Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall

 
WEITER LESEN
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
sonderausgabe november 2013

                                                                     Die Behandlung der
                                                                     Agitation beim
                                                                     psychiatrischen Notfall
 P.b.b. Verlagspostamt 1120 Wien, Zulassungsnummer: GZ 02Z032080 M

                                                                     Konsensus-Statement –
                                                                     State of the art 2013
                                                                                                                                                      Unter der Patronanz:
                                                                     Editorial Board: Mag. Dr. Andreas Baranyi, Univ.-Prof. Dr. Philip Eisenburger,
                                                                     Prim. Priv.-Doz. Dr. Andreas Erfurth, Prim. Dr. Michael Ertl,
                                                                     Univ.-Prof. Dr. Richard Frey, Univ.-Prof. Dr. Armand Hausmann,
                                                                     O. Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer, Dr. Edeltraud Roitner-Vitzthum,
                                                                     Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Dietmar Winkler
                                                                     Lecture Board: Chefarzt Dr. Georg Psota, Prim. Dr. Christa Rados,                  Österreichische
                                                                     Dir. Univ.-Prof. DDr. Gabriele-Maria Sachs                                         Gesellschaft für
                                                                                                                                                       Neuropsychophar-
                                                                                                                                                      makologie und Biolo-
                                                                     Vorsitz: O. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr. Siegfried Kasper                       gische Psychiatrie
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
Vorwort
                                      Agitation, ob im Gefolge einer psychischen oder einer somatischen Erkrankung, ist häufig
                                      ärztlicher Alltag. Dies gilt sowohl für den intra- als auch für den extramuralen Bereich. Die be-
                                      sondere Situation, vor die ein agitierter Patient den Behandler stellt, kann eine große Herausfor-
                                      derung sein. Es geht nicht nur darum, beim betroffenen Patienten möglichst rasch diesen agi-
                                      tierten Zustand zu behandeln, sondern auch die Umfeldfaktoren, in denen dieser Patient be-
                                      handelt wird, seinen körperlichen Zustand und mögliche Erkrankungen zu berücksichtigen.

O. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr.     Im vorliegenden österreichischen Konsensus-Statement, das von Experten, die im klinischen All-
Siegfried Kasper
                                      tag diese Patienten behandeln, erstellt wurde, werden die wichtigsten Informationen zum Thema
Univ.-Klinik für Psychiatrie und
                                      Agitation auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zusammengefasst und praxisgerecht aufbe-
Psychotherapie, Wien
                                      reitet. Ursachen und Phasen der Agitation werden ebenso ausführlich behandelt wie die thera-
                                      peutische Haltung in der Notfallsituation. Auch der Umstand, warum die Sicherheit für Patient
                                      und Behandlerteam im Vordergrund steht, wird betont. Welche therapeutischen Strategien sich
                                      im Falle eines agitierten Patienten als sinnvoll erweisen, darauf wird ausführlich eingegangen
                                      ebenso wie auf die wichtigsten und neuesten pharmakologischen Interventionsmöglichkeiten.

                                      Der fachgerechten und nebenwirkungsarmen Initialbehandlung der Agitation als psychiatrischer
                                      Notfallsituation kommt ein wesentlicher Einfluss auf den weiteren Therapieverlauf zu. Wie eine
                                      akute Krise so rasch wie möglich entaktualisiert und Zwangsmaßnahmen vermieden werden
                                      können, ist in diesem Konsensus-Statement ebenfalls nachzulesen. Eine rasche effektive Be-
                                      handlung des Patienten ohne Zwangsmaßnahmen wird als Stärkung des Vertrauensverhältnis-
                                      ses zwischen therapeutischem Team und agitiertem Patienten angesehen.

                                      Eigene Kapitel widmen sich der Agitation bei psychischer Erkrankung bzw. der Agitation auf-
                                      grund einer Intoxikation. Weitere Kapitel widmen sich den Themen „Delir“ bzw. „Agitation bei
                                      Demenz“. Dem Thema „Suizidalität“ als psychiatrische Notfallsituation wird ebenfalls besondere
                                      Aufmerksamkeit geschenkt.

  Österreichische
  Gesellschaft für
                                      Mit dem vorliegenden Konsensus-Statement wollen wir Ihnen eine umfassende Zusammenfas-
 Neuropsychophar-                     sung zum Thema Agitation bieten und Sie damit in Ihrer täglichen Arbeit unterstützen. Wir
makologie und Biolo-
 gische Psychiatrie                   freuen uns über Rückmeldungen, Anregungen und Diskussionen.

                                                                                                               O. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr. Siegfried Kasper
                                                                                                                                                                    Foto: MedUni Wien Matern

Zitierung der Arbeit wie folgt:
Kasper S, Baranyi A, Eisenburger P, Erfurth A, Ertl M, Frey R, Hausmann A, Kapfhammer HP, Psota G, Rados C, Roitner-Vitzthum E, Sachs GM,
Winkler D (2013) Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall. Konsensus-Statement – State of the art 2013. CliniCum neuropsy
Sonderausgabe November 2013

        Liebe Leserin, lieber Leser! Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichten wir auf das Binnen-I und auf die gesonderte weibl iche und männliche Form.
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
Agitation
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung                                                           3   6. Therapeutische Interventionen                                   9

2. Definition                                                           3   7. Medikamentöse Therapiestrategien                                9
                                                                            7.1. Agitation bei schizophrenen Psychosen und Manien
3. Syndrome mit Agitation                                               4   7.2. Agitation aufgrund von Intoxikation
                                                                            7.3. Delir
4. Exkurs: Suizidalität                                                 6   7.4. Agitation bei Demenz

5. Therapeutische Haltung in der                                            8. Zusammenfassung                                                14
   Notfallsituation                                                     6
5.1. Therapeutische Haltung in Situationen mit fremd-
     aggressivem Gefährdungsrisiko
5.2. Therapeutische Haltung in Situationen mit suizidalem
     Gefährdungsrisiko

1. Einleitung                                                               Notfallsituationen können sich aus Zuspitzungen von Krisen erge-
Agitation im Gefolge einer psychischen Erkrankung gehört zu den             ben. Häufig entstehen Notfallsituationen als Krisen im Rahmen von
häufigsten medizinischen Notfallsituationen der Psychiatrie. In den         schweren psychiatrischen Erkrankungen, wie schizophrenen Psycho-
USA spricht man von rund 1,7 Millionen derartigen Notfällen pro             sen, Manien oder Demenzen. Dazu ist prinzipiell zu unterscheiden,
Jahr. In einer Studie aus Leeds wird festgestellt, dass rund jeder          ob „lediglich“ eine Krise oder tatsächlich ein psychiatrischer Notfall
vierte Patient eines medizinischen Notfalldienstes eine psychische          vorliegt. Als Unterscheidungskriterium zwischen Krise und Notfall
Erkrankung aufweist. Eine spanische Untersuchung kommt zum Er-              kann das Vorliegen einer unmittelbaren Gefährdung von Leben
gebnis, dass Agitation bei 61,9 Prozent aller stationären Aufnah-           und Gesundheit herangezogen werden (psychiatrischer Notfall).
men von Patienten mit der Diagnose Schizophrenie eine besondere             Abbildung 1 zeigt die schematische Darstellung von Krisen- und
Rolle spielt. Auch bei Patienten mit der Diagnose Bipolar I und II ist      Notfallsituationen sowie deren therapeutische Interventionsmöglich-
Agitation ein sehr häufiges Symptom.                                        keiten bei psychiatrischen Auffälligkeiten bzw. Erkrankungen.

Eine ausgeprägte Agitation kann zu einer vitalen Gefährdung                 Als Besonderheit im Rahmen psychiatrischer Notfälle ist das Vor-
beitragen. Agitation kann mit aggressivem Verhalten gegenüber               handensein von Suizidalität zu sehen (siehe auch Kapitel 4, „Ex-
der eigenen Person, aber auch gegenüber anderen Personen ein-               kurs: Suizidalität“). Psychiatrische Notfallsituationen, wie das Auf-
hergehen.                                                                   treten einer ausgeprägten Agitation, erfordern ein umgehendes
                                                                            therapeutisches Eingreifen. Wesentlich dabei ist eine ruhige, be-
                                                                            stimmte und offene Grundhaltung dem Patienten gegenüber. Zu
    Abbildung 1
    Schematische Darstellung von Krisen- und                                den wichtigsten Medikamentengruppen in der Behandlung zählen
    Notfallsituationen                                                      Benzodiazepine sowie Antipsychotika.

