humanmedizin NEK
Inhaltsverzeichnis
1.    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4

2.    Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7

2.1 Begriffe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8
2.2 Relevante Entwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.3 Implikationen für betroffene Personen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
      2.3.1 Alltag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
      2.3.2 Druck zu geschlechtsangleichenden Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
      2.3.3 Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
      2.3.4 Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3.    Rechtlicher und politischer Rahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15

3.1 Rechtslage in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
      3.1.1 Das registerrechtliche Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
      3.1.2 Die Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

3.2 Erfahrungen und Situation in anderen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

4.    Ethische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19

4.1 Orientierungslinien und Abwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
      4.1.1 Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
      4.1.2 Achtung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20
      4.1.3 Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20
      4.1.4 Gleichbehandlung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21
      4.1.5 Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22
      4.1.6 Schutz der persönlichen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22

4.2 Öffentliche und g
                    ­ esellschaftliche Interessen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23

5.    Beurteilung der Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25

5.1 Verzicht auf jegliche R
                          ­ egistrierung des amtlichen Geschlechts bei der Geburt
      sowie nach der Geburt (a posteriori) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25
5.2 Allgemeine Abschaffung jeglicher amtlichen Registrierung des Geschlechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26
5.3 Einführung neuer Geschlechtskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28
5.4 Konsequenzen einer Umsetzung der Optionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .29

6.    Zusammenfassung und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33

7.    Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36

8.    Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43
Vorwort
Das Schweizer Personenstandsregister kennt nur zwei Geschlechter: weiblich und männlich. Inter-
geschlechtliche Menschen, Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität und viele Transmen-
schen haben keine Möglichkeit, einen Eintrag vornehmen zu lassen, mit dem sie sich identifizieren
können. Die Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität wird ihnen verwehrt. In der Schweiz, aber auch
international, werden alternative Regelungen diskutiert, mit denen der amtliche Geschlechtseintrag
der Vielfalt existierender Geschlechtsidentitäten Rechnung tragen kann. Die diskutierten Lösungs-
vorschläge reichen von der Möglichkeit eines (temporären) Verzichts auf den Geschlechtseintrag
über die Einführung einer dritten Eintragungsmöglichkeit bis zur gänzlichen Abschaffung der amtli-
chen Registrierung des Geschlechts. Alle Optionen sind in der Schweiz Gegenstand einer laufenden
politischen Debatte, in die sich die vorliegende Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission
im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE) – ausgelöst durch eine Anfrage des Bundesamtes für Justiz
– einfügt.

Diese Debatte ist durch unterschiedliche Identitätsauffassungen, Haltungen und kulturelle Vor­
stellungen geprägt. Sie schliesst die Frage ein, wie bedeutsam die Kategorie «Geschlecht» für die
einzelnen Menschen und die gesellschaftliche Ordnung überhaupt ist. Eine Bandbreite an Meinun-
gen besteht auch hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Binarität der heutigen Ordnung – also die
wirkmächtige Unterscheidung in «weiblich» und «männlich» – für die einzelnen Menschen spielt.
Das Thema rührt tiefgehend an tradierte Normen und konfrontiert jede und jeden Einzelnen mit
dem eigenen Selbstverständnis in einem für viele sehr persönlichen Bereich. Die NEK-CNE hofft,
mit den vorliegenden Überlegungen und ihrer Empfehlung für ein schrittweises Vorgehen zur Er-
weiterung der Eintragungsmöglichkeiten einen Beitrag zur differenzierten gesellschaftlichen und
politischen Auseinandersetzung mit diesem vielschichtigen Thema zu leisten.

Andrea Büchler
Präsidentin der NEK
4

1. Einleitung
Die ethische Auseinandersetzung mit der Frage, ob,                        des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Änderung des
zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form eine amt-                        Geschlechts im Personenstandsregister)» des Bun-
liche Registrierung des Geschlechts angebracht ist,                       desrats aufgenommen und berücksichtigt, die aktuell
wurde in jüngerer Zeit insbesondere im Zusammen-                          in der parlamentarischen Beratung ist.1 In ihrer Ant-
hang mit der Thematik der Intergeschlechtlichkeit ge-                     wort auf die Vernehmlassung zum Vorentwurf dieser
führt (vgl. z.B. ausführlich Deutscher Ethikrat 2012).                    Änderung sprach sich die NEK-CNE am 20. Septem-
Auch die Nationale Ethikkommission im Bereich der                         ber 2018 für die rasche Fortsetzung der Arbeiten an
Humanmedizin (NEK-CNE) hat sich in ihrer Stellung-                        einer (oder mehreren) zusätzlichen Kategorie(n) aus.
nahme 20/2012 «Zum Umgang mit Varianten der Ge-                           Sie vertrat dabei die Ansicht, dass die Möglichkeit
schlechtsentwicklung – Ethische Fragen zur ’Interse-                      weiterer positiver Optionen die Rechte der betroffe-
xualität’» mit der Thematik befasst. Bis anhin bezog                      nen Personen am ehesten respektieren würde und
sich die Auseinandersetzung zum einen auf die Prob-                       würdigte dadurch die Entwicklungen, die seit der Stel-
lematik der Behandlung, Beratung und Begleitung von                       lungnahme 2012 eingetreten waren.
Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwick-
lung, zum andern auf die Frage der ethisch ratsamen                       Im Kontext der aktuellen öffentlichen Diskussion
Weiterentwicklung des Personenstandsrechts. Es gilt                       über die mögliche Einführung einer dritten Eintra-
hervorzuheben, dass die Thematik des Geschlechts-                         gungsmöglichkeit hat das Bundesamt für Justiz (BJ)
eintrags nicht nur einen begrenzten Personenkreis                         in der Person von Herrn Michael Schöll, Vizedirektor,
betrifft. Vielmehr führt sie stets die Grundfrage nach                    Chef Direktionsbereich Privatrecht, die Kommission
der normativen Funktion der Geschlechterkategorien                        mit Schreiben vom 5. November 2019 gebeten, zu
mit sich. Die zu treffende Regelung ist somit auch                        folgenden Fragen hinsichtlich alternativer Ausgestal-
hinsichtlich der Auswirkungen, die sie auf die grund-                     tungsmöglichkeiten der Registrierung des amtlichen
legenden Strukturen innerhalb der Gesellschaft haben                      Geschlechts Stellung zu nehmen:
könnte, und ihrer Potenziale, Geschlechterverhältnis-
se dauerhaft gerechter zu gestalten, zu betrachten.                       «1. Verzicht auf jegliche Registrierung des amtlichen
                                                                               Geschlechts bei der Geburt:
In ihrer Stellungnahme 20/2012 vertrat die Kommis-                             – Ist es angebracht, der Inhaberin  / dem Inhaber der
sion die Auffassung, dass die beiden bestehenden                                  elterlichen Sorge zu gestatten, auf die Eintragung
Geschlechtskategorien aufgrund ihrer tiefen kulturel-                             des Geschlechts eines neugeborenen Kindes zu
len und sozialen Verwurzelung vorerst beibehalten                                 verzichten. Wenn ja: ist es angebracht, diese Op-
werden sollten. Zudem würden Menschen mit Vari-                                   tion an Bedingungen zu knüpfen? Falls ja: Welche
anten der Geschlechtsentwicklung ihren Platz in der                               Bedingungen sind dies (z.B. ärztliches Attest über
Gesellschaft oft als Frauen oder Männer finden wol-                               eine Variante der Geschlechtsentwicklung, Dauer
len. Die Kommission war auch der Ansicht, dass die                                der fehlenden Geschlechtsregistrierung, usw.)?
Einführung neuer Geschlechtskategorien zu einer wei-                           – Sollte das Fehlen der Geschlechtsregistrierung
teren Stigmatisierung der Betroffenen führen könnte                               gegebenenfalls von Amtes wegen ergänzt wer-
(NEK-CNE 2012). Die Empfehlungen der NEK-CNE                                      den, z.B. zu dem Zeitpunkt, zu dem es möglich
wurden denn auch in der «Botschaft zur Änderung                                   wäre, das Geschlecht medizinisch zu bestim-

