DIE NEUE VEREINBARKEIT - BEYOND MAINSTREAM - Roland Berger

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DIE NEUE VEREINBARKEIT - BEYOND MAINSTREAM - Roland Berger
BEYOND MAINSTREAM

DIE NEUE VEREINBARKEIT
Warum Deutschland einen Qualitätssprung bei der Vereinbarkeit
von Beruf und Familie braucht!

NOVEMBER 2014
DIE NEUE VEREINBARKEIT - BEYOND MAINSTREAM - Roland Berger
THINK ACT
                                     DIE NEUE VEREINBARKEIT

                         DIE GROSSEN 3

    Vä·ter·ori·en·tie·rung
1

    Die Unternehmen entdecken das steigende Interesse der Männer an der
    Vereinbarkeit – mit dem Wandel und attraktiven Angeboten tun sich viele
    in der Praxis bisher schwer.
    S. 9

    In·di·vi·du·a·li·sie·rung
2

    Vor allem junge Berufseinsteiger fordern, dass sich der Job in die
    Lebensplanung einfügen muss. Die Antwort der Personalmanager
    kann nur in noch mehr Flexibilisierung liegen.
    S. 15

    Part·ner·schaft·lich·keit
3

    Der Wunsch von Eltern, dass beide vollzeitnah arbeiten und sich die
    Familienarbeit fair teilen, geht bisher zu selten in Erfüllung. Ein Experte
    analysiert die Lage.
    S. 18

                                     Die Zukunft
                                    der Vereinbar­
                                   keit – das sagen
                                        andere!
                                         S. 10

    2                             ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS
DIE NEUE VEREINBARKEIT - BEYOND MAINSTREAM - Roland Berger
THINK ACT
                                               DIE NEUE VEREINBARKEIT

Der lange Weg. Deutschlands Wirt-
schaft ist in gut zehn Jahren sichtbar
familienfreundlicher geworden. Unter-
nehmen und Beschäftigte sind gut
vorangekommen. Einen weiteren Schub
braucht die Vereinbarkeit gleichwohl.

Die familienfreundliche Unternehmenspolitik blickt auf           A
eine beeindruckende Erfolgsgeschichte zurück. Inner-           SO TICKEN DIE BESCHÄFTIGTEN
halb einer Dekade ist das vermeintlich persönliche             Aussage: "Die Familienfreundlichkeit eines Unternehmens …
Problem, wie Kinder und Karriere unter einen Hut zu            [Zustimmung]
bringen seien, zu einer großen und wichtigen gesell-
schaftlichen Fragestellung geworden. Die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie wird inzwischen breit, intensiv
und mit Leidenschaft diskutiert – vor allem aber: Es                  … bestimmt meine              75%
                                                                       Wahl des Arbeit-
werden Lösungen gefunden und etabliert.                                   gebers"                   68%
    Familienfreundlichkeit ist in der deutschen Prioritä-
tenskala weit nach oben gerückt – die Politik behandelt
sie nun als Topthema, die Unternehmen machen sie
inzwischen zur Chefsache auf Vorstands- oder Ge-
schäftsführungsebene. Und was sich als wichtiger Er-                              91%              … ist mir mindestens
                                                                                                    so wichtig wie das
folgsfaktor erweist: Sie tun es Hand in Hand.
    Für die Beschäftigten ist die Aufgeschlossenheit
                                                                                  74%                     Gehalt"

eines Unternehmens für den alltäglichen Spagat, den
Eltern zwischen Job und Familienarbeit leben, im Zeit-
verlauf zu einem ganz zentralen Thema bei der Arbeitge-
berwahl geworden. Die Familienfreundlichkeit der Firma                 … ist mir so wichtig,
                                                                       dass ich sogar das
                                                                                                    75%
bestimmt die Zufriedenheit im beruflichen Umfeld we-                      Unternehmen
sentlich mit – und sie motiviert, den Job zu wechseln,                  wechseln würde"             60%
wenn andere hier mehr bieten. A
    Ende der 1990er Jahre konnte Bundeskanzler Ger-
hard Schröder die Familienpolitik noch als "Gedöns" ab-              25- bis 39-Jährige        40- bis 49-Jährige
tun, ohne dass viel passierte. Eine ähnliche Äußerung          Quellen: GFK; Roland Berger

                                            ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS                                           3
THINK ACT
                                                                    DIE NEUE VEREINBARKEIT

 B                                                                                würde heute ganz sicher eine Welle der Empörung auslö-
SO WIRKT DIE POLITIK                                                              sen, denn 71 Prozent der Eltern mit minderjährigen Kin-
                                                                                  dern zählen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu
Mehr neue Männer – Elterngeldbezug von Müttern und                                den wichtigsten politischen Aufgaben überhaupt.
Vätern, deren Kinder im jeweiligen Jahr geboren wurden                                In der Politik hat sich die Familienfreundlichkeit von
[%]                                                                               Wirtschaft und Gesellschaft zu einem wichtigen Ziel ent-
                                                                                  wickelt. Die Gesetzesreformen, Projekte, Programme
                                                                                  und Modelle sind zahlreich. Zu den viel beachteten und
                                                                                  alles in allem erfolgreichen Vorstößen gehören das

            94,7                                  96,0                            2007 eingeführte Elterngeld mit den sogenannten Väter-
                                                                                  monaten und der seit August 2013 geltende Rechtsan-
                                                                                  spruch auf einen Krippenplatz, der die Betreuungs-
                                                                                  landschaft schon weit vor dem Stichtag positiv verän-
                                                                                  dert hat. B
                                                                                      Die Unternehmen haben sich bewegt und einen
                                                                                  beeindruckenden Paradigmenwechsel vollzogen. Ihre
                                                                                  Lern- und Aktionskurve ist hoch – wie der Zehnjahres-
              15,4                                    29,3                        vergleich zeigt. C Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung
               2007                                     2012                      kam in einer Umfrage 2003 noch zu dem ernüchtern-
    Väter        Mütter                                                           den Ergebnis, dass eine vereinbarkeitsbewusste Per-
Quelle: Destatis                                                                  sonalpolitik von einer Minderheit der Unternehmen als
                                                                                  strategisches Managementinstrument begriffen wird:
Mehr Möglichkeiten für Eltern – Kinder in Kinder-                                 Lediglich zehn Prozent der Befragten gaben an, dass
tagesbetreuung [%]                                                                sie den Ausbau von familienfreundlichen Maßnahmen
                                                                                  erwägen. Die Missachtung des Themas wird sich heute
                                        92,2     93,0        93,4     93,6        kein Unternehmen mehr erlauben. So ist denn auch
                   90,7     91,6
       89,0                                                                       der Anteil der Firmen, die ihrer Belegschaft keinerlei
                                                                                  Angebote zur Vereinbarkeit unterbreiten, inzwischen
                                                                                  vernachlässigbar klein. Andere dagegen engagieren
                                                                                  sich weit über das Mindestmaß hinaus und setzen
                                                                                  neue Standards.
                                                                                      Der Flughafenbetreiber Fraport AG hat schon expe-
                                                                                  rimentiert, als Familienfreundlichkeit noch gar nicht so
                                                                                  hieß. Bereits Ende der 1980er Jahre startete das Un-
                                                               29,3               ternehmen die ersten flexiblen Arbeitszeitmodelle für
                                                      27,6
                                 23,0     25,2                                    weibliche Mitarbeiter. Es war der Versuch, die hohen
                     20,2
15,5
            17,6                                                                  Fehlzeiten zu senken, die ganz offensichtlich auf Eng-
                                                                                  pässe in der Kinderbetreuung zurückgingen. Seitdem
                                                                                  ist die Angebotspalette stetig gewachsen – von A wie
                                                                                  Ad-hoc-Betreuung für Mitarbeiterkinder bis zwölf Jah-
     2007     2008        2009     2010        2011     2012        2013
                                                                                  re, über L wie Lebensarbeitszeitkonten bis V wie Väter-
      Unter 3 Jahren         3 Jahre bis Schulanfang                              netzwerk. Mit dieser Erfahrung im Rücken hat es Ge-
Quelle: Destatis, jeweils zum Stichtag 1. März                                    wicht, wenn ein Fraport-Personalmanager sagt:

4                                                              ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS
THINK ACT
                                                             DIE NEUE VEREINBARKEIT