                                              professionelle Hilfen         Obwohl Agitation relativ häufig vorkommt, gibt es nur wenige epi-
                                              (Arzt, Pflegepersonal,        demiologische Studien zur Prävalenz, zur Relevanz für die klinische
  Gefährdungsgrad

                                              Sozialarbeiter, Psycho-
                                              loge)                         Praxis oder zur finanziellen Dimension, die mit ihr vergesellschaftet
                    Notfall
                                                                            sind. Das vorliegende österreichische Konsensus-Statement stellt ei-
                                                 nicht professionelle
                    pathologische
                                                 Hilfen (Familie, Nach-
                                                                            nen Überblick über den Symptomenkomplex Agitation sowie über
                    Krise
                                                 barn, Pfarrer, Freunde,    die angemessene medizinische Behandlung dar.
                                                 Selbsthilfegruppen)
                    normale
                    Krise
                                                                            2. Definition
                                    Zeit                                    Psychiatrische Notfälle können in solche mit somatischem Schwer-
                                                       Quelle: Kasper S
                                                                            punkt (z.B. Intoxikation, Hypoglykämie, Delir) und solche ohne we-

                                                                                                     c linic um neurop s y s ond era usgabe          3
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
sentliche somatische Beteiligung (z.B. akute schizophrene Psychose)            h) Notfälle bei Alkohol-, Drogen- und Medikamentenintoxikation
    eingeteilt werden (siehe Tabelle 1).                                           i) Demenzielles Syndrom
                                                                                   Frühwarnzeichen einer bevorstehenden Eskalation können eine
    Agitation kann Ursache eines psychiatrischen Notfalls sein. Ein                feindselige Grundstimmung, Angespanntheit und aggressiver Ge-
    psychiatrischer Notfall ist ein Zustand, der häufig durch eine psychi-         sichtsausdruck, verstärkte Ruhelosigkeit, drohende Körperhaltung
    sche Krankheit bedingt ist und der eine unmittelbare Handlungs-                und Gestik, erhöhte Lautstärke beim Reden, abrupte Bewegungen
    notwendigkeit zur Abwendung von Lebensgefahr oder von ande-                    und verminderte Körperdistanz, verbale Bedrohungen, lang anhal-
    ren schwerwiegenden Folgen mit sich bringt. Er erfordert eine so-              tender Augenkontakt sowie Sachbeschädigungen sein.
    fortige, an der akuten Symptomatik orientierte, gezielte Therapie.
    Eine Übersicht der bestehenden Definitionen der Agitation findet               Nach Kidd und Stark (1995) wird Agitation in folgende Phasen
    sich in Tabelle 2.                                                             eingeteilt.
                                                                                   Phase 0 : keine Aggression
                                                                                   Phase I (Auslösephase): Anspannung, die dem Betroffenen nicht
    3. Syndrome mit Agitation                                                      immer bewusst ist. Äußerlich erscheint der Betroffene eher ruhig.
    Tabelle 1 gibt Beispiele für die mögliche diagnostische Zuordnung              Phase II (erste Übergangsphase): Führt direkt zu aggressivem
    von Agitation am Ende eines Einschätzungsprozesses (etwa nach ei-              Verhalten. Der Betroffene erlebt sich selbst als erregt. In dieser Pha-
    ner Bildgebung, einem Drogenharn etc.). Im klinischen Alltag ist es            se besteht noch die Möglichkeit für eine verbale Intervention. Der
    dagegen zunächst sinnvoll – im Sinne von Hanns Hippius (Hippius H.             Betroffene ist stärker agitiert, manipuliert, provoziert, zeigt fordern-
    Psychiatrie. Taschenbücher Allgemeinmedizin. Springer 1979) –, die             des Verhalten oder zieht sich erst einmal zurück.
    syndromale Ebene zu erfassen, also das Symptom „Agitation“ ei-                 Phase III (Krisenphase): Es droht unmittelbar eine Eskalation. Im
    nem übergeordneten Syndrom zuzuordnen, welches dann unmittel-                  Rahmen dessen muss konsequent gehandelt werden, mit dem Ziel,
    bar zu therapeutischen Konsequenzen führt. Syndrome, in deren                  die Sicherheit des Betroffenen und anderer zu gewährleisten. Ge-
    Rahmen „Agitation“ eine wesentliche Rolle spielen, sind:                       gebenenfalls müssen Zwangsmaßnahmen zur Anwendung kom-
    a) Katatones Syndrom                                                           men. Insbesondere entstehen kritische Situationen, wenn Gefahr
    b) Manisches Syndrom                                                           im Verzug und der Betroffene für Argumente nicht mehr zugäng-
    c) Agitiert depressives Syndrom                                                lich ist.
    d) Bewusstseinsstörung/Delir                                                   Phase IV (destruktive Phase): Kommt es zur destruktiven Phase,
    e) Suizidalität                                                                ist es nicht gelungen, den Betroffenen davon zu überzeugen, sein
    f) Wahn, Sinnestäuschungen                                                     Verhalten anzupassen. Er ist nun nicht mehr bereit, sich einer Inter-
    g) Angst-/Paniksyndrom                                                         vention zu unterziehen. Es droht reale Gefahr für den Betroffenen,

       Tabelle 1                                                                     Tabelle 2
       Agitation und ihre diagnostische Zuordnung                                    Definitionen der Agitation
      Diagnostische Zuordnung             Beispiele                                  Definition der Agitation           Publikation
      Affektive Störungen                 Manie („Mania furiosa“); agitierte         Ein geringgradig organisierter
      und schizophrene                    Depression; Schizophrenie (u.a.            Zustand nicht zielgerichteter
      Erkrankungen                        katatone Erregung)                         motorischer Unruhe, der von        Battaglia J. Pharmacological
      Angststörungen                      u.a. Panikstörung                          mentaler Anspannung beglei-        management of acute agita-
                                          Kränkungs- und Frustrationserleb-          tet wird und bei somatischen       tion 2005
                                          nisse; aktuell nicht kompensier-           oder psychiatrischen Erkran-
      Reaktive Ursachen                   bare psychosoziale Belastungen             kungen auftritt.
                                          („Krisen“), akute Belastungsreak-          Eine unspezifische Konstella-
                                          tionen („psychogener Schock“)              tion unzusammenhängender
                                          z.B. Cluster-B-Persönlichkeits-            Verhaltensweisen, die bei
      Persönlichkeitsgebundene                                                                                          Lindenmayer JP. The patho-
                                          störungen (Borderline-Persönlich-          verschiedenen klinischen Zu-
      Ursachen                                                                                                          physiology of agitation 2000
                                          keitsstörung)                              standsbildern auftreten kann
                                                                                     und die meistens einen fluktu-
                                          Funktionspsychosen/hirnorgani-
                                                                                     ierenden Verlauf aufweist.
                                          sche Psychosyndrome (z.B. epi-
                                          leptischer Dämmerzustand, zereb-           Motorische Unruhe und Agi-
      Organische Ursachen
                                          raler Gefäßprozess); internistische        tation stellen eine diffuse Zu-
                                          Erkrankungen (z.B. Hyperthyreose,          nahme körperlicher Bewegun-
                                          Porphyrie, Hypoglykämie); Demenz           gen dar wie Herumzappeln,
                                          Alkoholintoxikation; Rauschmittel-         schnelle und rythmische Klopf-
                                                                                                                     Kaplan HI, Sadock BJ, eds.
                                          intoxikationen (Amphetamin,                bewegungen der Beine oder
      Intoxikationen/                                                                                                Comprehensive Textbook of
                                          Ecstasy, Kokain, LSD) – substanz-          Hände, ruckartige „Start-and-
      Entzugssyndrome                                                                                                Psychiatry 1995
                                          induziertes Delir; Horrortrip;             stop“-Bewegungen, die von
                                          atypische Rauschverläufe                   innerer Anspannung begleitet
                                          psychomotorische Erregungszu-              werden. Agitation ist auch oft
      Intelligenzminderung                stände bei intelligenzgeminderten          mit allgemeiner Zunahme des
                                          Menschen („Erethismus“)                    Tempos vergesellschaftet.

            Quelle: modifiziert und ergänzt nach Rothenhäusler und Täschner 2013                                    Quelle: Hausmann A nach: Sachs GS 2006

4   c li n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
für andere oder die allgemeine Sicherheit. Der Betroffene zeigt ein-
                                                                               Abbildung 2
deutig destruktives Verhalten und ist zum Einsatz von Gewalt über-
                                                                               Das Agitations-Kontinuum: Die „S-Kurve“
gegangen. Eine Intervention ist nun ausschließlich auf die Wieder-
herstellung der Kontrolle und die Gewährleistung von Sicherheit                                                     Mild          Moderat             Schwer

ausgerichtet.
Phase V (Wiederherstellungsphase/Rückbildung): Nach einem

                                                                           Intensität der Agitation steigt
                                                                                                                                                          Dysfunktional
Eingreifen folgt eine Rückbildungsphase. Mit einem Wiederauf-
flammen der Symptomatik muss jedoch gerechnet werden.
Phase VI (zweite Übergangsphase): Die Gefahr ist nun so weit
gebannt, dass der Betroffene für eine Intervention auf freiwilliger
Basis wieder zugänglich ist. Zugrundeliegende Emotionen wie An-
spannung, Angst oder Schuld erscheinen in reduzierter Ausprä-
gung. Man spricht auch von postkritischer oder integrativer Phase.
Phase VII (Auflösungsphase): Es erfolgt eine Nachbesprechung
                                                                                                              Verzweifelt
und Rollenklärung der Parteien. Es werden gemeinsam die Ereignisse
und ihre Umstände untersucht. Es wird geklärt, wie in Zukunft mit
ähnlichen Situationen umgegangen wird. Die Erfahrungen werden in
passende neue (Inter-)Aktionen im Setting umgesetzt.                                                                                           Zeit
                                                                                                             Ein Kontinuum von Interventionen bei Patienten, die sich von
                                                                                                             stillem Negativismus bis zur offenen Feindseligkeit entwickeln
Die unterschiedlichen Phasen der Agitation können auch in Form                                               können.
einer Kurve dargestellt werden, die von „Verzweiflung“ bis hin zu
                                                                                                                                            Quelle: Hausmann A nach: Allen et al 2005
„Dysfunktionalität“ reicht (siehe Abbildung 2).

