Die mensch-maschine das smartphOne erObert unser Leben. betrachtungen zum gerät der gegenwart - null41

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Die mensch-maschine das smartphOne erObert unser Leben. betrachtungen zum gerät der gegenwart - null41
Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender
NO 5 Mai 2014 CHF 8.– www.null41.ch
            Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender
            NO 5 Mai 2014 CHF 8.– www.null41.ch

                                        Tablet & Co.
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                                                                                                                                       die mensch-maschine
                                                                                              Das Smartphone erobert unser Leben.

                                        Zentralschweizer Kulturprojekte auf
                                                                                              Betrachtungen zum Gerät der gegenwart.
                                                                                                                                                             100 %
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                 EVANS    SWINTON       BELL      HURT      HARRIS

                                                                                  A G
                                                                                17 /0 N KL M
                                                                                               EE
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                                                                                R IN
                                                                                             T
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                                                                            K FO AK
                                                                                    8/
                                                                                    B

                                                                          AL E T
                  Ein Film von Bong Joon ho (ThE hoST)

                                                                         W LIN
                                                “Wuchtiger thriller
                                                uND surreale satire
                                                 zugleich – aufregeND,

                                                                                                          TW AR EE L …
                                                 reichhaltig, immer

                                                                                                           M
                                                  WieDer überra-

                                                                                                            OM DE
                                                                                                             KL OO
                                                  scheND.”

                                                                                                               W

                                                                                                               BL N
                                                 tagessPiegel

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                                                                                                           4. Leibch
                                                                                                           über denen
                                                                                        hies     sen
                                                                              1. Tor sc
                                                                                               nen                 h
                                                                              2. losren                   Kopf zie
                                                                                                     en
                                                                                           Knie fall
                                                                              3. auf die

                   jahresausstellung_2014_gestalterischer_vorkurs
                                                                          Museum für Kommunikation
                           sentimatt_1/dammstrasse_luzern                 Helvetiastrasse 16
                    21–24_mai_2014_mi–fr_0900–2000_sa_0900–1700           3005 Bern
                                                                          www.mfk.ch
                                www.hslu.ch/vorkurs
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Editorial                                             99 %

                                     Bzz bzz bzz

Wer kennt es nicht: Man ist auf                                                       ins Bett und lassen uns
dem Weg zur Arbeit, möchte                                                            von ihm wecken, messen
kurz die E-Mails checken, greift                                                      beim Joggen unseren Puls,
in die Tasche, die Finger bereits                                                     kommunizieren auf allen
in Erwartung des gewohnten                                                            Kanälen. Und so ist das
flachen Dings – doch da ist nichts. Die Bewegungen           Smartphone weit mehr als ein Gerät – es ist ein Kul-
werden hastiger, schwarz und böse steigt der Gedanke         turobjekt schlechthin.
in einem auf: Ich habe mein Handy zu Hause liegen            In diesem Heft widmen wir uns unserem neuen besten
lassen!?! – Dann die Erleichterung: Es ist in der Ja-        Freund (und manchmal auch Feind) mit verschiede-
ckentasche. Glückshormone rauschen durch die Syn-            nen Essays und Interviews. Wir kreisen dabei um die
apsen.                                                       Frage, wie das Smartphone unseren Zugang zur Welt
Nicht alle empfinden diese Situation gleich drama-           verändert und geben Beispiele, wie Zentralschweizer
tisch, aber für viele ist die Vorstellung, einen oder        Kulturschaffende mit dem Smartphone und Tablet
mehrere Tage ohne Handy zu verbringen, ein Graus.            arbeiten.
Und dieser hat auch einen Namen: Nomophobie. Un-
ter der Angst vor Handylosigkeit (No-Mobile-Phone-           Gänzlich analog funktioniert Niko Stoifberg und Pa-
Phobia), litten laut Wikipedia 2012 bereits 66 Prozent       trick Kälins neue Cartoon-Kolumne auf der letzten
der Briten.                                                  Seite. Sie zeigt nichts weniger als «Das Leben, wie es
Kein Wunder eigentlich. Schliesslich orientieren wir         ist».
uns mit dem Smartphone, wir spielen damit, wir
                                                             Martina Kammermann
fotografieren und filmen uns, wir nehmen es nachts           kammermann@kulturmagazin.ch

                                                         3
Die mensch-maschine das smartphOne erObert unser Leben. betrachtungen zum gerät der gegenwart - null41
Inhalt

                                             8    nah dran
                                                  Wie das Smartphone unseren Körper erobert.

                                             10   aufgelöste grenzen
                                                  Die Trennung von digitalem und physischem
                                                  Raum ist aufgehoben, sagt die Direktorin des
                                                  Hauses für elektronische Künste Basel.

                                             12   quasseln 2.0
                                                  Wie wir mit Bildern sprechen.

                                             15   auf dem tablet serviert
                                                  Kunstwandern mit dem Smartphone.
                                                  Made in Lucerne.

                                             16   das Revival der werkstatt
                                                  Der Trend geht zurück zum analogen
                                                  Arbeiten, sagt die Direktorin der HSLU –
                                                  Design & Kunst.

                                             18   bang! bang!
                                                  Warum wir gamesüchtig sind. Und warum
                                                  das gar nicht schlimm ist.

                                             26   immer für dich da
                                                  Der Sedel-Shuttle wird fünf Jahre alt.

                                                  KOLUMNEN
                                             6    Gabor Feketes Hingeschaut
                                             7    Lechts und Rinks: Die Jugend und die Politik
                                             27   Gefundenes Fressen: Wanderfutter

ich knipse, also bin ich                     41
                                             77
                                                  11 Fragen an: Dominic Chenaux
                                                  Kämpf / Steinemann

Wie Fotos zu unserer neuen Sprache werden.   78
                                             79
                                                  Käptn Steffis Rätsel
                                                  Das Leben, wie es ist

Und vieles mehr zum Thema Smartphones.            SERVICE

Ab Seite 8                                   28
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                                                  Bau. Die Leere des Projekts LuzernSüd
                                                  Kunst. Ein Besuch bei der neuen Galerie Vitrine
                                             32   Musik. Starke Frauenstimmen in Ettiswil
                                             34   Wort. Warum wir von Pedro Lenz nicht genug kriegen
                                             36   Bühne. Grosseinsatz «Verona 3000»
                                             39   Kino. Revolution in der Postapokalypse
                                             74   Notizen / Ausschreibungen / Forum / Impressum
                                             76   Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz

20 musik machen                                   KULTURKALENDER
                                             42   Kinderkulturkalender
mit dem Tablet?                              43   Veranstaltungen
                                             67   Ausstellungen
Daniel Sommer weiss, wie's geht.

                                                  PROGRAMME DER KULTURHÄUSER
                                             44   Stattkino
                                             46   Kleintheater
23 ein fonds spaltet                         48
                                             50
                                                  Stadtmühle Willisau
                                                  Südpol / Zwischenbühne

die gemüter                                  52
                                             54
                                                  HSLU Musik
                                                  Luzerner Theater / LSO

Der Kanton Luzern will die Kultur auf der    56   ACT / Romerohaus
                                                                                                       Zeichnung: M. Meyer

                                             58   Kulturlandschaft

Landschaft stärker fördern – nun liegt der   60
                                             66
                                                  Chäslager Stans
                                                  Kunstmuseum Luzern
                                             68   Kunsthalle / Museum Bellpark
Ball bei den Gemeinden.                      70   Historisches Museum / Natur-Museum

                                   4
Die mensch-maschine das smartphOne erObert unser Leben. betrachtungen zum gerät der gegenwart - null41
schön gesagt

Welche künstlerische Freiheit nehmen Sie sich?
    «Rauchen wie Serge Gainsbourg.»
                                                                                                  dominic Chenaux,
                                                                                                  betriebsleiter neubad (seite 41)

                                             guten tag                                                                  Aufgelistet