                                                                          C

                 SO DENKEN UND HANDELN
                    DIE UNTERNEHMEN
NEUES BEWUSSTSEIN                                                             NEUE INSTRUMENTE
Geschäftsführer und Personalverantwortliche, die der                          Unternehmen mit Maßnahmen zur Arbeitszeit-
Familienfreundlichkeit einen hohen Stellenwert einräumen                      flexibilisierung und Telearbeit
[%]                                                                           [%]
                                                                                                                 96             96
                                                                                                  89
                                                     86
                       82
                                 80 81          81
                                                                                    77
                  72

        55
   47

   2003           2006           2009           2012                              2003           2006          2009           2012

    Für das Unternehmen          Für die Beschäftigten
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 2013                          Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 2013

NEUER BEDARF
Aussage: "Vereinbarkeitsangebote der Unternehmen werden künftig noch stärker von Vätern nachgefragt" –
Einschätzungen von Personalverantwortlichen

             38%
               Trifft voll und
                                                               46%Trifft zum Teil zu
                                                                                                             16%

                   ganz zu                                                                               Trifft eher nicht
                                                                                                        oder gar nicht zu

Quelle: BMFSFJ mit Bundesverband der Personalmanager (BPM), Umfrage unter 1.737 Personalverantwortlichen
deutscher Unternehmen, Oktober 2014

                                                          ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS                                        5
THINK ACT
                                                DIE NEUE VEREINBARKEIT

                         Ein Schlaglicht auf                                       die Vereinbarkeit über alle Le-
                                                                                   bensphasen hinweg zu realisieren.

                         … die Fraport AG!                                         Nur mal eine Problemstellung he-
                                                                                   rausgegriffen: Wie schafft es eine
                                                                                   Führungskraft für ein großes Team
                         Familienfreundlichkeit ganz konkret.                      von 500 Personen, den Überblick
                         Vier Fragen an CHRISTIAN MEYER,                           über 500 Lebenslagen zu behal-
                         stellvertretender Leiter des Bereichs                     ten? Unsere Personalreferenten
                         Diversity und Soziales                                    agieren daher schon länger als per-
                                                                                   sönliche Berater im festen Tandem
                                                                                   mit den Führungskräften. Wir fra-
Sie sind als Unternehmen schon            Pflichten und der Verantwortung,         gen uns aber, was noch nötig ist für
vor Jahren eingestiegen, die Ver­         die dazugehört. Sie wollen sich in       flexibles und familienfreundliches
einbarkeit von Beruf und Familie          der Familie engagieren und brau-         Management. Neue Informations-
zu verbessern – und zeigen weiter         chen dafür zunehmend Freiräume,          und Kommunikationskanäle? Neue
viel Engagement. Was motiviert            die sie auch einfordern. Wir sehen,      Ansätze und neue Spielräume für
Sie? CHRISTIAN MEYER: Unsere Be­          dass immer mehr Männer Elternzeit        die Zusammensetzung der Teams?
schäf­­tigten und ihre Wünsche. Die       beantragen. Und sie fragen uns           Wir werden in nächster Zeit an in-
Ansprüche von Frauen und Männern          auch immer häufiger nach konkre-         telligenten Lösungen basteln.
an uns als Arbeitgeber sind über die      ten Tipps zur Balance von Familie
Jahre deutlich gestiegen. Jüngere         und Beruf.
                                                                                   AUSZUG DER FAMILIENFREUND­
Beschäf­tigte können sich in Zukunft                                               LICHEN ANGEBOTE BEI FRAPORT
aussuchen, wo sie arbeiten. Eine          Warum zahlt sich Familienfreund­         Servicestelle Familienberatung
gute Be­zah­lung allein reicht da nicht   lichkeit auch für das Unterneh­
                                                                                   K inderkrippe und Ad-hoc-Betreuung für
mehr. Es geht auch darum, als at-         men aus? Weil es messbare Effekte         Mitarbeiterkinder im Alter zwischen ein
traktiver Ar­beitgeber zu punkten.        gibt, etwa den Rückgang der Fehl­         und zwölf Jahren, von 6 bis 22 Uhr an
Wenn die Beschäftigten Flexibilität       zeitenquoten. Wir denken das The-         365 Tagen im Jahr
verlangen, muss das Unternehmen           ma allerdings aus einer anderen          Diverse Arbeitszeitmodelle: Gleitzeit,
diese auch bieten. Wir gehen davon        Richtung: Wie würde es aussehen,         Teilzeit, Altersteilzeit, flexible Schicht-
aus, dass zwischen 35 und 50 Pro-         wenn wir all unsere familienfreund-      pläne, Telearbeit, Jobsharing, Arbeits-
                                                                                   zeittauschbörse, Einzeldienstpläne,
zent unserer Belegschaft in den           lichen Angebote nicht hätten? Wir        Wunsch­dienstpläne im Schichtdienst,
nächsten Jahren Zeit für die Kinder-      stünden deutlich schlechter da,          Arbeitszeitmodelle für Führungskräfte,
erziehung oder Pflege braucht.            weil unsere Beschäftigten weniger        Jahres- und Lebensarbeitszeitkonto,
                                                                                   Zeitwertpapier
                                          motiviert wären, weniger Qualität
Welche Entwicklung beim Thema             liefern würden – und wir einige von      Weiterbildungen und Wiedereinstiegs-
                                                                                   angebote für Beschäftigte in Elternzeit
Vereinbarkeit überrascht Sie am           den Besten ziehen lassen müss-
meisten? Ganz klar – die Entwick-         ten, weil wir denen nicht modern         Väternetzwerk: ab 2015 in Kooperation
                                                                                   mit der Väter gGmbH, Beratung, Infor-
lung der Väter. Ich hätte vor zehn        und flexibel genug wären.                ma­tion, Austausch und Schulungen für
Jahren nicht gedacht, dass sie sich                                                Väter zu allen Aspekten des Familien-
so stark in das Thema Familie ein-        Was steht bei Ihnen als nächstes         lebens
bringen wollen. Heute nehmen              großes Thema auf der Agenda Fa­
Männer immer öfter ganz bewusst           milienfreundlichkeit? Ich sehe als
ihre Rolle als Vater war, mit allen       nächste große Herausforderung,

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                                              DIE NEUE VEREINBARKEIT

Familienfreundlichkeit sei immer eine Win-win-Situa-          lichen es dem Unternehmen, in Schwächephasen über
tion für die Beschäftigten und das Unternehmen.               flexible Kapazitäten "atmen" zu können. So haben die
    Der Druck der Beschäftigten ist sicher ein wesent-        Unternehmen durchweg positive Erfahrungen mit fami-
licher Faktor, der die Unternehmen für eine intelligente      lienfreundlichen Angeboten gemacht und dazu verläss-
betriebliche Familienpolitik sensibilisiert und zu ent-       liche Routinen entwickelt – die auch nach der Krise
sprechenden Angeboten und Aktionen geführt hat. Die           beibehalten wurden.
Personalverantwortlichen haben inzwischen registriert,
dass die Ankündigung von Angestellten, für mehr Fami-         3. DIE BETRIEBSWIRTSCHAFTLICHE
lienfreundlichkeit den Arbeitgeber zu wechseln, durch-        RATIONALITÄT SETZT SICH DURCH
aus ernst gemeint ist. Gut ein Viertel der berufstätigen      Verschiedene Studien haben aufgezeigt, dass Investiti-
Eltern hat deshalb mindestens schon einmal eine neue          onen in Vereinbarkeitsangebote nachweisbare quanti-
Stelle angenommen.                                            tative und qualitative Effekte haben – weil sie Fehlzei-
    Die Bereitschaft der Unternehmen zu handeln, ist          ten und Mitarbeiterfluktuation reduzieren, die Per-
darüber hinaus durch weitere Entwicklungen gestärkt           sonalmarketingkosten senken und insgesamt Zufrie-
worden. Vier Trends sind wesentlich.                          denheit und Motivation am Arbeitsplatz erhöhen.
                                                              Errechnet wurde unter anderem eine Produktivitäts-
1. DER DEMOGRAFISCHE WANDEL                                   steigerung pro Erwerbstätigenstunde um mehr als
WIRD IMMER SPÜRBARER                                          1,5 Prozent. Noch größere Signalwirkung auf die Hand-
Durch die schrumpfende und alternde Erwerbsbevöl-             lungsbereitschaft vieler Firmen dürften die Aussagen
kerung verschärft sich seit einigen Jahren der Wettbe-        von Vorreiter-Unternehmen haben, die in Umfragen,
werb um qualifizierte Fachkräfte. Demografisch be-            Interviews und Zertifizierungsverfahren festgehalten
dingt verliert Deutschland aktuell pro Jahr 250.000 bis       sind. Sie berichten durchgehend von deutlichen Vor-
300.000 potenzielle Erwerbspersonen. Prognosen ge-            teilen im Wettbewerb um qualifiziertes Personal und
hen davon aus, dass der strukturelle Mangel an Ar-            einer deutlichen Steigerung der Arbeitsqualität.
beitskräften im Jahr 2030 bei etwa 5,5 Millionen Men-
schen liegen wird. Selbst eine hohe Zuwanderung wird          4. DER SCHULTERSCHLUSS VON POLITIK
diese Lücke nicht schließen können. Unternehmen               UND SOZIALPARTNERN WIRKT
müssen Eltern Perspektiven bieten, damit diese nach           In enger Abstimmung und mit konzertierten Aktionen
der Geburt des Kindes problemlos wieder einsteigen            haben Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeberver-
können – und am besten möglichst schnell.                     bände die Botschaft an die Unternehmerschaft ver-
                                                              stärkt: Wer nicht familienfreundlich wird, verliert. Mit
2. FAMILIENFREUNDLICHKEIT ZEIGT IHR                           bundesweiten Unternehmensprogrammen, Wettbe-
POTENZIAL IM AUF UND AB DER KONJUNKTUR                        werben (u.a. Familienfreundlichstes Unternehmen
Auf die Wirtschaftskrise 2008 haben die deutschen             Deutschlands) und Zertifizierungsangeboten (u.a. au-
Unternehmen so vorausschauend wie selten zuvor in             dit berufundfamilie) wurden die relevanten Themen
Abschwungphasen reagiert – statt Fachkräfte zu ent-           und Handlungsfelder inhaltlich vorangetrieben. Auf
lassen (die dann beim womöglich schnell einsetzen-            regionaler Ebene ist der Ball aufgenommen worden
den Konjunkturaufschwung fehlen), haben sie die Be-           und wird in Projekten und Programmen weiterge-
legschaften durch maximale Ausnutzung aller                   spielt. So sind in lokalen Netzwerken für Familien
Flexibilisierungsmöglichkeiten weitgehend an Bord ge-         mehr als 5.000 Unternehmen an Projekten für eine
halten. Es zeigte sich, dass Familienfreundlichkeit           bessere Vereinbarkeit beteiligt.
mehr Beweglichkeit bedeutet. Angebote wie Vier-Ta-
ge-Woche, Arbeitszeitkonto oder Jobsharing ermög-

