DIGITALPAKT UND DIE FOLGEN - Karl-Heinz Heinemann (Hrsg.) - MATERIALIEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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MATERIALIEN

Karl-Heinz Heinemann (Hrsg.)

DIGITALPAKT
UND DIE FOLGEN
WAS UND WEM SOLL DIGITALE
BILDUNG NÜTZEN?
INHALT

Vorwort                                                                    2

Karl-Heinz Heinemann
Analoges Lernen für eine ­digitalisierte Welt                              4
Digitalisierung und Allgemeinbildung

Rosemarie Hein
Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung                              10
Ein Essay

Dan Verständig
«Digitale Bildung» und andere Paradoxien zwischen 0 und 1                 18

Ralf Lankau
Medienmündigkeit statt Kompetenz                                          24
Medientechnik an Schulen

Thomas Höhne
Digitale Transformation                                                   33
Zur Veränderung von Wissen in Bildungsmedien

Bernd Schorb
Welche Fähigkeiten brauchen wir für eine Bildung 
unter dem Diktat der Digitalität?                                         40

Gunhild Böth
Sinnvolles Geld oder eine Möhre, die Kommunen vors Maul ­gehalten wird?   47
Anmerkungen zum Digitalpakt aus kommunal­politischer Perspektive

Die Autor*innen                                                           51
2   Vorwort

VORWORT

In der Straßenbahn, auf dem Bahnsteig oder in      Der Digitalpakt zwischen Bund und Ländern
der Schlange vor der Kinokasse – wer in diesen     sieht 5,5 Milliarden Euro für die Ausstattung
Situationen nicht auf sein Smartphone starrt,      von Schulen in den nächsten fünf Jahren vor.
gilt mittlerweile fast schon als Exotin. Spielen   Wollte man wirklich jeden Schüler, jede Schü-
auf dem Tablet stellt nörgelnde Kleinkinder ru-    lerin mit einem Tablet oder Laptop ausstatten,
hig. Am familiären Esstisch werden Zweifels-       die Schulen total vernetzen und eine Infra-
fragen durch Nachschlagen auf Wikipedia ge-        struktur mit Clouds aufbauen, so wird selbst
klärt. Nicht nur ältere Menschen stehen diesen     dieses Geld nicht reichen. Und vor allem: Wis-
Veränderungen in Kommunikation und Ver-            sen die Lehrerinnen und Lehrer überhaupt,
halten skeptisch gegenüber – ganz abgese-          was sie damit anfangen können?
hen von den damit verbundenen Datenschutz-         Die Beiträge der vorliegenden Broschüre las-
problemen. Das Verhältnis von Öffentlichkeit       sen sich nicht in das Schema «Bist du für oder
und Privatheit verändert sich, wenn uns Alexa      gegen Computer in der Schule?» pressen. Es
gewollt oder ungewollt abhört und wenn wir         geht uns nicht um eindeutige, glatt gebügelte
beim Joggen unseren Puls an anonyme Rech-          Antworten, sondern darum, Probleme zu be-
ner weitergeben. Grund genug also, bei der Di-     nennen und Perspektiven für eine Bildung in
gitalisierung – anders als etwa Christian Lind-    Zeiten der Digitalisierung zu entwickeln.
ner und die FDP – Bedenken anzumelden.             In der Auseinandersetzung um den Einsatz
Andererseits: Kein Arbeitsplatz bleibt von der     von Computern in den Schulen tun sich alte
Digitalisierung verschont – der Kellner tippt      Gegensätze auf. Auf der einen Seite stehen
unsere Bestellung in sein Smartphone, in der       die Kritikerinnen, die in der Digitalisierung eine
Tischlerei stehen CNC-Maschinen, also com-         Strategie der In-Wert-Setzung des öffentlichen
putergesteuerte Werkzeugmaschinen, im              Guts Bildung sehen. Sie befürchten, dass Kon-
Malerbetrieb wird der Farbton mithilfe eines       zerne, die an der Ausstattung verdienen, damit
Computers gemischt, die Installateurin muss        mehr Einfluss auf die Inhalte nehmen und al-
anspruchsvolle Berechnungen am PC ausfüh-          lein daran interessiert sind, die Kids schon mal
ren. Schulen und Bildungseinrichtungen wä-         auf ihre computerisierten Arbeitsplätze vorzu-
ren weltfremd, wenn sie das nicht zur Kennt-       bereiten. Wenn etwas gelernt werden soll, was
nis nehmen und ihren Bildungsanspruch              im Beruf nützlich ist, dann diene es lediglich
daran ausrichten würden. Und wir müssen            der Anpassung an bestehende Verhältnisse
prüfen, ob und wie die Digitalisierung das Ler-    und habe nichts mit Bildung zu tun, die eher
nen erleichtern und den Unterricht verändern       zweckfrei sein sollte. Auf der anderen Seite
kann. Lernprogramme können das Verspre-            stehen die Pragmatikerinnen, die argumentie-
chen einlösen, den Lernprozess an die indivi-      ren, dass die Schule nur dann die Chancen für
duellen Erfordernisse anzupassen – machen          Benachteiligte verbessert, wenn sie auf einen
sie damit Lehrerinnen und Lehrer überflüssig?      qualifizierten Beruf und einen hochwertigen,
Zugleich können solche Programme Lehrerin-         sicheren Arbeitsplatz vorbereitet.
nen1 ganz neue Kontrollmöglichkeiten an die        Im folgenden ersten Beitrag geht es um die-
Hand geben – ist das sinnvoll? Lernprogram-        sen alten Gegensatz von Allgemeinbildung
me können virtuelle Welten erschließen, aber       und Nützlichkeit, der schon bei Marxens Über-
sie können nicht die unmittelbare Anschau-         legungen zur polytechnischen Bildung eine
ung ersetzen.                                      Rolle spielte.
Vorwort          3