Guten Tag, Fachstelle                                 Guten Tag, SBB                                       Die liebsten Smartphone-Games
Kinderschutz Luzern                                   Seit Kurzem kann man an rund einem Dutzend           der Redaktion:
Während unserer Recherchen durch Tiefen und           Schweizer Bahnhöfe gratis für eine Stunde auf
Untiefen des Smartphone-Universums sind wir           deinem WLAN-Netz surfen. «Leider weiss nur              Radiant
auch auf dein «Hauapp» gestossen. Ein Präven-         kaum ein Pendler von diesem Service», schrieb
tions-Game für Kids, das du 2012 eigens lanciert      der «Blick am Abend» Anfang April. Das hat sich         Smash Hit
hast, damit diese spielend Selbstbestimmung ler-      schlagartig geändert, seit du mit der Blick-Gruppe
nen und sich vor Missbrauch schützen können. Es       zusammenspannst: Steuert man dein WLAN an,              Candy Crush Saga
funktioniert so: Nachdem man ausgewählt hat,          erscheinen seit Mitte April als Erstes Inhalte von
                                                      «Blick» und «Blick am Abend». Nationale Medi-
                                                                                                              Flappy Wings
ob man als «Girl» oder «Junge» spielt, muss man
zu nervtötender Musik Grosis und Sex-Grüsel mit       en monieren, dass du den Auftrag nicht öffentlich
                                                                                                              Wer wird Millionär?
Kaffee oder Kuchenstücken (!) ablenken, um et-        ausgeschrieben hast. Du sagst, Ringier habe das
was, das aussieht wie ein deformierter Seestern,      beste Angebot eingereicht. Nun, publizistische        	QuizDuell
einzusammeln. Ab und an erscheinen Sätze wie          Kriterien haben bei der Wahl des Mediums für
«Vertrou dine Gfühl». Ähm … nun ja, nichts ge-        diese prominente Plattform offenbar keine Rolle         Samstig Jass
gen deine Idee – aber ob man so wirklich lernt,       gespielt. Oder waren im Angebot Schlagzeilen wie
sich selbstbewusst durch die Strassen zu bewegen?     «SBB zum Gernhaben» oder «Good News: SBB-               Move the box
Wenn wir das nächste Mal Kinder sehen, die al-        Minibar ganz gross» gleich mit drin? Wie auch
ten Leuten Kaffee verteilen, wissen wir jedenfalls,   immer – wir werden bestimmt rechtzeitig von
worum es geht. Ein Tipp an die Fachstelle Integra-    Ringier erfahren, wann dein WLAN-Angebot an
tion: Wie wärs mit einem Game für Asylsuchende,       Zentralschweizer Bahnhöfen ankommt.
in der diese rote Pässe einsammeln müssen?
                                                      Viellesend, 041 – Das Kulturmagazin
Verspielt, 041 – Das Kulturmagazin

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                                               Gesuchseingaben für das Migros-Kulturprozent
                                               Unterstützungsgesuche für Projekte aus der Zentralschweiz an das Migros-
                                               Kulturprozent müssen via Webformular unter www.migros-kulturprozent.ch/luzern
                                               eingereicht werden.

                                                                               5
Hingeschaut

Bikini-Body
Es war im letzten Oktober. Ich musste mich verschönern, also              Woche besuchte ich Anja also in Horw, wo sie mit ihrer Freundin
ging ich zu meinem Frisör Gabriel, der auch ein guter Freund ist.         Livia Masina trainierte – und war baff. Eigentlich fand ich Kraft-
Er grinste mir schon von Weitem entgegen. Heute müsse ich mich            training bis zu diesem Zeitpunkt nicht etwas Schönes, aber ich
mit Anja zurechtfinden, meinte er, und guckte mich dabei recht            wurde eines Besseren belehrt.
merkwürdig an.
    Anja sah sehr apart aus mit ihrer schwarzen Mähne und sehr                Wie ich nun erfuhr, ist Anja momentan in Las Vegas unter-
sportlich. Während sie meine Haare mit einer scharfen Schere ge-          wegs, sammelt Erfahrungen als Personal Trainer und bei Shoo-
fährlich schnell zurechtzupfte, erkundigte ich mich also vorsich-         tings für Hochglanz-Magazine. Ich bin stolz, war ich ganz am An-
tig, ob sie vielleicht ein bisschen Sport mache. (Ich wusste nicht,       fang einer grossen Karriere dabei, und hoffe auf weitere Fototref-
dass Anja schon ziemlich bekannt war, nicht nur in der Krafttrai-         fen mit ihr.
ningszene, sondern auch als zukünftiges Topmodel.) Sie antwor-
tete, wenn ich Lust hätte, könne ich zuschauen beim Bikini-Body-          Bild und Text Gabor Fekete
Contest-Training! Ja, ja bitte, ich bin doch Fotograf … Nächste

                                                                      6
lechts und rinks

Politik und Paradox
Vier Thesen zum Abstimmungsverhalten der jungen Schweizerinnen und Schweizer

Nur 17 Prozent der Schweizer von 18 bis 29                                                          3. Die Ausbildung. Seit der Bologna-Re-
Jahren haben am 9. Februar über die Mas-                                                        form sind junge Menschen viel stärker in
seneinwanderungsinitiative der SVP abge-                                                        ihre Aus- und Weiterbildung eingespannt
stimmt. Das war das wichtigste Ergebnis der                                                     als früher. Das studentische Milieu, traditi-
Vox-Analyse zu diesem wichtigen Urnen-                                                          onell eine Brutstätte des jugendpolitischen
gang, der seither nicht nur das Verhältnis                                                      Aktivismus, denkt und handelt heute prag-
dieses Landes zu Europa infrage gestellt hat,                                                   matisch und kurzfristig, anders sind die
sondern auch den Anschluss von Schweizer                                                        Studien nicht zu schaffen. So gesehen war
Studierenden an die europäischen Erasmus-                                                       die Reform ein Geniestreich der Konserva-
Programme. Und auch wenn es mittlerwei-                                                         tiven – Selbstdisziplin und Selbstkontrolle
le berechtigte Zweifel gibt, dass die Stimm-                                                    haben Law and Order ersetzt.
beteiligung der Jungen tatsächlich so tief
war: Sie ändern nichts an der Tatsache, dass                                                        4. Der Optimismus. Politologen nennen
seit vielen Jahren ein immer kleinerer An-                                                      es das «Optimismus-Pessimismus-Paradox»;
teil der unter 30-Jährigen über die eidge-                                                      nämlich das Phänomen, dass gerade junge
nössischen Initiativen und Referenden ab-                                                       Menschen für ihre persönliche Zukunft viel
stimmt. Und das gibt darum zu denken,                                                           optimistischer sind als für die Zukunft der
weil sich doch gerade die jungen Menschen                                                       ganzen Gesellschaft. Diese Kluft hat sich in
an Entscheiden über die Zukunft ihres Lan-                                                      den letzten Jahren vergrössert, und eine ös-
des beteiligen sollten.                                                                         terreichische Studie hat 2011 ergeben, dass
                                                                                                69 Prozent der 14- bis 29-Jährigen «eher zu-
    Rasch waren die Erklärungsversuche                                                          versichtlich» sind, was ihre eigene Perspek-
zur Hand. Die Schulen unterrichten zu we-                                                       tive betrifft. Nur 22 Prozent sind für die Ge-
nig Staatskunde, hiess es. (Als ob das jemals                                                   sellschaft genauso optimistisch. Nur logisch,
ein wichtiges Schulfach gewesen wäre.) Die                                                      dass das Engagement in die eigene Perspek-
Jungen stimmen halt lieber elektronisch ab          1. Die Demografie. Der Anteil junger        tive fliesst und nicht in eine Gemeinschaft,
als mit einem grauen Couvert. (Als ob es        Menschen an der Bevölkerung sinkt – und         von der man sowieso denkt, dass sie gerade
früher als besonders sexy gegolten hätte,       damit auch ihr politischer Einfluss. In der     den Bach runter geht.
am Sonntagmorgen ins Urnenlokal zu tau-         mickrigen Stimmbeteiligung antizipiert
meln.) Und natürlich waren bald auch die        diese Generation ihre Machtlosigkeit. Und           Diese vier Punkte lassen, kombiniert,
verständnisvollen Stimmen zu hören, die         drückt ihr statistisch beglaubigtes Gefühl      das Stimmverhalten der jungen Schweize-
der Jugend tantig den Kopf tätschelten: Lie-    aus, von langweiligen Altkonservativen und      rinnen und Schweizer in einem anderen,
ber interessiere sie sich «für wilde Rock-      privilegierten Altlinken regiert zu werden.     unskandalösen Licht sehen. Irritierend ist
bands als für dröge Abstimmungsvorlagen»,                                                       also nicht die Stimmabstinenz der Jungen.
sinnierte die «Sonntags Zeitung»: «Und ge-          2. Die Zukunft. Seit zwei Generationen      Sondern, dass sich in der jungen Generation
nau dafür ist die Jugend da: Um sich auszu-     lebt die Jugend mit der Gewissheit, dass es     bestimmte Phänomene besonders deutlich
leben, Erfahrungen zu sammeln und zu ex-        ihr wirtschaftlich schlechter gehen wird als    abzeichnen, wie sie für die ganze Gesell-
perimentieren.» (Als seien junge Menschen       ihren Altvorderen, die das Privileg hatten,     schaft gültig sind. Oder wie sagte der Chef
unfähig, sich zwischen Sex, Drogen und          in der Wachstumseuphorie gross und reich        zu seiner 45-jährigen Praktikantin: Du bist
Rock'n'Roll auch mal kurz um ihre Zukunft       zu werden. Jobs und Einkommen sind unsi-        richtig jung geblieben.
zu kümmern.)                                    cher geworden, die Perspektiven kurzfristig.
                                                Und weil jede und jeder weiss, dass die Poli-
   Nein, nein. Die Stimmabstinenz der jun-      tik dagegen weder etwas tun kann noch
gen Schweizer hat klare, rationale Gründe.      will, ist die Politikabstinenz darauf eine
Dazu vier Thesen:                               durchaus vernünftige Antwort.                   Christoph Fellmann, Illustration: Mart Meyer