  Abbildung 3
  Norwegische Brøset-Gewalt-Checkliste

                                                                                         Zeitpunkt                              Vormittag                           Abend

                                                                                                                                  Punkte                        Punkte
   Verhaltensweise          Definition
                                                                                                                            (beobachtet=1 Punkt)          (beobachtet=1 Punkt)
                            Erscheint offensichtlich verwirrt und desorientiert; ist
                            sich möglicherweise der Zeit, des Ortes und der Personen
                            nicht bewusst; verkennt Personen, Situationen. „Verwirrt“
   Verwirrt
                            ist in einem allgemeinen Sinn gemeint. Hierzu zählt auch
                            psychotische Verwirrtheit, nicht nur Verwirrtheit in Zusam-
                            menhang mit einer Demenz oder Ähnlichem.
                            Ist schnell verärgert oder wütend; zum Beispiel nicht in
   Reizbar
                            der Lage, die Anwesenheit anderer zu tolerieren.
                            Das Verhalten ist übermäßig laut oder Krach verursachend;
   Lärmig
                            zum Beispiel schlägt Türen, schreit beim Sprechen etc.
                            Eine deutliche Absicht, eine andere Person zu bedrohen,
                            zum Beispiel eine aggressive Körperhaltung einnehmen,
   Körperliches Drohen
                            an der Kleidung einer anderen Person reißen, Ballen der
                            Faust, Heben eines Armes oder Fußes.
                            Ein verbaler Ausbruch, der mehr ist als nur eine erhobene
                            Stimme und der die klare Absicht hat, eine andere Person
                            zu verängstigen/einzuschüchtern, zum Beispiel verbale
   Verbales Drohen
                            Angriffe, Beschimpfungen, verbal neutrale Kommentare,
                            die auf eine knurrende aggressive Art und Weise geäußert
                            werden.
                            Eine aggressive Handlung, die sich gegen einen Gegen-
                            stand und nicht gegen eine Person richtet, zum Beispiel
   Angriff auf
                            das wahllose Zuschlagen oder Zerschlagen von Fenstern,
   Gegenstände
                            Treten, Schlagen oder Kopframmen gegen einen Gegen-
                            stand oder Zerschlagen von Möbeln.

   Summe = Risiko für physischen Angriff in der nächsten Schicht

                            0 Punkte=geringes Risiko
                            1–2 Punkte=mäßiges Risiko, es sollten präventive Maßnahmen ergriffen werden
   Interpretation
                            ≥3 Punkte=hohes Risiko, es sind präventive Maßnahmen und Pläne zum Umgang mit einem allfälligen An-
                            griff erforderlich
                                                                                                                                                               Quelle: Roitner-Vitzthum E

                                                                                                                                   c linic um neurop s y s ond era usgabe                   5
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
Zur Einschätzung des Gefahrenpotenzials bei dieser Patienten-
                                                                                      Abbildung 4
    gruppe hat sich die Norwegische Brøset-Gewalt-Checkliste be-
                                                                                      Therapiealgorithmus für die Behandlung der
    währt (siehe Abbildung 3 auf Seite 5). Mithilfe dieses Fragebogens
                                                                                      Suizidalität
    kann die Möglichkeit eines aggressiven Durchbruchs abgeschätzt
    werden.
                                                                                        Therapie allgemein                    Therapie der psychiatrischen
                                                                                                                              Grunderkrankung
                                                                                                                      Nein
    4. Exkurs: Suizidalität
    Suizidalität nimmt im Themenspektrum Agitation eine herausra-                       Abklärung:
                                                                                        akute Gefährdung?
    gende Stellung ein. Sie ist dabei nicht als eine nosologische Einheit                                                     laufende Beurteilung der
    zu verstehen, sondern als entwicklungsgeschichtlich unterschied-                                Ja                        Suizidalität
    lich ausgeprägtes Erleben, das in verschiedenen Lebensphasen auf-
    treten kann.                                                                        durch Suizidversuch
                                                                                        intoxikiert, verletzt?
    Das höchste Suizidrisiko tragen alte und vereinsamte Menschen,                      Konkrete Suizidge-
                                                                                        danken                                • Risikofaktoren beurteilen
    vor allem Männer, substanzabhängige Patienten, Personen, die be-                                                          • Angehörige einbeziehen
                                                                                                                      Nein
    reits versucht haben, sich zu suizidieren, sowie psychisch kranke                               Ja                        • tragfähige Beziehung
                                                                                                                                herstellen
    Menschen (vor allem solche mit affektiven und schizophrenen Psy-                                                          • Krisenplan besprechen
    chosen und Persönlichkeitsentwicklungsstörungen). Auch Le-                          Notfallmaßnahmen                      • Agitiertheit/Angst: BDZ
    benskrisen, wie etwa der Verlust des Partners, der Wohnung oder                     Sedierung/stationär                   • kurzfristige Kontrolle/
                                                                                        UbG-Kriterien prüfen                    stationär
    des Arbeitsplatzes, können suizidale Tendenzen auslösen.
                                                                                                                     Quelle: Konsensus-Statement Suizidalität 2011
    Der Psychiater und Suizidforscher Erwin Ringel beschrieb bereits
    1953 das „präsuizidale Syndrom“, das drei Merkmale umfasst:                     5. Therapeutische Haltung in der Notfall-
    Einengung: Es bestehen im Leben der suizidalen Person immer                        situation
    weniger Wahlmöglichkeiten – letztlich scheint nur noch der Suizid               Klinische Zustände mit Agitation, die als psychiatrische Notfälle im-
    als Möglichkeit zu bleiben.                                                     ponieren, gehen einerseits mit dem Risiko zu fremdaggressiven Er-
    Aggressionsumkehr: Es entwickelt sich eine immer stärker wer-                   regungen einher, andererseits mit suizidaler Gefährdung. Den psy-
    dende Aggression, die sich allerdings nicht nach außen, sondern                 chopathologischen Polen können sehr unterschiedliche psychiatri-
    immer stärker nach innen richtet.                                               sche, neurologische oder internistische Krankheitsbedingungen zu-
    Suizidphantasien: Der Betroffene flüchtet immer mehr in eine in-                grunde liegen.
    nere Vorstellungswelt, weil er das Gefühl hat, der äußeren Realität
    nicht mehr gewachsen zu sein. In seinen Phantasien spielen Suizid-              5.1. Therapeutische Haltung in Situationen mit fremdaggres-
    gedanken, die immer konkreter werden, je länger sie andauern, ei-                     sivem Gefährdungsrisiko
    ne wichtige Rolle.                                                              Oberstes Gebot in der Situation mit prinzipiellem Gewaltrisiko ist
                                                                                    es, eine ausreichende Sicherheit für den erregten Patienten herzu-
    Das Konzept des präsuizidalen Syndroms stellt ein Merkmal in der                stellen, dabei aber sich selbst, das übrige therapeutische und pfle-
    Abschätzung der Suizidalität dar. Wird dieses festgestellt, ist mög-            gerische Personal und auch andere Personen am Ort genügend zu
    lichst rasch eine entsprechende Behandlung einzuleiten.                         schützen. Eine übersichtliche Lage am Ort des akuten Geschehens
                                                                                    ist in jedem Fall anzustreben. D.h., andere Patienten oder unbetei-
    Frauen verüben häufiger Suizidversuche, Männer dagegen suizidie-                ligte Personen werden gebeten, den Raum zu verlassen. Ein Arzt –
    ren sich etwa doppelt so häufig wie Frauen, und ab dem 60. Le-                  es sollte diese Rolle auf Station vom jeweils erfahrensten Kollegen
    bensjahr verdrei- bis vervierfacht sich dieses Verhältnis.                      übernommen werden – übernimmt die Organisation des konkreten
                                                                                    Vorgehens und der Kontaktaufnahme mit dem Patienten. In einem
    Die Therapie der Suizidalität besteht in erster Linie darin, die                geringen Abstand hinter ihm, aber für den erregten Patienten gut
    Grundkrankheit (Schizophrenie, Depression, Substanzabhängigkeit)                erkennbar, stehen seine Kollegen aufmerksam zur Unterstützung
    zu behandeln. Wesentlich sind der Aufbau einer tragfähigen thera-               bereit. Der gesprächsführende Arzt wird sich ruhig mit seinem Na-
    peutischen Beziehung und die Einbeziehung von Angehörigen in                    men, in seiner Funktion als verantwortlicher Arzt und in seiner spe-
    die Behandlung (siehe Abbildung 4).                                             ziellen Absicht, die Situation zusammen mit dem Patienten klären

