Die Evolution der Mobilität - Zukunftsinstitut
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Impressum Herausgeber ADAC e.V. Hansastraße 19 80686 München Telefon: 089 7676-0 E-Mail: adac@adac.de Redaktion Zukunftsinstitut GmbH Kaiserstraße 53 60329 Frankfurt am Main Telefon: 069 2648489-0 E-Mail: info@zukunftsinstitut.de Projektleitung Christian Rauch Lektorat Franz Mayer Grafik-Design Christoph Almasy Cover-Bild Shutterstock, Tomas Picka © ADAC e.V., 2017
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Aufbruch in ein neues, multimobiles Zeitalter Motive und Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Die Treiber der Mobilität von morgen Mobile Lifestyles 2040 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Eine Typologie der Mobilitätsgesellschaft von morgen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Funktionsweisen der Mobilität von morgen Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Lokale Strukturen der Mobilität von morgen Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Handlungsfelder für eine zukunftsweisende Mobilitätspolitik Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Vorwort Die Welt wie wir sie kennen, ist in Bewegung. Die Herausforderungen der Zukunft sind vor allem die Herausforderungen einer individuellen, intelli- genten und vernetzten Mobilität. Mobilität treibt uns an, sie bewegt uns. Die Menschen wollen Mobilität, sie möchten mobil sein. Persönliche Mobilität entspringt dem Wunsch, selbst zu entscheiden, wann, wie und wohin wir uns bewegen. Mobilitätsmuster werden vielschichtiger und komplexer. Das Bedürfnis nach Sicherheit, Gesundheit, intakter Umwelt und allgemeiner Lebensqualität steigt. Die Digitalisierung wird zur zentralen Grundlage der Prinzipien der Mobilität von morgen, die vor allem eines zu leisten hat: Sie muss bedürfnisorientiert sein, das Leben einfacher und sicherer machen. Für den ADAC lauten vor diesem Hintergrund die entscheidenden Fragen: Wie können wir als Institution einen Beitrag leisten, die Mobilität der Menschen auch künftig sicherzustellen? Wie können wir die Menschen bestmöglich auf dem Weg in ihre mobile Zukunft begleiten? Welche neuen Wege sollten Wirt- schaft, Politik und Gesellschaft heute einschlagen? Welche Entscheidungen sollten wir heute treffen, um die Anforderungen der mobilen Welt von morgen erfolgreich zu meistern? Mit der vorliegenden Studie „Die Evolution der Mobilität“ möchten wir eine Diskussion darüber anstoßen, welche Grundmuster die Mobilität von morgen bestimmen könnten. Wir haben das renommierte Zukunftsinstitut beauftragt, ausgehend von den Bedürfnissen der Menschen zu untersuchen, welche lang- fristigen Trends und Entwicklungen unsere Mobilität bis ins Jahr 2040 domi- nieren könnten. Welche Rolle das Automobil der Zukunft einnimmt, wie inter- und multimodale Reiseketten der Zukunft aussehen könnten, wie die Städte der Zukunft ihre Verkehrsprobleme lösen und wie individuelle Mobilität auch abseits der Ballungsräume künftig sichergestellt werden kann. Die Ergebnisse der Studie haben uns zum Teil überrascht, zum Teil überzeugt, wieder andere Erkenntnisse regen zum Nachdenken oder auch zum Wider- spruch an. Klar scheint eines: Uns steht keine disruptive Mobilitätswende bevor, sondern eine evolutionäre Entwicklung und Veränderung, die umso tiefgreifender und grundlegender sein wird. Ich lade Sie herzlich ein, mit dem ADAC in einen Dialog über die Zukunft der Mobilität zu treten! Dr. August Markl Präsident des ADAC
Die Evolution der Mobilität Aufbruch in ein neues, multimobiles Zeitalter Die Art und Weise der Lebensführung wird Optionenvielfalt, die Möglichkeit, Neues zu individueller. Deshalb prägt kaum etwas entdecken und zu erfahren. Weil Mobilität unser Leben so sehr wie die Mobilität. Sie Beweglichkeit bedeutet, Veränderungs- und ist unentbehrlich. Mobil sein ist die Vor- Wandlungsfähigkeit garantiert. Die indivi- aussetzung für soziale Teilhabe und gesell- duelle Mobilität entspringt dem Wunsch, schaftlichen Fortschritt, für wirtschaftliches selbst zu entscheiden, wann, wie und wohin Wachstum, Selbstverwirklichung und man sich bewegt. Das hat dafür gesorgt, individuellen Erfolg. Mobilität entscheidet dass Mobilität weltweit zum Ausdruck von darüber, ob Menschen ihre beruflichen und Freiheit, Unabhängigkeit, Individualität und privaten Ziele erreichen, ihre Wünsche und Selbstbestimmung geworden ist. Das wird Anforderungen miteinander vereinbaren, auch im Jahr 2040 noch so sein. ihre Lebensqualität steigern können. Das heißt, Menschen wollen, sie müssen aber auch mobil sein. Steigender Bedarf, neuer Mix Mobilität sorgt für einen gelingenden Individualisierung als Alltag ebenso wie für die Errungenschaften wichtigster Treiber des globalen Marktes. Sie ist nicht nur ein Grundbedürfnis, sondern eine zentrale Einer der größten Treiber von Verände- Anforderung moderner Gesellschaften. Das rungen in Wirtschaft und Gesellschaft Ergebnis: Die Welt im 21. Jahrhundert ist ist der Megatrend Individualisierung. Er nicht nur durch einen weiter wachsenden bestimmt insbesondere wie kaum eine Mobilitätsbedarf gekennzeichnet, sondern andere Entwicklung den Wandel der vor allem durch eine zunehmende Vielfalt Mobilität und die Nachfrage nach neuen an Mobilitätsformen. Mobilitätsangeboten. Das Streben nach Individualität führt zu einer Ausdiffe- Das macht diesen Bereich zu einem der renzierung von Weltanschauungen, einer größten Wachstumsmärkte. Alles in allem Vielfalt an Lebensentwürfen, Biografien und investieren private Haushalte in der EU Konsumgewohnheiten. Jeder kann heute jährlich über eine Billion Euro in ihre Mobi- sein Leben viel stärker nach persönlichen lität, in Deutschland sind es pro Kopf rund Wünschen und eigenen Vorstellungen ge- 2.600 Euro im Jahr, jeder siebte Euro fließt stalten. Das erzeugt eine Freiheit der Wahl, hier in Leistungen, die das Unterwegssein einen zunehmenden, vor allem aber einen ermöglichen (European Commission 2016). veränderten Mobilitätsbedarf. Denn zu- Knapp 1,2 Billionen Personenkilometer legen gleich steigt dadurch auch die Komplexität die Deutschen Jahr für Jahr zurück – per in den Lebensbedingungen der Menschen: Pkw, Bus und Bahn, mit Flugzeugen oder Allgemeine Flexibilitätsanforderungen Schiffen. Insgesamt verzeichnet der Perso- nehmen ebenso zu wie der Wunsch nach nenverkehr in der Bundesrepublik seit dem Unabhängigkeit. Alltägliche Versorgungs- Jahr 2000 einen Anstieg um über 11 Prozent. wege und die Familienkoordination bleiben Nach Prognosen der Europäischen Kommis- genauso bedeutsam wie die Pflege vielfäl- sion wird der Mobilitätsbedarf hierzulande tiger sozialer Kontakte. Nicht zuletzt sorgen in den nächsten Jahrzehnten weiterhin der Wandel der Arbeitswelt, zunehmende kontinuierlich ansteigen, bis 2040 auf mehr Freizeitaktivitäten, Reisen und Tourismus als 1,3 Billionen Personenkilometer. Gut drei für steigende Mobilitätsansprüche. Viertel davon werden auch in Zukunft auf das Auto zurückgehen. Damit bleibt das Erst das Zusammenspiel der Megatrends In- Auto auf absehbare Zeit das Verkehrsmittel dividualisierung und Mobilität sorgt für die Nummer eins. Zu sehr ist das Mobilitätsver- Realisierung neuer Chancen, eine größere halten auch in Zukunft mit dem Bedürfnis 6