                                                                      7
96 %

Die
Maschine
in uns
Das Smartphone verschmilzt Mensch und Maschine – und schreibt in uns
die Moderne weiter.
    Von Dominik Landwehr

Würden uns heute ausserirdische Ethnologen besuchen und zu              genschaft als universale Maschine, die in unseren Träumen alles
Hause Bericht erstatten, so würden sie ganz sicher von diesem           kann, und beispielsweise auch das Tor zum Wissen ist. Und daran
merkwürdigen Gerät berichten, das uns unablässig begleitet und          nimmt nun auch das Smartphone teil. Zum andern ist das Smart-
für uns eine fast magische Bedeutung erhalten hat.* Zu erklären,        phone ein Objekt intimster Nähe. Es gibt nur wenige Objekte, die
was dieses Ding ist, erscheint fast überflüssig. Wir versuchen es       wir so nahe an unseren Körper heranlassen. Es teilt diesen Platz
trotzdem: Das Smartphone ist – wie der Name besagt – ein kluges,        mit der Armbanduhr und unserem Schmuck und nachts viel-
gerissenes Telefon, ein Computer im Taschenformat. Angesichts           leicht mit einem Teddybär. Wie nahe uns das Smartphone steht
der Fülle seiner Funktionen ist das Telefonieren längst zur Ne-         und künftig stehen könnte, ist gut zu sehen im Film «Her» von
bensache geworden. Wer sich mit dem kleinen Bildschirm an-              Spike Jonze, der aktuell in den Kinos läuft: Schlaftrunken greift
freundet, kann damit schreiben, rechnen, Möbel bestellen, Bü-           die Hauptfigur Theodore mitten in der Nacht nach seinem Smart-
cher lesen, Musik hören und auch komponieren und aufführen;             phone, um mit Samantha zu sprechen, in die er sich verliebt hat –
ein Modellhelikopter lässt sich damit genauso gut steuern wie die       sie ist aber keine reale Person, sondern die Stimme aus seinem
Heizung im Ferienhaus. (Ein paar Zahlen: Die Schweiz gehört zu          Computer.
den Ländern mit der grössten Smartphone-Dichte. Laut einer
Studie des Vergleichsdiensts Comparis von 2013 besitzen 69 Pro-            Das Smartphone weiss vieles über uns. Es hat Tentakel und
zent der Schweizer ein Smartphone, 56 Prozent davon entfallen           Fühler: Mikrofone, Kameras, GPS, Lage, Licht-, Berührungs-,
auf das iPhone von Apple.)                                              Beschleunigungs, Magnet- und Temperaturfühler, Feuchtigkeits-
    Das Smartphone ist aber mehr als ein Zweckobjekt. Es ist kul-       fühler und Barometer sind in vielen Geräten vorhanden. Eine
turell «aufgeladen», hat Bedeutungen, die weit über seine nack-         wachsende Vielzahl von weiteren Sensoren lässt sich problemlos
ten Funktionen hinausgehen. Zum einen ist das Smartphone                anschliessen: Messgeräte für Blutzucker, Puls und Blutdruck; sie
durch sein Dasein als Computer auch ein kulturelles und mytho-          ermöglichen vollkommen neue Nutzungen. Quantified Self heisst
logisches Objekt. Viele Funktionen wurden dem Computer im               etwa ein neuer Trend: Dabei werden Körperfunktionen gemes-
Lauf seiner kurzen Geschichte zugeschrieben und sind in unse-           sen, analysiert und ausgetauscht. Was dabei entsteht, ist nichts
rem kulturellen Gedächtnis eingebrannt: Allen voran seine Ei-           anderes als ein Raster- oder Röntgenbild des modernen Men-

                                                                    8
95 %

schen in einem System, das die intimsten Details seines Lebens          dert mit den Errungenschaften der Moderne zusammengebracht.
kennt oder in Windeseile abrufen kann. Bereits haben die Senso-         Was dahinter steht, ist die Überforderung des Einzelnen mit die-
ren des Smartphones Körpergrenzen durchbrochen und übertra-             ser Fülle von Reizen, mit der wachsenden Geschwindigkeit um-
gen auch Daten aus dem Innern des Körpers. «Ovularing» etwa             zugehen – es sind dieselben Ursachen, die schon vor 100 Jahren
ist ein Biosensor zur Bestimmung der fruchtbaren Tage der Frau,         beschrieben wurden.
der wie ein Tampon im Innern des Körpers getragen wird: «Ob                 Eine weitere und politisch weit brisantere Schattenseite der
Smartphone, Tablet oder PC, die Zyklusinformationen stehen den          grenzenlosen Kommunikation zeigt sich dem Smartphone-Nut-
Frauen bei höchster Datensicherheit überall zur Verfügung»,             zer in Form von massgeschneiderter Werbung auf dem Bild-
heisst es dazu auf der Website dieses Projekts, das auch von der        schirm: Warum will mir mein Buchhändler Bücher über Zeitge-
EU gefördert wurde. Die Anwendungen im Bereich Gesundheit               schichte verkaufen, nachdem ich einen Titel zum Ersten Welt-
und Körper, die wir heute sehen, sind wohl erst der Anfang einer        krieg bestellt habe? Dienstleister wie Facebook, Twitter, Google
ganzen Welle. Der Bereich der Home Diagnostics und Telemedi-            oder Amazon verfügen über eine Datenfülle wie nie zuvor und
zin etwa gehört seit Jahren zu den am stärksten wachsenden Be-          sie nutzen diese jeden Tag, ohne dass wir es merken. Die NSA-
reichen der Gesundheitsindustrie. Der Tag, an dem wir unsere            Geschichte ist nur die Spitze dieses Eisbergs.
Körperfunktionen ununterbrochen überwachen, dokumentieren
und analysieren lassen, dürfte nicht mehr allzu weit sein. Kultu-           Was tun angesichts dieser Entwicklungen, die zu überblicken
rell gesehen passiert hier nichts anderes als die Verschmelzung         immer schwieriger wird? – Den Aus-Knopf drücken? Warten, bis
zwischen Mensch und Maschine.                                           der Akku leer ist? Auf eine einsame Insel fahren – mit einem
                                                                        Flug, den man zuvor per Smartphone gebucht hat – oder ins
Die Sensoren der Kunst                                                  Kloster gehen, mindestens mal für ein paar Tage? Begriffe wie
In der Geschichte der Moderne ist dieses Thema nichts Neues,            Auszeit, Wellness und Abschalten bedienen genau diese Vorstel-
sondern ein zentrales Element. Es wurde in Literatur, Kunst und         lung. Realistisch ist all dies aber nicht. Kaum ist der Akku gela-
Film immer wieder dargestellt, so etwa im berühmten Film                den, der Urlaub auf der Insel vorbei und der Meditationskurs ab-
«Modern Times» von Charles Chaplin. Die Verschmelzung von               solviert, dreht sich das Hamsterrad wieder von Neuem. Wir müs-
Mensch und Maschine ist auch ein Thema des australischen Per-           sen mit dem Wandel leben, auch wenn er uns manchmal zu
formance-Künstlers Stelarc, der immer wieder in der Schweiz             schnell ist. Der Kulturwissenschafter Wolfgang Coy hat das auf
Gast war. In den 90er-Jahren etwa hat er mit «Stomach Sculptu-          den Punkt gebracht: «Dass etwas geschieht, ist unbestritten. Was
re» eine Skulptur geschaffen, die mit einem Endoskop zunächst           geschieht, wird allerdings sehr verschieden interpretiert ... So wie
in seinen Magen befördert werden musste. Dort hat es dann Sig-          es aussieht, müssen wir uns also auf lange Zeit in einer Folge von
nale gesendet, die ihrerseits aber auch nur per Endoskop und            Beta-Versionen der Informationsgesellschaft einrichten. Wir kön-
Videoübertragung zu sehen waren. Ebenfalls in den 90er-Jahren           nen und wollen nicht zurück, und wir wissen doch nicht wirk-
hat er sein «Exoskeleton» geschaffen, ein sechsbeiniger Roboter         lich, wo es hingeht. Und wir wissen nicht einmal sicher, ob das
mit dem Künstler in der Mitte. Und der Künstler hatte sich nicht        Ganze die Mühe wert ist.»
geirrt: Ähnliche Erfindungen wurden Jahre später von Militär-
technologen präsentiert.                                                * Die Frage, was denn die Ausserirdischen über uns denken, ob sie unsere
    Und so ist das Smartphone weit mehr als ein technisches Ding        Bücher lesen und unsere Filme anschauen, ist eine Frage, welche die Lite-
oder ein Gadget. Es wird zu einem Leitobjekt der Gegenwartskul-         ratur seit der Entdeckung des Teleskops im 16. Jahrhundert umtreibt.
tur. Und steht kulturgeschichtlich neben bahnbrechenden Erfin-          Und sie ist auch das Thema eines Nationalfonds-Forschungsprojektes, das
dungen wie dem Telefon, der Eisenbahn und der industriellen             der Zürcher Uniprofessor Philipp Theisohn leitet. Das Interview des Au-
Massenproduktion. Sie haben den wirklichen und den sozialen             tors mit Philipp Theisohn:
Raum verändert und das Leben beschleunigt. Im Zentrum der
Entwicklungen der Moderne stand immer das Individuum, das
zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wurde. So gesehen ist
auch das Smartphone eine Fortschreibung dieser Geschichte.                               www.digitalbrainstorming.ch/de/multimedia/audio/
                                                                                         2013_philipp_theisohn
Die Flut der Reize
Das beschleunigte Leben bringt bekanntlich auch Sinnesleere,
Depression und Burn-outs mit sich. Daran ist nicht das Smart-
phone schuld – auch wenn seine Antennen uns für diese Krank-               Dominik Landwehr (*1958) ist Kultur- und Medienwissenschenschaftler und leitet
                                                                           den Bereich Pop und Neue Medien in der Direktion Kultur und Soziales beim Migros-
heiten tendenziell wohl empfänglicher machen. Die Symptome                 Genossenschafts-Bund. Er befasst sich mit gesellschaftlichen und kulturellen Pers-
sind alles andere als neu: Nervosität und Neurasthenie (Nerven-            pektiven der Digitalisierung und ist publizistisch in verschiedenen Bereichen tätig: Er
                                                                           bloggt unter www.sternenjaeger.ch und www.digitalbrainstorming.ch. Zuletzt erschien
schwäche) sind Begriffe, die untrennbar mit der Moderne zusam-             von ihm das Buch «Political Interventions» in der neuen Buchreihe des Migros-Kultur-
menhängen. Wichtige Denker haben sie schon im 19. Jahrhun-                 prozents «Edition Digital Culture».