                                           ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS                                      7
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                                                  DIE NEUE VEREINBARKEIT

                                                               D

                       MÜTTER EROBERN DEN
                         ARBEITSMARKT
               ERWERBSTÄTIGE FRAUEN MIT MINDERJÄHRIGEN KINDERN
                              IN DEUTSCHLAND [%]

                                                  66,8
                                                    2013

                                                  66,4
                                                    2012

                                                  65,5
                                                    2011

                                                  64,5
                                                    2010

                                                  63,5
                                                    2009

                                                  62,4
                                                    2008

                                                  62,0
                                                    2007

                                                  60,6
                                                    2006

                                                  60,4
                                                    2005

                                                  59,2
                                                    2004

Quellen: BMFSFJ (2007-2012); Destatis (2013)

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                                                   DIE NEUE VEREINBARKEIT

  Ein erstes Zwischenfazit nach rund zehn Jahren breit                Drittens: Fast die Hälfte der Bevölkerung hat für die
  angelegter Vereinbarkeitsoffensive fällt in der großen              eigene Familie weiterhin den Eindruck, dass sich Be-
  Linie durchweg positiv aus, weil Deutschland eine                   ruf und Familie nicht gut vereinbaren lassen. Die Vä-
  nachhaltige Wende eingeleitet hat. Viele Unternehmen                ter sind hier noch ein bisschen skeptischer als die
  sind mit Mut und Engagement vorangegangen, das                      Mütter.
  Vereinbarkeitsthema anzupacken, was auch etliche zö-                    Die Befunde schmälern nicht die erreichten Erfolge
  gernde und skeptische Firmenlenker mitgenommen                      bei der Vereinbarkeit. Sie deuten allerdings darauf hin,
  hat. Die Lücke zwischen den Lebenswünschen und                      dass die Debatte um Familienfreundlichkeit künftig
  -entwürfen vieler Menschen und den jahrzehntelang                   noch breiter geführt und vor allem noch stärker den
  gültigen gesellschaftlichen Leitbildern, die auch Orien-            notwendigen Wandel aufgreifen muss. Es stellen sich
  tierungsmaßstab für die Wirtschaft waren, ist erheblich             damit neue Qualitäts- und Kulturfragen. Das Vorgehen
  kleiner geworden.                                                   von Wirtschaft und Politik war richtig, in Deutschlands
      Die Erwerbsquoten sind ein relevanter und taugli-               Aufholjahren ein breites Spektrum an konkreten und
  cher Bewertungsmaßstab für die Erfolge bei der Ver-                 umsetzbaren Lösungen und Modellen zu entwickeln
  einbarkeit. Der Anteil erwerbstätiger Mütter mit min-               und zu etablieren. Und es war auch richtig, zunächst an
  derjährigen Kindern ist im Zeitverlauf kontinuierlich               den Wiedereinstieg junger Mütter in den Beruf zu den-
  gestiegen – auf fast 67 Prozent im Jahr 2013. D                     ken. Doch jetzt kommt es darauf an, die Vereinbarkeit
      Jedoch haben sich nicht alle Hoffnungen erfüllt, die            auf ein neues Niveau zu heben.
  sich mit einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und                     Genau das drückt der Titel dieser Publikation aus:
  Familie verbinden. Widersprüche bleiben. Hindernisse                Mit einer NEUEN Vereinbarkeit – und dazu gehört auch
  sind offenbar struktureller Natur – und damit nur müh-              eine NEUE Vereinbarkeitskultur – soll Deutschland um
  sam wegzuräumen. Zu einer umfassenden Analyse ge-                   einen bereits existierenden guten Kern ein rundherum
  hören auch folgende Befunde.                                        modernes, familien- und lebensphasenorientiertes
      Erstens: Obwohl die Zahl der berufstätigen Mütter in            Umfeld etablieren. Diese spannende Phase der Neu-
  Deutschland signifikant gewachsen ist, arbeitet fast die            ausrichtung beginnt gerade, wie auch Statements aus
  Hälfte in Teilzeit – mit durchschnittlich 16,9 Stunden pro          Wirtschaft und Wissenschaft nahelegen. E
  Woche. In kaum einem anderen EU-Land sind die Ar-
  beitszeiten und der Anteil von Müttern mit Vollzeitjobs so
  gering. Der Wunsch vieler Mütter in Deutschland, einige
  Wochenstunden mehr zu arbeiten, erfüllt sich oft nicht.
1     Zweitens: Die Väterorientierung der Unternehmen
  steht noch am Anfang – bei den Adressaten kommt
  noch zu wenig an. Obwohl Väter ihre Arbeitszeiten
  nach der Geburt des Kindes gerne reduzieren wür-
  den, arbeiten sie de facto mehr als vorher. Zugleich
  machen Forscher die Beobachtung, dass sich auch in
  Partnerschaften, die eigentlich eine Gleichberechti-
  gung angestrebt und vereinbart hatten, die Rollenver-
  teilung mit dem ersten Kind häufig verändert. Ein
  Grund dafür ist offenbar, dass Teilzeitwünsche von
  Männern im Job weniger akzeptiert sind und sie des-
  halb in die klassische Aufgabenteilung und in tradier-
  te Muster zurückfallen.