«Die Ängste vor neuen Technologien sind im-       berechtigt, dass das Internet auch kleinen und
mer die Ängste von Erwachsenen», meint Ro-        alternativen Anbietern bessere Zugangsmög-
semarie Hein, langjährige Bildungspolitikerin.    lichkeiten zu diesem Markt eröffnet? Thomas
Sie knüpft an die Erfahrungen mit ihrem En-       Höhne untersucht nicht nur den veränder-
kelsohn an. Die Kritik an digitalen Medien hat    ten Markt der Bildungsmedien, sondern zeigt
manchmal etwas Kulturkritisches. Rosema-          auch, wie sich die Produktion der Medien ver-
rie Hein erinnert an Neil Postman, der in den     ändert und wie die Didaktik dabei zunehmend
1970er Jahren mit dem Fernsehen «Das Ver-         ins Hintertreffen gerät.
schwinden der Kindheit» kommen sah und für        Kritisch an neue Medien heranzugehen heißt,
den allein die Digitaltechnik samt den darin      sich mit ihnen auch detailliert auseinander-
enthaltenen Möglichkeiten der Interaktivität      zusetzen und zugleich die Fähigkeiten zu er-
Rettung versprach.                                lernen, sie im eigenen Sinn zu nutzen. Bernd
Medienbildung ist mehr, als den Umgang mit        Schorb entwickelt dazu einen Ansatz kriti-
digitaler Technik und Standardsoftware zu er-     scher Medienbildung.
lernen, warnt Dan Verständig und kritisiert das   Kommunalpolitikerinnen müssen sich ent-
verkürzte Verständnis von Medienbildung, das      scheiden, was in ihren Schulen angeschafft
nicht nur im Digitalpakt, sondern auch in der     werden soll, wie die Schulen technisch aus-
Strategie der Kultusministerkonferenz und in      gestattet und vernetzt werden, ob und wie sie
manchen linken Debatten durchscheint. Ver-        Einfluss nehmen können auf die Fortbildung
ständig geht es darum zu verstehen, wie sich      der Lehrkräfte und damit auch auf die Inhal-
gesellschaftliche Beziehungen, Konsum und         te. Gunhild Böth, Stadträtin in Wuppertal, ver-
Kommunikation im letzten Jahrhundert verän-       sucht, diese Fragen aus ihrer Praxis heraus zu
dert haben, und einen kritischen Bildungsbe-      beantworten.
griff in Zeiten der Digitalität zu entwickeln.    Jede technische Entwicklung, jede wissen-
Ralf Lankau nimmt Studien und Argumen-            schaftliche Entdeckung im Kapitalismus dient
te auseinander, die von den Digitalisierungs-     der Kapitalverwertung und meistens auch der
befürworterinnen leichtfertig ins Feld geführt    Herrschaftssicherung. Doch zugleich enthält
werden. Obwohl er keinen Hehl aus seiner kri-     sie, wenn auch jeweils in unterschiedlichem
tischen Haltung gegenüber dem Digitalpakt         Maße, Möglichkeiten der Vergesellschaftung
zwischen Bund und Ländern und den landläu-        und der Befreiung. Wäre dem nicht so, sähe
figen Digitalisierungsstrategien macht, gibt er   es trübe aus.
praktische und altersgemäße Anregungen,
wie sich die Bildungseinrichtungen konstruk-      Karl-Heinz Heinemann
tiv mit diesem gesellschaftlichen Trend ausei-    Köln, September 2019
nandersetzen können.
                                                  1 Bei Gruppen von Personen unterschiedlichen Geschlechts werden
Mit der Digitalisierung verändert sich auch der   in den Beiträgen dieser Publikation in der Regel Gendersternchen ver-
Markt der Bildungsmedien. Ist die Hoffnung        wendet, in den Texten des Herausgebers die weibliche Form.
4   Analoges Lernen für eine ­d igitalisierte Welt