                                                                    9
93 %

Das Smartphone hat die Trennung zwischen realer und virtueller Welt aufgehoben,
sagt Sabine Himmelsbach, Direktorin des Hauses für elektronische Künste in Basel.
Dadurch gehen wir auch anders durch die Welt.
    Von Pierre Hagmann

Flanieren war einmal
                                                                             Sabine Himmelsbach, mit der Allgegenwart des Smartpho-
                                                                             nes kommt die virtuelle Welt der realen Welt immer näher.
                                                                             Wo liegen die Grenzen dieser Annäherung?
                                                                             Die Trennung zwischen realem und virtuellem Raum ist bereits
                                                                             aufgehoben. Das Digitale überlagert das Physische.

                                                                             Leidet darunter das Überlagerte, also das reale Leben?
                                                                             Ich verstehe die Überlagerung eher als ständige Ergänzung. Möglich
                                                                             gemacht durch das Konvergenzgerät Smartphone, das dominieren-
                                                                             de Gerät unserer Zeit, wichtiger als der stationäre Rechner. Einige
                                                                             Leute scheinen aber schon zu leiden: Es gibt ja bereits einen Fach-
                                                                             ausdruck für die Angst vor der Handylosigkeit, die Nomophobie. In
                                                                             den USA werden Retreats veranstaltet, wo Leute ihr Smartphone
                                                                             abzugeben haben – die Abbruch-Quote liegt bei etwa 80 Prozent,
                                                                             viele geben nach zwei Tagen auf.

                                                                             In einem Text zu Ihrer Ausstellung «Sensing Place» 2012
 Sabine Himmelsbach, Direktorin des Hauses                                   schreiben Sie, dass durch Smartphones unsere Wahrneh-
 für elektronische Künste in Basel                                           mung neu gestaltet wird. Wie meinen Sie das?
                                                                             Ein Ort sieht nicht anders aus, aber es kommen neue Faktoren dazu.
                                                                             Ich bewege mich über Google Maps fort und trage damit auch das
                                                                             virtuelle Bild des städtischen Raums mit. Das hat zur Folge, dass
An der Oslostrasse im Dreispitzareal liegt das Haus für elektronische        ich mich ganz anders orientiere, weil ich nun von dieser zweidi-
Künste Basel. Sieben Minuten für 500 Meter von der Tramhaltestel-            mensionalen Karte ausgehe und mich auch im Physischen danach
le bis zum Interviewtermin, sagt Google Maps. Der Blick geht rauf            strukturiere. Dann checke ich auf Fourth Square, wo sich meine
und wieder runter, oben viele Baustellen, unten der Retina-Display,          Freunde gerade aufhalten. Der Informationsraum wird immer
und schliesslich ist die rote Stecknadel in sechs Minuten erreicht.          gleich mitgedacht, das ist zentral. Ich erlebe die Stadt heute also
Das Haus für elektronische Künste Basel gibt es seit drei Jahren, im         weniger über das Flanieren als über gezielte Informationen vom
November zügelt es in einen Neubau gleich nebenan. Das Haus will             Smartphone.
sich als nationales Kompetenzzentrum für Medienkunst und die
Reflexion neuer Technologien etablieren. Es geht um grosse Fragen:           Haben wir das Flanieren verlernt?
Wie verändert sich unsere Welt durch die Technologie, wie verän-             Nicht unbedingt, aber man tut es nicht mehr automatisch, weil wir
dern wir uns? Sabine Himmelsbach aus Deutschland ist Direktorin              effizienzgesteuert sind, dem Zufall weniger Raum geben. Heute
des Hauses. Die 48-Jährige beschäftigt sich unter anderem mit der            muss man sich diese Zeit bewusst nehmen. Der amerikanische
medialen Durchdringung des urbanen Raums.                                    Künstler Mark Shepard hat eine App entwickelt, die dem Zufall

                                                                        10
92 %

                                                                             Das steckt in
                                                                             unserem Smartphone
                                                                             Über 60 verschiedene Rohstoffe aus der ganzen Welt
                                                                             braucht es für ein einziges Handy. Damit sind seltene
                                                                             Erden und exotische Metalle unsere ständigen Begleiter.
                                                                             Ein Überblick.
                                                                             Texte Janine Kopp; Zeichnungen Mart Meyer

wieder eine Chance gibt. GPS-Dienste wollen die Leute normaler-
weise auf einfachstem Weg von A nach B bringen. Mit Shepards
Serendipitor-App wird man nach dem Zufallsprinzip und über Um-
wege losgeschickt, hat unterwegs Aufgaben zu lösen, zum Beispiel
ein Foto von einer Brücke zu machen oder Leute anzusprechen. ­
So wird man wieder zum Flaneur. Seine App ist ein ironischer
Kommentar.                                                                         Der Look: Handy-Gehäuse
                                                                                   Die äussere Hülle eines Smartphones besteht grösstenteils
                                                                                   aus Kunststoff, Glas, Keramik und Aluminium. Letzteres
Und das macht sie zu Kunst?                                                        ist eines der häufigsten Metalle in der Erdkruste. Das Leicht-
                                                                                   metall sorgt für das geringe Gewicht des Handys, macht es
Kunst denkt quer und hinterfragt: Was bedeutet das eigentlich, was
                                                                                   robust und verleiht ihm einen edlen Look.
wir da tun? Was sind die Chancen, die Ambivalenzen, was die Ge-
fahren von mobilen Technologien? Durch ironische Kommentare
kann Kunst diese Ambivalenzen ins Bewusstsein rücken. Ein ande-
res Beispiel dafür ist eine Augmented-Reality-App eines bulgari-
schen Künstlers. Hintergrund: Kunst im öffentlichen Raum wird oft
kontrovers diskutiert. Aktuellstes Beispiel ist der Zürcher Hafenkran
– manche finden ihn toll, andere ganz schrecklich. Über die App
kann man ein Monument in einen urbanen Raum verpflanzen. Als
müssten wir also gar nicht mehr physisch bauen; wer will, für den
ist es, auf dem Handy-Display, da, und für den anderen eben nicht.
Viele andere künstlerische Projekte sind Reflexionen darauf, dass
wir immer getrackt, also örtlich aufgespürt werden können.