1    Vgl. Geschäft 19.081 (ZGB. Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister), https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/
    geschaeft?AffairId=20190081 [2020.10.05].
5

      men, wenn die betroffene Person oder der / die                             Geschlechts in das Personenstandsregister ist Ge-
      Inhaber / Inhaberin der elterlichen Gewalt dies                            genstand der drei Postulate Arslan (17.4121), Ruiz
      nicht spontan beantragt hat / haben?                                       (17.4185) und Flach (18.3690), die den Bundesrat be-
                                                                                 auftragen, in einem Bericht zu prüfen, welche Anpas-
2. Verzicht auf jegliche Registrierung des amtlichen                             sungen im elektronischen Personenstandsregister für
    Geschlechts nach der Geburt (a posteriori):                                  die Einführung einer dritten Eintragungsmöglichkeit
    – Ist es angemessen, dass eine Person a poste-                               notwendig sind. Der Nationalrat hat die beiden ersten
      riori beantragen kann, dass die Eintragung ihres                           Postulate am 17. September 2018 angenommen und
      Geschlechts gelöscht wird, sodass das Geschlecht                           das dritte am 13. Juni 2019 abgelehnt.
      im Personenstandsregister nicht mehr erwähnt
      wird (Registrierung leer gelassen)?                                        Die vom BJ genannten Fragen und Ausgestaltungs-
                                                                                 möglichkeiten betreffen einige grundlegende ethische
3. Allgemeine Abschaffung jeglicher amtlichen Re-                                Problemstellungen, die in den vorliegenden Erwägun-
    gistrierung des Geschlechts:                                                 gen der NEK-CNE im Zentrum stehen. Die Kommis-
    – Ist es nach Ansicht der Kommission angebracht,                             sion nimmt die Anfrage denn auch zum Anlass, ihre
      generell auf die Registrierung des Geschlechts                             Überlegungen aus den Jahren 2012 und 2018 im Licht
      im Personenstandsregister zu verzichten?                                   der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen
    – Wenn ja. Wie rasch sollte das geschehen und                                hinsichtlich der Sichtbarkeit und Akzeptanz der Vielfalt
      unter welchen Bedingungen?                                                 der Geschlechtsidentitäten zu überprüfen und weiter-
                                                                                 zuentwickeln. Zu diesem Zweck hörte die Kommission
4. Schaffung neuer Geschlechtskategorien:                                        an ihrer Plenarsitzung vom 27. Januar 2020 Deborah
    – Ist es angebracht, neben «weiblich» und «männ-                             Abate und Alecs Recher an. Alecs Recher ist Gründer
      lich» eine dritte Geschlechtskategorie einzufüh-                           des Transgender Network Switzerland (TGNS), leite-
      ren?                                                                       te die Organisation bis 2012 als Co-Präsident, baute
    – Ist es ratsam, weitere Geschlechterkategorien                              inner­halb TGNS eine professionelle Rechtsberatung
      einzuführen?                                                               für Trans*menschen auf, in der er noch immer als
    – Sollten diese Kategorien zusätzlich zu der                                 Rechtsberater tätig ist, und war Vorstandsmitglied
      Möglichkeit, die Geschlechtskategorien leer zu                             von Transgender Europe (TGEU). Deborah Abate ist
      lassen (siehe Fragen 1 und 2 oben), verwendet                              Aktivistin und Mitgründerin von InterAction Schweiz
      werden? Wenn ja, geben Sie bitte an, welche                                (Association Suisse pour les Intersexes) und enga-
      Bezeichnungen diesen neuen Geschlechtskate-                                giert sich in verschiedenen Projekten und Organisatio-
      gorien gegeben werden sollen («divers», «an-                               nen, die für die Gleichberechtigung von Frauen, sexu-
      dere», usw.).                                                              ellen Minderheiten, intergeschlechtlichen Personen,
                                                                                 Trans*menschen 3 sowie Menschen mit nichtbinärer
5. Folgen der Abschaffung der Geschlechterbinarität                              Geschlechtsidentität 4 kämpfen.
    für die Gesetzgebung.» 2
                                                                                 Die amtliche Registrierung des Geschlechts stellt
                                                                                 einen Aspekt einer breiten Debatte über die vor-
Die Einführung einer dritten Eintragungsmöglichkeit                              herrschenden binären Strukturen und deren Konse-
bzw. der gänzliche Verzicht auf die Eintragung des                               quenzen dar. Für die NEK-CNE kann die Diskussion

2   Die Fragen wurden der NEK-CNE auf Französisch unterbreitet und für diese Version der Stellungnahme durch die Kommission übersetzt.

3   Die hier verwendete Schreibweise mit Asterisk (Trans*menschen), auch Gender-Stern genannt, betont die Inklusion nichtbinärer und anderer
    nicht-normativer sozialer Geschlechter, Geschlechtsidentitäten und -praktiken. Es bestehen weitere Möglichkeiten zur sprachlichen Inklusion, unter
    anderem der Gendergap (Trans_menschen).

4   Eine Erläuterung der für die Stellungnahme relevanten Begriffe folgt in Kapitel 2.1.
6

um den registerrechtlichen Eintrag des Geschlechts         ligungen und bestehende Diskriminierung tatsächlich
nicht unabhängig von dieser breiteren Debatte ge-          verringern oder gar überwinden könnte. Vielmehr kön-
führt werden. Nach ihrem Verständnis besteht eine          ne der Versuch, den registerrechtlichen Eintrag abzu-
Wechselwirkung zwischen dem staatlichen und dem            schaffen, mit neuen Formen der Diskriminierung ein-
gesellschaftlichen Umgang mit Geschlecht. Dabei            hergehen – ohne sicherzustellen, dass die Nach­teile
ist unbestritten, dass letzterer sich in der staatlichen   (vgl. Kapitel 2.3), die manche Menschen erfahren,
Handhabung – wozu auch der registerrechtliche Ein-         tatsächlich überwunden werden. Für die vorliegende
trag gehört – widerspiegelt. Zugleich kann davon           Fragestellung gilt es in diesem Spannungsfeld zu dis-
ausgegangen werden, dass die rechtlichen Vorgaben          kutieren, inwiefern der Staat ein legitimes Interesse
auch gesellschaftlich normierend wirken. Der gesell-       hat, an der Geschlechterbinarität festzuhalten, wobei
schaftliche Umgang mit Geschlecht ist insbesondere         nicht ausser Acht gelassen werden soll, dass die heu-
von einer Vielfalt an Identitätsauffassungen, kulturel-    tige Praxis, die eine Zuordnung verlangt, von vielen als
len Einübungen, historischen Kontexten, biologischen       ebenso selbstverständlich wie zutreffend empfunden
Erfahrungen und daran anknüpfenden Haltungen ge-           wird. Nicht nur die erwähnte Wechselwirkung zwi-
prägt. Auf deren Entstehung und Legitimation kann          schen staatlichem und gesellschaftlichem Umgang
in der vorliegenden Stellungnahme nicht umfassend          mit Geschlecht wird unterschiedlich beurteilt. Es be-
eingegangen werden. Auch die Frage, wie die staat-         stehen auch abweichende Sichtweisen auf die binäre
liche Handhabung der Geschlechtsregistrierung mit          Ordnung selbst. Zwar gilt der sozialwissenschaftliche
der lebensweltlichen Wirklichkeit interagiert, steht im    Befund, wonach die Geschlechterbinarität sozial kon-
Folgenden nicht im Zentrum. Diesbezüglich besteht –        struiert ist, als weitherum anerkannt. Dies ändert für
so auch in den Reihen der NEK-CNE – eine grosse            manche aber nichts an der Tatsache, dass sie lebens-
Bandbreite an Meinungen und Einschätzungen. Dies           weltlich stark verankert ist und nicht zuletzt für viele
manifestiert sich unter anderem in den Erwartungen         Menschen Identität und Schutz stiftet. Demgegen-
betreffend Potenziale und Risiken einer Abschaffung        über betonen andere, dass die binäre Geschlechter-
des amtlichen Geschlechtseintrags und ihrer Auswir-        ordnung unzutreffend normiere, für viele Menschen
kungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem           einengend wirke und mit Einschränkungen bezüg-
Geschlecht. Während die einen damit die Aussicht auf       lich der Wahl möglicher Lebensvollzüge verbunden
Befreiung von gesellschaftlich auferlegten Zwängen         sei. Diese Diversität der Sichtweisen ist auch in der
und Diskriminierungen verbinden, bezweifeln die an-        NEK-CNE vorhanden; eine künftige Regelung muss
deren, dass eine solche Änderung heutige Benachtei-        ihr Rechnung tragen.
7