Einleitung STEIGENDER MOBILITÄTSBEDARF Personenverkehr in Deutschland (Milliarden Personenkilometer) Pkw und Motorräder Öffentlicher Straßenverkehr Luftverkehr Schienenverkehr Binnenschifffahrt 1.500 1.200 900 600 300 0 2000 2020 2030 2040 Quelle: European Commission; Prognose: EU Reference Scenario 2016 nach individueller Fortbewegung verknüpft. der Persönlichkeit und des sozialen Status, Und individuelle Mobilität ist für die verliert seine einstigen Vorteile gegenüber Menschen eine so elementare Wohlstands anderen Verkehrsmitteln, insbesondere erfahrung, dass sie darauf nicht verzichten seine eigentliche Funktion: Angenehm und wollen. Auch im Jahr 2040 wird daher das schnell von A nach B zu kommen gelingt Auto noch der Garant für räumliche und mit ihm angesichts überfüllter Straßen und zeitliche Flexibilität sein. staugeplagter Städte nicht mehr überall. Das Auto wird es vielerorts daher schwer Smart Mobility: Der langsame Ab- haben und sich im Jahr 2040 nur noch dann schied vom Auto, wie wir es kannten behaupten können, wenn es mit ihm gelingt, individuelle Fortbewegung und öffentlichen Dass das Auto dennoch seine alles domi- Verkehr zu verknüpfen: Nur wenn es sich nierende Stellung verliert, die es bis zum also in den Mobilitätsmix von morgen klug Beginn des 21. Jahrhunderts hatte, hängt und reibungsfrei einfügt und künftig zu mit seiner veränderten Funktionalität einer wirklich bedarfsgerechten Mobilität zusammen. Mitnichten bleibt daher alles beiträgt. Der Pkw bleibt ein wichtiges wie gehabt. Denn was die Statistik nicht Fortbewegungsmittel. Aber im Selbstver- verrät: Der Konsum von Mobilität, wie wir ständnis der Menschen wird er eben nicht ihn jahrzehntelang praktiziert haben, erlebt mehr zwingend die erste Wahl sein, sondern gegenwärtig eine historische Zäsur. Was vor als Teil neuer, integrierter Mobilitäts- und uns liegt, ist der Beginn eines neuen, multi- Verkehrssysteme eine – weitgehend gleich- mobilen Zeitalters. Wir stehen vor ähnlichen berechtigte – Option unter anderen. Umwälzungen wie nach der Erfindung des Autos vor 125 Jahren. Hinter der vordergrün- Die Krise des Automobils ist zugleich digen Kontinuität verbirgt sich ein evolutio- seine große Chance: Autos werden 2040 närer Wandel des Systems der Mobilität, der in allererster Linie Mittel zum Zweck sein nicht unterschätzt werden darf. – allerdings nicht nur der Fortbewegung, sondern zum Beispiel auch als elementarer Das eigene Auto, das lange Zeit vor allem Bestandteil eines intelligenten, nachhaltigen für die Deutschen ein Symbol für Freiheit Energiemanagements. Aus Status-Mobilität und Unabhängigkeit war, ein Ausdruck wird Smart Mobility. 7
Motive und Bedürfnisse Der Megatrend Individualisierung ist der wich- tigste Treiber eines weiter wachsenden Mobili- tätsbedarfs und eines vor allem auf individueller Fortbewegung basierenden Verkehrsaufkommens. Doch darüber hinaus gibt es vielfältige Motive, warum Menschen mobil sind – sein wollen und sein müssen. Manche verlieren an Bedeutung – Mo- bilität als klassische Luxuserfahrung und als Sta- tusrepräsentation beispielsweise –, andere bleiben bestehen und bekommen eine neue Bedeutung. Die Mobilitätsmuster werden vielschichtiger und komplexer. Die Bedürfnisprofile der Menschen hinsichtlich ihrer Mobilitätswünsche und -anfor- derungen verschieben sich. Neue Player und inno- vative Plattformen orientieren sich ausschließlich an den veränderten Bedürfnissen und Motiven der Menschen, indem sie nutzer- und bedarfsorien- tierte Mobilitätsangebote schaffen, die das Leben einfacher machen. Zugleich steigen jedoch die Ansprüche und Erwartungshaltungen. Die Frage ist: Welche Bedürfnisse und Anforde- rungen sind in der Mobilität von morgen beson- ders wichtig? 9
Die Evolution der Mobilität 1. Flexibilität, Unabhängigkeit und Job und Freizeit weicht einem hochgradig Work-Life-Blending flexiblen, mobileren Lebensstil, der vor allem auf eines abzielt: Stärkere individuelle Selbst- Unsere Lebenswelt erfordert mehr Flexi- bestimmung, Unabhängigkeit sowie die kluge bilität und Mobilität, Entscheidungs- und Verbindung von Privat- und Berufsleben bei- Anpassungsfähigkeit, permanente Aufmerk- spielsweise durch Home-Office-Modelle und samkeit und Erreichbarkeit als je zuvor. Mobile-Office-Lösungen. Gerade Letzteres Immer mehr Menschen wollen und müssen wird zur großen Aufgabe der kommenden mobiler leben, arbeiten und konsumieren. Jahre, statt weiterhin krampfhaft den Spagat Gerade die Lebensstile von Familien, jungen zwischen zwei scheinbar trennbaren Welten Großstädtern und international vernetzten zu versuchen. Die Idee der Work-Life-Balance High Potentials erfordern schon heute ein weicht daher zunehmend einem neuen Ver- effektives Zeit- und Mobilitätsmanagement. ständnis von Vereinbarkeit: Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen Lösungen finden, die steigende Belastungen durch geschäftliche und berufliche Anforderungen kompensieren und zu einem besseren Work-Life-Blending In Zukunft wird zeit- und führen. ortsunabhängiges Arbeiten zur 2040 wird das Arbeiten dank digitaler Ver- netzung, Cloud-Lösungen und innovativer Normalität. Workplace-Tools ganz überwiegend zeit- und ortsunabhängig möglich sein. Ob unterwegs, von zu Hause, beim Kunden, im Café oder am Strand – mobiles Arbeiten wird zur neuen Norm. Durch Home-Office-Modelle und Mo- Die Flexibilisierung des privaten wie des bile-Work-Technologien löst sich die einstige beruflichen Lebens sorgt dafür, dass für die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben meisten Menschen die Zahl der Orte steigt, vollständig auf, mit vielen Auswirkungen von die sie tagtäglich ansteuern, und mit ihr die den Arbeitszeiten bis hin zur IT-Sicherheit. So möglichen Wege. sehr flexibles Arbeiten von Angestellten ge- wünscht und gefordert wird, so sehr müssen Der bisherige uniforme Nine-to-five-Arbeits- neue Wege für eine funktionierende, kluge rhythmus mit seiner Fixierung auf Ge- Verbindung von privaten und beruflichen schäftszeiten und der starren Trennung von Anforderungen gefunden werden. Foto: DavidMartynHunt CC BY Arbeiten im Home-Office: Die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben löst sich zunehmend auf 10