                                                ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS                                       9
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                                                DIE NEUE VEREINBARKEIT

                                                             E

                            ZUR ZUKUNFT DER
                             VEREINBARKEIT
                                    STIMMEN UND STIMMUNGEN

           "Die neue Arbeitskultur                                         "WORK-LIFE-BALANCE HALTE
                                                                           ICH FÜR EINEN GEFÄHRLICHEN
         muss auch Männern ver-                                            BEGRIFF. DIE MENSCHEN WERDEN
         mitteln: Es ist okay, wenn                                        SICH IMMER MAL WIEDER FÜR
          ihr euch um eure Kinder                                          UNBALANCE ENTSCHEIDEN: MAL
                                                                           MEHR FÜR DEN JOB, MAL MEHR
          kümmert, ihr könnt den-                                          FÜR DIE FAMILIE – JE NACHDEM,
           noch Karriere machen."                                          WIE DAS LEBEN SPIELT."
                         Prof. Jutta Allmendinger, Präsidentin,            Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher
        Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

     "Wir brauchen in den Unternehmen einen
     Kulturwandel weg von der reinen Präsenz-
     kultur zur Vertrauenskultur."
     Kathrin Menges, Personalvorstand, Henkel

    "UNSERE ARBEITSWELT WIRD SICH IN ZUKUNFT
 WENIGER AN STATUS ODER PRÄSENZ ORIENTIEREN.
   DAS SETZT VOR ALLEM EFFIZIENTE KOMMUNIKA-
     TIONSTECHNOLOGIE VORAUS, VERLANGT ABER
            AUCH EINE NEUE ART VON FÜHRUNG."
                                                       Dirk Barnard, Personalgeschäftsführer, Vodafone Deutschland

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THINK ACT
                                                  DIE NEUE VEREINBARKEIT

   "Machen wir die Gesellschaft fit                                   "EIN KULTURWANDEL
     für die On-off-Biografie! Einen                                  GELINGT NUR, WENN
   Lebenslauf also, in dem Phasen                                     FÜHRUNGSKRÄFTE FLE­
   der Erwerbsarbeit immer wieder
     mit Phasen der Familienarbeit                                    XIBILITÄT UND FAMILIEN­
       abwechseln können, von der                                     FREUNDLICHKEIT VOR-
    Gesellschaft getragen und den                                     LEBEN UND DADURCH ZU
           Unternehmen gefördert."                                    VORBILDERN WERDEN."
            Susanne Garsoffky und Britta Sembach,                     Dr. Reinhard Uppenkamp, Vorstandsvorsitzender,
     Buchautorinnen von "Die Alles ist möglich-Lüge"                  Berlin-Chemie

   "LEBENSQUALITÄT HAT EINEN HÖHEREN STELLEN-
    WERT IN UNSERER GESELLSCHAFT BEKOMMEN.
      UNTERNEHMEN TUN GUT DARAN, DIESE TAT-
    SACHE ZU BERÜCKSICHTIGEN UND DEN MITAR-
      BEITERN AUCH EIN SOUVERÄNES ZEIT- UND
       SELBSTMANAGEMENT ZU ERMÖGLICHEN."
                                    Dr. Frank Heinricht, Vorstandsvorsitzender, SCHOTT

"Wir brauchen mehr Möglichkeiten                                      "Die Arbeitswelt verändert
für Väter und Mütter, die nach inten­
                                                                      sich zum Glück, es ist nicht
siven Familienjahren ihre Prioritäten
neu ordnen und noch mal durch-                                        mehr wichtig, die Anwesen-
starten wollen. Wenn es mehr                                          heitszeit zu checken, son-
Möglichkeiten für die über Vierzig­                                   dern die Zeit durch die An-
jährigen gäbe, wären die jungen
Berufstätigen weniger überfordert                                     wesenden spannend und
und gestresst."                                                       erfolgreich zu gestalten."
Elisabeth Niejahr, Wirtschaftsjournalistin, Die Zeit                  Gitta Blatt, Head of People,
                                                                      Spielesoftwareunternehmen Wooga

                                               ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS                                     11
THINK ACT
                                               DIE NEUE VEREINBARKEIT

Die neue Vereinbarkeit. Die Mega-
trends Digitalisierung und Individuali-
sierung schaffen mehr Möglichkeiten.
Unternehmen müssen mit Flexibilität
bei Zeit und Ort, für Lebenslagen und
Lebensstile antworten – und eine
entsprechende Kultur leben.

Für die familienfreundliche Unternehmenspolitik kün-           Wunsch und Wirklichkeit bei der Vereinbarkeit klaf-
digt sich eine Zeitenwende an. Einzelne Beobachtun-            fen auseinander. Und die Beschäftigten entwickeln
gen fügen sich immer klarer zu einem Gesamtbild: Die           Druck. Vor allem die gut ausgebildeten und qualifi-
Vereinbarkeit wird bei aller Notwendigkeit, Verbesse-          zierten Kräfte wählen inzwischen den Arbeitgeber –
rungen im Detail zu erzielen, zugleich auch auf ein hö-        nicht umgekehrt. Eine gelungene Vereinbarkeit ist ei-
heres Niveau springen müssen.                                  ner der wichtigsten Ansprüche an einen Arbeitgeber.
    Trotz aller erreichten Erfolge hin zu einer familien-      Folglich ist die Wirtschaft gefordert. Und die meisten
freundlichen Arbeitswelt bleibt bei den Angestellten in        Unternehmen wissen um die Schwächen, wie eine
Deutschland eine gewisse Unzufriedenheit. Viele stel-          aktuelle Panelumfrage von Roland Berger und der
len fest, dass der Rahmen gut ist, die gelebte Kultur          Zeitungsgruppe WELT unter Wirtschaftsführern in
aber in vielen Bereichen hinterherhinkt. Ein Großteil der      Deutschland zeigt: 79 Prozent der Befragten glauben,
Mütter schafft zum Beispiel nach der Geburt eine frühe-        dass die Unternehmen auf die wachsenden Ansprü-
re Berufsrückkehr – sie geraten dann aber in die soge-         che der Beschäftigten nach einer besseren, umfas-
nannte Teilzeitfalle und kämpfen gegen mangelnde Auf-          senden Vereinbarkeit von Beruflichem und Privatem
stiegsmöglichkeiten. Die Väter hingegen wollen in der          noch nicht gut vorbereitet sind. F
Mehrheit (60 Prozent) kürzer arbeiten – die meisten tun            Die neue Vereinbarkeit fordert die Unternehmen in
es aber nicht, weil passende vollzeitnahe Teilzeitange-        ihrer Personalpolitik, Unternehmens- und Führungskul-
bote fehlen oder sie befürchten, als "Hausmann" in der         tur heraus. Die zwei aktuellen Treiber der Entwicklung
Karriere-Rushhour zwischen 25 und 40 Jahren ein                hin zu umfassend vereinbarkeitsbewussten Arbeitsmo-
Stück nach hinten durchgereicht zu werden.                     dellen – Digitalisierung und Individualisierung – sind im
    Hinzu kommt: Männer und Frauen registrieren,               Folgenden genauer zu analysieren. Daran schließt sich
dass trotz aller Bekenntnisse zur Flexibilität im eigenen      an, die Handlungserfordernisse für die Unternehmen
Unternehmen oft weiterhin die Präsenzkultur mit Ar-            zu konkretisieren.
beitszeiten von 9 bis 17 Uhr gelebt wird.

12                                          ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS
THINK ACT
                                                          DIE NEUE VEREINBARKEIT

 F                                                                      1. Megatrend Digitalisierung – Der
FÜR EINE BESSERE VEREINBARKEIT                                          radikale Umbau der Arbeitswelt
IST NOCH EINIGES ZU TUN!
Frage: "Sind Unternehmen auf Mitarbeiterwünsche nach                    Die Durchdringung und Vernetzung von Wirtschaft und
noch mehr Flexibilität und besserer Vereinbarkeit von Job               Gesellschaft mithilfe von Informations- und Kommuni-
und Privatem gut vorbereitet oder nicht so gut?"                        kationstechnologien dürfte auf das Zusammenleben in
                                                                        Deutschland so radikal einwirken wie einst die erste
                                                                        industrielle Revolution. Damals war es die Dampfkraft,
                                           79%
                                                                        welche die Spezialisierung und Mechanisierung der
                                                                        Unternehmen auf eine neue Stufe hob. Heute sind es
                                                                        digitale Informationen und deren Aufbereitung, Aus-
                                                                        tausch, Speicherung und Verarbeitung. Dadurch wan-
                                                                        deln sich Produktionsweisen und Arbeitsprozesse radi-
                                                                        kal. Nach Dienstleistungsunternehmen erfasst die
                                                                        Digitalisierung inzwischen auch mehr und mehr die In-
                                                                        dustrie ("Industrie 4.0").
                                                                            Für die Beschäftigten entsteht dadurch die Chan-
                                                                        ce, räumlich und zeitlich flexibel wie nie zuvor zu arbei-
                                                                        ten. Bisher dürfte allerdings erst ein Bruchteil des Po-
                                                                        tenzials abgerufen sein. Am Beispiel des mobilen
                                                                        Arbeitens wird dies offensichtlich. Selbst in digitalaffi­
                                                                        nen Branchen nutzen maximal 15 Prozent der Be-
                                                                        schäftigten dieses flexible Arbeitsplatzmodell. G
                                                                            Das wesentliche Hindernis für die Verbreitung
                                                                        des Modells sind Studien zufolge die Unternehmen:
                                                                        80 Prozent argumentieren, dass die Anwesenheit des
                                                                        Beschäftigten unabdingbar sei. Das mag sicher für Ar-
                                                                        beitsplätze mit schlecht automatisierbaren Tätigkeiten
                                                                        oder personenbezogenen Dienstleistungen (Handwerk,
                                                                        Einzelhandel, Haushalts-, Erziehungs- und Bildungsberu-
                                                                        fe) gelten. Der (schon jetzt teilweise fragwürdige) Arbeit-
                14%                                                     geberwunsch nach Anwesenheit wird aber in vielen an-
                                                                        deren Bereichen nicht zu halten sein. Beschäftigte sehen
                                                                        die mit dem technischen Fortschritt möglichen neuen
                                                                        Freiheiten und werden deshalb neue flexible Arbeitsplatz-
                                                                        und Arbeitszeitmodelle einfordern. Unternehmen kom-
                                                                        men nicht umhin, Gewohnheiten und ihre bisherige Ar-
                                                                        beitsplatzkultur zu überwinden, wenn sie qualifizierte
             Unternehmen                Unternehmen                     Angestellte halten und an sich binden wollen.
          sind gut vorbereitet        sind nicht so gut
                                         vorbereitet                        Die flexible Gestaltung von Arbeitsprozessen und
                                                                        -formen in der digitalisierten Wirtschaftswelt steht am
Quelle: Leaders Parliament – Panelumfrage von Roland Berger und der     Anfang. Weitere Sprünge nach vorn zeichnen sich ab.
WELT unter deutschen Führungskräften, Befragung Ende Oktober 2014
mit 159 Teilnehmern; Rest zu 100% = "unentschieden, weiß nicht"         Arbeit wandelt sich zunehmend von einem starren,