Die Mehrheit der Menschen scheint die Überwachung nicht
wirklich zu beunruhigen.
Die Menschen profitieren von den Tracking-Technologien auf ihren
Mobilgeräten, dadurch wurde die Überwachung schrittweise sym-
pathisch gemacht. Datenströme können im gesellschaftlich konst-
ruktiven Sinn benutzt werden. Stichwort Smart-City, wo die techni-
sche Infrastruktur einer Stadt auf das Verhalten ihrer Bürger re-
agiert. Um den Verkehr besser zu lenken, zum Beispiel. Der Mensch
nutzt also die Erleichterungen und nimmt die Kehrseite – die Kon-
trolle – offenbar in Kauf. Wenn ich aber mitkriege, dass Angela
Merkels Handy abgehört wird, ist das beängstigend. Die Kunst wird
da immer ihren Finger draufhalten.

                                                                        11
89 %

Die neue
Echtzeit-Sprache
Die neuen smarten Möglichkeiten der Fotografie lassen uns durch Bilder sprechen.
Und da wir das sehr schnell tun, verplappern wir uns dabei gerne mal.
    Von Susanne Gmür

In Grossbritannien schiesst ein Smartphone-Nutzer gemäss einer            hand gefertigte Porträt. Charles Baudelaire regte sich schon 1859
Umfrage im Schnitt ein bis zwei Bilder pro Tag. Hochgerechnet             mächtig auf über die neue Industrie: «Von diesem Moment an
auf die weltweit 1,43 Milliarden Smartphone-Nutzer ergäbe das             war es das einzige Bestreben dieser unsauberen Gesellschaft, wie
2,15 Milliarden Bilder täglich. Wollte man eine einzige solche Ta-        ein einziger Narziss ihr triviales Bild auf der Metallplatte zu be-
gesproduktion sichten und würde pro Bild eine Sekunde aufwen-             trachten.» Wieder andere wenden jedoch ein, dass es bei den Sel-
den, dauerte das ein Menschenleben lang, nämlich 68 Jahre. So             fies vor allem um soziale Anerkennung gehe. Die hat Narziss
viel ist seit der Erfindung von Daguerre um 1840 zweifellos noch          bekanntlich nicht nötig, er ist sich ja selbst genug. Selfies werden
nie fotografiert worden. Wobei man sich über die Menge an foto-           meist für den eigenen Freundeskreis gemacht, die «Selbstablich-
grafischen Bildern schon früh unterhalten hat: Im Jahr 1905 – 17          ter» fallen also nicht auf ihr eigenes Spiegelbild herein, sondern
Jahre, nachdem Kodak die erste in grösserem Stil industriell ge-          wollen sich von anderen gespiegelt kriegen. Und ein solcher Aus-
fertigte Rollfilmkamera auf den Markt gebracht hatte, und lange           tausch zwischen dem Ich und dem Anderen begründet gerade
bevor sich in den 1960er-Jahren die weitgehend automatisierte             Sozialität.
Kleinbildkamera rasant verbreitete – vermerkte der Philosoph
George Santayana: «Fotografien füllen unsere Räume, Läden und             Du bist die Kamera, und die Kamera ist du
Zeitschriften.» Er bewertete das durchaus positiv: «Sie […] geben         Die Selfies werden es wie annähernd alle Smartphone-Fotos
eine lebendige Vorstellung von dem, was überall in der Welt an            kaum je in ein Fotoalbum schaffen – das ist praktisch tot. Sie lan-
interessanten Szenen abläuft. Und die Reisenden führen nun ein            den dafür mit einiger Wahrscheinlichkeit auf einem Kanal der
doppeltes Sensorium mit sich, ein doppeltes Gedächtnis, das eine          Social Media, zum Beispiel auf Facebook, wo sie im News-Feed
in ihren Köpfen, das andere in einem kleinen Kasten, der über             mehr oder weniger Likes finden, bevor sie in der Timeline runter-
ihrer Schulter hängt.»                                                    rutschen, in die Zone des nicht Aktuellen, des längst schon durch
    Aber erst seit 2005, als erstmals Digitalkameras in Mobilte-          neue Bilder Ersetzten. Sie werden im unendlichen Speicher
lefone eingebaut wurden, hat man einen abermals kleineren                 höchstens mal wieder für neue «Freunde», mögliche Arbeitgeber
«Kasten» ständig und nicht mehr nur auf Reisen griffbereit: beim          oder Geheimdienste interessant. Lobte Santayana 1905 die Foto-
Essen, bei der Arbeit, beim Joggen, auf dem Spielplatz, beim              grafie noch als kollektives Gedächtnis mit unbegrenztem Spei-
Shoppen, am Konzert, in der Bar, im Schlafzimmer. Fast alles              cherraum, sieht man heute gerade in der massenhaften Verbrei-
gibt Anlass zu einem Bild, am häufigsten wird jedoch das eigene           tung und Speicherung privater Daten die grösste Problematik.
Gesicht fotografiert. 30 Prozent der Smartphone-Fotos von 18- bis             Die Fotografie, um Santayanas Optimismus nochmals etwas
24-jährigen Briten sind Selbstporträts, sogenannte Selfies. Man-          zu drosseln, ergänzt auch nicht unbedingt die Erinnerungskapa-
che sprechen begeistert von einem neuen Bildgenre, andere von             zität unseres unvollkommenen Gehirns, sondern ersetzt sie mit-
unerträglich gesteigertem Narzissmus – eine Kritik, die allerdings        unter vollständig. Es braucht Zeit, sich einen bleibenden Eindruck
so alt ist wie die Fototechnik und mit ihr das nicht von Künstler-        von der Architektur einer Stadt zu verschaffen oder sich ein Ge-

                                                                     12
87 %

                                                                                             Der Energiespeicher: Handy-Akku
                                                                                             Lithium, Grafit und Silizium sorgen für die elektrische Span-
                                                                                             nung und Energiespeicherung im Lithium-Ionen-Akku. Kobalt
                                                                                             macht den Akku zudem hitzebeständig. Dieses wird aus uranhal-
                                                                                             tigem Kobalterz gewonnen, das aufgrund seiner Radioaktivität
                                                                                             problematisch ist. Im Kongo oder in Sambia hinterlässt der Abbau
                                                                                             verseuchte Böden und verschmutztes Trinkwasser.

sicht einzuprägen. Und es ist anstrengend, solche Erfahrung ohne
Hilfe von Bildern weiterzuerzählen. Oft ist es deshalb nur noch
das Bild im Smartphone, das diese Erfahrung überhaupt gespei-
chert hat. Wenngleich Minolta schon 1967 mit dem Slogan
«Dann sind Sie die Kamera, und die Kamera ist Sie» warb – heute
steckt darin mehr Wahrheit als damals, zur Zeit des 35-mm-
Films.

Schau, ich grilliere
Das schnelle Bild kommt dem beschleunigten Leben entgegen,
es ist Ausdruck davon und sein ideales Instrument. Hatte sogar
Twitter 2006 noch ganz dem Text gehuldigt, baute das Unterneh-
men 2011 die Bildfunktion ein und inzwischen versteht man vie-
le Tweets gar nicht mehr, ohne das Bild anzuschauen. Vorteil des
Bildes: Es speichert und zeigt Informationen synchron und wirkt
unmittelbarer als ein Text, der uns die Dinge der Reihe nach er-
zählt. Das ist zugleich aber auch der grösste Nachteil des Bildes.
Zumindest solange Bildkompetenz in der Bildung nicht die glei-
                                                                          Der Stromfluss: Kondensatoren
che Aufmerksamkeit erhält wie Sprachkompetenz, ist zu fragen,             Kondensatoren speichern elektrische La-
wie viel die Kommunikation durch Bilder zu einem komplexen                dung. Dazu wird das dunkle Halbmetall
                                                                          Tantal pulverisiert. Bereits in kleinsten
und differenzierten Weltverständnis tatsächlich beitragen kann.           Mengen kann so auf engem Raum sehr viel
Dass es in diesem Bereich ausserhalb der Kunst keine nennens-             Energie fliessen. Tantal wird aus dem sel-
                                                                          tenen Coltan gewonnen – ein Stoff, der in
werten Entwicklungen gibt, erfährt nicht zuletzt, wer die Tages-          rund 25 Jahren aufgebraucht sein wird.
schau ohne Ton ansieht. Man begreift dann nämlich wenig bis               Rebellen im Ostkongo führen deshalb
                                                                          Krieg um die Minen und finanzieren durch
gar nichts.                                                               den Abbau ihre Waffen. Die Folgen:
    Wenn nun die Bilder praktisch ohne Zeitverzögerung via                Zwangs- sowie Kinderarbeit, zerstörte
                                                                          Dörfer und Vergewaltigungen. Zudem wer-
Social Media verbreitet werden, ist auch Roland Barthes Diktum            fen Hilfswerke Konzernen wie Glencore
von 1980 zu relativieren. Er konnte noch festhalten, ein Foto             vor, auf Kosten der dortigen Bevölkerung
sage: «Es ist so gewesen.» Nun sagt es immer öfters: «Es ist so.»         Rohstoffe zu gewinnen.