2. Kontext
Spätestens bei der Geburt, meist aber schon im Rah-        und gesellschaftlichen Entwicklungen auszusöhnen
men pränataler Untersuchungen und daher bereits vor        wurden Ende des 18. Jahrhunderts Naturbegabun-
der Geburt, wird einer Person ein Geschlecht zugewie-      gen herausgearbeitet, die die menschliche Persön-
sen. Ab diesem Augenblick wird dieses Geschlecht für       lichkeit in weiblich und männlich aufspaltete (Hausen
die Person zu einer sozialen und juristischen Tatsache     1976). Gründe hierzu lieferten auch die Geistes- und
(Hammarberg 2010). Dies gründet auf der historisch         Naturwissenschaften, die Frauen und Männern unter-
gewachsenen, heute tief verankerten gesellschaftli-        schiedliche gesellschaftliche Rollen zuschrieben, die
chen Überzeugung, die sich in unserem Denken und           primär auf anatomisch-physiologische Unterschiede
Handeln manifestiert, dass sich Menschen in weibli-        zurückgeführt wurden (Büchler und Cottier 2012).
che und männliche Personen unterscheiden lassen.           Obwohl die Herstellung des Gegensatzes eine Gleich-
Entsprechend werden auch Rollenerwartungen an sie          wertigkeit implizieren sollte, bedeutete sie faktisch
herangetragen. Menschen, die sich nicht als Frau oder      eine Zuweisung gesellschaftlicher Positionen und
Mann identifizieren, fordern diese binäre Struktur der     Räume (Haus vs. Öffentlichkeit) sowie die Einschrän-
gesellschaftlichen und rechtlichen Anerkennung von         kung von Rechten und Teilhabechancen in der Politik
Geschlecht heraus.                                         (Hausen 1976). Noch heute ist diese Geschlechter­
                                                           dichotomie – verbunden mit der Vorstellung, wonach
Die Vorstellung eines fundamentalen Unterschieds           Heterosexualität die Norm sei – ein zentrales Struktur-
zwischen Frauen und Männern hat sich im europäi-           merkmal und prägt das geltende Recht.
schen Raum erst im 18. Jahrhundert entwickelt. Bis
dahin galten Frauen und Männer als ein und dassel-         In der Geschlechterforschung hat sich die Sichtweise
be Menschengeschlecht, wobei der Mann als «voll-           durchgesetzt, dass Geschlecht im sozialen Zusam-
kommener» verstanden wurde als die Frau. Von einer         menhang nicht als biologische Tatsache, sondern
Gleichberechtigung der Geschlechter konnte jedoch          als soziale Konstruktion zu verstehen ist. Geschlecht
nicht die Rede sein. So definierte sich die Stellung und   ist demnach keine vorgegebene Kategorie, son-
Rolle der Frau, insbesondere innerhalb des Hauses,         dern ein Produkt sozialer Interaktion, die auf einem
über ihre soziale Position, die ihrem Ehemann, Vater       Wechselspiel zwischen Geschlechtsdarstellung und
und der herrschaftlichen Gesellschaft zugeordnet war       Geschlechtszuschreibung beruht (Heintz und Nadai
(Gender-Portal). Die Entwicklung vom Eingeschlech-         1998). Die Geschlechterdifferenz und «Geschlecht»
ter- zum Zweigeschlechtermodell resultierte aus ei-        an und für sich werden anhand erlernter und gesell-
nem mehrschichtigen gesellschaftlichen und ideen-          schaftlich vorausgesetzter Rollenerwartungen sowie
geschichtlichen Wandel, mit dem ein Interesse am           individueller Verhaltensweisen konstruiert, reprodu-
Individuum sowie die Infragestellung theologischer         ziert und verfestigt. Zudem wird die Geschlechter-
Weltbilder und ständischer Herrschaftsordnungen ein-       differenz durch bestehende institutionalisierte Ver-
herging. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde auch           haltensweisen und Strukturen reproduziert (Goffman
die Emanzipation der Frauen aus dem Machtbereich           1994). Am Recht kann nicht nur sichtbar werden, wie
von Ehemann und Vater sowie ihre gleichberechtigte         Geschlecht konstruiert wird, sondern auch, wie ge-
Integration in die bürgerliche Gesellschaft gefordert.     sellschaftliche Vorstellungen davon, was Geschlecht
Dies wurde als Bedrohung der etablierten Ordnung,          ist, allgemeine Geltung beanspruchende Normen prä-
insbesondere der Familienverhältnisse, eingeschätzt,       gen können (Baer 2008). So setzt das gültige Recht
und es galt, die Stellung und Rolle der Frau auf neue      das biologische Geschlecht gemeinhin mit der Ge-
Art zu legitimieren. Um die erwünschten Ehe- und           schlechtsidentität der Person gleich und geht nicht
Familienverhältnisse mit den ideengeschichtlichen          nur von einer Geschlechterbinarität aus, sondern auch
8