Motive und Bedürfnisse Autos als Third Places Die große Chance autonomer Fahrzeuge liegt darin, dass sie künftig verstärkt soziale Funktionen als Third Places er- füllen können: Verkehrsmittel werden zu Refugien zwischen Arbeitsplatz und Zuhause, in denen man sich gerne aufhält, wohlfühlt, seine Zeit aber auch sinnvoll verbringen kann, während man unterwegs ist. Wenn Autos in Zukunft von künstlicher Intelligenz gelenkt werden, müssen die menschlichen Fahrer sich nicht mehr auf das Verkehrsgeschehen konzentrieren, vielmehr können sie sich entspannen, lesen, Videos schauen oder Arbeit erledigen. Damit ändert sich die Funktion des Autos im Alltag radikal. Selbstfahrende Autos werden dann erstmals wirklich zur Verlän- gerung des Büros und des Wohnzimmers samt multimedialer, digitaler Vernetzung, die die Erweiterung der Lebenswelt ins Virtuelle unterstützen. Foto: DHL Paketlieferung in den Kofferraum: Das Auto wird zur Packstation 2. Nahversorgung: Mobiler Lebens- wandel – situativer Konsum Mit voranschreitender Urbanisierung bei Servicewelten am Point of Sale kombiniert, gleichzeitiger Zersiedelung wächst das um dem Kunden eine auf ihn zugeschnit- Verkehrsaufkommen – gerade aufgrund tene persönliche „Experience“ zu bieten. Die alltäglicher Wege zur individuellen Versor- Individualität des Shopping-Erlebnisses gung mit Waren. Städte und Ballungsräume wie auch die forcierte Revitalisierung von stehen vor besonders großen Heraus- Innenstädten als Handelslandschaft sorgt forderungen. Hier verdichtet sich das auch in Zukunft für ein anhaltend hohes Verkehrsaufkommen auf engstem Raum, Mobilitätsaufkommen. was häufig zum Stillstand führt. Personen und Güter kommen nicht schnell genug Unsere Gesellschaft ist nicht nur hoch- ans Ziel. So wird auch die Neugestaltung gradig mobil, sie ist oft auch sprunghaft der Nahversorgung im urbanen Raum zu und ungeduldig geworden. Der immer einem dynamischen Innovationsfeld. Denn mobilere Lebenswandel führt zu einem auch das starke Wachstum des E-Com- mobileren, situativen Konsum. Getätigt merce führt nicht etwa zu weniger Versor- wird er zunehmend an neuen, wachsenden gungswegen. Im Gegenteil: Er erzeugt ein Verkaufsorten, praktisch „im Vorbeigehen“. massiv steigendes Sendungsaufkommen Es sind vor allem die Orte des Transits, die und damit neue Anforderungen an die zum Shopping einladen. Tankstellen haben Handelslogistik und an Paketdienst- längst ihre Geschäftsstrategie umgestellt leister, die mehrfach, dezentraler und in – hin zum Retail-Shop für die Nahver- kleineren Mengen ausliefern müssen. Der sorgung rund um die Uhr. In dem Maße, Online-Handel mündet auch keineswegs in wie die klassischen Knotenpunkte in der der vollständigen Verdrängung stationärer Verkehrsinfrastruktur zu Third Places Geschäfte. Der stationäre Handel investiert werden, drängt dort der Handel immer vielmehr hohe Summen in den Ausbau des stärker in den Vordergrund: Mobility Hubs Online-Standbeins, um im Wettbewerb mit wie Bahnhöfe, Flughäfen oder Hotels den reinen Onlinern zu bestehen. Die klas- realisieren mit Shopping- und Gastrono- sischen Vorzüge des stationären Handels mieflächen inzwischen einen Großteil – hohe Beratungsqualität und anfassbare ihrer Erlöse. Das fördert die Verbindung Produkte – werden immer häufiger mit von Unterwegssein und alltäglicher der Inszenierungen von Produkt- und Versorgung. 11
Die Evolution der Mobilität 3. Soziale Kontakte und Zudem treffen Familienmitglieder immer Familienkoordination häufiger individuelle Lebens- und Konsum entscheidungen, was die Alltagskomple- Die Pflege sozialer Beziehungen, mensch- xität weiter erhöht. Hinzu kommt: Mit der liche Begegnungen oder die ganz praktische Herausbildung breiter Speckgürtel rund Bewältigung des Familienalltags machen um Großstädte und der Zersiedlung des auch im digitalen Zeitalter physische, urbanen Raums verlängern sich individuelle räumliche Mobilität unverzichtbar. Gemein- Wegstrecken. Mobilität ist daher nicht nur same Aktivitäten in der Freizeit verlangen der Garant für Lebensqualität, Selbstbestim- genauso nach Mobilität wie der Wunsch mung und hohen Freizeitwert, sondern ein nach kulturellen Erlebnissen und Kontakten alltagspraktisches Erfordernis. zu Verwandten, Freunden, Bekannten und Kollegen. Menschen wollen und müssen sich Indem das Sozial-, Freizeit- und Famili- daher auch künftig persönlich austauschen. enleben sich immer öfter an vielen Orten Sie sind kulturell so geprägt, dass sie not- parallel abspielt, findet es nicht selten unter wendigerweise mobil sind, denn Mobilität einem erheblichen Maß an Zeitnot statt. In entspringt immer auch dem Drang nach jedem Fall erhöht sich mit dem Synchroni- gesellschaftlicher Teilhabe. Man möchte sations- auch der Mobilitätsaufwand. Durch oder muss dazugehören, sei es als Mitglied die multiplen Mobilitätsanforderungen im von Familien, Freundeskreisen oder sozialen Alltagsleben verstärkt sich der Wunsch nach Gruppierungen. Zugleich erhöht gerade die Komplexitäts- und Stressreduktion massiv. Allgegenwärtigkeit digitaler Kommunikati- onsformen das Bedürfnis nach realen Orten und Optionen zur persönlichen Interaktion 4. Berufliche Anforderungen: mit Menschen, ob mit der Familie und Mobiles Arbeiten 2040 Freunden oder für neue Bekanntschaften. Gesellschaftliche Trends und disruptive Gleichzeitig vervielfältigen sich Lebens- Prozesse in der Wirtschaft sorgen für einen formen und Familienstrukturen. Das erhöht fundamentalen Wandel der Arbeitswelt. Der zwangsläufig den Mobilitätsaufwand. Zeich- Übergang von der klassischen Industrie- hin neten sich etwa Familienverbünde, aber zu einer Service- und Netzwerkökonomie ist auch Wohn- und Arbeitsorte früher durch geprägt von einer neuen Kultur des Arbei- zeitliche und räumliche Nähe aus, driften sie tens und zunehmend digitalen Wertschöp- in Zukunft stärker auseinander. Das verleiht fung. Die Arbeitsorganisation findet im Jahr der Mobilität eine besondere Bedeutung 2040 unter völlig neuen Bedingungen statt: zur Aufrechterhaltung von Beziehungen. Flexible, team- und projektorientierte Ar- beitsformen sind der Normalfall. Kollektive Arbeitszeitregelungen werden zwar nicht vollständig verschwinden, sodass auch in Zukunft Arbeitswege an mehr oder weniger feste Tageszeiten gebunden sein werden. Doch mobiles, vernetztes Arbeiten wird inte- graler Bestandteil des Alltags sein – mit allen Konsequenzen für die Unternehmensorgani- sation und -kultur, die Businessmodelle und Produkte, die Kommunikation etc. Unternehmen sind immer seltener geschlos- sene, hierarchische Systeme, sondern offene Netzwerke und Plattformen, die durch Kooperation und Kollaboration extrem agil, kunden- und bedarfsorientiert agieren und neue, vielfältige Business-Ökosysteme erschaffen. Solche Netzwerke erfordern höhere Selbstverantwortungs- und Auto- nomiegrade der Mitarbeiter. Dadurch steigt die Komplexität von Arbeitsumfeldern – mit Foto: flinc GmbH Freizeitaktivitäten erzeugen einen anhaltend hohen Mobilitätsbedarf weitreichenden Folgen. 12