Karl-Heinz Heinemann

ANALOGES LERNEN FÜR
EINE ­DIGITALISIERTE WELT
DIGITALISIERUNG UND ALLGEMEINBILDUNG

 Digitalisierung ist anscheinend unser Schick- ternativlose Entwicklung umsteuern müssen,
sal: Wir sollten möglichst schnell nicht nur auf auch in der Bildung.
den fahrenden Zug aufspringen, sondern uns Computer in die Schule? Kaum ein Thema
auch bis zur Lok vorarbeiten: Digitalisierung wird in der linken Bildungsdebatte so heftig
first, Bedenken second. Wir, wer immer damit und kontrovers diskutiert. Grob gesagt stehen
gemeint ist: die deutschen Unternehmen, die sich zwei Lager gegenüber:
deutsche Gesellschaft? «Wir» drohen, den An- Auf der einen Seite stehen die Bildungspo-
schluss zu verpassen, weil andere, etwa das litikerinnen in den diversen Gremien. Die in
kleine Estland, schon mehr digitalisiert sind. der Bundesarbeitsgemeinschaft Bildungs-
Auch wem das nicht passt, der bzw. die weiß: politik der LINKEN zusammengeschlosse-
Digitalisierung verändert nicht nur die Produk- nen Praktikerinnen trafen sich vor einem Jahr,
tion und den Austausch materieller und im- um über die Digitalisierung in der Bildung zu
materieller Güter, sondern unsere gesamte diskutieren. Sie kamen sehr schnell von den
Lebensweise – die Kommunikation, die sozia­ im Programm angekündigten Themen wie
len Beziehungen, die
Aneignung und Verbrei-
tung von Informationen        Computer in die Schule? Kaum ein Thema
und Wissen. Insofern ist      wird in der linken Bildungsdebatte so
es ziemlich überflüssig,      heftig und kontrovers diskutiert.
darüber zu diskutieren,
ob Digitalisierung in der Schule etwas zu su- «Medienkompetenz» oder «Inhalte von Me-
chen hat oder nicht. Nur: In der Linken ist – an- dienbildung» auf die miserable Ausstattung
ders als zu Marxens Zeiten – der Glaube daran von Schulen mit Computern zu sprechen, sie
längst zerstört, dass die Weiterentwicklun- klagten über fehlende Lehrerfortbildungen,
gen in Wissenschaft und Technik, also auch sie freuen sich, wenn ihnen Samsung einen
die Digitalisierung, die Vergesellschaftung Klassensatz Tablets zur Verfügung stellt, und
von Produktion und Lebensweise weiter vo­ diskutierten über die Möglichkeiten des Mini-
ranbringen – also Fortschritt bedeuten. Wenn computers «Calliope», sie fragten, ob sich die
nun die Digitalisierung die Schulen und das soziale Spaltung weiter vertiefen wird, weil die
Lernen grundlegend umwälzen soll, stößt das einen die Digitalisierung nur als Konsumen-
eher auf Skepsis als auf Begeisterung. Und tinnen erfahren, die anderen dagegen lernen,
die Skepsis ist angebracht. Anders als zu Mar- wie sie sie sich zunutze machen können.
xens Zeiten glauben wir nicht mehr, dass wis- Auf der anderen Seite stehen die Kritikerin-
senschaftlicher und technischer Fortschritt nen. So etwa linke Erziehungswissenschaft-
und die damit einhergehende reale Vergesell- lerinnen, die im Gesprächskreis Bildungspoli-
schaftung der Produktion nur eine Richtung tik der Rosa-Luxemburg-Stiftung regelmäßig
kennt. Deshalb ist zu prüfen, wo politische zusammenkommen. Sie sehen in der Einfüh-
und gesellschaftliche Kräfte die scheinbar al- rung digitaler Medien in Schulen eine weitere
Analoges Lernen für eine ­d igitalisierte Welt   5