von der Unveränderbarkeit von Geschlecht (Büchler                               che, Kleidung und Verhalten wie auch das eigene Kör-
und Cottier 2012; Cannoot und Decoster 2020). Als                               perempfinden umfassen (The Yogyakarta Principles
unveränderbare, gegebene Einheit, tief verwurzelt in                            2007). Heute wird Geschlechtsidentität als ein Spek-
der Persönlichkeit ist Geschlecht zudem ein Schlüssel                           trum verstanden, das sich zwischen den zwei Polen
für die Zuteilung von Ansprüchen, Schutzmassnah-                                «weiblich» und «männlich» aufspannt: Wie sich eine
men und Rechten (Venditti 2020). Die Registrierung                              Person innerhalb oder ausserhalb dieses Spektrums
des Geschlechts organisiert aber auch die kollektive                            zwischen «weiblich» und «männlich» selbst einordnet,
Wirklichkeit und bestimmt mit, welche Geschlechts-                              bezeichnet deren Geschlechtsidentität (Monro 2019;
erfahrungen und -verkörperungen gesellschaftlich an-                            Silbermayr 2016; Thorne et al. 2019).
erkannt und akzeptiert werden (Braunschweig 2020).
Zwischen Recht und der gesellschaftlichen Praxis be-                            Identifiziert sich eine Person nicht in der Geschlech-
steht demnach eine Wechselwirkung. In Anbetracht                                terbinarität von «weiblich» und «männlich», und also
dieses Zusammenhangs wird denn auch gefragt, in-                                weder (exklusiv) als Frau noch (exklusiv) als Mann,
wiefern die Aufhebung der Geschlechterbinarität im                              wird dies als nichtbinäre Geschlechtsidentität
Recht einen Beitrag zum Aufbrechen der historisch                               (engl.: nonbinary gender identity) bezeichnet.5 Der
etablierten hierarchischen Geschlechterbilder leisten                           Begriff der nichtbinären Geschlechtsidentität ist hier-
kann (Baer 2008). Vor diesem Hintergrund impliziert                             bei als Sammelbegriff zu verstehen, um unterschied-
die Diskussion um die amtliche Registrierung des                                lichste Geschlechtsidentitäten zusammenzufassen
Geschlechts auch die Frage, wie rechtlich und gesell-                           (Thorne et al. 2019).6 Meist werden Menschen mit
schaftlich mit der Erkenntnis umzugehen ist, dass die                           nichtbinärer Geschlechtsidentität in folgenden drei
Binarität der Rechtsordnung und weitgehend auch der                             Hinsichten unterschieden: (1) Menschen, die sich
sozialen Praxis der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten                         zwischen «weiblich» und «männlich», oder ausser-
nur ungenügend Rechnung zu tragen vermag.                                       halb dieses binären Systems verorten (genderqueer);
                                                                                (2) Menschen, die zwei oder mehrere Geschlechter
2.1 Begriffe                                                                    haben (polygender) oder sich jeweils zu unterschiedli-
                                                                                chen Zeitpunkten näher mit dem einen oder anderen
Für den Zweck der Geschlechtsregistrierung wird die                             Geschlecht identifizieren (genderfluid); (3) Menschen,
Vielfalt und die Komplexität der Geschlechtsidentitä-                           die sich innerlich (teilweise) als ungeschlechtlich emp-
ten stark reduziert und in Kategorien gefasst, in de-                           finden oder sich nicht mit/über Geschlecht identifi-
nen sich zwar die meisten, aber eben längst nicht alle                          zieren möchten (agender) (Monro 2019; Thorne et
Menschen wiederfinden können.                                                   al. 2019). Die Verortung ausserhalb der Geschlech-
                                                                                terbinarität ist geprägt durch persönliche soziale und
Der Begriff der Geschlechtsidentität bezieht sich                               gelebte Erfahrungen des Geschlechts. Oft nutzen die
zunächst auf die innere, individuelle Erfahrung von                             Betroffenen selbst die Begrifflichkeiten daher oft an-
Geschlecht. Diese Erfahrung kann mit dem biologi-                               ders konnotiert oder verwenden weitere Bezeichnun-
schen Geschlecht in Einklang stehen – muss es aber                              gen, die jeweils nuanciert in Richtung einer präzisen
nicht (vollumfänglich). Zusätzlich kann die Geschlecht-                         und oft sehr persönlichen Geschlechtsidentität und
sidentität auch den Geschlechtsausdruck über Spra-                              -erfahrung weisen (Thorne et al. 2019). Insbesondere

5   Um die Bandbreite nichtbinärer Geschlechtsidentitäten zu bezeichnen werden unterschiedliche Begriffe verwendet. Nebst «nichtbinäre Geschlecht-
    sidentität» oft verwendet werden bspw. «geschlechtsspezifische Diversität» (engl.: gender diversity), «genderqueer», «gender nonconforming» und
    die Initialkürzungen NBGQ (non-binary, genderqueer). Aufgrund der momentan breiten Verwendung der Bezeichnung «nichtbinäre Geschlechts­
    identität» in den deutschsprachigen Ländern wird diese auch hier verwendet.

6   Die Betonung muss nach wie vor darauf liegen, dass die einzelne Person die spezifische Bezeichnung, die sich für ihre eigene Identität für sie richtig
    anfühlt, unter diesem Sammelbegriff frei wählen kann (Thorne et al. 2019).
9

intergeschlechtliche und transident Personen 7 kön-                            identifizieren sich mit einem der binären Geschlech-
nen sich mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität                           ter und leben als Frau oder Mann, können sich aber
identifizieren.   8
                                                                               auch in der Nichtbinarität verorten (Silbermayr 2016).
                                                                               In der Schweiz wurde die Anzahl Trans*menschen nie
Vor oder bei der Geburt wird Personen ein biologi-                             gezählt (TGNS Information). Im Rahmen der FRA-Um-
sches Geschlecht zugewiesen: «weiblich», «männ-                                frage gaben 51 Prozent der 19’572 befragten Trans*-
lich» oder «intergeschlechtlich». Das biologische                              menschen ihre Geschlechtsidentität als nichtbinär an
Geschlecht wird anhand von Merkmalen wie der Chro-                             (FRA 2020). Obwohl sich viele Menschen mit nicht-
mosomenkonfiguration, der primären Geschlechts-                                binärer Geschlechtsidentität als transident identifizie-
organe, der Geschlechtshormone und der daraus                                  ren, tun dies nicht alle. Die Bezeichnung Transidentität
resultierenden weiteren Geschlechtsmerkmale fest-                              kann mit einem «Gefühl des Übergangs» in Verbin-
gelegt (Whyte et al. 2018). Intergeschlechtliche                               dung stehen und impliziert demnach einen Prozess,
Personen werden mit Geschlechtsmerkmalen gebo-                                 der zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine feste und
ren, die nicht strikt zur weiblichen oder männlichen                           unveränderliche Geschlechtsidentität mündet. Von
Kategorie gezählt werden können – oder die zu bei-                             Personen, die ihre Geschlechtsidentität als dynamisch
den Katego­rien gehören und in unterschiedlicher Aus-                          und nicht als zu einem Zeitpunkt feststehend betrach-
prägung ­vorliegen (FRA 2020 ; vgl. auch Deutscher
                                         9
                                                                               ten, kann diese Beschreibung als nicht treffend emp-
Ethikrat 2012 und NEK-CNE 2012). Es wird geschätzt,                            funden werden (Conlin et al. 2019).
dass intergeschlechtliche Personen ungefähr 1,7 Pro-
zent der Weltbevölkerung ausmachen (Blackless et                               Annahmen zur Gesamtzahl von Personen, die sich in
al. 2000; Fausto-Sterling 2000). Umgerechnet auf die                           der Nichtbinarität verorten, variieren.10 Gemäss einer
Schweiz wären dies etwa 140’000 Personen. Betrof-                              repräsentativen Umfrage siedeln sich in Deutschland
fene können sich sowohl mit einem nichtbinären als                             zwei bis drei Prozent der Bevölkerung im Transspekt-
auch mit einem binären Geschlecht identifizieren. In                           rum, das sowohl Trans*menschen, intergeschlechtli-
der FRA-Umfrage gaben 20 Prozent der 1’398 befrag-                             che Menschen als auch weitere Menschen mit nicht-
ten intergeschlechtlichen Personen ihre Geschlechts­                           binärer Geschlechtsidentität umfasst, an. Von diesen
identität als nichtbinär an (FRA 2020).                                        zwei bis drei Prozent ­
                                                                                                     identifizieren sich 60 Prozent
                                                                               weder als weiblich noch als männlich. Umgerechnet
Transidentität schliesslich ist ein Überbegriff für Ge-                        auf die Schweiz wären das somit etwa 103’000 bis
schlechtsidentitäten von Personen, die sich nicht oder                         154’000 Menschen mit nichtbinärer Geschlechts­
nur bedingt in ihrem bei der Geburt zugewiesenen bio-                          identität (Recher 2018).11
logischen Geschlecht wiederfinden. Trans*menschen

7    Erläuterungen zu den Begrifflichkeiten siehe nachfolgend.

8    Auch Personen, deren Körper in die medizinische Norm von weiblich oder männlich passen und die sich mit ihrem Körper identifizieren, können sich
     in der Nichtbinarität verorten.