                                                     ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS                                       13
THINK ACT
                                                         DIE NEUE VEREINBARKEIT

                                                                      G

                MOBILES ARBEITEN
            ZIEHT NUR LANGSAM KREISE
                  BESCHÄFTIGTE, DIE HOME-OFFICE-ANGEBOTE NUTZEN
                        (IN PROZENT ALLER BESCHÄFTIGTEN)

                      15%
                                                                                                    12%
                                  Kreativ-
                                 wirtschaft
                                                                                     Informations- und
                                                                                     Kommunikations-
                                                                                         technologie

                                   Medien
                                                                                            Technische
                                                                                            Dienstleister

                                  5%

                                                                                                   5%

Quelle: BMWi, Monitoring-Report "Digitalisierung und neue Arbeitswelten", 2013

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THINK ACT
                                              DIE NEUE VEREINBARKEIT

strukturierenden Element mit Präsenzpflicht zu einer          freundlichere Schichtmodelle mit "Wunscharbeits-
frei gestaltbaren Option, die im hohen Maß selbstbe-          zeiten" zu entwickeln.
stimmt sein kann und neue Freiheiten bietet. Auch die
Zahl der Projektmitarbeiter und Crowdsourcees (exter-         2. Megatrend Individualisierung – Die                       2
ne Fachkräfte, die im Unternehmensauftrag an speziel-         radikale Neudefinition des Privaten
len Aufgaben zum Beispiel innerhalb der Innovations-
oder Produktionsprozesse beteiligt sind) wird zunehmen.       Die allgemeinen Wohlfahrtssteigerungen in den ver-
Denn diese Beschäftigungsmöglichkeiten sind für Men-          gangenen Jahrzehnten führen dazu, dass Menschen
schen in bestimmten Lebenslagen und mit bestimmten            über mehr Ressourcen und mehr Optionen für individu-
Lebensstilen attraktiv.                                       elles Handeln verfügen. Sie lösen sich dadurch von
     Gleichzeitig entstehen neue Arbeitskonzepte wie          den restriktiven Verhaltensregeln der zentralen Ge-
etwa Smart Working Centers in Südkorea oder den               meinschaften (zum Beispiel Kirche, "Klasse" oder Zu-
Niederlanden, in denen Beschäftigte wohnortnah kurz-          gehörigkeit zu einer Region) und sind in der Lage, ihr
oder längerfristig ihren Tätigkeiten nachgehen. Ferner        Leben in hoher Autonomie zu gestalten, Entscheidun-
kommen innovative Bürokonzepte wie sogenannte                 gen in eigener Verantwortung zu fällen. Hierdurch
Co-Working-Zentren auf, die flexibles, virtuelles Arbei-      wachsen die Freiheiten der Lebensführung. Gerade die
ten nach dem Motto "Your office is where you are" er-         Generation der jungen Erwachsenen zwischen 18 und
lauben und letztlich neuartige Formen von Infrastruk-         30 wählt meist ganz konsequent den Weg, so zu sein
turen für Leben und Arbeiten entstehen lassen.                und so zu handeln, wie sie es selbst will.
     Mit der Digitalisierung sind auch Herausforderun-            Die kontinuierliche Individualisierung wirkt sich
gen verbunden. Flexible Arbeitsformen bergen die Ge-          auch und gerade im beruflichen Kontext aus. An die
fahr einer zunehmenden Entgrenzung von Familien-              Stelle von lebenslanger, teilweise über Generationen
und Arbeitswelt. Für eine bessere Vereinbarkeit und           hinweg bestehender Treue zu einem Arbeitgeber treten
höhere Lebensqualität sind beispielsweise verbindli-          schnelllebige Erwerbsbiografien.
che (und limitierte) Erreichbarkeits- oder Antwortzeiten          Der jahrzehntelang als Vorbild dienende linear auf-
hilfreich, wie sie einige deutsche Unternehmen schon          steigende Karrierepfad ist nun immer häufiger von Er-
eingeführt haben. Umgekehrt kann die Digitalisierung          werbsunterbrechungen gekennzeichnet: Weil die Be-
auch mehr Planbarkeit und Effizienz bringen, die einer        deutung selbstbestimmter und unverplanter Zeit
verbesserten Vereinbarkeit zuträglich sind. Durch             zunimmt – gerade Eltern empfinden die Zeitnot als das
(voll-)automatisierte Abläufe werden beispielsweise           größte Problem im Alltag. Die Menschen wollen mehr
Maschinen(um-)rüstzeiten geringer und kalkulierbarer.         Zeit für sich, um sich weiterzuqualifizieren, um die Be-
Und neue Online-Programme und -Tools zur Schicht-             treuung und Pflege von Eltern und Angehörigen zu
planung ermöglichen eine bessere Umsetzung von                übernehmen oder um den eigenen Interessen und Lei-
"Wunscharbeitszeiten".                                        denschaften nachzugehen.
     Und: Nicht allen Beschäftigtengruppen steht die              Für die Unternehmen kommt bei der Ausrichtung
neue mobile Arbeitswelt offen. Menschen, die bei-             ihrer Personalpolitik erschwerend hinzu, dass in den Or-
spielsweise anspruchsvollen, schlecht automatisier-           ganisationen durch verlängerte Lebensarbeitszeiten so-
baren manuellen Tätigkeiten nachgehen, werden                 wie verkürzte Schul- und Ausbildungszeiten inzwischen
von den Vorteilen mobiler Arbeitsplätze selten oder           drei höchst unterschiedlich sozialisierte Generationen
gar nicht profitieren. Was nicht heißt, dass Unterneh-        aufeinandertreffen: Babyboomer, Generation X und Ge-
men für sie keine neue Vereinbarkeitskultur mit neu-          neration Y. H Letztere, die Neueinsteiger, bestimmen
en Lösungen schaffen können. Ein Weg liegt bei-               immer stärker, wie sich Flexibilität beruflich und privat
spielsweise darin, für Väter und Mütter familien-             buchstabiert. Unter ihnen befinden sich zunehmend

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THINK ACT
                                                           DIE NEUE VEREINBARKEIT

                                                                        H

             DIE 3-GENERATIONEN-FIRMA
                    DREIMAL ANDERE ANSPRÜCHE UNTER EINEM DACH …

          BABYBOOMER                                     GENERATION X                               GENERATION Y
                1955-1965                                       1965-1980                                 1980-2000