Fessel für emanzipatorische Bildungsprozes-      verfehlt. Um sie zu erörtern, braucht man frei-
se: Unternehmen verkaufen ihre Maschinen         lich keine flächendeckende Ausstattung mit
und ihre Software und Schülerinnen verlernen     Laptops, sondern engagierte Lehrerinnen und
das selbstständige Denken in Strukturen, die     Lehrer und möglicherweise auch entsprechen-
möglicherweise andere sind als die Algorith-     de Vorgaben in Lehrplänen und Schulbüchern.
men ihrer Maschinen. Digitalisierung steht für
die Unterordnung von Bildung unter die kapi-     Digitalisierung ist mehr als
talistische Ökonomie. PISA, VERA, QUIMMS         Smartboard statt Schiefer­
und wie die vielen Vergleichstests heißen und    tafel
neue, am Leitbild des Unternehmens orien-        In der öffentlichen Debatte geht es darum,
tierte Steuerungsmodelle für Schulen und         welche Rolle Digitalisierung in der Schule und
Hochschulen sind deren augenfälliger Aus-        der Bildung spielen sollte. Dabei sollten wir
druck. Das gilt auch für den Bologna-Prozess     unterscheiden, dass es zum einen um die mit
mit seinen bürokratischen Zumutungen, die,       Digitalisierung nur schemenhaft beschriebe-
wenn sie denn wirklich ernst genommen und        nen gesellschaftlichen Prozesse geht, die In-
nicht von gewitzten Wissenschaftlerinnen         halt und Gegenstand von Schule und Lernen
und Studierenden unterlaufen würden, die         werden sollten, anderseits um den Einsatz di-
Freiheit der Wissenschaft längst erstickt hät-   gitaler Medien in Schule und Unterricht. Oft
ten. Der heute in jedem Lehrplan stehende        fokussiert sich die Debatte auf Letzteres, so-
Kompetenzbegriff ist ihnen suspekt, da er den    wohl bei den «Freunden» als auch den «Kriti-
bzw. die Einzelnen auf sich selbst als den Un-   kerinnen» der Digitalisierung: Sollen Compu-
ternehmer seiner selbst zurückwerfe und den      ter in der Schule genutzt werden? Wenn ja,
Begriff der Bildung ersetzen solle. Dem Kom-     ab welchem Alter der Beschulten? Mit dem
petenzbegriff entspreche eine instrumentelle     Digitalpakt haben Bundes- und Landesregie-
Orientierung auf neue Medien und Computer,       rungen erst einmal eine Willensbekundung
deren Einsatz derart fetischisiert werde, dass   abgegeben, die Ausstattung mit Computern,
er unabhängig von den darin steckenden In-       Netzen und Software kräftig zu fördern. Völ-
halten zum Wert an sich werde. Damit einher      lig zu Recht steht die Frage im Raum: Wer be-
gehe eine Umwertung von Autonomie, Frei-         kommt das Geld, wer profitiert davon im ganz
heit und Verantwortung. In der Digitalisierung   materiellen Sinne?
wird zu großen Teilen eine Zurichtung auf die    Digitale Medien in der Schule verändern weit
Bedürfnisse des Kapitals gesehen.                mehr, als dass die Lehrerin bzw. der Leh-
Wie viel Informatik braucht der Mensch? Was      rer nun statt eines liebevoll gestalteten Ta-
müssen wir angesichts des Klimawandels wis-      felbilds des Mammuts – in Waldorfschulen
sen? In welchem Ausmaß nehmen uns Robo-          sehr beliebt – auf das Smartboard professio-
ter die Jobs weg? Was bedeutet künstliche In-    nell erstellte Grafiken projizieren kann. Jede
telligenz? Was macht unser Menschsein aus?       Schülerin kann je nach eigenem Tempo und
Eine Schule, die diese Fragen bewusst aus-       Geschmack individuell lernen – in dieser Hin-
klammern würde, hätte ihren Bildungsauftrag      sicht scheint die Digitalisierung das Verspre-

Bildung wird nicht dadurch definiert, dass sie unnütz ist.
Selbst das scheinbar zweckfreie Parlieren über Emilia
Galotti, über Arnold Schönberg oder die Wiener Klassik ist
ja enorm nützlich.
6   Analoges Lernen für eine ­d igitalisierte Welt