9    Die European Union Agency For Fundamental Rights (FRA) hat 2020 den Bericht «EU LGBTI II – A Long Way to Go for LGBTI Equality» publiziert, der
     Ergebnisse aus der im Jahr 2019 durchgeführten Umfrage unter lesbischen, schwulen und bisexuellen Personen sowie Trans*personen und inter-
     geschlechtlichen Menschen aus 28 EU-Mitgliedstaaten, Nordmazedonien und Serbien ab 15 Jahren präsentiert. An der Umfrage nahmen 139’799
     Personen teil, wovon 1’398 intergeschlechtliche und 19’572 transidente Personen waren. 20% der intergeschlechtlichen Personen und 51% der
     Trans*menschen gaben ihre Geschlechtsidentität als nichtbinär an. Noch immer werden die Grundrechte der untersuchten Personen in der EU verletzt
     und sie sind Hass, Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. Die Umfrageergebnisse liefern politischen Entscheidungsträger*innen die notwendigen
     Daten, um gezielte Massnahmen zur Gewährleistung der Einhaltung der Grundrechte von Betroffenen in der EU entwickeln zu können. Für weiter­
     führende Daten vgl. auch https://fra.europa.eu/en/data-and-maps/2020/lgbti-survey-data-explorer [2020.07.16].

10   In der FRA Umfrage unter 19’572 Trans*menschen gaben 51% ihre Geschlechtsidentität als nichtbinär an (FRA 2020). Eine Literaturanalyse von
     ­Nieder et al. (2018) ergab jedoch, dass sich nur ungefähr 20% der Trans*menschen mit einem nichtbinären Geschlecht identifizieren.

11   Die ungefähre Anzahl intergeschlechtlicher Menschen ist nahezu kongruent mit der Anzahl Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität. Nicht alle
     intergeschlechtlichen Menschen identifizieren sich jedoch mit einem nichtbinären Geschlecht.
10

2.2 Relevante Entwicklungen                                                      die am 25. Mai 2019 durch die World Health Orga-
                                                                                 nization (WHO) verabschiedet worden ist, und in der
Erst seit einigen Jahren sind Menschen mit nichtbinä-                            Transidentitäten aus dem Kapitel über psychische
rer Geschlechtsidentität hierzulande gesellschaftlich                            Störungen und Verhaltensstörungen entfernt worden
sichtbar (Meadow 2018; Richards et al. 2019). Das                                sind (Jacke 2019; WHO 2019). Sie gilt deshalb als
Wissen um Varianten des biologischen Geschlechts                                 wichtiger Schritt Richtung Entpathologisierung nicht-
(Intergeschlechtlichkeit) und der Geschlechtsidentität                           binärer Geschlechtsidentitäten und Transidentitäten.
ist jedoch keinesfalls neu und in unterschiedlichen                              Allerdings werden intergeschlechtliche Personen
Kulturen seit Langem bekannt: Die frühesten Auf-                                 auch gemäss ICD-11 weiterhin pathologisiert (OII Eu-
zeichnungen sind Figuren des griechischen Gottes                                 rope 2018; WHO 2019).
Hermaphrodites und sumerischer Gala-Priester anti-
ker mesopotamischer Städte. Sie zeigen Individuen,                               Auch auf rechtlicher Ebene erfolgten Schritte zum
die sich nicht leicht als Frau oder Mann identifizie-                            Schutz und zur Anerkennung von Menschen mit nicht-
ren lassen. Indigene Gemeinschaften Nordamerikas                                 binärer Geschlechtsidentität, wie auch von interge-
bezeichnen Personen, die eine weibliche und eine                                 schlechtlichen und Transmenschen (van den Brink und
männliche Seele in sich vereinen als «Two-Spirit», und                           Dunne 2018). So verabschiedete der UN-Menschen-
in Indien wird die «Hijra» Identität als weder weiblich                          rechtsrat am 17. Juni 2011 die Resolution «
                                                                                                                           ­ Human
noch männlich verstanden und vom Recht offiziell als                             rights, sexual orientation and gender identity» (Men-
«drittes Geschlecht» anerkannt (Thorne et al. 2019).                    12
                                                                                 schenrechtsrat 2011), die die Beendigung staatlicher
Auch Europa kannte Regelungen für Menschen ohne                                  Dis­kriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung
eindeutige Geschlechtszuordnung. In diesem Zusam­                                oder der Geschlechtsidentität fordert. Von internatio-
menhang steht beispielsweise das Preussische All-                                naler Bedeutung sind auch die Yogyakarta Principles
gemeine Landrecht von 1794, das eine Regelung für                                und die Yogyakarta Principles plus 10 13 , die in 31 Prin-
damals sogenannte «Zwitter» kannte (Büchler und                                  zipien festhalten, welche Menschenrechte hinsicht-
Cottier 2005).                                                                   lich der sexuellen Orientierung und der Geschlecht-
                                                                                 sidentität massgeblich sind. Die Prinzipien 3 und 31
Noch bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominierte                               thematisieren speziell das Recht auf rechtliche Aner-
gemeinhin eine medizinisch-psychologische Perspek-                               kennung von Betroffenen (The Yogyakarta Principles
tive, die die Zweigeschlechtlichkeit als naturgegeben                            2007; The Yogyakarta Principles plus 10 2017). In der
verstand. Personen mit nichtbinärer Geschlechtsiden-                             PACE Resolution Nr. 2048 vom Jahr 2015 empfiehlt
tität bzw. Transidentitäten im Allgemeinen galten                                sodann der Europarat, die Schaffung einer dritten
dementsprechend als Abweichung von dieser Norm                                   Eintragungsmöglichkeit in Identitätsdokumenten zu
und wurden meist pathologisiert. Von einer solchen                               prüfen (Europarat 2015). Die International Civic Avia-
Sichtweise haben sich nicht zuletzt die medizinischen                            tion Organisation (ICAO), eine Sonderorganisation der
Wissenschaften in jüngerer Zeit teilweise wegbewe-                               UNO, ermöglicht die Verwendung eines «X» (unspe-
gt (Balzer, Suess und Sauer in Hammarberg 2010).                                 cified gender/nicht spezifiziertes Geschlecht) nebst
Zum Ausdruck kommt dies etwa in der 11. Revision                                 «F» (female/weiblich) und «M» (masculine/männlich)
der International Classification of Diseases (ICD-11),                           in internationalen Reisepässen. Ein Geschlechtsein-

12   Hijras haben jedoch trotz gesellschaftlicher und rechtlicher Anerkennung oft einen geringen sozialen Status, und ihre Rolle und Wichtigkeit ändert sich
     mit den Strukturen der Gesellschaft (Thorne et al. 2019).

13   Die Yogyakarta Principles sind von einer Gruppe von Menschenrechtsexpert*innen erstellt worden und stellen das einflussreichste internationale
     Dokument hinsichtlich der Rechte sexueller Minderheiten, Trans*menschen, intergeschlechtlicher Personen und Menschen mit nichtbinärer Ge-
     schlechtsidentität dar (Holzer 2020).
11

trag ist aber nach wie vor obligatorisch (ICAO 2015).14                          jedoch noch immer Herausforderungen, die auch für
Nicht zuletzt wurde der Umgang mit der Vielfalt an                               die Politikgestaltung und die Ausgestaltung gesell-
Geschlechtsidentitäten jüngst auch in den Medien                                 schaftlicher und medizinischer Praktiken sowie recht-
und der Öffentlichkeit vermehrt thematisiert.                                    licher Regelungen relevant sind.