      > Optimismus, Antrieb und                      > Leistung mit Freude an der              > Leistung, Sinn und Spaß im
        starker Wille                                   Arbeit                                      (Arbeits-)Leben
      > Teamgeist, Beteiligung und                   > Vielfalt ("Diversity") und               > Selbstbewusstsein
        Konsens, Beziehungsma-                          globales Denken                           > Orientierungslosigkeit und
        nagement                                      > Informelle und antiautori-                 Sprunghaftigkeit
      > Persönliche Erfüllung und                      täre Haltung                              > Sicherheit und Stabilität: aber
        Wachstum, Egozentrik                          > Eigenverantwortung und                     nicht um jeden Preis
      > Gesundheit, Wohlbefinden                       Selbstvertrauen                           > Flexibilität in Raum und Zeit
        und Jugendlichkeit                            > Unabhängigkeit und                       > Stetige Entwicklung und klare
      > Prozess- statt Ergebnisori-                    Individualismus                             Kommunikation
        entierung                                     > Affinität zu Technologie und             > Umgang mit Technologie und
      > Partizipative Führung                          Kreativität                                 Netzwerken selbstverständlich
                                                      > Kooperative Führung                      > Delegative Führung

                   … ABER GENERATION Y BESTIMMT MEHR UND MEHR,
                                 WO ES LANGGEHT

                                                                                                                95%
                                                                                  88%                        "Job muss mit der

                                               71%                             "Job muss auch zur
                                                                                                              Familie vereinbar
                                                                                                                    sein"

          64%                              "Wünsche mir mehr
                                             Zeit für Familie,
                                                                                 Lebenssituation
                                                                                    passen"

        "Fange nicht bei                   Lebenspartner oder
      einem Unternehmen                         Freunde"
         an, das keine
      Vereinbarkeit bietet"

Quellen: Deutsche Gesellschaft für Personalwesen; Institut für Beschäftigung und Employability;
Xing Forsa Umfrage 2014: Wünsche deutscher Berufstätiger

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THINK ACT
                                               DIE NEUE VEREINBARKEIT

weniger "24/7"-Leistungsbereite, sondern viele Vertreter         I
einer "Generation Relax", denen ein erfülltes Privatleben      AUF DEM WEG ZU FIFT Y-FIFT Y
als Voraussetzung für gute Leistung gilt.                      Frage: "Wie schnell wird sich die Partnerschaftlichkeit
    Die "Jungen" sind es auch, die das Ideal einer part-       zwischen Mann und Frau in Beruf und Familie als das am
nerschaftlichen Arbeitsteilung in der Gesellschaft in-         häufigsten gelebte Modell durchsetzen?"
tensiv vorantreiben. Das Modell einer fairen Aufteilung
der Familien- und Jobzeiten findet immer mehr Anhän-
ger. 60 Prozent der jungen Eltern wünschen, dass bei-                                                    56%
de Partner im gleichen Umfang erwerbstätig sind und
sich gemeinsam um Haushalt und Familie kümmern.
Allerdings können nur 14 Prozent von ihnen eine solche
Aufteilung auch realisieren – aus finanziellen Gründen,
aus Mangel an beruflichen Möglichkeiten, teils auch,
weil der Mut fehlt, tatsächlich so zu handeln.
    Nach Einschätzung der Wirtschaftsführer in der Pa-
nel-Umfrage von Roland Berger und der WELT werden
die Wünsche der Eltern nach partnerschaftlicher Le-
bensweise weiter wachsen – und schließlich auch die                               36%
Unternehmen motivieren, entsprechende Angebote zu
unterbreiten. Mehr als jeder dritte Topmanager rechnet
damit, dass das Modell der Partnerschaftlichkeit in
fünf bis zehn Jahren der neue Standard ist. I Der So-
ziologe Carsten Wippermann sieht für die Unterneh-
men den Schlüssel zum Erfolg darin, dass sie schon
jetzt mit Willen und Ernsthaftigkeit eine väterfreund-
liche Personalpolitik fördern.

3. Die neue Vereinbarkeit – und der
Wandel in den Unternehmen
Die Art zu leben und zu arbeiten ändert sich. Digitali-
sierung und Individualisierung treiben diese Entwick-
lung voran. Das bedingt unmittelbar auch steigende
Ansprüche an die Vereinbarkeit von Beruflichem und
Privatem. Diese wird immer weniger als Zusatzangebot
betrachtet, sondern zunehmend als zentrales Element
für das gesamte eigene Arbeitsleben begriffen – an-
ders ausgedrückt: als Selbstverständlichkeit und un-                        Es dauert noch           Es dauert länger
ternehmerische Bringschuld.                                                 5 bis 10 Jahre             als 10 Jahre
    Auf die Unternehmen kommt somit in den nächs-
ten Jahren die Aufgabe zu, Antworten auf die Zeiten-
wende bei der Vereinbarkeit zu finden – drei sind zen-         Quelle: Leaders Parliament – Panelumfrage von Roland Berger und der
                                                               WELT unter deutschen Führungskräften, Befragung Ende Oktober 2014
tral und zielführend.                                          mit 159 Teilnehmern; Rest zu 100% = "unentschieden, weiß nicht"

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THINK ACT
                                               DIE NEUE VEREINBARKEIT

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                                        "Die eingeschlif-
                                        fene Alltagskultur
           Foto/
       Illustration
                                        überwinden"
                                        Der Soziologe CARSTEN WIPPERMANN
                                        sagt, wie Unternehmen partnerschaftliche
                                        Vereinbarkeit fördern können

Warum findet das Modell der             lie, fokussiert sich auf den Job und      erscheint, es grundsätzlich bei die-
Part­nerschaftlichkeit als faire        hat deutlich mehr Chancen auf Kar-        ser Rollenteilung zu belassen – ob-
Aufteilung der Familien- und Job­       riere als seine Partnerin mit dersel-     wohl das beide Partner eigentlich
zeiten zwi­schen Mann und Frau          ben Qualifikation.                        nicht wollten.
in Deutsch­land noch so wenig
Nachahmer? CARSTEN WIPPER-              Welche Konsequenzen ergeben               Wie aufgeschlossen ist die deut­
MANN: Weil alte Muster schwer zu        sich daraus? Solche Entscheidun-          sche Gesellschaft inzwischen für
knacken sind und weil Anreizstruk-      gen haben Spätfolgen für den wei-         partnerschaftliche Modelle? Es
turen die Risiken und Chancen im        teren Lebenslauf von beiden. Auch         gibt noch immer sehr wirksame ge-
Lebenslauf für Frauen und Männer        wenn die Frau früher oder später          sellschaftliche Vorstellungen von ei-
sehr ungleich verteilen. Selbst bei     beruflich wieder einsteigt, dann          ner guten Mutter, kraftvolle normati-
Paaren, die gleichberechtigt ge-        meist in Teilzeit: Die Einkommens-        ve Erwartungsmuster, die an Mütter
startet sind und eine gleiche beruf-    schere zwischen Frauen und Män-           herangetragen werden und die sie
liche Qualifikation haben, beobach­     nern geht immer weiter auseinan-          erheblich unter Druck setzen. Eine
ten wir bei der Geburt eines Kin­des    der. In den weiteren Entwicklungen        Frau gilt weiterhin als "Ra­ben­mutter",
eine gravierende Retraditionalisie-     im Lebenslauf gibt es nur wenige          wenn sie schnell nach der Geburt
rung der Rollenverteilung: In den al­   äußere Anreize, diese Retraditiona-       wieder arbeiten geht. Einen "Raben-
lermeisten Fällen reduziert die Frau    lisierung wieder zurückzufahren. Im       vater" gibt es in dieser Phase nicht –
ganz oder teilweise ihre Erwerbstä-     Gegenteil: Die aktuellen Anreiz-          das wird erst ein Thema, wenn die
tigkeit und übernimmt die prakti-       strukturen mit Ehegattensplitting,        erwachsenen Kinder zurückblicken.
sche Versorgung und Erziehung des       Entgeltungleichheit und beitrags-         Wir stellen fest, dass Männer, die ein
Kindes. Der Mann übernimmt die          freier Krankenmitversicherung sind        partnerschaftliches Modell verfolgen,
Rolle des Haupternährers der Fami-      so, dass es ökonomisch rational           im Wettbewerb mit Männern mit