Motive und Bedürfnisse Foto: Unsplash Clem Onojeghuo Wegzeit wird zur Arbeitszeit: Komfortabel zu reisen und zugleich produktiv sein zu können wird immer wichtiger In Deutschland gehört laut Erhebungen erreichen. Verkehrsmittel, aber auch Bahn- des Bundesinstituts für Bevölkerungs- höfe, Flughäfen, Hotels, Co-working Spaces forschung (BiB) für rund 14 Prozent und werden zum festen Bestandteil unserer damit für Millionen Erwerbstätige eine sehr Arbeits- und Lebenswelt. Sie bilden die hohe berufliche Mobilität schon heute zum „Hardware“ des Mobile Office in der Netz- Alltag. Ihr Anteil wird in den kommenden werkökonomie von morgen. Smart-Travel Jahrzehnten weiter steigen. Dass Pendler bedeutet dann nicht nur zuverlässig, sicher generell mehr Stress empfinden und und bequem zu reisen, sondern zugleich gesundheitliche Nachteile in Kauf nehmen sinnvoll arbeiten zu können – und nicht müssen, ist in vielen Untersuchungen nach- zuletzt sich gesund fortzubewegen. gewiesen worden. Zuletzt hat eine Studie des BiB die negativen Folgen innerhalb der Die steigende Digitalisierung und Virtuali- Gruppe belegt: Wer mehr als eine Stunde für sierung von Geschäftsprozessen verstärkt die Fahrt zur Arbeit braucht, hat deutlich den Trend. Doch entgegen dem Drohbild mehr physische und psychische Nachteile einer von künstlicher Intelligenz bestimmten als Personen, die aufgrund ihres Jobs an Arbeitswelt werden Computer, Software und mindestens 60 Tagen auswärts übernachten Algorithmen menschliche Mitarbeiter nicht (Rüger/Schulze 2016). überflüssig machen. Weil Wissen, Talent und Kreativität die zentralen Erfolgsfaktoren Flexibel, unabhängig von Ort und Zeit ar- sind, kommt es künftig auf ein kluges Zusam- beiten zu können wird immer wichtiger. Der menspiel von Menschen und Maschinen an. Wunsch, komfortabel zu reisen und zugleich produktiv sein zu können, steigt und damit Die Arbeitswelt von morgen wird aber nicht die Nachfrage nach einer Infrastruktur fürs durch eine 360-Grad-Virtualisierung geprägt mobile Arbeiten, die Wegzeiten zu wirklicher sein. Der Mensch wird in der Wertschöpfung Arbeitszeit werden lässt. Wenn es darum auch 2040 noch eine wichtige Rolle spielen. geht, Reisezeiten effektiv fürs Arbeiten Auch in der digitalen Ökonomie werden so- nutzen zu können, sind digitale Vernetzung, ziale Prozesse und menschliche Fähigkeiten ruhige Arbeits- und Meeting-Möglichkeiten enorme Bedeutung haben, die auf persönli- aber erst der Anfang. Künftig wird es darum chem Austausch, auf Teamstrukturen und gehen, kluge, ganzheitliche Konzepte für interdisziplinärer Zusammenarbeit basieren. mobiles Arbeiten zu entwickeln. Arbeitgeber Das führt in einer zunehmend dezentral wie auch Mobilitätsdienstleister müssen organisierten Arbeitswelt auch zu einem produktive, kreative und sichere Arbeitsum- hohen berufsbedingten, aber individuel- felder schaffen – mit allem, was dazugehört, leren Pendlerverkehr und einem weiterhin um gute Leistungen auch unterwegs zu steigenden Bedarf an Business-Mobilität. 13
Die Evolution der Mobilität 5. Freizeitaktivitäten: fungieren: Sie werden Freizeitaktivitäten Zwischen Mobilitätsmanagement und Mobilitätsservices individuell auf spe- und Entschleunigung zifische Anforderungen zuschneiden – von der Fahrzeit und den Kosten bis hin zu den Die Multi-Mobilität prägt nicht nur das gewünschten Transportmitteln. Berufsleben, sie überträgt sich auch in die Freizeit: Ob Shopping, Wochenendtrip, Das Freizeitverhalten gibt mehr als andere Familienbesuche oder sportliche Aktivitäten Lebensbereiche Auskunft über die wahren – Mobilität wird zur integralen Vorausset- Bedürfnisstrukturen und Befindlichkeiten zung des Freizeitlebens der allermeisten unserer Gesellschaft. Wurde die Zeit Menschen. jenseits der Arbeit früher vorrangig dazu genutzt, sich auszuruhen und passiv zu Unternehmungen, Ausflüge, Sport, auch erholen, dient sie in immer stärkerem Maße bestimmte Formen von Mobilität selbst der körperlichen Bewegung und aktiven – etwa Motorradfahren – bleiben in den Erlebnissuche als Ausgleich zu beruflichen kommenden Jahrzehnten ein wichtiger Tätigkeiten und zum Joballtag. Freizeit- Teil der Freizeitaktivitäten. Das schließt gestaltung findet neue Ausdrucksformen auch die Freude am sportlichen Fahren und verbindet sich beispielsweise immer ein, die künftig jedoch zunehmend von öfter mit dem Sport. Bewegung wird zu öffentlichen Straßen in „Freizeitbiotope“ einem elementaren Baustein der aktiven verlagert werden wird. Der unmittelbar Freizeitgestaltung, der Gesunderhaltung, der aus bestimmten Freizeitaktivitäten und Lebensenergie. Damit wächst inzwischen aber auch der Wunsch nach Entschleunigung und acht- samer Mobilität in der Freizeit, ihre Sinnhaf- tigkeit und Wirkung rücken stärker in den Trendwende in der Freizeit Fokus. Das sorgt für eine Trendwende hin zu mehr Qualität und Zeit für Genuss in der mobilität: mehr Qualität, Genuss Freizeitmobilität. und Zeitautonomie. 