Auch in der Schweiz vollzieht sich dieser Mentalitäts-                           2.3 Implikationen für betroffene
wandel sowohl in der medizinischen Fachwelt als                                  Personen
auch in anderen Bereichen. Intergeschlechtliche und
transidente Personen sowie Personen mit nichtbinä-                               Negative Folgen der amtlichen Registrierung des
rer Geschlechtsidentität sind vermehrt sichtbar, unter                           Geschlechts in einer binären Ordnung müssen ins-
anderem in politischen Kampagnen wie jener zur «Ehe                              besondere Personen mit nichtbinärer Geschlechts­
für alle». Der Mentalitätswandel manifestiert sich aber                          identität und intergeschlechtliche Personen hinneh-
auch in der Verwendung nichtbinärer Sprache durch                                men. Die Betroffenen sind aber auch oft negativen
zahllose öffentliche wie private Akteure, wie etwa                               Erfahrungen ausgesetzt, die nicht mit der staatlichen
die meisten öffentlichen Verwaltungen, Schweizer                                 Handhabung der Registrierung des Geschlechts in
Universitäten und Hochschulen (Tagblatt 2019), pri-                              Verbindung stehen, da die Identifikation mit einem
vatwirtschaftliche Organisationen oder der Schwei-                               der binären Geschlechter gesellschaftlich meist noch
zerische Evangelische Kirchenbund (Evangelischer                                 immer stillschweigend vorausgesetzt wird und binä-
Kirchenbund 2018), die sich Richtlinien für geschlech-                           re geschlechtliche Festlegungen visuell und sprach-
tergerechte Sprache gegeben haben. Der Wandel                                    lich omnipräsent sind. Viele leiden daher unter einem
kommt auch in der Zustimmung des Nationalrats zu                                 enormen Anpassungsdruck, diskriminierenden Ver-
den Postulaten Arslan (17.4121) und Ruiz (17.4185)                               haltensweisen und fühlen sich unsichtbar (Brubaker
zum Ausdruck (vgl. Kapitel 1).                                                   2016; Jones et al. 2019; shuster und Lamont 2019;
                                                                                 Silbermayr 2016).15 Im Folgenden werden in nicht
Im Sinne eines Beispiels sei darüber hinaus auf eine                             abschliessender Weise negative Konsequenzen be-
Bestimmung des Kantons Zürich verwiesen: Hier ist                                schrieben. Die NEK-CNE weist jedoch darauf hin,
es seit 2019 möglich, den Vornamen und/oder ge-                                  dass jede Diskussion rund um Geschlechtskategorien
schlechtsspezifische Endungen von Familien- und                                  und eine allfällige Erweiterung oder Auflösung der­
Zwischennamen an die selbstbestimmte Geschlecht-                                 selben in Anbetracht ihrer potenziellen Auswirkungen
sidentität anzupassen. Zusätzlich können ein ge-                                 auf die gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen und auf
schlechtsneutraler oder mehrere geschlechtsspezifi-                              Freiheiten der Persönlichkeitsentwicklung die Interes-
sche Vornamen gewählt werden. Freilich ändert sich                               sen aller Personen berührt.
mit der bewilligten Namensänderung, wie der Kanton
Zürich ausdrücklich festhält, das amtliche Geschlecht                            2.3.1 Alltag
nicht (Gemeindeamt Kanton Zürich 2019).
                                                                                 Dass für Menschen mit nichtbinärer Geschlechts­
Diese Veränderungen in der Schweiz verweisen auf                                 identität und für intergeschlechtliche Personen kei-
eine zunehmende gesellschaftliche Sensibilisierung                               ne registerrechtliche Geschlechtskategorie existiert,
bezüglich nichtbinärer Geschlechtsidentitäten. Hin-                              kann für die Betroffenen eine grosse emotionale und
sichtlich ihrer Sichtbarkeit und Anerkennung bestehen                            moralische Last darstellen, da sie dadurch vom Staat

14   Die ICAO legt internationale Standards und empfohlene Praktiken und Verfahren fest, die sich mit Zoll- und Einwanderungsverfahren befassen
     (https://www.icao.int/about-icao/Pages/default.aspx [2020.08.28]). Das Geschlecht ist als einer von vier obligatorischen persönlichen Identifikatoren,
     die in einem Reisepass enthalten sein müssen, festgelegt (ICAO 2015).

15   Im Rahmen der Umfrage des britischen Gleichstellungsbüros 2018 gaben 76% der 7’567 befragten Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität
     an, Angaben zu ihrer Geschlechtsidentität zu vermeiden, da sie negative Reaktionen befürchteten (Government Equalities Office 2018).
12

und teilweise von ihrem Umfeld in ihrer Geschlechts­                          Belegt ist auch, dass Personen mit nichtbinärer Ge-
identität oder Intergeschlechtlichkeit nicht anerkannt                        schlechtsidentität und Trans*personen vielfach Diskri-
werden und so – jedenfalls in ihrer subjektiven Wahr-                         minierungen ausgesetzt sind, beispielsweise in den
nehmung – für den Staat nicht existieren oder als                             Bereichen Arbeit und Bildung. So gaben im Rahmen
unrechtmässig gelten (Braunschweig 2020). Die vor-                            einer Befragung durch das Transgender Network
herrschende binäre Normierung prägt und formt das                             Switzerland (TGNS 2018) 20 Prozent der teilnehmen-
Leben von Betroffenen und erschwert alternative Le-                           den Trans*personen an, arbeitslos zu sein. Die Ar-
bensweisen. Zum Ausdruck kommt dies etwa in der                               beitslosenquote ist damit beinahe fünfmal höher als
Selbstverständlichkeit geschlechterbinärer Toiletten                          in der Schweizer Gesamtbevölkerung.16 Und im U.S.
und Uniformen, der seltenen Verwendung nichtbinä-                             Transgender Survey 2015 gaben 16 Prozent der Kin-
rer Sprache, beispielsweise eines nichtbinären Pro-                           der und Jugendlichen mit nichtbinärem Geschlecht
nomens («es» o.ä.), aber auch in Registrierungsfor-                           an, in der Schule wegen ihrer Geschlechtsidentität
mularen im staatlichen und medizinischen Bereich.                             körperlich angegriffen worden zu sein, und 10 Prozent
Sie kennen meist zwei Geschlechter (­Agius 2015;                              verliessen die Schule wegen Misshandlung (James
Deutscher Ethikrat 2012; Herman 2013; Monro 2019;                             et al. 2016; Liszewski et al. 2018).
Scottish Trans Alliance 2015; Taylor et al. 2018). Insbe-
sondere die Nicht-Übereinstimmung der Geschlechts-                            2.3.2 Druck zu geschlechtsangleichenden
kategorie mit der Geschlechtsidentität, dem biologi-                          Eingriffen
schen Geschlecht und / oder dem Geschlechtsausdruck
in Identitätsdokumenten ist für Trans*personen und                            Operative Eingriffe oder hormonelle Behandlungen
intergeschlechtliche Menschen belastend. Denn die                             zur Angleichung des Körpers an ein Geschlecht ent-
Betroffenen sind auf täglicher Basis dazu gezwungen,                          springen bei Personen mit nichtbinärer Geschlechts­
die Details ihrer Geschlechtsidentität oder Interge-                          identität sowie intergeschlechtlichen Menschen oft
schlechtlichkeit, sowie die damit in Verbindung stehen-                       keiner medizinischen Indikation. Auch wünschen die
den Aspekte ihres Privatlebens Fremden gegenüber                              betroffenen Personen vielfach keine Interventionen.
offenzulegen (Agius 2015; Government Equalities Of-                           Gleichwohl stehen sie oftmals unter einem grossen
fice 2018; Holzer 2020; Human Rights Watch 2011).                             gesellschaftlichen Druck, da die Vorstellung der Kon-
Die Erfahrung von Ablehnung und Diskriminierung, die                          gruenz von Geschlechtsidentität und sichtbarem
die Angst vor zukünftigen Belästigungen schüren, kön-                         geschlechtlichem Körper kulturell stark wirksam ist
                                                                              ­
nen zudem dazu führen, dass Betroffene auf berufliche                         (Brubaker 2016; Jacke 2019; Streuli et al. 2013).
und soziale Chancen verzichten (müssen) oder soziale
bzw. emotionale Isolation erfahren (Conlin et al. 2019;                       Die Situation intergeschlechtlicher Kinder stellt eine
Deutscher Ethikrat 2012; James et al. 2016). Fortwäh-                         besondere Herausforderung dar. Noch immer wer-
rende Richtigstellungen, beispielsweise hinsichtlich                          den Genitaloperationen, die nicht notwendig sind und
der gewünschten Ansprache oder der Identitätsdoku-                            daher das Nicht-Schadensprinzip verletzen, an urteils­
mente, benötigen viel Energie und können zu weiterer                          unfähigen Kindern vorgenommen, was als Men-
Diskriminierung und Gewalt führen (Taylor et al. 2018).                       schenrechtsverletzung gilt.17 In Deutschland findet
Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität wer-                           seit 2005 eine öffentliche Debatte über geschlechts-
den auch oft nicht als solche erkannt, was zu einem                           angleichende Operationen bei intergeschlechtlichen
Gefühl der U
           ­ nsichtbarkeit führen kann.                                       Kindern statt, die 2013 zur Möglichkeit der Offenlas-