chen der Individualisierung des Lernens zu           Was Bildung ist und wie sie sich von purer
erfüllen. Die Programme erkennen Lernfort-           Anpassung an die Bedürfnisse der Kapital-
schritte und Defizite in messbaren Größen wie        verwertung unterscheidet, lässt sich nicht
Fehlerzahl, und Arbeitszeit. Die Rolle der Leh-      daran messen, ob Kenntnisse und Fähigkei-
rerin ändert sich: Sie kann – theoretisch – die      ten nützlich, also brauchbar sind oder nicht.
Messwerte ihrer Schülerinnen abrufen und             «Brauchbar» war im Rahmen eines reaktio-
den Lernprozess in den Messgrößen kontrol-           nären Bildungsverständnisses das Verhal-
lieren, die ja auch in den Lernstandsverglei-        ten eines Untertanen, der gelernt hat, den
chen und Qualitätssicherungsmaßnahmen                für ihn vorherbestimmten Platz in der Gesell-
die wichtigste Rolle spielen.                        schaft zu akzeptieren, und aus Gottesfurcht
                                                     und Kaisertreue keine Anstalten machte, über
Darf Bildung «nützlich»                              seinen Tellerrand zu gucken. Mit dem Argu-
sein?                                                ment der mangelnden Brauchbarkeit mag
Im Hintergrund lauert ein alter Streit: Soll         heute manche Schülerin infrage stellen, wo-
Schule und Studium auf einen Beruf vorbe-            für sie Differenzialrechnung, Goethe oder den
reiten, oder müssen sie nicht gerade befrei-         Kunstunterricht braucht. («Ich kann Gedichte
en von den Fesseln, die unser Leben durch            interpretieren, aber verstehe den Mietvertrag
ständische Regularien, soziale Abhängigkei-          nicht.») Nur das als brauchbar und wichtig an-
ten und Unterdrückung einengen? Verheißt             zusehen, was sich aus der unmittelbaren Le-
Bildung nicht, die Grenzen zu überschreiten,         benswelt erschließt, wäre exkludierend und
die uns die materielle Existenzsicherung auf-        zutiefst undemokratisch, weil es Menschen
erlegt? Zeichnet sie sich nicht dadurch aus,         auf eine schon durch die Schullaufbahn vor-
dass sie eben nicht am ökonomischen Zweck,           bestimmte Rolle im Berufsleben einengt. Die
an Effizienz und Effektivität orientiert ist? All-   Stromrechnung zu verstehen und ein Bewer-
gemeine Bildung heißt seit Comenius: allen           bungsschreiben aufsetzen zu können und da-
alles zu lehren. Und auch Humboldt postu-            mit gut, das wäre reaktionär. Und wer sich an-
lierte eine Bildung, die sowohl dem Tischler         sieht, was in Ausbildungsordnungen verlangt
den Zugang zur Philosophie eröffnet als auch,        wird oder welche Maßstäbe die PISA-Studie
auf der anderen Seite, dem Philosophen, der          anlegt, wird feststellen, dass heute Selbst-
Philosophin (für Humboldt spielte freilich die       ständigkeit, Kreativität und Verantwortungs-
Genderfrage noch keine Rolle) den Zugang             bewusstsein gefordert werden und nicht nur
zum Handwerk. Also «Brauchbarkeit» versus            Gehorsam und Anpassung.
«Allseitigkeit»? Ganz klar: Der Maßstab für Bil-     Die Auseinandersetzung mit «Digitalität», wie
dung muss sein, ob sie allen, unabhängig von         etwa Schorb und Verständig schreiben, ist
ihrer Herkunft, alle Möglichkeiten erschießt,        nützlich, nicht weil man mit diesem Wissen
sich diese Welt anzueignen, sich selbst im           morgen besser am Computer arbeiten kann,
Gestaltungsprozess, der Arbeit heißt, zu ver-        sondern weil man einen Eindruck von den Ver-
ändern, Möglichkeiten zu eröffnen, die die           änderungen im technischen, ökonomischen
Gesellschaft gegenwärtig der Mehrheit noch           und sozialen Raum bekommt – Voraussetzun-
vorenthält: so sprachfähig zu sein, dass man         gen also für Autonomie.
am öffentlichen Diskurs teilnehmen kann,             Bildung wird nicht dadurch definiert, dass
hinterfragen zu können, was sich im Betrieb          sie unnütz ist. Selbst das scheinbar zweck-
und in den unmittelbaren Beziehungen tut             freie Parlieren über Emilia Galotti, über Ar-
oder was in Koalitionsgesprächen oder in den         nold Schönberg oder die Wiener Klassik ist ja
Nachrichten verhandelt wird.                         enorm nützlich. Wer zum Beispiel in der Bank
Analoges Lernen für eine ­d igitalisierte Welt   7