6. Reisen: Entdecken, Erholung und Genuss Die Deutschen gehören zu den Tourismus- -sportarten resultierende Verkehr, wenn weltmeistern. Kaum einer verreist so viel. man etwa zum Laufen in den nahegelegenen Heute wächst eine neue Generation von Wald, zum Mountainbiken mit dem Auto Kosmopoliten heran, die global denkt und ins Umland von Städten fährt oder zum lokal handelt. Ein Grund für ihre offene, Skifahren in die Berge und zum Wassersport pluralistische Haltung ist ihre zunehmende ans Meer, wird weiter zunehmen. Dieser Mobilität. Menschen, die reisen, hinter- wachsende freizeitbedingte Mobilitätsbe- fragen eher die eigene Sozialisation und darf muss in der Gestaltung der Verkehrs- Weltsicht. Für die meisten 18- bis 30-Jährigen wege und -infrastruktur auch künftig sind regelmäßige Reisen völlige Normalität. mitbedacht werden. Weil das so ist, ändern sich aber auch die Reisebedürfnisse. Es geht um Erlebnisse, Er- Wie das Arbeitsleben unterliegt auch die fahrungen und Emotionen. Tourismus wird Freizeit vielfach einer engen Taktung und zur kreativsten Möglichkeit von Mobilität. Logistik, die ein effektives Mobilitätsma- nagement erfordert. Integrierte Mobilitäts- Erleben ist das neue Erholen angebote eröffnen gerade in der Freizeit Der heutige Tourist tummelt sich in abge- die Möglichkeit zur einfachen, verkehrs- schotteten Tourismuswelten. Durch die mittelneutralen Wege- und Reiseplanung Globalisierung werden sich diese Welten vom Start bis zum Ziel. Mittelfristig werden immer ähnlicher. Das gilt vor allem für die intelligente Planungstools kontextbezogene Freizeitgesellschaft. Sie gleicht sich auch Services bereitstellen und als „digitale in weit voneinander entfernten Regionen Assistenten“ bei der Entscheidungsfindung an. Aus diesem Grund wollen immer mehr 14
Motive und Bedürfnisse Reisende keine „Touristen“ mehr sein. Die Tourismusbranche steht vor einem dis- ruptiven Wandel. Tourismus hat einst den Begriff des „Fremdenverkehrs“ abgelöst. In Zukunft geht es um „Hospitality“ und „Communities“. Gerade in einer digitalen Welt ist es die menschliche Begegnung, sind es emotionale Erlebnisse, die wieder wichtig werden und den Unterschied machen. Es geht darum, die Lebensqualität der Gäste zu verbessern und damit ein tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis zu befriedigen – Erholung, Inspiration, Freunde treffen und mit ihnen eine schöne Zeit verbringen. Das Leben der Menschen ist längst zu einem Alltagstourismus geworden. „Touristifica- tion“ nennt das Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Und wo der Alltag touristisch – also vom ständigen Verschieben von Ort und Zeit – geprägt ist, Foto: outstandinginthefield.com sehnt man sich nach Reisen an Orte, an Erholung, Inspiration, Freunde treffen: Gemeinsame Erlebnisse als Mobilitätsmotiv denen man ankommt. Slow Culture: Nicht alles wird schneller Beim Reisen etabliert sich jenseits von Doch während der Mobilitätsaufwand steigt, Pauschalurlaub, Massentourismus und wird die Zukunft nicht zwingend schneller. Jetset-Mythos allmählich Slow Travel als Jahrzehntelang war das Streben nach erfolgreiche neue Form von Erlebnisreisen. Fortschritt vom Glauben an Beschleunigung bestimmt. Wer im Wettbewerb halbwegs be- Sicherheit wird zum strategischen Thema stehen will, muss schnell, wer siegen will, der Sicherheit beim Reisen ist seit jeher ein zen- Schnellste sein. Wer die eigene Entwicklung trales Bedürfnis der allermeisten Menschen. voranbringen möchte, sollte die Zeit so effi- Sie bekommt aber in Zukunft neue Bedeu- zient wie möglich nutzen. Entscheidungen tung. Denn während der Verkehr auf den im Management, Innovationsprozesse, Straßen immer sicherer wird, ist die Welt des Immobilienprojekte, kreative Geistesblitze Tourismus in den vergangenen zehn Jahren und vor allem beim Reisen – wenn etwas immer unsicherer geworden. zu lange dauerte, war es schlecht. Doch die typische Steigerungslogik der alten Indust- Humanitäre Katastrophen, globale Krisen riegesellschaft wird zunehmend hinterfragt. und politische Instabilität bis hin zu „Immer mehr, immer höher, immer weiter, Kriegen haben dafür gesorgt, dass Länder immer schneller“ – allmählich wird klar, dass und Regionen, die lange Zeit zu sicheren dieses Prinzip nicht mehr unbedingt zum Destinationen zählten, von der Landkarte Ziel führt. des Tourismus gestrichen werden mussten. Internationaler Terrorismus ist ein schwer Einiges spricht dafür, dass das Zeitalter, in kalkulierbares Risiko geworden, von dem dem allein das Tempo den Pulsschlag der auch europäische Länder und Metropolen Ökonomie bestimmte, zu Ende geht. Im nicht verschont bleiben. Jahr 2040 werden wir in einer neuen Ära der Achtsamkeit angekommen sein, in der Fragen der Sicherheit werden daher zu Schnelligkeit längst nicht mehr überall das einem strategischen Thema: Die tatsäch- Maß der Dinge ist. Gerade in der Freizeit liche Sicherheit, aber auch subjektiv und beim Reisen macht sich Entschleuni- wahrgenommene wird immer mehr das gung bemerkbar. Nicht das Höchsttempo Reise- und Mobilitätsverhalten bestimmen. bestimmt die mobile Gesellschaft von Wohin und wie Menschen künftig (noch) morgen, sondern die Art der Fortbewegung sicher verreisen können, wird zur zent- und wie wir tatsächlich „am besten“ ans Ziel ralen Aufgabe von Reiseveranstaltern und kommen. Mobilitätsdienstleistern. 15
M OB I L E L I F E S TYLES 2040 Eine Typologie der Mobilitäts gesellschaft von morgen 2 16
Mobile Lifestyles 2040 Der Megatrend Individualisierung sorgt für eine neue Vielfalt an Lebensstilen und biografischen Mustern. Prägender als soziodemografische Merk- male wie Alter, Geschlecht, Wohnort und verfüg- bares Einkommen werden die Lebensstile der Menschen und die Lebensphasen, in denen sie sich befinden. Sie bestimmen die vielfältigen Lebens- wirklichkeiten, die wiederum entscheidend für das Mobilitätsverhalten sind. Daher kommt man beim Blick auf die Mobilität von morgen nicht umhin, die individuellen Lebens- stile und -situationen, persönlichen Einstellungen, Bedürfnisse, Alltagsanforderungen usw. von Men- schen in die Betrachtung einzubeziehen. Statt von „Biografien“ ist von „Multigrafien“ auszu- gehen: Lebensverläufe, die sich mit hoher Komple- xität und sich abwechselnden Phasen und Brüchen vollziehen. Im Zeitalter der Multigrafie steigen die Mobilitätsanforderungen der Menschen. Sie lassen sich nicht mehr nur über einzelne, wenn auch spe- zialisierte Produkte befriedigen, sondern erfordern vielfältige Mobilitätsservices. 17