16   Auch im Rahmen der FRA Umfrage berichteten 35% der 19’572 Trans*menschen und 32% der 1’398 intergeschlechtlichen Personen über Diskrimi-
     nierungserfahrungen am Arbeitsplatz oder bei der Suche nach Arbeit im Jahr vor der Umfrage (FRA 2020, Informationen zur Identifikation mit einem
     nichtbinären Geschlecht vgl. Fussnote 10, S. 9).

17   Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Verbot von Sterilisationen, Eingriffen, die zur Fortpflanzungsunfähigkeit führen und
     Eingriffen, die die äussere Erscheinung dauerhaft verändern, beziehen sich auf Art. 8 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben).
13

sung des Geschlechtseintrags, 2018 zur Einführung                             tet, durcheinandergerät. Oftmals schlägt diese Angst
einer «dritten Option» im Personenstandsgesetz (vgl.                          in Aggression um (Silbermayr 2016). So wurden von
Kapitel 3.2) und zu Revisionen medizinischer Leitlini-                        2009 bis 2014 in 28 Ländern Fälle extremer physischer
en geführt hat. Ein Verbot der Operationen besteht                            Gewalt wie Folter und Vergewaltigung gegen Trans*-
weiterhin nicht und trotz dieser Entwicklungen ist                            menschen dokumentiert. In 50 Ländern wurden Fälle
die Anzahl kosmetischer Genitaloperationen bei inter­                         körperlicher Angriffe erfasst. Psychische Gewalt wur-
geschlechtlichen urteilsunfähigen Kindern zwischen                            de in 30 und Hassreden in 21 Ländern gemeldet. Auch
2005 und 2016 nicht rückläufig (Hoenes et al. 2019;                           die Schweiz dokumentierte Fälle körperlicher Angrif-
Klöppel 2016; OII Deutschland 2013). Ein Grund dafür                          fe, psychischer Gewalt und Hassreden (TvT 2014).20 In
ist, dass Eltern und ärztliches Fachpersonal oft davon                        den Jahren 2008 bis 2014 wurden zudem 1’700 Fälle
überzeugt sind, dass ein intergeschlechtliches Kind                           von Morden an Trans*menschen erfasst (TGEU 2015).
wegen seines Andersseins Diskriminierung erfahren                             Auch intergeschlechtliche Menschen sind sexuellen
wird (Klöppel 2016; Streuli et al. 2013). Elterliche Ent-                     oder physischen Angriffen ausgesetzt, erfahren Be-
scheidungen sind zudem stark von der Information                              lästigung und werden bedroht (FRA 2020). Die Dun-
und Beratung durch medizinische Fachpersonen ab-                              kelziffer ist mit Sicherheit hoch, zumal Angriffe von
hängig (de Clercq und Streuli 2019; Streuli et al. 2013).                     Betroffenen nur selten gemeldet werden (FRA 2020;
Ob in Deutschland die Ende 2018 geschaffene Mög-                              Government Equalities Office 2018).
lichkeit eines Geschlechtseintrags «divers» (vgl. Kapi-
tel 3.2) Einfluss auf diese Zahlen hat, lässt sich zum                        2.3.4 Gesundheit
jetzigen Zeitpunkt noch nicht feststellen.
                                                                              Mangelnde Anerkennung und Abwertung durch das
2.3.3 Gewalt                                                                  soziale Umfeld und die binären gesellschaftlichen
                                                                              Strukturen können weitreichende gesundheitliche
Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen keine Daten zu Ge-                            Folgen haben (Deutscher Ethikrat 2012; Jones et
walt an Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidenti-                          al. 2019; Silbermayr 2016). Menschen mit nichtbinärer
tät, weil Übergriffe statistisch nicht gesondert erfasst                      Geschlechtsidentität weisen höhere Anteile chroni-
werden. Einblick in die Dimensionen von Gewalt er-                            scher Probleme, Behinderungen oder Krankheit so-
möglichen Erhebungen, die Trans*menschen und in-                              wie Depressionen auf als Menschen, die sich mit dem
tergeschlechtliche Personen betreffen.             18
                                                                              zugeschriebenen Geschlecht identifizieren (Burgwal
                                                                              ­
                                                                              et al. 2019). Insbesondere bei betroffenen Jugendli-
Trans*personen und intergeschlechtliche Menschen                              chen liegt eine höhere Quote hinsichtlich Depression,
sind mit weit verbreiteter Diskriminierung konfrontiert,                      Suizidalität, Gewalt und Missbrauch von Substanzen
die allgemeine Belästigung, sexuelle Übergriffe und                           wie Alkohol und Drogen vor (Newcomb et al. 2020;
körperliche Gewalt umfasst (Conlin et al. 2019). Das                          Rimes et al. 2017).
Forschungsprojekt «Transrespect versus Transphobia
Worldwide» (TvT) der Organisation Transgender Eu-                             Negative Erfahrungen in Einrichtungen des Gesund-
rope (TGEU) erfasst transphobisch motivierte Gewalt                           heitswesens oder die Angst, derartige Erfahrungen
weltweit.19 Der Begriff «Transphobie» verweist auf                            zu machen, führen überdies oft dazu, dass Trans*-
die Angst, die Menschen empfinden können, wenn                                menschen und intergeschlechtliche Personen mit
die Geschlechterordnung, die ihnen Orientierung bie-                          nichtbinärer wie auch binärer G
                                                                                                            ­ eschlechtsidentität me-

18   Informationen zu Trans*personen und intergeschlechtlichen Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität siehe Kapitel 2.1.