nicht hinterm Schalter sitzen bleiben, sondern     verzichten könne, denn der Kampf für mehr
in die 30. Etage aufsteigen will, der braucht      BAföG, billiges Mensaessen und Wohnheim-
dieses Distinktionswissen mehr als das über        plätze sei «gewerkschaftliche Orientierung»,
doppelte Buchführung. Die Erwartung, über          also die korrekte Massenlinie.
die schulische Allgemeinbildung und später         Damals kritisierten wir eine von der gesell-
auch über ein Studium den Zugang zu einem          schaftlichen und beruflichen Realität gleicher-
anspruchsvollen Beruf zu finden, durch den         maßen abgehobene akademische Bildung.
man einen Platz in dieser Gesellschaft findet      Heute hat uns diese Kritik eingeholt und über-
und der für den Lebensunterhalt taugt, ist nur     holt, weil gesellschaftliche und individuelle In-
legitim. Eine Bildungspolitik, die diesen Aspekt   teressen an der Ausbildung auf die Verwert-
des individuellen Nutzens von Bildung ver-         barkeit im Sinne des Kapitals verkürzt werden.
nachlässigt oder verleugnet, wäre arrogant,        Wir sollten darüber sprechen, wie heute ei-
elitär und exkludierend. Also: Etwas über den      ne verkürzte Berufsorientierung im Studium
Umgang mit Computern lernen zu wollen, um          überwunden werden kann zugunsten dieser
damit auf das spätere Berufsleben gut vorbe-       Doppelqualifikation – für den Beruf und für
reitet zu sein, ist eine berechtigte Erwartung.    die Vertretung der eigenen Interessen an ei-
Umso besser, wenn es nicht unter dem un-           ner sinnvollen Gestaltung der Arbeit und der
mittelbaren Verwertungszwang in der Berufs-        gesellschaftlichen Organisation, auch über
ausbildung stattfindet, sondern in der Schule,     das unmittelbar Nützliche hinaus. Nur: Auch
einem Raum, der nicht auf unmittelbaren Nut-       so wird man dem Dilemma nicht entkommen,
zen programmiert ist und in dem ökonomische        dass alles, was man sich lernend aneignet,
Interessen nur vermittelt zum Tragen kommen.       auch wieder kapitalistischen Verwertungsin-
                                                   teressen untergeordnet werden kann. Mehr
Digitale Technik kennen                            Weitblick, um die Folgen des eigenen Tuns
und kritisieren                                    abschätzen zu können? Mehr Kreativität, um
Im marxistischen Teil der Studentenbewe-           auch mal Umwege gehen zu können? Prima,
gung der 1970er Jahre kursierte – damals üb-       das ist genau das, was in der modernen Ar-
rigens nicht unwidersprochen – das Theorem         beitswelt erwartet wird. Aber ist es deswegen
der «Doppelqualifikation»: Man will eine be-       verkehrt?
rufliche Qualifikation erwerben und zugleich
die Befähigung, die eigene Tätigkeit gesell-       Polytechnische Bildung
schaftlich einordnen und kritisch hinterfragen     neu gesehen
zu können. Dazu hätte man sich kritisch mit        Vielleicht hilft die Rückbesinnung auf die po-
seiner Wissenschaft auseinandersetzen, sich        lytechnische Bildung, zwischen allseitiger Bil-
also Bildung aneignen müssen. «Bildung» war        dung und «Brauchbarkeit» zu vermitteln. Für
damals ein verpönter Begriff aus dem Reper-        Karl Marx war sie neben geistiger Bildung und
toire der geisteswissenschaftlichen Pädago-        körperlicher Erziehung die dritte Säule einer
gik, mit der Menschen nichts zu tun haben          Bildung für alle: Mit der Entwicklung der gro-
wollten, die sich auf eine kritische Sozialwis-    ßen Industrie wurden Naturwissenschaften
senschaft bezogen. Der Ansatz der kritischen       und Technologien zu einem entscheidenden
Wissenschaft, eine der Initialzündungen der        Hebel der gesellschaftlichen Umgestaltung.
Studentenbewegung in den 1960er Jahren,            Für Karl Marx war deshalb «polytechnische
war damals im Marxistischen Studentenbund          Ausbildung, die die allgemeinen Prinzipien
Spartakus umstritten, weil man das für ein bil-    aller Produktionsprozesse vermittelt», neben
dungsbürgerliches Relikt hielt, auf das man        geistiger und körperlicher Erziehung wichtig.
8   Analoges Lernen für eine ­d igitalisierte Welt