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THINK ACT
                                                  DIE NEUE VEREINBARKEIT

teiltraditioneller Rollenteilung klare     Mehr Partnerschaftlichkeit zu er­         dieren und zu bewerten. Und auch
Nachteile haben. Hier müssen gesell-       reichen, braucht also eine bes­           die Kommunikation im Unterneh-
schaftlich – in der Familienpolitik, Fi-   sere Unternehmenskultur? Ganz             men spielt eine wichtige Rolle – gute
nanzpolitik, im Sozialversicherungs-       ein­deutig, aber es wird dauern, die      Vorbilder müssen bekannt werden.
bereich und in der Wirtschaft – die        eingeschliffene Alltagskultur in den
bestehenden Anreize überprüft und          Unternehmen zu ändern. Eine ganz          Wie stark wird der Druck der Gene­
einige so neu gesetzt werden, dass         entscheidende Rolle spielen neben         ration Y, also der nach 1980 Ge­bo­
sich Väter nicht zwischen Karriere         der Geschäftsleitung auch die un-         renen, auf die Unternehmen sein,
und Familie entscheiden müssen.            mittelbaren Vorgesetzten. Ihre Füh-       mehr Flexibilität für verschiedene
                                           rungsqualität entscheidet vor allem       Lebensphasen anzubieten? Sehr
Sind die Unternehmen mit schuld            darüber, für welchen Weg sich die         groß. Die jungen Talente suchen
daran, dass der mentale Wechsel            Männer entscheiden, wenn sie Vater        sich Arbeitgeber, mit denen sie
so schleppend vorangeht? Ja, weil          geworden sind. Einer guten Füh­           ganzheitlich zufrieden sind. Sie ver-
viele auf dem Papier zwar auch of-         rungs­kraft gelingt es, den Mitarbei-     langen Freiräume und können mit
fen für engagierte Väter sind, tat-        ter gerade nicht in den Interessen-       Brüchen in ihrem Lebenslauf umge-
sächlich aber wenig Unterstützung          konflikt – Job oder Familie – zu          hen, denn sie sind Unsicherheit und
bieten. Sie lassen zu, dass Män-           jagen. Vereinbarkeit sollte nie ein       Ungewissheit gewohnt. Für sie ist
nern eine längere Reduzierung der          berufliches Risiko sein – weder für       wichtiger, dass eine berufliche Auf-
Arbeitszeit nach der Geburt weiter-        Frauen noch für Männer. Es hängt          gabe Sinn macht und sie einen kla-
hin als Schwäche ausgelegt wird.           manchmal an so einfachen Dingen,          ren Nutzen für sich darin sehen –
Und dass Teilzeitkräfte generell an        wie zum Beispiel der Handlungs-           dann identifizieren sie sich voll und
Kompetenz, Einfluss und Verant-            maxime, wichtige Besprechungen            ganz damit. Allerdings gilt diese
wortung verlieren. Es ist ein Fluch,       nicht zu den Tagesrandzeiten, son-        Entscheidung nur bis auf Weiteres.
dass deutsche Un­ter­nehmen so             dern zu den Kernarbeitszeiten an-         Denn auch Zeit für Familie und eige-
stark an der Präsenz- und Verfüg-          zusetzen, damit wirklich alle teil-       ne Bedürfnisse wird immer wichti-
barkeitskultur hängen: Wer am              nehmen können.                            ger. Ein Unternehmen, das sich in
längsten im Büro ist, leistet am                                                     seiner ganzen Kultur diesen neuen
meisten für die Firma – so das in          Und was zeichnet partnerschaft­           Erfordernisse anpasst, hat die beste
Deutschland noch immer weit ver­           lich orientierte Unternehmen noch         Chance, die jungen Leute dauerhaft
breitete Vorurteil. Die meisten Un­        aus? Dass sie auch die Infrastruktur      an sich zu binden.
ternehmen in Deutschland un­ter­           nicht außer Acht lassen. Der Auf-
stützen nicht aktiv, dass junge Väter      und Ausbau haushaltsnaher Dienst-
ihre Stelle von 100 Prozent auf 80         leistungen, wie zum Beispiel Putz-        Prof. Dr. Carsten Wippermann ist
reduzieren können – ohne dass dies         oder Bügelservices oder Gartenhilfe,      Geschäftsführer des DELTA-Insti-
für diese mit "Verlust" von Kom­           kann die Vereinbarkeit beim Wie­          tuts für Sozial- und Ökologiefor-
petenz und Ver­antwortung verbun-          dereinstieg in den Beruf ebenfalls        schung und lehrt Soziologie an der
den ist. Das gilt in gleichem Maße         erleichtern. Zeit ist ein knappes Gut.    Katholischen Stiftungsfachhoch-
mit Blick auf Frauen. Und es fehlt         Das Bedürfnis der Mitarbeiter nach        schule München/Benediktbeuern
noch immer das Recht auf Rückkehr          Unterstützung ist groß, weil es für
auf den vorherigen Stel­len­umfang in      sie unglaublich zeitaufwendig ist,
möglichst derselben Position.              solche Angebote zu suchen, zu son-

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THINK ACT
                                                DIE NEUE VEREINBARKEIT

ANTWORT 1: UNTERSCHIEDLICHE                                     entfällt oder sich verkürzt, gewinnen sie eine neue
LEBENSPHASEN UND LEBENSSTILE DER                                Zeitsouveränität. Kurz und knapp lässt sich die He-
BESCHÄFTIGTEN VERSTEHEN                                         rausforderung für die Unternehmen so skizzieren: Sie
Vereinbarkeit muss künftig breiter gedacht werden, um           müssen künftig Mut und Offenheit für neue Konzepte
die Unter schiedlichkeit der Lebensent wür fe                   und Modelle einer digitalen Arbeitswelt zeigen – und
widerzuspiegeln – dies gilt auch für die Personalpolitik        sie müssen diese neuen Lösungen aktiv an die Men-
der Unternehmen. Es geht dabei nicht um das x-te                schen im Betrieb herantragen sowie den Einzelnen bei
neue Arbeitszeitmodell, sondern um die Anerkennung              der Umsetzung unterstützen.
von Individualität, um das Akzeptieren von Lebenspha-
sen und -stilen. Die Instrumente (flexible Arbeitsbedin-        ANTWORT 3: DEN KULTURELLEN RAHMEN
gungen, Serviceangebote u.a.) sind bekannt und viel-            FÜR FLEXIBILITÄT ENTWICKELN
fach vorhanden. Jetzt geht es darum, sie für die Breite         Mobile Arbeitsstrukturen zu etablieren, reduziert sich
der Belegschaft zugänglich und selbstverständlich               nicht darauf, technische Lösungen zu finden und ent-
nutzbar zu machen.                                              sprechende Infrastrukturen bereitzustellen. Eine
    Gute Unternehmenspolitik nimmt künftig nicht nur            neue Vereinbarkeit muss im Unternehmen auch ge-
die Väter stärker in den Blick, die in den vergangenen          lebt werden. Wenn die Beschäftigten das Gefühl ha-
Jahren eher wenig Aufmerksamkeit der Personalverant-            ben, dass Teilzeitmodelle, das Arbeiten von zu Hause
wortlichen erfahren haben. Sie muss beispielsweise              oder virtuelle Teamarbeit zu einer schlechteren Beur-
auch an junge "Relaxte", ehrenamtlich Engagierte, ext-          teilung des Vorgesetzten führen, die Karrieremöglich-
rem Leistungsorientierte, mittlere Jahrgänge mit pflege-        keiten einschränken oder auch nur die Skepsis der
bedürftigen Eltern denken – und natürlich weiterhin an          Kollegen nach sich ziehen, werden sie die Angebote
jüngere und ältere Mütter. Erforderlich ist also ein neues      ausschlagen.
Verständnis von individualisierter Personal- und Füh-               Das Unternehmen muss eine Kultur schaffen, wel-
rungspolitik im Unternehmen – mit der Bereitschaft, auf         che neue, flexible Arbeitsweisen unterstützt und för-
die unterschiedlichen Lebensphasen und -stile der An-           dert. Dazu muss sich auch das Verständnis von
gestellten einzugehen.                                          Führung ändern. In der Vergangenheit erforderte prä-
                                                                senzorientiertes Arbeiten eine Führungsweise des An-
ANTWORT 2: FLEXIBLE ARBEITSSTRUKTUREN                           leitens und des engmaschigen Abgleichs von Ergebnis-
AUSPROBIEREN UND ETABLIEREN                                     sen. Ein umfassend flexibles Arbeitsumfeld verlangt
Die Digitalisierung eröffnet Möglichkeiten, ganz neue           Führung auf Distanz. Dessen Kernelemente sind klare
Wege bei der Arbeitszeit- und Arbeitsplatzflexibilität zu       Regeln, regelmäßige Kommunikation und ein hohes
gehen. Während viele Unternehmen längst begonnen                Maß an Vertrauen.
haben, ihre Geschäftsmodelle den digitalen Erforder-
nissen anzupassen, hinkt die Modernisierung nach in-
nen, bei der Organisation und den Strukturen, oftmals
deutlich hinterher. Die Arbeitsmodelle sind vielfach
immer noch standardisiert und "analog", was sich in
einem bis heute weit verbreiteten Wunsch der Ge-
schäftsleitungen und Führungskräfte nach Präsenz der
Beschäftigten ausdrückt.
    Diese sind gedanklich meist schon weiter. Sie
schätzen mobiles Arbeiten – von zu Hause aus oder
einem anderen Ort als dem Büro. Wenn das Pendeln

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                                                DIE NEUE VEREINBARKEIT

Praxistest. Um den Qualitätssprung zu
schaffen, müssen die Unternehmen vor
allem ihre Personalpolitik und Führungs-
kultur auf den Prüfstand stellen. Eine
Checkliste setzt erste Impulse, wo und
wie sie eine bessere Vereinbarkeit er-
reichen können.