Die Evolution der Mobilität Lebenswelten prägen die Mobilität der Gesellschaft im Jahr 2040 ab. Sie sind von morgen vielmehr Idealtypen einer Mobilitätsgesell- schaft, die von Avantgarden (Innovatoren Entlang der Lebensstile und Lebensphasen und Early Adopter) bis in den Main- entstehen neue Mobilitätsmuster, die auf stream hineinreichen und sich zum Teil prototypische Art und Weise unsere mobile überschneiden. Gesellschaft im Jahr 2040 prägen werden. So lässt sich eine ganze Reihe verschiedener Ihre Bedeutung liegt nicht in ihrer quan- Mobilitätstypen mit unterschiedlichen Be- titativen Verbreitung allein, die sich aus dürfnissen und Ansprüchen identifizieren, heutiger Sicht kaum beziffern lässt. Viel- die folglich auch verschiedene Ausprä- mehr ist die Wirkung entscheidend, die sie gungen des Mobilitätsverhaltens zeigen: entfaltet. Ihr Impact resultiert aus dem Vorbild- und Ausstrahlungseffekt, den sie im Mobile Innovators, Forever Youngsters, Sinne der Nachahmung für die Marktdurch- Silver Mover, Mobile Families, High-fre- dringung haben. Es handelt sich also nicht quency Commuter, Globale Jetsetter, Low- um Minderheiten-Phänomene, sondern um Cost-Driver, Urbane Gutbürger und Public mehrheitsfähige Mobilitätsstile, die eine Traveler. Sogwirkung entfalten. Diese Mobilitätstypen sind lebensphasenab- Wenn von „prägenden“ Mobilitätstypen hängig, das heißt, sie können abhängig von gesprochen wird, ist damit nicht gemeint, biografischen Situationen der Menschen va- dass sie zahlenmäßig Mehrheiten darstellen, riieren. Sie sind daher nicht statisch festge- sondern dass sie einen besonders wirkungs- legt, etwa auf ein bestimmtes, vermeintlich vollen Einfluss haben: Sie besitzen Zugkraft fixes Milieu. und haben Leitbildwirkung, sind prototypi- sche Ausprägungen entscheidender lebens- Die Mobilitätsstile bilden kein vollstän- stilabhängiger Mobilitätsmuster, die den diges, bevölkerungsrepräsentatives Bild Weg in die Zukunft der Mobilität weisen. VON DER BIOGRAFIE ZUR MULTIGRAFIE Aus klassischen dreiphasigen Lebensläufen wird eine flexible Lebensführung Jobs Post-Adoleszenz Kindheit Zweiter Aufbruch Jugend Rush Hour Un-Ruhestand Familien Alter 31 60 Quelle: Zukunftsinstitut 18
Mobile Lifestyles 2040 1. Mobile Innovators: Besser unterwegs sein Einer der prägendsten Mobilitätstypen im Jahr 2040 wird die Gruppe der Mobile Innovators sein. Als mobile Avantgarde übernehmen sie eine Vorreiterrolle auf den Mobilitätsmärkten. Sie setzen auf smarte und nachhaltige Mobilitätskon- zepte, um ihr Bedürfnis nach innovativen Nachhaltigkeitslösungen zu befriedigen, die zugleich intelligent auf einen hohen Mobilitätsbedarf und Flexibilisierungsan- forderungen reagieren. Als pragmatische Idealisten haben sie hohe Ansprüche im Hinblick auf Design, digitale Vernet- Foto: Butchers & Bicycles zung und Umweltverträglichkeit. Hohes Grün, gesund und günstig: Mobile Innovators werden zur ökologisches Bewusstsein wird zum einflussreichsten Mobilitätsavantgarde Markenzeichen ihres Mobilitätsstils: Die supersaubere Nachhaltigkeitsbilanz ihres mobilen Lebensstils bekommen sie durch 2. Forever Youngsters: ein ausgeklügeltes Monitoringsystem Die jungen Alten monatlich ausgewiesen. Mobile Innovators sind ein Zeichen dafür, dass bestimmte Der demografische Wandel wird zum Treiber Formen der Mobilität auch 2040 noch innovativer Mobilität. Indem die „jungen hohe Prestigewirkung haben können – Alten“ sich immer jünger fühlen, wird die allerdings einen deutlich anderen Wert als Gruppe der 60- bis unter 75-Jährigen zum Distinktionsmerkmal besitzen, verglichen wichtigen Motor für neue Mobilitätsange- mit früheren Zeiten. bote. Mit über 15,1 Millionen Menschen im Jahr 2040 wird diese Gruppe fast ein Fünftel Was ihren Lebensstil auszeichnet, ist die der Bevölkerung in der Bundesrepublik Einstellung des „Sowohl-als-auch“: Am ausmachen. Für ihren Mobilitätsbedarf wird liebsten leben sie im Grünen, ohne auf ein öffentlich zugängliches Mobilitätsan- die Vorteile der Stadt zu verzichten. Sie gebot mit einem Mix aus konventionellen sind in allen Altersgruppen vertreten und und alternativen Lösungen wichtiger. Die eher einkommensstark. Ökologisches Grenzen zwischen öffentlicher und privater Bewusstsein und Innovationsfreude sind Mobilität werden dabei fließender. für sie kein Gegensatz. Ihr Mobilitätsmix verschiebt sich deutlich zu intelligenten Die Forever Youngsters stehen mitten im Verkehrsmitteln in Form eines indivi- Leben und sind voller Tatendrang und Neu- dualisierten ÖPNV, einer verstärkten gierde. Sie stürzen sich in neue Aktivitäten, Nutzung von Fahrrädern und Carsharing. testen ihre Grenzen und verwirklichen ihre Ein steigender Bevölkerungsanteil wird Träume. Als Rentner lehnen sie die klassische diesem Mobilitätstyp zuzuordnen sein. Für Ruhestandsmentalität ab, sind erlebnis Produkte mit einer sauberen Ökobilanz orientiert und genießen neu gewonnene sind die Mobile Innovators bereit mehr zu Freiheiten. Ihre Unabhängigkeit nutzen sie zahlen. Mobile Innovators wollen ganz- zu immer neuen Aufbrüchen, was für eine heitliche ökologische Mobilitätskonzepte, steigende Mobilitätsnachfrage sorgt. Sie die auf das eigene Wohlbefinden und das reisen viel, erkunden neue Länder und Regi- der Gesellschaft ausgerichtet sind. Sie onen und besuchen ihre nahen Angehörigen präferieren autonome, elektrische bzw. regelmäßig. Sie achten dabei ständig auf ihre emissionsfreie Autos, sind offen für Sha- Gesundheit. Nur wer fit ist, kann ständig ring-Angebote und fragen nachhaltige und mobil sein. Daher sind sie immer auf der ressourcenverträgliche Mobilitätsdienst- Suche nach dem fittesten Mobilitätsmittel. leistungen nach. Joggen, Radfahren und Wandern sowie Ak- tivurlaub stehen hoch im Kurs. Die Forever Youngsters legen großen Wert auf Individua- lität, Gesundheit und Entschleunigung. 19
Die Evolution der Mobilität 3. Silver Mover: 4. Mobile Families: Mobiler Unruhezustand Gestresste Lebensmitte Die Silver Mover bilden die älteste Mobili- Familienfreundlichkeit wird zum ent- tätsgruppe. Die über 75-Jährigen machen scheidenden Mobilitätsmuster für beide in Deutschland 2040 mit über 13 Mio. Geschlechter. In dem Maße, in dem sich die Menschen gut 16 Prozent der Gesamtbe- Familie immer stärker zu einem multi-lo- völkerung aus. Mit hoher Kaufkraft, aber kalen Netzwerk entwickelt, sind flexible Mo- eingeschränktem Mobilitätsgrad und bilitätskonzepte gefragt. Bei den Mobile Fa- Bewegungsradius, verglichen mit jüngeren milies sind beide Elternteile berufstätig. Zeit Lebensphasen, haben sie hohe Ansprüche und Geld sind in der „Rushhour des Lebens“ hinsichtlich Bequemlichkeit, Sicherheit knappe Ressourcen. Ihre Mobilitätsbedürf- und Unterstützung. Nachgefragt wird vor nisse ergeben sich aus der Notwendigkeit, allem Mobilität im Nahbereich. Arbeiten Familie und Beruf optimal zu vereinbaren, bis ins hohe Alter wird für die Silver Mover Partnerschaft zu leben und die Kinder zu er- zum Normalfall. Ihre Freizeit ist geprägt ziehen. Sie achten auf ihre Mobilitätskosten, von Bildungsaktivitäten, familiären stellen aber gleichzeitig hohe Ansprüche Aufgaben und gemeinnützigem Engage- an die