Es ging um die «allgemeinen Prinzipien», al-         gehört unbedingt zur Allgemeinbildung. Die
so nicht um Einübung eines Berufs oder einer         Möglichkeiten der Informationstechnik im
Tätigkeit, die durchaus praktisch im besonde-        Lernprozess sinnvoll einzusetzen ist gera-
ren Produktionsprozess angeeignet werden             de dort erforderlich, wo Bildungsdefizite auf-
könnten. Gleichermaßen wichtig war ihm die           zuarbeiten sind, etwa bei der Aneignung der
praktische Anwendung – wie sie später im             deutschen Schriftsprache, im Fremdspra-
Realsozialismus als «produktive Arbeit» der          chenlernen oder in der Mathematik. Die Mög-
Schülerinnen und Schüler wieder auftauch-            lichkeiten sind vielfältig.
te. Etwas Sinnvolles zu tun, den gesellschaft-
lichen Nutzen von Arbeit zu erfahren, dieser
Gedanke der Verbindung von Schule und Le-            Entspricht die Logik von
ben spielte ja auch in der (bürgerlichen) Re-        Lernprogrammen nicht
formpädagogik eine wichtige Rolle. Und er            genau dem gewünschten
richtete sich gegen die in der Pädagogik in          Verhalten von modernen
geisteswissenschaftlicher Tradition verbrei-         Arbeitnehmerinnen – sie sind
tete Verachtung von gegenständlicher Arbeit          flexibel und kreativ, aber die
und der daraus resultierenden Trennung von           Grenzen der Kreativität sind
höherer und minderer Bildung, wozu ja die Bil-       vorgegeben?
dung in den «Realien» zählte.
Für Marx bedeutete die Entwicklung der Tech-         Schule und Bildung dürfen nicht jedem Trend
nologie und der Großen Industrie noch sehr           hinterherlaufen. Sie dienen nicht der Berufs-
viel ungebrochener als für uns heute die zu-         ausbildung, noch nicht einmal der Berufsvor-
nehmende Vergesellschaftung der Produk­tion          bereitung im engen Sinn, sondern stellen eine
und damit die materielle Vorbereitung ihrer ei-      der Grundlagen dar für ein selbstbewusstes,
gentumsmäßigen Vergesellschaftung. Heute             selbstbestimmtes Leben in einer Welt und Ge-
sehen wir mehr das zerstörerische Potenzial,         sellschaft, die wir heute noch nicht kennen
das in Technik und Wissenschaft enthalten            und noch unzureichend beschreiben können.
sein kann, also nicht nur – platt gesagt – den       Bildung bedeutet die Fähigkeit, sich von der
Widerspruch zwischen Produktivkraftent-              Unmittelbarkeit der Anschauung distanzieren
wicklung und den Fesseln der Produktionsver-         und Differenz erkennen zu können. Die grie-
hältnisse, sondern dass auch die Produktiv-          chische Polis, das Römische Reich, der Fa-
kraftentwicklung selbst sehr widersprüchlich         schismus, Goethe, Shakespeare, Brecht und
ist. Umso wichtiger also, sich mit ihr auch in-      Böll als Lerngegenstände in der Schule kön-
haltlich auseinandersetzen zu können. Man            nen dazu befähigen, Probleme der Datensi-
muss abschätzen können, was mit der Digi-            cherheit oder der Veränderung sozialer Be-
talisierung möglich ist, welche unbeabsich-          ziehungen heute zu verstehen. Der Kurs in
tigten oder beabsichtigten Folgewirkungen –          der Programmiersprache «Basic», den ich vor
etwa für den Unterricht, das Verständnis von         35 Jahren mitgemacht habe, nützt mir nichts
Lernen, die Überwachung der bzw. des Einzel-         mehr beim praktischen Umgang mit dem In-
nen, der Individualisierung – möglich sind und       ternet oder Windows 10, aber er hat mir ge-
welche unterschiedlichen Entwicklungen sie           holfen zu verstehen, was Digitalisierung ist.
nehmen kann.                                         Wir brauchen also nicht die Kenntnis der neu-
Für uns heißt das: Zu lernen, dass man auf           esten Gerätschaften und Programme, um
Computern nicht nur spielen kann, sondern            zu verstehen, worum es bei der Digitalisie-
dass sich durch sie neue Chancen eröffnen,           rung geht und um künftige neue Entwicklun-
Analoges Lernen für eine ­d igitalisierte Welt   9