    Editorial Board
                                                                                                                                                                      Fotos: Archiv (7); Privat (4); OWS, Baumgartner Höhe (1)

    Mag. Dr.                      Univ.-Prof. Dr.            Prim. Priv.-Doz. Dr.   Prim. Dr. Michael Ertl       Univ.-Prof. Dr.             Univ.-Prof. Dr.
    Andreas Baranyi               Philip Eisenburger         Andreas Erfurth        SMZ Baumgartner Höhe         Richard Frey                Armand Hausmann
    Universitätsklinik für        Universitätsklinik für     SMZ Baumgartner Höhe   OWS, Wien                    Universitätsklinik für      Universitätsklinik für
    Psychiatrie, Graz             Notfallmedizin, Wien       OWS, Wien                                           Psychiatrie und Psycho-     Psychiatrie, Innsbruck
                                                                                                                 therapie, Wien

6   c li n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
und beruhigen zu wollen, vorstellen. Er wird sich besonnen einen             ten, eine Person mit aufgezogener Spritze für eine nach der siche-
Überblick verschaffen und versuchen, überhaupt einen interperso-             ren Fixierung des Patienten erfolgende i.m. Injektion mit sedieren-
nellen Kontakt mit dem erregten Patienten herzustellen. Er ist sich          der oder antimanischer/antipsychotischer“ Medikation. Es ist vor-
hierbei bewusst, dass wo auch immer Waffen oder gefährliche Ge-              teilhaft, wenn der zuvor das Gespräch führende Arzt auch während
genstände in der Verfügung des Patienten sind, ein ruhiges und si-           dieser kontrollierten Beschränkungsmaßnahme versucht, den ver-
cheres Gespräch unmöglich ist. Gelingt es nicht, den Patienten zu            balen Kontakt mit dem Patienten zu halten, die Notwendigkeit des
überreden, seine Waffen beiseite zu legen, haben die eigene Si-              Vorgehens erklärt und weiter beruhigend auf ihn einwirkt. Auch
cherheit und der Schutz von Drittpersonen eindeutigen Vorrang. In            orale Medikation, eventuell Tropfen bzw. das seit Kurzem einge-
diesem Fall ist die Polizei zur Unterstützung zu rufen. Bis zum Ein-         führte Inhalationsmedikament können angeboten werden.
treffen der Polizei sollte aber in einem sicheren Abstand weiterhin
versucht werden, mit dem Patienten einen Gesprächskontakt zu                 Allen an dieser eindämmenden Maßnahme Beteiligten muss klar
halten.                                                                      sein, dass es sich bei diesem Vorgehen um eine zu legitimierende
                                                                             therapeutische Maßnahme handelt, die eine auch juristisch ein-
Eine situative Klärung ist dem Arzt nur möglich, wenn er allgemei-           wandfrei nachvollziehbare Notfallsituation ohne die Möglichkeit
ne Prinzipien der Deeskalation beachtet. Sein Auftreten ist neutral,         von geringen invasiven Interventionen als Voraussetzung hat. Da-
interessiert am Befinden des Patienten, bemüht, sein basales Ver-            her ist es unabdingbar, den speziellen psychiatrischen Notfall in sei-
trauen zu gewinnen. Er unterlässt Konfrontationen, hört geduldig             nem Anlass, in der weiteren situativen und patientenbezogenen
zu und bemüht sich in Mimik und Gestik um Professionalität und               Entwicklung sowie in der konkreten Bewältigung mit großer Sorg-
Gelassenheit. Er unterlässt alles, was den Patienten weiter provo-           falt zu dokumentieren. Eine nachfolgende Überwachung des Pati-
zieren könnte, und ist bemüht, auf Provokationen des Patienten               enten im Hinblick auf die Fixierung und die applizierte Medikation
möglichst nicht zu reagieren und ruhig zu bleiben. Einem starken             ist selbstverständlicher ärztlicher und pflegerischer Standard. Es ist
Redebedürfnis eines Patienten sollte er großzügig Raum geben, ge-            in therapeutischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung, dem
duldig zuhören, vorsichtige klärende Zwischenfragen stellen, um              Patienten auch nach der erfolgten Beschränkung und der gegen
allmählich ein Zwiegespräch zu ermöglichen. Es ist wichtig zu er-            seinen Willen verabreichten Medikation diese in aller Regel mit
kennen, dass aggressives Verhalten beispielsweise eines paranoiden           höchster affektiver Aufruhr und als gewaltsamen Übergriff erlebten
Menschen oft die einzig verfügbare Verhaltensweise ist, mit einer            Interventionen einfühlsam und verständnisfördernd zu erklären.
unkontrollierbaren Angst umzugehen. Hier kann es hilfreich und
entlastend sein, dem Patienten zu signalisieren, dass man auch               5.2. Therapeutische Haltung in Situationen mit suizidalem
selbst die momentane Situation als bedrohlich erlebt, und dann                    Gefährdungsrisiko
nachzufragen, was den Patienten im Augenblick so in Bedrängnis               Patienten, die nach einem Suizidversuch ernsthaft vital bedroht
gebracht hat, und eventuell auch, was er für sich hilfreich erleben          sind, bedürfen selbstverständlich einer erforderlichen notärztlichen
würde, welches Medikament ihm beispielsweise früher gut gehol-               Versorgung und weiterer intensivmedizinischer Stabilisierung sowie
fen habe. Eine solche Strategie kann aber u.a. bei intoxikierten             einer situativen, motivpsychologischen und psychopathologischen
oder dissozialen Patienten wenig erfolgreich sein. Äußerungen ei-            Klärung. Die diagnostische und therapeutische Herausforderung
gener Bedrohungsgefühle durch den Arzt können in diesem Fall                 bei Patienten mit akuter suizidaler Gefährdung ist unvergleichlich
eher das gefährdende Verhalten des Patienten weiter verstärken.              schwieriger.

Ist eine Gesprächsführung auch über eine definierte Zeitspanne               Der Arzt wird sich hier stets um einen ruhigen Gesprächskontakt
nicht erfolgreich, nimmt das Erregungsniveau des Patienten eher              mit der suizidgefährdeten Person bemühen. Voraussetzung hierfür
noch weiter zu, dann ist bei einem kalkulierbaren Fremdaggressi-             sind seine Geduld und seine empathische Anteilnahme, seine er-
onsrisiko (d.h. bei unbewaffneten Patienten und bei abschätzbarer            mutigende Aufforderung an den Patienten, über seine verzweifelte
physischer Stärke der erregten Person) ein konzertiertes Vorgehen            Situation zu sprechen und Gründe für sein Verhalten zu schildern.
zur Eindämmung der Situation angezeigt. Dieses Vorgehen in sta-              Diese offene und besonnene Grundhaltung wird umso vordringli-
tionären Einrichtungen kann nur erfolgreich sein, wenn therapeuti-           cher sein, wenn Suizidhandlungen, z.B. ein Sprung von einem
sches und pflegerisches Team in der Durchführung solcher Aktio-              Fenster oder die Selbsttötung durch eine Waffe in einer sich weiter
nen geschult sind, d.h. jede teilnehmende Person die jeweils zuge-           verschärfenden Agitation, unmittelbar drohen. Oberstes Ziel in ei-
dachte Rolle und Aufgabe im gemeinsamen Vorgehen kennt und                   ner solchen Situation wird sein, den Patienten in einem annehmen-
beherrscht (je eine kräftige männliche Person für die vier Extremitä-        den Gesprächskontakt zu halten, ihn schließlich aus der aktuellen
ten sowie den Kopfschutz des Patienten, eine Person mit Fixiergur-           Gefahrenzone herauszubewegen, dabei aber die eigene Sicherheit

                                                                             Lecture Board

O. Univ.-Prof. DDr.      Dr. Edeltraud Roitner-    Assoc.-Prof. Priv.-Doz.   Chefarzt Dr. Georg       Prim. Dr. Christa Rados   Dir. Univ.-Prof. DDr.
Hans-Peter Kapfhammer    Vitzthum                  Dr. Dietmar Winkler       Psota                    Landeskrankenhaus         Gabriele-Maria Sachs
Universitätsklinik für   Universitätsklinik für    Universitätsklinik für    Psychosoziale Dienste    Villach                   Landesnervenklinik
Psychiatrie, Graz        Psychiatrie und Psycho-   Psychiatrie und Psycho-   in Wien PSD, Wien                                  Wagner-Jauregg, Linz
                         therapie II, Salzburg     therapie, Wien