Nicht: ich stand, sondern ich stehe auf der Piazza in Santa Mar­
gherita und esse Eis, ich bin am Grillieren, ich feiere mit Freun-

                                                                     13
80 %

den. Fotos werden nicht mehr in erster Linie gemacht, damit               Wer will behaupten, dass Obama nachdachte, bevor er von sich,
man sich später erinnern kann an die schönen alten Zeiten, son-           dem britischen Premierminister und der dänischen Premiermi-
dern vielmehr, um unmittelbar mitzuteilen, was man gerade tut,            nisterin während der Trauerfeier zum Tod Nelson Mandelas la-
wo man gerade ist. Wir sprechen in Bildern, und das in Echtzeit.          chend ein Gruppen-Selfie machte? Weiterer Nachteil des Bildes:
                                                                          Es lässt kaum Raum für Missverständnisse und deren Korrektur.
Hemmungslos schnell                                                       Es zeigt, was es zeigt.
Dabei ist die Technik dermassen schnell, simpel und «intuitiv»                Die Fotografie wächst mit dem Smartphone gewissermassen
zu bedienen, dass zwischen der Absicht, ein Foto zu schiessen,            über sich hinaus. Seit jeher ist sie zwar das Medium des Mo-
es tatsächlich zu tun und das Bild sogleich zu veröffentlichen nur        ments, des Augenblicks, des Flüchtigen, das es zu verewigen im-
ein paar Klicks und Sekunden notwendig sind – zu wenige, um               stande ist. War es aber lange nur das resultierende Bild, das dies
es sich vielleicht anders zu überlegen und sich nicht mit einem           zum Ausdruck brachte, ist nun das Fotografieren selbst augen-
«Drelfie» (Drunken Selfie) oder «Belfie» (Bild seines Hinterteils)        blicklich geworden. Es mag die schöpferischen Möglichkeiten be-
zu blamieren. Rasch schiebt sich das Smartphone zwischen die              reichern, wenn man in Echtzeit nicht nur durch Worte, sondern
Sinne und die Welt, rasch ist die Kamera zum Schiessen bereit,            auch durch Bilder sprechen kann. So impulsiv jedoch die Bilder
rasch ist das Bild in die Kommunikation eingebunden. Man eig-             geschossen werden, so rasch werden sie betrachtet und wieder
net sich an, so einfach, so schnell, so spontan, so hemmungslos           vergessen. Zeit für Bilder hat man eigentlich keine mehr – auch
wie die Technik zu sein, dem Impuls zu folgen, jetzt und hier.            weil man immer mehr damit beschäftigt ist, welche zu machen.

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                                                                                                                                                                                    2.- 4. M I 2014
                                                                                                              T NZT ÜBER LL !
                                                                                                                                                                                                                                                Foto: federal studio

                                                                                                              Baden | Belfort | Bern | Carouge | Fribourg | Genève | La Chaux-de-Fonds | Lausanne | Luzern | Lugano | Meyrin
                                                                                                                                                                                                                                                Kommunikation und Grafik: trivialmass.com

                                                                                                              Neuchâtel | Poschiavo | Saignelégier | St. Gallen | Tavannes | Vernier | Vevey | Yverdon-les-Bains | Zug | Zürich

                                                                                                                                                                                                                  Aufnahmeort: La Ferme Bieri

                                                                          13063-FDD14-Affiches_F4_DE.indd 1                                                                                                                                                           12.02.14 12:19

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78 %

Kunst um Sarnen per GPS
aufspüren
Mit dem Smartphone in der Hand auf Wanderschaft gehen und dabei künstlerische
Entdeckungen machen – die «Wandersammlungen» zweier Künstlerinnen machen dies
rund um Sarnen möglich.
    Von Mario Stübi

Wer derzeit eine Wanderung in Obwalden plant, sollte sein
Smartphone oder Tablet besser frisch aufgeladen mitnehmen,
denn dort kann man auf Wanderwegen nicht nur Natur genies­
sen, sondern auf digitalen Pfaden auch Kunst entdecken. Dies
dank Ilona Mosimann (25) und Vera Leisibach (27). Die beiden
Luzernerinnen haben vergangenen Sommer ihren Master in
Kunst an der Hochschule Luzern abgeschlossen und hierfür rund
um Sarnen eine Sammlung an Objekten dokumentiert und
künstlerisch verarbeitet.
     Dort drüben am Wegrand, hier an der Hauswand, am Zaun,
Steinernes, Organisches – rund 90 Objekte haben die beiden
Künstlerinnen in und um Sarnen gezeichnet, mit Worten be-
schrieben, mit der Mikroskopkamera gefilmt oder durch ein Ka-
leidoskop fotografiert und anschliessend mittels GPS-Daten loka-
lisiert. Diese Koordinaten dienen nun den Wandernden als Pos-
                                                                           Vera Leisibach und Ilona Mosimann auf Sammeltour. Bild: zvg
ten, die sie ansteuern können. Eine Art Schnitzeljagd, aber ohne
feste Route, sondern nach (Wander-)Lust der Entdecker mit dem
Touchscreen in der Hand.
                                                                          und Objekt fällt durchschnittlich 10 MB mobiler Datenverkehr
     Entdecken, mit aufmerksamem Auge durch die Landschaft                an. Sollte innerhalb des Wandergrüppchens niemand über einen
gehen, war auch das Vorgehen der Studentinnen. «Sobald wir et-            Unlimited-Vertrag verfügen, kann es von Vorteil sein, bei der Er-
was Spannendes sahen, hielten wir an. Kleine, oft winzige Ge-             kundung der Kunstfundstücke die Smartphones abzuwechseln.
genstände bestimmten zufällig, wo wir Pause machten und einen
Fundort genauer untersuchten», erinnert sich Ilona Mosimann.                Infos: www.wandersammlungen.ch
Die Idee, die künstlerische Verarbeitung auf einer digitalen Ebene          Video einer geführten Wanderung durch Sarnen:
weiterzuführen, kam dem Duo aber erst während der Umset-
zung. Mosimann: «Wir haben uns überlegt, wie wir diese Ein-
drücke den Menschen vermitteln könnten. In Bildern ist dies
schliesslich nur bedingt fassbar. Hinzu kam irgendwann die Ab-                            http://vimeo.com/69239045
sicht, dass wir die Leute vor Ort haben wollten, draussen in der
Natur.» Und so entschieden sich die beiden, eine online verfüg-
bare Aufbereitung für mobile Endgeräte bereitzustellen. Schliess-
lich besitzt inzwischen ein Grossteil der Bevölkerung ein Smart-
phone oder ein GPS-fähiges Tablet.                                         Selbst «wandersammeln»
     Auf der Wandersammlungen-Website werden das Projekt und               Am SA 3. Mai bietet Ilona Mosimann eine Wanderung zum Tribschen-
die technischen Voraussetzungen verständlich erklärt, es über-             horn-Pavillon an. Die Teilnehmenden können unterwegs der Künstlerin
kommt einen die Neugier, selber von Punkt zu Punkt zu spazie-              beim Suchen und Filmen von Kleinstobjekten helfen und an den Fundorten
ren und herauszufinden, ob man das entsprechende Objekt loka-              ihre eigenen Beobachtungen durch schreiben, zeichnen und fotografie-
lisieren kann bzw. was sich dort befindet. Neben bequemem                  ren festhalten. Am Ziel wartet schliesslich eine Ausstellung von Moritz
                                                                           Hossli und Tatjana Erpen (www.tribschenhorn.ch). Treffpunkt für inte­
Schuhwerk und energiereichem Proviant im Rucksack kommt
                                                                           ressierte Wanderinnen und Wanderer ist um 15.30 Uhr bei der Bushal-
hier ein weiterer Bestandteil zur Wanderausrüstung hinzu: ein
                                                                           testelle Horw, Stutz (Bus Nr. 21).
voller Akku und genug Datenvolumen im Natelabo – pro Station

                                                                     15
73 %

«Jetzt zählt das Analoge»
Kunst und Design nehmen im digitalen Zeitalter neue Funktionen ein, sagt Gabriela
Christen, Direktorin der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Ein Gespräch über das
Revival des Analogen, Kunststudierende von heute und den Anbruch des postdigitalen
Zeitalters.
    Von Martina Kammermann

Die letztjährige Werkschau der «Kunsti» stand im Zeichen
des «Postdigitalen». Aber die Digitalisierung ist doch noch
in vollem Gange!
Gabriela Christen: Ja, wir leben in einer stark digitalisierten Welt,
die uns lange sehr faszinierte. Aber das Interesse geht zurück. Wir
sind an einem Punkt, an dem wir unsere Geräte, unsere Interfaces
zum Digitalen kennen. Sie verändern sich nur noch wenig, das
iPhone 5 zum Beispiel unterschied sich kaum von seinem Vorgän-
ger. Die Schnittstellen zwischen Analogem und Digitalem sind da –
jetzt gilt es, die beiden Bereiche zu verbinden.