Die neue Vereinbarkeit steht für ein betriebliches Um-          wird. Der von Roland Berger entwickelte Ansatz eines
feld, das es allen Beschäftigten ermöglicht, ihre Leis-         Vereinbarkeitschecks zielt darauf, dass jedes Unter-
tungen zu entfalten, und das über alle Lebensphasen             nehmen daraus erste Impulse und Ideen für das weite-
Optionen für eine nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit           re Vorgehen ableiten kann. Es werden sechs Leitfragen
sicherstellt. Für die deutschen Unternehmen liegt darin         an die bisherige betriebliche Personalpolitik und die
eine Herausforderung, weil sie in der Regel dieses Ni-          Unternehmensführung gestellt. J
veau noch nicht erreicht haben. Mit dem Sprung bei                  Da die Vorteile und die grundlegenden Handlungs-
der Vereinbarkeitsqualität und -kultur verbindet sich für       felder und Mechanismen bekannt sind, wird der nächs-
sie eine große Chance, gute Fachkräfte zu gewinnen              te Schritt für Unternehmen keine unerfüllbare Aufgabe
und an sich binden zu können.                                   sein. Das Siegel "Made in Germany" mit der Qualitäts-
    Eine vereinbarkeitsbewusste Unternehmens-                   plakette "Neue Vereinbarkeit umgesetzt" wird die Zu-
politik war nie eine Einbahnstraße – und sie wird es            kunftsfähigkeit des Standorts Deutschland stärken.
auch künftig nicht sein. Die Flexibilisierung von Arbeits-      Wer das vorhandene Fachkräftepotenzial bestmöglich
platz und Arbeitszeit führt – das zeigen alle Studien –         nutzt, hat den entscheidenden Hebel für eine hohe In-
zu einer höheren Zufriedenheit, mehr Produktivität und          novationsfähigkeit des eigenen Unternehmens selbst
Kreativität der Angestellten. Zugleich ermöglicht sie           in der Hand. Auch wenn sich die Konjunkturaussichten
eine effiziente Nutzung der Unternehmensressourcen              für Deutschland in den nächsten Monaten eintrüben
(Büroraum, Infrastruktur u.a.).                                 sollten: Es gibt keinen günstigeren Zeitpunkt, sich
    Es gibt kein allgemeingültiges Umsetzungskonzept,           rechtzeitig und umfassend als attraktiver, vereinba­r-
keinen Königsweg zu einer lebensphasenorientierten              keitsbewusster Arbeitgeber zu positionieren. Wer jetzt
Arbeitsorganisation. Jedes Unternehmen muss eine                handelt, wird sich Vorteile für die Zeit sichern, in wel-
individuelle Strategie entwickeln, die den Besonder-            cher der Wettbewerb um qualifizierte Beschäftigte
heiten seiner Mitarbeiterschaft, seiner Branche, seines         noch einmal deutlich anzieht.
Marktumfelds und seiner Wettbewerbsposition gerecht

                                             ROL AND BERGER STRATEGY CONSULTANTS                                      21
THINK ACT
                                                  DIE NEUE VEREINBARKEIT

                                                                J

               DIE NEUE VEREINBARKEIT –
                  DER REALITÄTSCHECK
                         DEN HANDLUNGSBEDARF EINES UNTERNEHMENS
                              MIT SECHS LEITFRAGEN ERMIT TELN

                                                 1. LEITFRAGE
                    Sind die Auswirkungen der Digitalisierung, Individualisierung und Demo-
                    grafie auf das Unternehmen, z.B. in Szenarien, heruntergebrochen – und
                          finden sie in Personalentwicklungsplänen Berücksichtigung?

                                                2. LEITFRAGE
                    Hat die Personalabteilung alle relevanten Informationen über Vereinbar-
                   keitsanforderungen und -wünsche der Beschäftigten – und hat sie Instru-
                         mente etabliert, um Veränderungen im Zeitablauf zu erfahren?

                                                   3. LEITFRAGE
                          Sind die bereits bestehenden Flexibilitätsinstrumente schon darauf
                        geprüft worden, ob und wie sie zu den unterschiedlichen Lebensphasen
                         und -stilen der Belegschaft passen – und welche Pläne existieren zur
                                             Anpassung einzelner Modelle?

                                                    4. LEITFRAGE
                          Ist die Arbeitsorganisation bereits ganzheitlich analysiert worden –
                         und welcher Anpassungsbedarf bei Prozessen und Strukturen wurde
                                                    dabei ermittelt?

                                                  5. LEITFRAGE
                     Sind die Führungskräfte mit den neuen Anforderungen an Vereinbarkeit
                   und Flexibilität vertraut und sich ihrer neuen Verantwortung bewusst – und
                    gibt es einen kontinuierlichen Diskussionsprozess darüber, wie die Unter-
                            schiedlichkeit der Belegschaft am besten zu managen ist?

                                                 6. LEITFRAGE
                   Gibt es eine offene und zielgruppengerechte Kommunikation über Verein-
                      barkeit und Flexibilität im Unternehmen – und existieren Kanäle für
                        Vorschläge und konstruktives Feedback von den Beschäftigten?

Quelle: Roland Berger

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                                                DIE NEUE VEREINBARKEIT

                                          ÜBER UNS
Roland Berger Strategy Consultants
Roland Berger Strategy Consultants, 1967 gegründet, ist die einzige der weltweit führenden Unternehmens-
beratungen mit deutscher Herkunft und europäischen Wurzeln. Mit rund 2.400 Mitarbeitern in 36 Ländern ist
das Unternehmen in allen global wichtigen Märkten erfolgreich aktiv. Die 50 Büros von Roland Berger befinden
sich an zentralen Wirtschaftsstandorten weltweit. Das Beratungsunternehmen ist eine unabhängige Partner-
schaft im ausschließlichen Eigentum von rund 220 Partnern.                     WWW.ROLANDBERGER.COM

Weiterführende Lektüre                                                                     Tablet-Version
                                                                                           HIER GEHT'S ZU
                                                                                           UNSERER KOSTENLOSEN
                                                                                           THINK ACT-APP

                                                                                           Um die digitalen Ausgaben
                                                                                           unserer Publikationen zu
                                                                                           erhalten, geben Sie "Roland
                                                                                           Berger" im iTunes App Store
                                                                                           oder bei Google Play ein.

THINK ACT                     THINK ACT                     THINK ACT
KONJUNKTUR-UPDATE             UNTERNEHMEN LERNEN            INDUSTRIE 4.0 – DIE
9/2014 FÜR DEUTSCH­           ONLINE – CORPORATE            NEUE INDUSTRIELLE
LAND UND EUROPA               LEARNING IM UMBRUCH           REVOLUTION

Vor dem Hintergrund           Der Online-Bildungsmarkt      Die sinkende Wettbewerbs-
steigender politischer        wächst rasant, denn dank      fähigkeit der produzierenden
Spannungen (u.a. Ukraine-     der technologischen Ent-      Unternehmen in Europa,
Konflikt) geben unsere
Experten einen Ausblick auf
                              wicklungen der vergange-
                              nen Jahre werden Online-
                                                            insbesondere durch neue
                                                            Marktteilnehmer in Asien,      Links & Likes
die Entwicklung der deut-     Bildungsangebote immer        bedroht das europäische
schen und europäischen        flexibler handhabbar und      Modell. Die Digitalisierung    BESTELLEN UND
Wirtschaft. Jüngste Publi-    leichter verfügbar. Die       der Industrie bietet jetzt     HERUNTERLADEN
kation in der Reihe unserer   Studie analysiert das         die Chance, verlorenes         www.think-act.com
regelmäßigen Konjunktur-      erhebliche Potenzial des      Terrain zurückzugewinnen
reports.                      E-Learning für Unternehmen.   (Publikation nur in Englisch   INFORMIERT BLEIBEN
                                                            verfügbar).                    www.twitter.com/RolandBerger

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