                                                                                                      c linic um neurop s y s ond era usgabe            7
Die Behandlung der Agitation beim psychiatrischen Notfall
gewährleisten zu können. Dies setzt beim Arzt voraus, dass er die                 zodiazepinen, in ihrer Affektlage gelockert wirken können und nur
    Spannung der tödlichen Bedrohung des Patienten möglicherweise                     über ein eingeschränktes Realitätsurteil verfügen.
    über eine längere Zeit aushalten muss, ohne durch Ungeduld, Ver-
    ärgerung oder unbedachtes Vorgehen gerade den letzten Anstoß                      Motivanalyse, psychopathologischer Status, Suizidmethode, Um-
    hierfür zu geben.                                                                 stände der Suizidplanung und aktuelle Einstellung des Patienten zu
                                                                                      seinem Suizidversuch bestimmen das weitere therapeutische Vor-
    Die einzige, therapeutisch aber nur ungewiss wirksame Handhabe                    gehen. Ist es möglich, mit dem Patienten in einen offenen und klä-
    in dieser Situation wird sein offenes Gesprächsangebot sein. Dessen               renden Gesprächskontakt zu treten, zeigt dieser eine Betroffenheit
    Erfolg wird weitgehend davon abhängig sein, inwieweit es ihm ge-                  über sein Handeln, ist er froh, überlebt zu haben, sucht er nach Hil-
    lingt, eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten aufzubauen,                   fe, so kann der Arzt die Möglichkeiten einer psychotherapeutischen
    dessen zuweilen heftige Affektäußerungen anzunehmen, ohne zu                      und/oder psychiatrischen Krisenintervention anbieten. Stationären
    vorschnellen therapeutischen Ratschlägen zu neigen oder die per-                  Angeboten ist angesichts einer im konkreten Fall nicht eindeutig zu
    sönliche Notlage des Patienten verharmlosend zu relativieren. Es                  klärenden Situation ein Vorrang vor ambulanten Alternativen ein-
    wird sein menschliches und ärztliches Geschick sein, das mitent-                  zuräumen. Ärztlich verantwortbar ist aber auch ein Vorgehen,
    scheidet, ob sich der Patient von ihm in eine sicherere Situation be-             wenn der Patient eine stationäre Einweisung ablehnt, sich aber be-
    wegen lässt. Erst dann ist eine grundlegende Voraussetzung dafür                  reit erklärt, sich einer ambulanten psychiatrischen oder psychothe-
    geschaffen, die Motive und Gründe der Suizidalität weiter zu klären.              rapeutischen Behandlung zu unterziehen. In diesem Fall ist aber si-
                                                                                      cherzustellen, dass der Patient nach dem notärztlichen Kontakt
    Neben der Motivanalyse der Suizidalität und der psychopathologi-                  nicht allein bleibt, dass Familienangehörige oder Bekannte für eine
    schen Befunderhebung geht in das ärztliche Urteil vor allem die Be-               zwischenzeitliche Betreuung gewonnen werden können und auch
    wertung der Gefährlichkeit des gewählten suizidalen Vorgehens ein.                konkrete therapeutische Maßnahmen für die nächsten Tage, wie
    Es macht einen Unterschied aus, ob sich ein Patient tiefe Schnitt-                z.B. Terminvereinbarungen für die ambulante Vorstellung bei einem
    wunden am Handgelenk zufügte, versuchte, sich durch Erhängen                      Psychiater oder Kriseninterventionsdienst, getroffen werden.
    oder Erschießen zu töten, oder ob er einige, aber in Hinblick auf ein
    letales Risiko eher ungefährliche Medikamente eingenommen hat.                    Liegt eine eigenständige psychiatrische Erkrankung der manifesten
    Und im letzteren Fall wird entscheidend sein, ob er subjektiv der                 Suizidalität zugrunde, weisen Suizidmethode und Umstände der Sui-
    Auffassung war, mit dieser Dosierung aus dem Leben scheiden zu                    zidhandlung auf eine aktuelle Suizidalität hin, sind gravierende Risi-
    können. Ferner muss berücksichtigt werden, ob eine suizidale Hand-                kofaktoren zu eruieren, ist der Patient weiterhin suizidgefährdet,
    lung so geplant war, dass normalerweise ein Rettungsversuch aus-                  dann ist eine stationär-psychiatrische Einweisung unumgänglich. Die-
    geschlossen schien und nur einem glücklichen Umstand zu verdan-                   se ist insbesondere auch dann geboten, wenn es einem Patienten
    ken war, dass ihn eine Drittperson im aktuellen Zustand angetroffen               unmöglich ist, seine Motive für die Suizidhandlung mitzuteilen, er ei-
    hat. Die gewählte Suizidmethode und die Umstände der Suizidpla-                   nen ärztlichen Kontakt ablehnt oder zu offenkundigen Bagatellisie-
    nung gilt es besonders dann zu bedenken, wenn der Patient aus ei-                 rungen neigt. Dem Patienten ist dann in einem ruhigen, aber be-
    ner nachvollziehbaren Beschämung heraus die eigentlichen Beweg-                   stimmten Ton zu erklären, dass eine ärztliche Verpflichtung bestehe,
    gründe abwehrend bagatellisiert. Zu berücksichtigen ist ferner, dass              ihn eventuell auch gegen seinen Willen mit Unterstützung der Polizei
    Patienten unter Einwirkung psychotroper Substanzen, z.B. von Ben-                 in das nächstliegende psychiatrische Krankenhaus einzuweisen.

      Abbildung 5
      Management des agitierten Patienten

                                                                         Der agitierte Patient

                                                                             gleichzeitig

          Verhaltens- und Umgebungsmodifikation:                                       Medikamentöse Intervention:
          • Reduzierung der weiteren Stimulation                                       • Rasche Beurteilung des medizinischen Zustands
          • „Talking down“: offenes und freundliches Sprechen,                           (Feststellung der auslösenden Ursachen)
            Angebote wie Essen und Getränke

                 Patient bleibt agitiert und eine Gefahr für sich                                Entzugserscheinungen von Alkohol oder
                 oder andere                                                                     Sedativa?
          Nein                Ja                                                                               Nein        Ja

                 Isolierung oder                     • Erste Wahl: Atypische Antipsychotika oral/i.m./Inhalation           Lorazepam
                 Fixierung                           • Zweite Wahl: Haloperidol ± Lorazepam oral/i.m.                      oral/i.m.

                         Bei anhaltendem aggressivem Verhalten  Atypische Antipsychotika ± Stimmungsstabilisierer ± Betablocker