19   Die erhältlichen Daten sind aus dem Jahr 2014 und umfassen 116 Länder. Ausser zu Tötungsdelikten werden keine expliziten Zahlen genannt.

20   Die FRA Umfrage ergab, dass 17% der befragten 19’572 Trans*menschen und 22% der befragten 1’398 intergeschlechtlichen Personen hassmotivierte
     sexuelle und körperliche Gewalt erfuhren (FRA 2020, Informationen zur Identifikation mit einem nichtbinären Geschlecht vgl. Fussnote 10, S. 9).
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dizinische Institutionen verzögert aufsuchen oder Frü-
herkennungsmassnahmen vermeiden (Agius 2015; FRA
2020; Houben et al. 2019).21 Auch haben sie erschwer-
ten Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdiensleistun-
gen (Agius 2015; FRA 2020; Government Equalities
Office 2018). So ist nachgewiesen, dass Schweizer
Trans*personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität
eine signifikant schlechtere Gesundheit und tiefere Le-
bensqualität 22 haben als Trans*personen, die sich mit
einem binären Geschlecht identifizieren und Perso-
nen, die sich in der Zweigeschlechtlichkeit einordnen
(Jellestad et al. 2018).23 Mit der tieferen Lebensqua-
lität von Personen mit nichtbinärer Geschlechtsiden-
tität und von intergeschlechtlichen Personen wird
auch der Umstand in Verbindung gebracht, dass die
Änderung des amtlichen Geschlechts stark erschwert
ist und die Unterstützung durch die Gesellschaft fehlt
(Jones et al. 2019).

21   In der FRA Umfrage gaben rund 59% der 1’398 intergeschlechtlichen Personen und 55% der 19’572 befragten Trans*menschen an, bereits Diskri-
     minierungserfahrungen im Gesundheitswesen gemacht zu haben (FRA 2020, Informationen zur Identifikation mit einem nichtbinären Geschlecht
     vgl. Fussnote 10, S. 9).

22   Lebensqualität bezeichnet die Bewertung von physischen, psychologischen, beziehungsrelevanten und umweltbezogenen Bereichen im Leben
     (Jones et al. 2019).

23   Einige Untersuchungen aus dem anglophonen Raum weisen jedoch darauf hin, dass die Lebensqualität und mentale Gesundheit von Trans*menschen
     mit binärer Geschlechtsidentität noch tiefer liegen als jene von Personen, die sich in der Nichtbinarität verorten. Eine mögliche Erklärung liegt darin,
     dass Trans*menschen mit binärer Geschlechtsidentität meist unter einer höheren Geschlechtsinkongruenz und Unzufriedenheit mit ihrem Körper
     leiden als Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität (Jones et al. 2019; Newcomb et al. 2020).
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3. Rechtlicher und politischer Rahmen
3.1 Rechtslage in der Schweiz                               tern (EAZW 2014). Besteht ein zeitlicher oder thema-
                                                            tischer Zusammenhang zwischen der ursprünglichen
3.1.1 Das registerrechtliche Geschlecht                     Geburtsmeldung des Neugeborenen bezüglich Ge-
                                                            schlecht und der Änderung des Geschlechts im Per-
Die Bundesverfassung hält fest, dass die Diskriminie-       sonenenstandsregister, soll die Berichtigung auf einfa-
rung aufgrund des Geschlechts unzulässig sei (Art. 8        chem Wege vorgenommen werden können, «gestützt
Abs. 2 BV). Das amtliche Geschlecht dient aber nach         auf eine berichtigte Geburtsmeldung, die ihrerseits
wie vor in einer ganzen Reihe von Bereichen als An-         durch das medizinische Fachpersonal zu ergehen hat»
knüpfungspunkt, so in Bezug auf die Militärdienst-          (EAZW 2014: 4). Dabei wird darauf hingewiesen, dass
pflicht, im Sozialversicherungsrecht und im Familien­       «entsprechende medizinische Abklärungen […] durch-
recht. Zudem wird es zu Identifikationszwecken              aus eine gewisse Zeit (in Einzelfällen auch mehrere
nebst, unter anderem, dem Zivilstand, Namen, Ort            Jahre) in Anspruch nehmen» (EAZW 2014: 4) können.
und Zeit der Geburt im Personenstandsregister fest-
gehalten (Art. 8 ZStV).                                     Zwar stellt dies eine Entlastung für die Betroffenen
                                                            dar, allerdings geht die Regelung davon aus, dass
Das Schweizer Recht geht heute von der Binarität            es lediglich die beiden Geschlechter «weiblich» und
der Geschlechter aus. Das Geschlecht wird im Per-           «männlich» gibt, und die Zugehörigkeit zum einen
sonenstandsregister geführt (Art. 8 lit. d ZStV). Die       oder anderen dieser beiden Geschlechter eine ­Frage
Geburt ist innerhalb von drei Tagen dem zuständigen         ist, die der medizinischen Klärung zugänglich ist.
Zivilstandesamt zu melden, wobei die Meldung auch           Nichtbinäre Geschlechtsidentitäten bleiben unberück-
das Geschlecht des Kindes umfasst (Art. 8, 34, 35,          sichtigt. Im Übrigen kennt die Schweiz keine gesetz-
91 ZStV). Eine dritte Eintragungsmöglichkeit oder die       liche Definition des Geschlechts oder Empfehlungen
Möglichkeit, auf einen Eintrag zu verzichten, gibt es       zur Bestimmung desselben, vielmehr legt das ärztli-
nicht. Bis in die jüngste Zeit war es üblich, nicht nur     che Fachpersonal dieses nach Ermessen fest.
durch den Registereintrag, sondern auch durch eine
operative Geschlechtsangleichung die Eindeutigkeit          Stimmt die Geschlechtsidentität mit dem bei der
des Geschlechts herzustellen. Diese medizinische            Geburt zugewiesenen und im Personenstandsregis-
Praxis wurde und wird stark kritisiert, nicht zuletzt von   ter eingetragenen Geschlecht nicht überein, ist die
der NEK-CNE selbst.                                         Änderung des Geschlechtseintrags heute nur auf
                                                            gerichtlichem Wege möglich. Lange Zeit wurden für
Ein «falscher» Eintrag bei Geburt kann bereinigt wer-       den Geschlechtswechsel erstens eine geschlechts-
den (Art. 43 ZGB), andernfalls erfolgt die Änderung         verändernde Operation und zweitens der Nachweis
des Eintrags auf Klage der betroffenen Person oder          verlangt, dass die Reproduktionsfähigkeit im ur-
gegebenenfalls deren gesetzlichen Vertretung auf            sprünglichen Geschlecht aufgehoben wurde. Weil
­gerichtlichem Weg (Art. 42 ZGB). Mit Blick auf die         auch die Geschlechtsidentität zu den grundrechtlich
Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter hat              geschützten Interessen zählt, bedeutete dies, dass
das Eidgenössische Amt für das Zivilstandswesen             die betroffene Person sich zwischen der Ausübung
(EAZW) eine Empfehlung der NEK-CNE aufgenom-                zweier Grundrechte entscheiden musste: Sie konnte
men und am 1. Februar 2014 eine Amtliche Mittei-            das Recht auf Geschlechtsidentität nur unter Inkauf-
lung in Kraft gesetzt, in der die Zivilstandsbehörden       nahme eines Eingriffs in die körperliche Integrität und
angehalten werden, die Berichtigung dieser Angaben          die reproduktive Selbstbestimmung erreichen.
gestützt auf eine ärztliche Bescheinigung zu erleich-
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