Qualität entsprechender Dienstleis- ment. Autonomes Fahren ist für sie längst tungen. Freizeit-, Berufs- und Familienleben selbstverständlich geworden, auch weil werden eng getaktet, unterliegen einem sie als erste Gruppe erfahren haben, dass straffen Zeitmanagement und einer perma- automatische Assistenzsysteme zu mehr nenten Synchronisation. Ihr Lifestyle ist Sicherheit und Einfachheit im Straßenver- urban orientiert, aber eben nicht nur auf die kehr beitragen. Sie sorgen für Entlastung Innenstädte ausgerichtet. Vielmehr spielt und Komfort dort, wo die Nutzung öffentli- sich ein Großteil des Lebens vieler von ihnen cher Verkehrsmittel durchs Umsteigen und auch im Umland von Städten bis in die länd- durch Menschenmengen eher als Belastung lichen Regionen hinein ab. Die Erwartungen empfunden wird. und Ansprüche an Support-Funktionen und Mobilitätsdienstleistungen steigen. Fahr- zeuge müssen kluge, integrierte Lösungen für den multimobilen Lifestyle bieten, die dank smarter Vernetzung unterschiedliche Alltagsanforderungen von Familien erleich- tern – von Einkaufslieferung in den Koffer- raum über die Terminkoordination bis hin zur Hausaufgabenbetreuung. Gerade die Lebensstile junger Familien erfordern künftig ein intelligentes Zeit- und Mobilitätsmanagement. Foto: ADAC Freizeit- und Familienleben: Steigender Mobilitätsaufwand 20
Mobile Lifestyles 2040 Foto: iStockphoto Effizient unterwegs sein: Steigende Nachfrage nach Businesslösungen, die Mobilität stress- und reibungsfreier, vor allem aber produktiver machen 5. High-frequency Commuter: wird es notwendig sein, einen eigenen Pkw Zeitgeplagte Alltagspendler zu besitzen. Konsequent umgesetzt, liegt darin auch die Lösung für das „Problem der Eine hochgradig flexible und mobile Arbeits- letzten Meile“. Gerade in urbanen Gebieten, welt wird zur neuen Norm. Im digitalen in Metropolregionen und im Umland von Wissenszeitalter ist Arbeit immer weniger Städten mit einem durch individuelle an feste Orte geknüpft. High-Frequency Massenmobilität erweiterten ÖPNV wird Commuter sind mobile Job-Nomaden, für das Auto für High-Frequency Commuter die tägliches Pendeln ins Büro, zum Kunden, nur noch eine komplementäre Rolle Geschäftspartner oder Projekt alltägliche einnehmen, die an den letzten Defiziten des Notwendigkeit ist. Mobilität wird zur öffentlichen Verkehrs ansetzt. Bedingung, um arbeiten zu können. Effizient unterwegs zu sein bedeutet für sie vor allem, mittlere und größere Distanzen – national 6. Globale Jetsetter: wie international – schnell, unkompliziert Multi-mobile Business-Class und komfortabel zu überwinden und zugleich produktiv sein zu können. Ent- Für die globalen Jetsetter ist das perma- sprechend hoch ist ihre Nachfrage nach nente Unterwegssein der Normalfall. Sie Service- und Businesslösungen, die Mobilität pendeln regelmäßig zwischen den Metro- insgesamt nicht nur stress- und reibungs- polen der Welt, ihr Leben findet oft gleich- freier, sondern produktiver machen. zeitig an mehreren Orten statt. Sie sind Vernetzte Arbeitsräume, die zugleich sichere, kosmopolitische Weltbürger und kreative vertrauliche Tätigkeitsumfelder garantieren, Wissensarbeiter. Treiber des Typus ist vor werden zunehmend nachgefragt. Aus Warte- allem die hochgradig mobile Business Class. und Fahrzeiten wird Arbeitszeit. Die Multi-Mobilität prägt nicht nur ihr Berufs-, sondern auch ihr Freizeitleben. Ihr Insbesondere die steigende Erwerbs- Bedarf nach intelligenten Mobilitätsdienst- tätigkeit von Frauen führt dazu, dass leistungen, die Reise- und Vor-Ort-Flexibi- High-Frequency Commuting zunimmt. lität garantieren, ist enorm. Wichtigstes Ziel Mobilitätsdruck und Zeitmangel treiben ist die Synchronisierung und „Simplexity“ die Nachfrage nach effizienten Mobili- des Alltags. Verkehrsmittel müssen die tätsdiensten an. Je mehr neue Formen Funktionen eines Third Place ebenso er- „geteilter Mobilität“ durch Sharing-Modelle füllen wie den Wunsch nach Privatheit und professionalisiert werden, desto weniger Vertrautheit. 21
Die Evolution der Mobilität 7. Low-Cost-Driver: Fahrgemeinschaften, der Umstieg auf das Mobilität intelligent und günstig Fahrrad oder der Fußweg sind die bevor- zugten Fortbewegungsarten, die zur Opti- Mit der allmählichen Durchsetzung des mierung des Mobilitätsbudgets beitragen. postfossilen Zeitalters werden die Mobi- Dennoch erwarten sie eine hohe Service- litätskosten im Jahr 2040 deutlich unter qualität und innovatives Produktdesign den heutigen liegen. Nach Prognosen der von Fahrzeugen und Mobilitätsangeboten. Europäischen Kommission wird der Ener- Das reicht bis in die Mittelschicht hinein. giebedarf im Personenverkehr im Jahr 2040 Mobilität tritt hier mit anderen Bedürfnissen rund ein Viertel unter dem Niveau von 2015 in Konkurrenz: Wohnen, Kinderbetreuung, liegen (European Commission 2016). Anders Konsum, Gesundheit, Altersvorsorge, Bildung als bei fossilen Brennstoffen, sinken die und Kultur, Freizeit, Mediennutzung etc. Kosten für erneuerbare Energien deutlich. Postfossile E-Mobilität ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass die Mobilitäts- 8. Urbane Gutbürger: kosten weiter sinken: Sharing-Modelle, die Grün und schnell die Städte erobern Autos zu „eigenen öffentlichen Verkehrsmit- teln“ machen und so für eine transformative Die Gutbürger sind in den großen Städten Erweiterung des öffentlichen Verkehrs hin der neue Mainstream und stoßen Verän- zu individuellen Massenverkehrsmitteln derungen an. Sie verstehen sich als urbane sorgen, automatisiertes Pooling von Fahr- Avantgarde und verbinden den Communi- gemeinschaften auch bei Berufspendlern, ty-Gedanken mit einer zukunftsweisenden die Ausweitung der Fahrrad-Nutzung wie Umweltorientierung. Immer mehr Städte auch die digitale Optimierung des Verkehrs steigen vom Autoverkehr auf ÖPNV und insgesamt – all das sorgt für die Realisierung Fahrrad um. Eine neue Bewegung der enormer Effizienzpotenziale, die die Mobi- „Umsteiger“ sorgt für den radikalen Umbau litätskosten so sehr senken werden, dass der Straßen und Verkehrssysteme. Als Rad- sie 2040 deutlich unter den heutigen liegen, fahrer bekommen sie „grüne Welle“ und sind wenngleich sie weiterhin einen hohen Anteil schneller unterwegs als Autos. Ob als klas- an den Lebenshaltungskosten insgesamt sisches Fahrrad oder E-Bike: Die urbanen ausmachen werden. Gutbürger ziehen das Zweirad dem Auto vor. Das gelingt ihnen vor allem deshalb, weil Intelligente Vernetzung macht Mobilität immer mehr Städte zur Steigerung der Le- günstig. Vielfältige