                                                                                                                                 Quelle: nach: Citrome L 2007

8   c li n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
6. Therapeutische Interventionen                                          Um den agitierten Patienten möglichst rasch zu beruhigen, eine ver-
Der Initialbehandlung der Agitation als psychiatrischer Notfallsituati-   trauensfördernde Atmosphäre zu schaffen und die Kooperationsfä-
on kommt ein wesentlicher Einfluss auf den weiteren Therapiever-          higkeit des Betroffenen möglichst zu erhalten, ist eine orale oder in-
lauf zu. Es ist – neben der bereits beschriebenen Haltung des Thera-      halative Medikamentengabe einer i.m. Gabe vorzuziehen. Allerdings
peuten – wichtig, die akute Krise so rasch wie möglich zu stabilisie-     bestehen hier Einschränkungen. Zum einen kann die mangelnde
ren und Zwangsmaßnahmen möglichst zu vermeiden, um das Ver-               Mitarbeit des Patienten eine orale Gabe verunmöglichen. Zum ande-
trauensverhältnis zwischen therapeutischem Team und agitiertem            ren beträgt die Dauer bis zum Wirkeintritt nach oraler Verabreichung
Patient zu stärken. Zwei Drittel aller Fälle von Verletzungen des Per-    mindestens 20 bis 30 Minuten. Wenn irgend möglich sollte vor dem
sonals im Rahmen einer Intervention bei Agitation treten während          Einsatz medikamentöser Therapiestrategien ein EKG (einschließlich
Fixierungsmaßnahmen auf. Bei den gesetzten Maßnahmen sollte               Erfassung der QTc-Zeit) geschrieben werden. Dies wird allerdings
immer jene, die am wenigsten restriktiv ist, eingesetzt werden.           wohl nur bei mild bis mittelgradig agitierten Patienten möglich sein.
Gleichzeitig sollte bereits während der Akutphase eine respektvolle       Bei unklarer Genese der Agitation werden zudem eine Blutanalyse
therapeutische Beziehung initiiert werden. Falls eine medikamentöse       und ein Monitoring des Patienten angeraten. Grundsätzlich sind die
Therapie notwendig ist, sollte versucht werden, den Patienten mög-        unmittelbare bzw. raschestmögliche Erhebung folgender Befunde im
lichst von deren Notwendigkeit zu überzeugen. Abbildung 5 zeigt           Rahmen der Abklärung des Patienten vor bzw. auch im Sinne einer
einen Algorithmus zur Behandlung der Agitation.                           Kontrolle nach Anbehandlung des Patienten von besonderer Bedeu-
Das Ziel der Therapie sollte die rasche Reduktion von agitiertem          tung: Schilddrüsenwerte, Glucose, Elektrolyte, Drogenharn, Alkohol
Verhalten sein, um damit aggressive Durchbrüche zu verhindern.            im Blut und Messung der QTc-Zeit im EKG.
Der Patient soll eine – trotz der an sich beängstigenden Situation –
möglichst positive Therapieerfahrung erleben. Bei der medikamen-          In der Notfallsituation sollte möglichst rasch abgeklärt werden, ob
tösen Intervention sollte eine Beruhigung, aber keine nur ungenü-         eine somatische Komponente für die Agitation besteht, wie etwa:
gende Sedierung angestrebt werden.                                        • Hypoglykämie
                                                                          • Schmerzen
Wenn eine stationäre Aufnahme unumgänglich ist, sollten – nach            • Dyspnoe/Hypoxie
einer Stabilisierung des Patienten – von vornherein Ängste und Vor-       • Elektrolytentgleisung
urteile gegenüber psychiatrischen Institutionen relativiert werden.       • Exsikkose
Wenn eine Zwangseinweisung (Selbst- und/oder Fremdgefährdung)             • Intoxikation, Entzug, unerwünschte Arzneimittelwirkungen
notwendig ist, soll diese mit den Angehörigen auf dem Weg in das          • Epilepsie
Krankenhaus besprochen werden. Indikationen zur stationären Be-           • Enzephalopathie, Hirndruck, Meningitis
handlung des agitierten Patienten sind unter anderem:                     • Stress bei fehlender Ausdrucksmöglichkeit (Hörgerät fehlt, höher-
• Unklare Diagnose (z.B. bei Bewusstseinstrübung, Rauschzustän-             gradige Demenz, Fixierung)
  den, Verwirrtheitszuständen)
• Therapie verlangt ständige ärztliche Überwachung (Intoxikation,         7.1. Agitation bei schizophrenen Psychosen und Manien
  Delir)                                                                  Beim Patienten, der im Rahmen einer schizophrenen Psychose oder
• Selbstgefährdung aufgrund mangelnder Beaufsichtigungsmög-               einer Manie agitiert ist, hat sich in der Akutbehandlung ein Medika-
  lichkeit (Suizidalität, Verwirrtheitszustand)                           ment mit einem Dopamin-D2-Antagonismus als sinnvoll erwiesen.
• Fremdgefährdung (z.B. Gefahr eines erweiterten Suizids, Dro-            Von den antipsychotisch wirksamen Substanzen der zweiten Gene-
  hung oder aktuelle Fremdaggression)                                     ration zeigt sich Aripiprazol i.m. in einer Dosis von 9,75mg als wirk-
• Psychosoziale Gesichtspunkte (z.B. kein familiäres Selbsthilfepo-       sam. Gegebenenfalls kann die Injektion nach zwei Stunden wieder-
  tenzial, unzumutbare Belastung für die Familie, ärztliche Betreu-       holt werden. Maximal können innerhalb von 24 Stunden drei Gaben
  ung nicht gewährleistet)                                                appliziert werden. Allerdings kann es in seltenen Fällen unter Aripi-
                                                                          prazol zu extrapyramidalen Symptomen (EPS) wie Akathisie, Hypo-
                                                                          tonie, Tachykardie und einer erhöhten Anfallsbereitschaft kommen.
7. Medikamentöse Therapiestrategien                                       Zu den häufigeren Nebenwirkungen zählen Kopfschmerzen, Übel-
Da beim psychiatrischen Notfall dem agitierten Patienten sehr häu-        keit, Dyspepsie, Obstipation, Schlaflosigkeit, Benommenheit, Schläf-
fig die Ursachen für die Agitation unklar sind und kein Wissen um         rigkeit und Tremor. Auch extrapyramidale Symptome (EPS) werden
vorbestehende Erkrankungen und Medikamente besteht, ist eine              beobachtet. Aripiprazol ist nicht zugelassen für agitierte Demenzpa-
verhältnismäßige Therapie zur Eindämmung der Agitation anzu-              tienten. Vorsicht ist geboten bei Hyperglykämie, Epilepsie, Hypoto-
wenden. Wenn klar ist, dass der Patient aufgrund einer psychischen        nie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie z.B. Herzinsuffizienz.
Erkrankung (z.B. Schizophrenie, bipolare Störung) agitiert ist, wer-
den zunehmend Antipsychotika der zweiten Generation (atypische            Eine rasche Abklärung bezüglich des Risikos von QT-Verlängerungen,
Antipsychotika) zur Akutbehandlung eingesetzt. Für eine intravenö-        anderen unerwünschten Arzneimittelwirkungen sowie über das
se Gabe von Haloperidol zur Therapie der akuten Agitation gibt es         Interaktionspotenzial geben mehrere Portale im Internet (z.B. www.
keine Empfehlung des Herstellers: Von einem Einsatz ist abzuraten!        mediq.ch). Ein Überblick über Strategien in der parenteralen psychia-
                                                                          trischen Akutbehandlung findet sich in Tabelle 3 auf Seite 10.
Die vorhandenen Darreichungsformen für diese Medikamente rei-
chen von oralen über sublinguale und intramuskuläre bis inhalative        Eine mögliche Beeinflussung der QTc-Zeit durch eine Medikation
Applikationen:                                                            wird von mediQ (www.mediq.ch) als QT-Stärke bezeichnet und
• oral (Tabletten/Schmelztabletten/Tropfen)                               kann wie folgt kurz erklärt werden. QT-Stärke 1 bedeutet für das
• i.m. Applikation (z.B. Aripiprazol, Haloperidol, Lorazepam)             jeweilige vorgestellte Medikament ein niedriges Risiko für die Ver-
• i.v. Applikation (z.B. Lorazepam)                                       längerung der QT-Zeit, während Stärke 2 und 3 ein mittleres bzw.
• Inhalation (Loxapin) (bei milder bis mittelgradiger Agitation)          hohes Risiko dafür ausdrücken. Regelmäßige EKGs zur Überprü-