Mit einem 3-D-Drucker ist das eigentlich gar nicht so schwer.
Das stimmt. Mit durchschnittlichen Kenntnissen kann jeder ein
Spielzeug designen und ausdrucken, aber es ist dann einfach braun
oder schwarz, und meistens hässlich. Die Herausforderung der 3-D-
Techniken ist, nun Qualität reinzubringen, und dazu braucht es ein
Wissen um das analoge Herstellen, das Haptische. Deshalb spreche
ich vom postdigitalen Zeitalter. Da nehmen Kunst und Design heute              «Da ist eine neue Sehnsucht nach dem Material»:
ganz neue Funktionen ein.                                                      Gabriela Christen, Direktorin der HSLU – D&K.
                                                                               Bild: Gianni Paravicini

Welche?
Es geht darum, das Material, das Taktile wieder sichtbar zu machen
und das Wissen darüber zu sichern. Wir als Kunsthochschule neh-               An Ihrer Schule studieren die ersten Digital Natives. Haben
men diese Aufgabe wahr, indem wir Holz- und Metallwerkstätten                 diese mehr Mühe, mit Material umzugehen?
bewirtschaften und Materialarchive aufbauen. Auch die Rolle des               Nein, im Gegenteil. Das Interesse an Materialien und ihrem Wider-
Museums verändert sich: Es ist ein Ort, wo man hingehen muss und              stand ist sehr gross – gerade bei den Digital Natives. Sie wollen wis-
Dinge bewusst ansieht. So schaffen Kunst und Design einen Zugang              sen, wie man das – auch traditionell – gemacht hat und streben so
zu Sinnlichkeit.                                                              eine ganzheitliche Gestaltung an.

Braucht es heute nicht eher Studiengänge für digitale                         Das heisst, sie wollen wieder zurück ins Früher?
Medien?                                                                       Nein, das führt überhaupt nicht in die Nostalgie. Es geht um die
In den 90ern hat man an der Zürcher Hochschule der Künste eine                Erfahrung: Das analoge Arbeiten gibt dreckige Hände, es braucht
Studienrichtung «Neue Medien» aufgebaut – heute löst sich dieser              Zeit, man muss sich organisieren, man muss auch mal warten, bis
aber bereits wieder auf. Die digitalen Medien gehören zu jedem un-            etwas trocken ist. Oder die Maschinen: Du darfst eine Maschine
serer Studiengänge dazu, sie sind Voraussetzung. In Luzern hat man            nicht benutzen, wenn du die Einführung nicht gemacht hast. Mit
diesen Zwischenschritt sozusagen verschlafen und die Tradition der            dem iPhone darf jeder alles machen.
Werkstätten hochgehalten. Eine Zeit lang sah das altmodisch aus,
aber jetzt ist es das, was alle wollen. Basel und Bern versuchen jetzt        Im Alltag sind wir aber sehr an unsere Smartphones gebun-
auch solche Arbeitsplätze aufzubauen. Im Übrigen spürt man diese              den, im Bus glotzen alle nur in ihre Bildschirme.
Sehnsucht nach dem Analogen momentan ja überall: Alle machen                  Ja, viele Leute verbringen extrem viel Zeit im Digitalen. Da frage
Urban Gardening oder stricken.                                                ich mich schon, wie man eigentlich noch zu einer dichten körper-

                                                                         16
69 %

lich-materiellen Existenz kommt. Ich staune, wie die Jungen sich
orientieren können.

Es ist ja fraglich, wie gut sie das wirklich können. Depressio-
nen und Burn-outs häufen sich bei jungen Leuten bekannt-
lich. Spüren Sie das seitens Ihrer Studierenden?
Eigentlich nicht. Aber das liegt vielleicht eben genau an unserem
Angebot. Ein Teil des Unterrichts findet direkt in den Werkstätten
statt und wir arbeiten sehr dialogisch. Die Studierenden lernen,                         Der Bildschirm: Display und Touchscreen
mit Leuten in einem Raum zusammenzuarbeiten und zu kommu-                                Smartphone-Displays leuchten aufgrund von Metallen von seltenen Erden.
                                                                                         Gadolinium und Terbium etwa sorgen für den grünen, Europium für den
nizieren.                                                                                roten Leuchtstoff. Dank dem silberweissen Schwermetall Indium können
                                                                                         wir mit dem Finger über den Touchscreen streichen und navigieren. Die EU
Das klingt ein wenig, als wären die Werkstätten Therapie-                                hat das Metall wegen seiner Knappheit auf die Liste der «kritischen Stoffe»
                                                                                         gesetzt. Die fast ausschliesslich in China (v. a. in der Mongolei) abgebauten
plätze gegen das moderne Leben.                                                          seltenen Erden machen die Bauteile für Handys kleiner und effizienter. Sie
Ja, vielleicht schon (lacht). Man lernt dort jedenfalls Dinge, die im                    können aber nur mit aufwendigen chemischen Verfahren aus den Mineralien
                                                                                         herausgelöst werden. Ihre Nachfrage steigt ständig, sodass seltene Erden
digitalen Arbeiten ganz anders funktionieren. Es ist nicht alles so-                     als das «Öl der Zukunft» gelten.
fort da, es ist nicht so «instant». Und es gibt auch eine Kultur des
Scheiterns in diesem Analogen. Man kann einen Arbeitsschritt
nicht einfach löschen oder escapen.

Ihre Studierenden bewegen sich täglich im Bilderrausch.
Ist es für sie heute schwieriger, eine eigene künstlerische
Sprache zu finden?
Ich denke nicht, dass der Bilderrausch das Problem ist. Eine grössere
Herausforderung ist die Welt, in der alles ökonomisiert ist. Hier ist
man als Künstlerin oder Designer mit einer veränderten Realität
konfrontiert. Es ist schwieriger geworden, den Wert eines individu-
ell gestalteten Objekts zu vermitteln. Dort geraten auch die Ausbil-
dungen stark unter Druck. Wir müssen lernen zu zeigen, warum es
Leute braucht, die sich mit dem Einzelnen auseinandersetzen.

Handwerker gibt es ja heute kaum mehr. Nehmen nun die
Künstler ihren Platz ein und sind sowas wie die neuen Hand-
werker?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Designerinnen und Künstler
sind Spezialisten für das nachhaltige Leben, in allen Belangen. Das
wird jetzt, in der Dienstleistungsgesellschaft, einfach akuter.

  Magazinreihe der HSLU – D&K                                                           Der Kreislauf: Leiterplatte oder Platine
  Verschiedene Texte zum Spannungsfeld zwischen Virtuellem und Hand-                    Die unzähligen elektronischen Bauteile im Handy sind auf einer
                                                                                        Leiterplatte montiert, die meist mit Kupfer überzogen ist. Die
  werk finden sich im Magazin «No. 3» der Hochschule Luzern – Design &                  grössten Kupferminen liegen in Chile. Der durch den Abbau
  Kunst. In der Magazinreihe setzen sich jeweils verschiedene Autoren aus               entstehende Feinstaub führt zu gesundheitlichen Risiken der
  Kunst und Wissenschaft mit Themen auseinander, die für die Hochschule                 Minenarbeiter. Über ein Dutzend weitere Metalle befinden sich
                                                                                        auf der Leiterplatte, darunter auch Silber und Platin.
  besonders prägend und wichtig sind. Diesen Monat erscheint das Magazin
  «No. 4», das Einblick in die 100-jährige Tradition und die aktuelle Bedeu-
  tung des Luzerner Textildesigns gibt. Zusätzlich zur Publikation findet in der
  Kunsthalle die Ausstellung «Made by …» zur Textildesignausbildung statt.
  Gezeigt werden Arbeiten, Projekte und Entwürfe von Studenten und Absol-
  ventinnen sowie aktuelle Forschungsarbeiten. Auch findet ein Designsemi-
  nar zum Thema statt. (mak)

  Ausstellung: Made by …, FR 2. bis SA 31. Mai, Kunsthalle Luzern.
  Ausstellungs- und Buchvernissage: DO 1. Mai, 19.30 Uhr, Bourbaki Luzern
  Designseminar: MI 7. Mai, 14–19.30 Uhr, Bourbaki Luzern. Der Eintritt ist
  frei. Infos und Anmeldung unter www.hslu.ch/designseminar

                                                                                   17
63 %

Alles halb so wild

Beziehungskiller! Süchtigmacher! Und eh alles nur Geldmacherei! Wenn es um
Smartphone-Games geht, droht schnell mal die Moralkeule. Dabei geht es nur um
eines: das menschliche Grundbedürfnis der Selbstbelohnung.
    Von Heinrich Weingartner