integrierte Mobilitäts- bensqualität auf Verkehrskonzepte setzen, formen werden so auch für einkommens- in denen der Radverkehr einen Großteil des schwache Gruppen erschwinglich: für Autoverkehrs ablöst. Im Ergebnis vielfäl- Schüler, Auszubildende und Studenten, die tiger Bürgerinitiativen und kommunaler noch nicht beruflich situiert sind, aber auch Partizipationsverfahren kommt es zu einer sozial bedürftige Bevölkerungsschichten: all Neuverteilung des urbanen Verkehrsraums jene, die auf die Reduzierung ihrer Mobi- und öffentlicher Flächen zugunsten von ver- litätskosten angewiesen sind. Carsharing, kehrsberuhigten und zunehmend autofreien Zonen mit mehr Aufenthaltsqualität. Automatisiertes Pooling von Fahrgemeinschaften: Intelligente Vernetzung 9. Public Traveler: macht Mobilität günstig Aus Mangel an Alternativen Die Public Traveler variieren ihren Mobi- litätsmix nicht aus ökologischen, sondern aus pragmatischen Gründen. Sie rangieren im unteren mittleren Einkommensbereich, wohnen auf dem Land oder in Vororten und nutzen vor allem den öffentlichen Nahver- kehr, der sich dort vor allem auf autonome Kleinbusse, Sharing-Pkw und das Bilden von Fahrgemeinschaften stützt. An Mobilität haben sie geringe Ansprüche: sie muss vor allem günstig und unkompliziert sein. Foto: flinc GmbH 22
Mobile Lifestyles 2040 Immobilität vs. Entschleunigung: Ausstieg aus der Mobilitätsgesellschaft? Im Jahr 2040 werden wir ein vielfältiges Spek- Hohe Flexibilität und permanentes Unter- trum an Mobilitätsstilen haben, mit jeweils wegssein, die Verdichtung des Alltags und der unterschiedlichen Ansprüchen, Gewohnheiten Arbeitswoche werden von nicht wenigen Men- und Notwendigkeiten. Allen gemeinsam ist, schen auch als Belastung empfunden. Deshalb dass Mobilität mehr denn je ein menschliches sucht gerade die hypermobile Gesellschaft Grundbedürfnis sein wird. nach Möglichkeiten der Entschleunigung. Zugleich wird es Menschen geben, die deutlich Denn vor allem im Privatleben erlöst man weniger mobil sind als der Bevölkerungsdurch- sich von Zeitknappheit und Alltagsstress nicht schnitt. Dazu zählt beispielsweise die größer durch noch mehr Effizienz und Speed. Die werdende Gruppe der Pflegebedürftigen in Steigerung der Lebensqualität wird mittlerwei- Deutschland, die von heute rund 3 Millionen le vielfach mit der Devise verbunden: „Besser auf knapp 4 Millionen im Jahr 2040 steigen statt schneller“. Bei allen Vorteilen und neuen wird. Auch der demografische Wandel ist eine Freiheiten, die Modernisierung und Plurali- unbestrittene Tatsache. Allerdings werden im sierung von Lebensmöglichkeiten mit sich Jahr 2040 nach aktuellen amtlichen Progno- bringen, sie führen auch zu einem enormen sen nur knapp 1,5 Millionen Menschen im Zuwachs an gefühlter und tatsächlicher Kom- Alter von über 90 Jahren leben. Das sind zwar plexität. Das ist die Kehrseite der Multiop- rund doppelt so viele wie heute, aber immer tions-Gesellschaft: der Stress steigt. noch weniger als 2 Prozent der Gesamtbevöl- kerung. Auch wenn in diesem Alter die Ein- Die zentrale Lebensknappheit ist nicht mehr schränkungen der Mobilität zwar naturgemäß der Mangel an Waren, sondern der Mangel an zunehmen, führt das in dieser Gruppe jedoch Zeit. Zeitwohlstand wird zur Luxuserfahrung, keineswegs zu einer allgemeinen Immobilität. wertvoller als teure Produkte. Was zählt, sind Zeitautonomie, individuelles Wohlergehen Gleichwohl müssen künftig die Rahmen- und Lebensqualität. Daher werden die Werte bedingungen und Strukturen zweifellos so in einer als extrem schnelllebig empfundenen beschaffen sein, dass auch Menschen mit Welt immer öfter hinterfragt. eingeschränkter Mobilität – sei es aufgrund des Alters oder infolge von Behinderungen Wir werden daher ein steigendes Bewusst- – umfassend am gesellschaftlichen Leben sein für die Sinnhaftigkeit und den Nutzen teilhaben und sich möglichst selbstbestimmt umfassender Mobilität erleben. Die Notwen- fortbewegen können. digkeit permanenten Unterwegsseins wird häufiger hinterfragt und Menschen werden Berechtigt ist allerdings die Frage, wie es sich auf temporäre Situationen mobiler Entschleu- beim Rest der Bevölkerung in puncto Mobili- nigung setzen. Dennoch: Nicht mobil zu sein, tätsreduktion verhält. Denn wenngleich Mobi- sich Mobilität weitgehend zu entziehen oder lität vielfach als Freiheit begriffen wird, stößt gar zu verweigern, ist kaum eine dauerhafte die Steigerung des Mobilitätsgrads an Grenzen. Option. 23
PRI NZI PI EN Funktionsweisen der Mobilität von morgen 3 24
Prinzipien Kennzeichnend für die Mobilität der Zukunft sind sieben Grund- prinzipien. Sie beschreiben die zentralen Funktionsweisen, nach denen Mobilität funktioniert, organisiert und gestaltet wird. 1. Postfossile, klimaneutrale Mobilität Der Megatrend Neo-Ökologie sorgt dafür, dass der Mobilitäts- konsum künftig verstärkt unter Umwelt- und Ressourcengesichts- punkten stattfindet. Mehr denn je wird es in den nächsten Jahren darum gehen, die zunehmende Mobilität auf eine ökologisch tragfähige Basis zu stellen. Neue Player und Plattform-Betreiber orientieren sich nicht nur stärker an den Bedürfnissen und Motiven der Menschen. Sie zielen vor allem auf eine effizientere Nutzung von Ressourcen und Infra- strukturen zur Fortbewegung und eine ökologische Mobilität auf Basis erneuerbarer Energien. Die Automobilindustrie arbeitet daran, ebenso wie die Politik, die immer ernsthafter die Weichen stellt. Dekarbonisierung wird zum grundlegenden Wirtschaftsprinzip und zum wichtigsten Treiber des Wandels in der Mobilität. Die politischen Rahmenbedingungen sind gesetzt: Bis spätestens 2050 müssen die Treibhausgas-Emissionen im Verkehr um mindestens 60 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 reduziert werden. Fossile Kraftstoffe als Energieträger im Straßen- verkehr werden es angesichts immer strengerer Reglementierungen künftig sehr schwer haben. In ersten Ländern arbeitet man bereits am Abschied vom Verbrennungsmotor: Norwegen plant ab 2025 keine neuen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen. Langfristig werden sie auch in Deutschland zum Auslaufmodell. Während wir hierzulande bislang erst am Beginn des postfossilen Mobilitätszeitalters stehen, wird Deutschland im Jahr 2040 mitten im Übergang dahin sein: Von Elektro- bis hin zu Wasserstoffmotoren werden dann rund 50 Prozent aller Pkw im Bestand mit alternativen Antrieben unterwegs sein (vgl. auch Shell Deutschland/Prognos 2014). 25
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