                                                                                                   c linic um neurop s y s ond era usgabe          9
Tabelle 3
        Strategien in der parenteralen psychiatrischen Akutbehandlung
          Substanz-                                                    Risiko der QTc-
          klasse           Substanz               Dosierung            Verlängerung1          Risiken und UAW                          Bewertung
                                             i.m. 3x 9,75mg/Tag
                                                                                             Akathisie, Hypotonie,
                                           (2. Dosis nach 2 Stun-                                                             Kombination mit oralen
                          Aripiprazol                                          1             Tachykardie, erhöhte
                                            den, max. 3 Injektio-                                                          Benzodiazepinen wird vertragen
                                                                                              Anfallsbereitschaft
                                             nen in 24 Stunden)
                                                                                                                         In Österreich besteht eine Zulassung
                                                                                                                          für die intramuskuläre Applikation.
                                                                                                                          Eine Empfehlung des Herstellers für
                           Haloperi-                                                           Hohes Risiko von
                                               5mg-Ampullen                    3                                           eine i.v. Gabe besteht nicht; vom
                              dol                                                                  EPMS
                                                                                                                         i.v. Einsatz ist abzuraten. In anderen
                                                                                                                          Staaten darf Haloperidol i.v. bereits
                                                                                                                              nicht mehr appliziert werden2
                                                                                            Senkt Krampfschwelle,
                                             25mg-Ampullen,                                   mittelstarker Hem-            Einsatz nur in Ausnahmefällen
                           Laevome-
                                            maximale Tagesdosis                2              mer CYP3A, 2D6,                und bei Versagen geeigneter
                           promazin
                                              4–6-Ampullen                                   Halbwertszeit 15–30                     Alternativen
                                                                                                   Stunden
          Antipsy-                           Anfangsdosis 10mg
          chotika                          i.m. (2. Dosis 5–10mg                                                          Keine Kombination von Olanzapin
                                                                                              Bradykardie, Hypo-
                           Olanzapin          nach 2 Stunden,                  1                                           parenteral mit Benzodiazepinen
                                                                                                    tonie
                                               max. 20mg in                                                                           parenteral
                                                 24 Stunden)
                                            40mg (zur i.m. oder                                   Orthostase,
                                                                                                                         Keine Verordnung bei kardialen Stö-
                             Prothi-       langsamen i.v. Verab-                             mit Benzodiazepinen,
                                                                               2                                         rungen, Bradykardie, Hypokaliämie,
                             pendyl         reichung: 3–4x 2–4                               Opioiden: Gefahr der
                                                                                                                             Lungenfunktionsstörungen
                                               Ampullen/Tag)                                   Atemdepression
                                                                                                                          Keine Kombination von Ziprasidon
                                                10mg, max.                                                               i.m. mit anderen zentral wirksamen
                          Ziprasidon                                           2             Akathisie, Schwindel
                                              Tagesdosis 40mg                                                              Arzneimitteln, insbesondere mit
                                                                                                                                 Benzodiazepinen i.v.
                                            50–100 i.m., wegen
                                                                                            Halbwertszeit 32 Stun-
                             Zuclo-        der langen Halbwerts-
                                                                                             den, senkt Krampf-            Wegen der langen Halbwertszeit
                           penthixol-        zeit Wiederholung                 2
                                                                                              schwelle, anticho-               schlechte Steuerung
                             acetat         am selben Tag nicht
                                                                                               linerg, EPS-Risiko
                                              empfehlenswert
                                                                                                                           Aktive Metaboliten, deswegen im
                          Clorazepat          50mg-Ampullen                    0                                          Vergleich zu Lorazepam nicht emp-
                                                                                                                                      fehlenswert
                                                                         www.azcert.                                       Aktive Metaboliten, deswegen im
                           Diazepam           10mg-Ampullen              org/ – keine                                     Vergleich zu Lorazepam nicht emp-
                                                                          Hinweise                                                    fehlenswert
                                                                                                                             Metabolismus: Lorazepam wird
                                                                                              2–4mg als Anfangs-           fast vollständig glucuronidiert, die
          Benzodia-
                                                                                              dosis, Cave: Atem-            Metabolite sind pharmakologisch
          zepine                                                         www.azcert.
                                                                                                depression. Bei           inaktiv. Nach i.m. Gabe kann bereits
                          Lorazepam                 2mg i.v.             org/ – keine
                                                                                               älteren Patienten         nach wenigen Minuten die Konzent-
                                                                          Hinweise
                                                                                                Dosisreduktion           ration des Glukuronids, das mit einer
                                                                                                    um 50%               Halbwertszeit von etwa 3,8 Stunden
                                                                                                                            gebildet wird, gemessen werden.
                                                                                                                           Narkotikum: besondere Überwa-
                          Midazolam         0,025–0,3mg/kg/Tag         Keine Angaben            Atemdepression           chung notwendig. Für die psychiatri-
                                                                                                                          sche Routine nicht empfehlenswert
                                                                                                                         Bei akuter Manie von Männern bzw.
                                             3–4x 400–500mg/                                                            bei Frauen, bei denen gesichert keine
          Andere            Valproat                                   Keine Angaben
                                                  Tag i.v.                                                              Schwangerschaft vorliegt, ist Valproat
                                                                                                                         eine praktikable Off-label-Therapie3
        1QTc-Stärke gemäß www.mediq.ch (steigendes Risiko mit steigender Zahl); 2 zum Verbot in Italien: http://www.sifoweb.it/pdf/notizie/GU_23giu10_alope-
        ridolo.pdf; 3 Grunze H; Erfurth A; Amann B; Giupponi G; Kammerer C; Walden J. Intravenous Valproate Loading in Acutely Manic and Depressed Bipolar I
        Patients. Journal of Clinical Psychopharmacology 1999; 19:303–309
                                             Quelle: Erfurth A. nach www.mediq.ch sowie Benkert O. Pocket Guide. Psychopharmaka von A bis Z. 2. Auflage, 2013, Springer

10   c li n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Eine Übersicht über die „Numbers needed to treat“ bei Anwen-
  Abbildung 6
                                                                                 dung von i.m. Antipsychotika bietet Abbildung 6.
  i.m. Antipsychotika bei Agitation
        6                                                                        Eine neue Therapiemöglichkeit, die seit Kurzem auch in Österreich
        5                                                                        zur Behandlung der Agitation bei Schizophrenie und der bipolaren
                                                          ZIP 10–20mg            Störung zugelassen ist, stellt die inhalative Form von Loxapin dar.
        4                                                                        Loxapin wird seit fast 50 Jahren in der Psychiatrie eingesetzt. Das
                                                          OLZ 10mg
  NNT

        3                                                 ARI 9,75mg             Einmalgerät zur Inhalation wurde vom amerikanischen Pharmaun-
                                                          HAL 6,6–7,5mg          ternehmen Alexza entwickelt, 2010 patentiert und enthält eine
        2
                                                          LOR 2mg                chemisch aufzuheizende Platte, auf die Loxapin als reiner Wirkstoff
        1                                                                        (ohne Füllstoffe) aufgebracht ist. An einem Ende des Geräts ist eine
                                                                                 Lasche angebracht. Diese muss vom behandelnden Arzt gezogen
        0
                        Medikation                                               und das Inhalationsgerät dem Patienten an die Lippen gesetzt
                                                                                 werden. Wenn der Patient einatmet, wird ein chemischer Prozess in
        Agitation bei Patienten mit bipolarer und schizophrener Erkrankung
        Response=40 Prozent Reduktion auf PEC resp BARS (Ziprasidon)             Gang gebracht, der die Heizplatte stark erwärmt und hierdurch die
        zwei Stunden nach Injektion                                              Substanz als reines Wirkstoffaerosol freisetzt und abgibt. Der
        Legende: NNT=Number Needed to Treat; ZIP=Ziprasidon; OLZ=                Patient atmet den Wirkstoff tief in die Lunge ein. Mithilfe dieses
        Olanzapin; ARI=Aripiprazol; HAL=Haloperidol; LOR=Lorazepam
                                                                                 Inhalationsgerät kann – ohne invasive Therapie – eine rasche
                                  Quelle: Hausmann A nach Citrome et al. 2007    Beruhigung des agitierten Patienten erreicht werden.

fung der QT- und QTc-Zeit werden bei der Anwendung von Anti-                     Von den Benzodiazepinen zur Beruhigung des agitierten Patienten
psychotika empfohlen. Geschlechtsunspezifisch gilt 440msec als                   soll an erster Stelle Lorazepam zur Anwendung kommen, da diese
oberster Grenzwert der korrigierten QT-Zeit (QTc-Zeit).                          Substanz keine aktiven Metaboliten aufweist. Lorazepam wird fast
                                                                                 vollständig glucuronidiert. Nach parenteraler Gabe kann bereits nach
Ziprasidon, ein Antipsychotikum der zweiten Generation, weist eine               wenigen Minuten die Konzentration des Glucuronids, das mit einer
QT-Stärke von 2 auf und wird in der Akutbehandlung klinisch als                  Halbwertszeit von etwa 3,8 Stunden gebildet wird, gemessen wer-
weniger wirksam als Aripiprazol erlebt. Das atypische Antipsychoti-              den. Die Anfangsdosis beträgt 2 bis 4mg. Der Patient soll wie auch
kum Olanzapin weist eine QT-Stärke von 1 auf, sollte laut mediq.ch               bei der Gabe von Antipsychotika mit geeigneten Mitteln (Pulsoxyme-
allerdings parenteral nicht mit Benzodiazepinen kombiniert werden.               ter, EKG-Monitor, RR-Messung) monitiert werden. Bei älteren Patien-
Nicht mehr empfohlen werden folgende Substanzen:                                 ten sollte die Dosis halbiert werden. Laut Fachinformation sind „2 bis
• Zuclopenthixolacetat: Die Halbwertszeit beträgt 32 Stunden, das                4mg Lorazepam (0,05mg/kg) i.v. oder i.m. als Anfangsdosis, wobei
   Präparat senkt die Krampfschwelle, wirkt anticholinerg, weist ei-             der i.v. Verabreichung der Vorzug gegeben werden soll“, empfohlen.
   ne QT-Stärke von 2 und das Risiko für EPS auf.                                „Falls notwendig kann die gleiche Dosis nach zwei Stunden noch-
• Levomepromazin: senkt ebenfalls die Krampfschwelle. Die QT-                    mals verabreicht werden.“ „Nach Abklingen der akuten Symptoma-
   Stärke beträgt 2, die Halbwertszeit beträgt 15 bis 30 Stunden.                tik soll die Behandlung mit Lorazepam-Tabletten fortgesetzt werden.
• Prothipendyl i.m. oder langsam i.v.: sollte nicht bei kardialen                Im Einzelfall, speziell im stationären Bereich, kann die Tagesdosis un-
   Störungen angewendet werden. QT-Stärke 2. Bei gleichzeitiger                  ter Berücksichtigung aller Vorsichtshinweise auf maximal 7,5mg er-
   Verabreichung mit Benzodiazepinen besteht die Gefahr der                      höht werden.“ Zusammenfassend sei dringend empfohlen, die hier
   Atemdepression.                                                               angegebenen Dosierungen im klinischen Alltag zu berücksichtigen:

  Tabelle 4
  Intoxikation durch verschiedene Substanzen und deren Auswirkungen
  Substanzname                                         Mögliche Auswirkungen
  Benzodiazepine                                       Bewusstseinsminderung, Koma, Atemträgheit, Atemstillstand
  Opiate/Opioide                                       Koma, Atemträgheit, Atemstillstand, Hirnödem, Miosis
  Kokain                                               Hyperthermie, Hyperhidrosis, Mydriasis, Tachykardie, zerebrale Krampfanfälle, Euphorie,
                                                       Enthemmung, Aggressivität, paranoide Vorstellungen und Halluzinationen, Atemstillstand
                                                       und Koma
  Stimulantien                                         Hyperthermie, Hyperhidrosis, Mydriasis, Tachykardie, Tachypnoe, Euphorie, Erregung, para-
                                                       noide Vorstellungen und Halluzinationen, Angst, Suizidimpulse, Herzrhythmusstörungen,
                                                       hypertone Krisen, Krampfanfälle, Koma
  Halluzinogene                                        Hyperthermie, Mydriasis, Tachykardie, Übelkeit, Reflexsteigerungen, Intensivierung und
                                                       Verzerrung der Wahrnehmung, Erregung, Angst, Horrortrip, Halluzinationen, Aggressivität,
                                                       Hyperglykämie, Atemdepression, zerebrale Krampfanfälle
  Flüchtige Lösungsmittel                              Bewusstseinstrübungen, rauschartige Zustände
  Alkohol                                              Bewusstseins- und Orientierungsstörungen, illusionäre Verkennungen, Verlust des Zusammen-
                                                       hanges von Denken und Handeln, Gangunsicherheit, verwaschene Sprache, Aggressivität
  Anticholinergika (trizyklische Neuroleptika,         Delir, Agitation, epileptische Anfälle, Koma, Mydrasis, gerötetes Gesicht, Tachykardie,
  Clozapin, Olanzapin, Antiparkinson-Mittel)           QT-Zeit-Verlängerung, Herzrhythmusstörungen, Tachypnoe, Darmträgheit
                                                                                                                                       Quelle: Baranyi A

                                                                                                          c linic um neurop s y s ond era usgabe           11
Eine höhere Dosierung ist vom pharmakologischen Wirkmechanis-          zen wie Chlorprothixen, Prothipendyl und Haloperidol können als
     mus her nicht zu rechtfertigen und klinisch nicht empfehlenswert.      Mittel zweiter Wahl unter Berücksichtigung ihres Nebenwirkungs-
                                                                            profils Verwendung finden. Bei der Therapie mit Benzodiazepinen
     Diazepam und Chlorazepat neigen aufgrund ihrer langen Halb-            sind Substanzen mit mittellanger Halbwertszeit ohne aktive Meta-
     wertszeit und dem Vorhandensein von aktiven Metaboliten bei re-        boliten wie Lorazepam und Oxazepam zu bevorzugen. Bei der
     duzierter Exkretion zur Kumulation. Als Zusatzoption kann bei aku-     Verwendung von Benzodiazepinen sollte auf Toleranzphänomene
     ter Manie Valproat zum Einsatz kommen (nicht bei Schwangeren),         im Rahmen einer Abhängigkeit gedacht werden. Weiters muss
     das rasch aufdosiert werden kann. Diese Substanz kann auch zu-         eine bereits bestehende Benzodiazepinintoxikation in der Akut-
     sätzlich zu Aripiprazol und Lorazepam verabreicht werden.              situation berücksichtigt werden, nicht zuletzt um kumultative
                                                                            Effekte (z.B. Atemdepression) zu vermeiden. Eine Überwachung
     Die vorgestellten Therapieoptionen gelten für den nicht vorbehan-      und Monitorisierung des intoxikierten Patienten ist gegebenen-
     delten, aufgrund einer Schizophrenie oder bipolaren Störung agi-       falls erforderlich.
     tierten Patienten. Bei vorbehandelten Patienten müssen die Dosie-
     rungen der Strategien eventuell angepasst werden.                      7.3. Delir
                                                                            Das Delir ist eine akut auftretende, organisch verursachte psychi-
     7.2. Agitation aufgrund von Intoxikation                               sche Störung (syn. „akute organische Psychose“), die bei Therapie
     Das ICD-10 beschreibt Intoxikation als „vorübergehendes Zustands-      potenziell reversibel ist. Delirien stellen immer eine Notfallsituation
     bild nach Aufnahme von Alkohol und/oder anderen psychotropen           dar, die ein rasches therapeutisches Eingreifen erforderlich macht.
     Substanzen mit Störungen des Bewusstseins, kognitiver Funktio-         Dabei stellt eine verstärkte Überwachung des Patienten (speziell Vi-
     nen, der Wahrnehmung, des Affekts, des Verhaltens oder anderer         talfunktionen, Flüssigkeitsaufnahme und -ausscheidung) die Basis
     psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen (siehe Tabelle 4       der Behandlung dar, um eine lebensbedrohliche Situation zu ver-
     auf Seite 11).                                                         meiden. Das Delir entwickelt sich rasch und bietet in der Regel ei-
                                                                            nen beeindruckend fluktuierenden (undulierenden) Verlauf. Dies
     Die Vergiftungssymptome müssen dabei nicht immer in der typi-          ist ein wichtiges differenzialdiagnostisches Merkmal gegenüber ver-
     schen Substanzwirkung bestehen, so können etwa auch dämpfen-           worrenen, schizophrenen oder manischen Episoden. Gekennzeich-
     de Substanzen selten Agitiertheit und Überaktivität auslösen. Und      net ist das oftmals als „akuter Verwirrtheitszustand“ bezeichnete
     Stimulanzien können wiederum auch zu sozialem Rückzug und in-          Delir durch ein Mischbild folgender Symptome (nach ICD-10):
     trovertiertem Verhalten führen.                                        • Bewusstseinsstörung als Kernsymptom, zumindest mit einge-
                                                                               schränkter Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu richten, zu halten,
     In der Behandlung der Agitation des intoxikierten Patienten stehen        zu verlagern
     – neben einer suffizienten Pharmakotherapie – folgende Maßnah-         • Reduzierte Kognition (Gedächtnis-, Auffassungsstörung, zeitliche
     men zur Verfügung:                                                        Desorientiertheit etc.)
     • Allgemeines Gespräch, Anwesenheit: für den Betroffenen bereit-       • Wahrnehmungsstörungen (insbesondere optische Halluzinatio-
       stehen                                                                  nen, Wahneinfälle)
     • Beziehungsangebot                                                    • Psychomotorische Störungen (entweder Hyperaktivität bzw. Agi-
     • Aktiv zuhören                                                           tation oder Hypoaktivität oder wechselhaft)
     • Angstminderung                                                       • Affektive Störungen (z.B. Angst, Reizbarkeit, Apathie, Ratlosigkeit)
     • Förderung von Selbstsicherheit                                       • Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus
     • Fördern der eigenen Verantwortlichkeit
     • Förderung der Selbsterkenntnis                                       Diese Kriterien, die das psychische Erscheinungsbild des Delirs klar
     • Ablenkung                                                            festlegen, sind – unabhängig von der Ursache – bemerkenswert
     • Krisenintervention                                                   einheitlich. Zur Klärung der organischen Ursache müssen Zusatzbe-
     • Verhaltensmodifikation                                               funde erhoben werden. Damit ergibt sich eine wesentliche Schnitt-
     • Verhaltensregulierung                                                stelle zwischen der Psychiatrie und der somatischen Medizin. Ein
     • Gemeinsame Ziele definieren                                          Delir ist keineswegs immer durch Agitation gekennzeichnet. Vor al-
     • Grenzen aufzeigen                                                    lem bei älteren Menschen besteht die Gefahr, dass es im Rahmen
     • Stimmungsregulation                                                  der Demenz bei Dekompensation (z.B. durch Flüssigkeitsdefizit
     • Deeskalierendes Gespräch                                             oder Reizdeprivation) zu „stillen“ (hypoaktiven) Delirien kommt, die
     • Räumliche Beschränkung                                               akut Desorientiertheit und Hilfsbedürfnis mit sich bringen.

     Wenn nötig:                                                            Die Ursachen eines Delirs können sehr unterschiedlich sein, die
     • Aufsicht/Sitzwache                                                   häufigste Ursache ist jedoch die akut dekompensierte Demenz. Mit
     • Kameraüberwachung                                                    zunehmendem Alter steigt das Risiko. Alkohol- und Substanz-asso-
     • Fixierung                                                            ziiertes sowie postoperatives Delir treten auch relativ häufig auf
                                                                            (siehe Tabelle 5).
     Mittel der ersten Wahl in der Pharmakotherapie bei intoxikierten
     agitierten Patienten sind atypische Antipsychotika und Benzodia-       Folgende diagnostische Hilfsbefunde sollen in multidisziplinärer Zu-
     zepine. Je nach Zustand des Patienten und abhängig von der             sammenarbeit erwogen und interpretiert werden:
     Substanz besteht die Möglichkeit unterschiedlicher Darreichungs-       • Blutdruck
     formen (oral, sublingual, i.m., i.v.). Atypische Antipsychotika, die   • Temperatur
     bei akuter Agitation verabreicht werden können, sind Aripiprazol,      • Labor: Glukose, Elektrolyte, Kreatinin, Leberenzyme, C-reaktives
     Olanzapin, Quetiapin, Risperidon und Ziprasidon. Ältere Substan-         Protein, Blutbild, Hormone

12   c li n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Sie können auch lesen