Man kennt sie aus VBL-Bussen oder entdeckt sie im überfüllten                 Aber das ständige Gamen – ist das nicht gefährlich und asozi-
Bahnhof. Gesenkter Kopf, leerer Blick, verkrampfte Haltung.               al? Marc Bodmer winkt ab. «Das ist primär tote Zeit, die mit
Nein, die Rede ist nicht von lokalen Obdachlosen. Sondern von             Spass gefüllt wird. Smartphone-Spiele sind so konzipiert, dass sie
Smartphone-Game-Junkies. Ob «Flappy Bird», «Quizduell»,                   Häppchen bieten und ideal für den schnellen Unterbruch unter-
«Candy Crush Saga» oder «Clash of Clans», das Menschenmodell              wegs sind. Mit Sucht hat das nichts zu tun.» Es passt vielmehr zu
bleibt dasselbe: Man kann nicht mehr mit ihnen kommunizieren              unserem Gesellschaftsmodell. Und das an sich ist noch nichts
und ihre Bewegungen beschränken sich auf irrsinniges Hin- und             Negatives.
Herwischen der Finger. Das gibt doch zu denken.
    Gibt es ein Rezept für solche unwiderstehlichen Gratis-Spiele?        Gratis und doch nicht gratis
Nehmen wir «Candy Crush Saga» des schwedischen Spieleent-                 So weit, so süss. Beinahe 100 Millionen Menschen spielen welt-
wicklers King Digital Entertainment: Man lässt in knallbunter             weit jeden Tag «Candy Crush Saga». Was 2013 dafür sorgte, dass
Umgebung virtuelles Naschwerk zerplatzen, indem man gleich-               es zum umsatzstärksten Spiel auf iPhone, iPad und Konsorten
farbige Süssigkeiten aneinanderreiht. Das an Tetris erinnernde            wurde. Der Börsengang folgte kürzlich. Es ist bei Smartphone-
Spielprinzip ist so simpel wie genial – oder sagen wir mal, genial        Spielen immer in etwa dasselbe: Kleines Start-up-Unternehmen
abgestimmt auf unsere Bedürfnisse. «Plopp, Plopp, Doppelplopp,            (meist skandinavisch) erfindet einfaches, bis zu einem gewissen
Dreifachplopp». Eine überwarme Morgan-Freeman-Stimme ruft:                Grad süchtig machendes Spiel, hat einen Riesenerfolg und geht an
«Sweeeeet!» – noch ein paar Plopps mehr – «Sugar Crush!». Yes,            die Börse. Bis der Umsatzanstieg abnimmt. Einen Monat später
wieder geschafft. Gleich nochmal.                                         folgt dann das nächste Spiel eines anderen Herstellers.
    Laut dem Videogame-Experten Marc Bodmer eine völlig nor-                  Doch wo kommt das ganze Geld her, wenn doch die meisten
male Reaktion: «Der Spieler oder die Spielerin bewegt den Finger,         Spiele gratis sind? Entweder durch gezielt platzierte Werbung, die
vollführt einen Input und erhält sofort etwas zurück.» Kleine             man – wiederum für Geld – ausschalten kann, oder mittels In-
Erfolgserlebnisse in Form von richtigen Antworten oder zerplat-           App-Käufen. Bei «Candy Crush Saga» beispielsweise kann ich
zenden Süssigkeiten. Feedback nennt man das. Und da diese Do-             mir die Wartezeit bis zum nächsten Spiel wegkaufen. Für ein paar
pamin-Schübe im beruflichen Alltag halt nicht immer gegeben               Rappen. Freemium nennt man dieses Geschäftsmodell. Oder
sind, holt man sie sich im Zug oder zu Hause bei einer Runde von          Free-to-Play (F2P), in der Spielindustrie. Wer darauf kommt, stellt
diesem oder jenem Game. Ein gewisser Eskapismus gehört da na-             auf seinem Gerät einfach die Uhr vor (Ja, das funktioniert!).
türlich schon dazu. Aber vielleicht sind dann nicht die Spiele das            Nicht so 1,5 Prozent der Spieler. Die sind nämlich für knapp
Problem.                                                                  die Hälfte der In-App-Umsätze verantwortlich, wie eine Untersu-

                                                                     18
60 %

chung des In-App-Vermarkters Swrve ergeben hat. Grosse Fische,
die auch mal 50 oder 100 Dollar pro Tag ausgeben. Und was ist
mit dem Rest? Wie schützen wir uns vor der Suchtmaschinerie?
«Nach einer ungesunden Anzahl an Dopamin-Kicks sehnen sich
nur diejenigen, die auch sonst eher unglücklich sind mit ihrem
Leben», sagte Suchtmediziner Kurosh Yazdi im Juni 2013 im In-
terview mit der Süddeutschen Zeitung. Auch die etwas zu einfa-
che Idee der bösen Industrie, die uns alle süchtig machen und
dann das Geld aus der Tasche ziehen will, verwirft er: «Firmen
wollen uns nicht süchtig machen, sie wollen möglichst viel ver-
                                                                                           Der Sound: Lautsprecher, Mikro und Vibra
kaufen, sie sind ja nicht die Caritas. Dabei ist es ihnen aber egal,                       Ruft uns jemand an, lösen Magnete aus Neodym den Vibrationsa-
ob wir süchtig werden. Wo es um viel Geld geht, entsteht Skru-                             larm aus. Dieses Schwermetall ist auch Bestandteil des Mikrofons.
                                                                                           Für die Mikrofonmembranen wird zudem Nickel verwendet.
pellosigkeit.»                                                                             Grösster Nickel-Lieferant ist Russland. Doch der Abbau ist wegen
                                                                                           der hohen Emissionen umstritten. Sichtbar werden diese im Win-
                                                                                           ter: Der Schnee ist nicht mehr weiss, sondern verfärbt sich gelb.
klar will ich Juwelen!
Und das ist auch der Punkt, an dem es gefährlich wird. Diese
Skrupellosigkeit macht nämlich vor Kindern und Jugendlichen
nicht halt. In «Clash of Clans», gerade der Oberhype unter Jun-
gen und Junggebliebenen, sammelt man Ressourcen, baut sich
damit seine Festung und greift andere Burgen an, um an neue
Ressourcen zu gelangen. Und redet am nächsten Tag darüber, was
man gerade gebaut oder zerstört hat. Für Marc Bodmer ist das
erstmal nicht weiter problematisch: «Es ist wichtig für eine junge
Generation, dass sie etwas Verbindendes hat, worüber sie sich
unterhalten kann, und ‹Clash of Clans› ist dafür perfekt ge-
macht.»
    Nur bezüglich des Finanzierungsmodells, das sich mit den
F2P-Games durchgesetzt hat, ist Bodmer sehr skeptisch: «Eigent-
lich sollte es Pay-2-Win heissen. Wenn mich ein Pop-up fragt, ob
ich für bares Geld noch einen Sack Juwelen kaufen will, um mir
noch bessere Ressourcen zu ermöglichen, statt eine Woche zu
warten, dann sagt jedes Kind: Ja, klar will ich! Ihre Entschei-
dungsfähigkeit ist noch nicht so ausgeprägt». Aber seien wir ehr-
lich: Man drückt seinen Sprösslingen auch nicht ohne vorherige
                                                                                   Das Hirn: SIM-Karte
Instruktionen und gesperrten In-App-Kaufmöglichkeiten so ei-                       Gold leitet gut und ist sehr korrosionsbeständig, d. h. es
nen kleinen Alleskönner in die Hand.                                               lässt sich nicht leicht zerstören. Deshalb wird Blattgold für
                                                                                   SIM-Karten eingesetzt. Rund 0,03 Gramm Gold befinden
    Bodmer hingegen setzt sich viel mehr dafür ein, auch den                       sich in jedem Handy. Dieses stammt aus südafrikanischen
künstlerischen Wert solcher Spiele nicht aus den Augen zu verlie-                  Goldminen, die immer wieder durch illegale Schürfungen
                                                                                   und verschüttete Minenarbeiter für Schlagzeilen sorgen.
ren. Und gibt gleich noch einen Tipp auf den Weg: «Monument
Valley, das müssen Sie sich unbedingt anschauen, die Welten sind
da unglaublich grandios gemacht und In-App-Käufe
gibt es auch keine.» Sehr gerne.

   P.S.: Gleich wie «Candy Crush Saga» funktioniert die App
«Placescore». Man spielt dabei aber um reale Orte und Lokale sei-
ner Umgebung, z. B. den Südpol oder das Kleintheater:

                                                                            Quellen: Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt), EvB (Erklärung von
              www.placescoreapp.com                                         Bern, NGO), Fairphone (ein Handy aus Rohstoffen, die nicht aus Konfliktregionen stammen).

                                                                       19
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