gen einordnen zu können, sondern, wie man           guckt ihren Schülerinnen nur noch von hin-
so schön sagt, solide Bildung. Und die be-          ten über die Schulter oder überwacht sie an
steht eben nicht nur aus Geisteswissenschaf-        ihrem Rechner. Die Programme werten alles
ten, sondern ebenso aus der Aneignung der           aus: Wer macht wo Fortschritte und wo nicht?
Grundlagen der Naturwissenschaften und aus          Die nächsten Lernschritte können passgenau
einer polytechnischen Bildung, die etwas an-        vorgegeben werden, da gibt es keine Umwe-
deres ist als Berufsvorbereitung.                   ge und Sackgassen mehr. Schöne neue Welt
Aber es geht auch darum, ob und wie sich Bil-       des individualisierten und dennoch gesteuer-
dung, Schule und Lernprozesse mit der Digita-       ten Lernens?
lisierung verändern. Lernprogramme ermögli-         Für manche scheint diese Entwicklung die
chen die Individualisierung des Lernens: Jede       Erfüllung eines vermeintlich antiautoritären
lernt im eigenen Tempo, kann Lernzeiten und         Traums: der Egalisierung des Lehrers, der Leh-
Lernschritte selbstständig bestimmen. Über          rerin, die ihre Führungsrolle verlieren und zu
Computeranwendungen können naturwissen-             Lernbegleiterinnen werden. Die Schule als
schaftliche und gesellschaftliche Versuche si-      Zwangsanstalt wird überflüssig, jedermann,
muliert werden, die Schülerinnen in der Realität    jedefrau kann am heimischen Computer ler-
nicht durchführen könnten, und, klar, sinnliche     nen oder sich zu freien Lerngruppen zusam-
Erfahrung wird durch Virtualität ersetzt. Über      menfinden, Social Media erleichtern das ja.
das Internet haben Schülerinnen und Lehrer          Tatsächlich wird so die Vorstellung vom in-
Zugang zu unübersehbar vielen Informatio-           dividualisierten Lernen am Computer oder
nen. Lernplattformen bieten einen Varianten-        sonst wo auf die Spitze getrieben und ad ab-
reichtum, im Vergleich zu dem jedes «analoge»       surdum geführt. Aus der Individualisierung
Lernmaterial armselig erscheint. Über Social        wird Vereinzelung, aus sozialem Lernen in ei-
Media können sich Schülerinnen und Lehre-           ner heterogenen Gruppe wird Pauken. Dieses
rinnen vernetzen und über alles Mögliche (und       Horrorszenario steht den Kritikern der Digitali-
Unmögliche) austauschen. Aber: Wie viel In-         sierung in der Schule vor Augen.
dividualisierung wollen wir? Lernen ist ein in-     So wird es nicht kommen. Ivan Illich hat die
teraktiver Prozess, braucht reale Partnerinnen,     Schule nicht abschaffen können, Bill Gates
Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen.         oder Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stif-
Entspricht die Logik von Lernprogrammen             tung werden es auch nicht schaffen. Nicht
nicht genau dem gewünschten Verhalten von           nur weil sich die Institution als hartnäckig er-
modernen Arbeitnehmerinnen – sie sind flexi-        weist, sondern weil Lernen und Bildung im-
bel und kreativ, aber die Grenzen der Kreativität   mer mit Erfahrung von und mit Menschen
sind vorgegeben?                                    zu tun haben. Gerade der Einsatz neuer Me-
                                                    dien in der Schule erfordert starke, kundige
Kein Ersatz für Lehrerinnen                         und selbstbewusste Lehrerinnen und Lehrer,
Die Rolle des Lehrers bzw. der Lehrerin ver-        die wissen, was sie tun, wo sie hinwollen und
ändert sich. Die Lehrkraft steht nicht mehr         was sie ihren Schülerinnen und Schülern zu-
im Mittelpunkt des Unterrichts, sondern             trauen können.

Gerade der Einsatz neuer Medien in der Schule erfordert
starke, kundige und selbstbewusste Lehrerinnen und
Lehrer, die wissen, was sie tun, wo sie hinwollen und was
sie ihren Schülerinnen und Schülern zutrauen können.
10 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung

Rosemarie Hein

KEINE DIGITALE BILDUNG
IST AUCH KEINE LÖSUNG
EIN ESSAY

Nein, ich werde in diesem Leben kein digi-        heit drohen, wenn die Digitalisierung überall
tal native mehr werden. Meine Kinder auch         um sich greift. Menschen werden überflüssig?
nicht, obwohl sie mit Tablet und Handy viel       Auf der einen Seite die Bitkom, die Interessen-
geschickter umgehen als ich. Mein Enkel­          vertretung der Digitalbranche in Deutschland,
sohn dagegen ist bereits einer. So wie meine      und auf der anderen Seite Kritiker*innen wie
Tochter als Kleinkind durch Neugier lernte, wie   Manfred Spitzer. Wer hat nun recht?
man eine Lampe ein- und ausschaltet, so pro-      Längst ist klar, dass der Einsatz digitaler Tech-
bierte mein Enkelsohn, was es mit den Spielen     nologien nicht ohne Risiken ist: das Verbreiten
auf dem Computer auf sich hat, lange bevor er     von Fake News, die Frage der Datensicherheit,
lesen konnte. Ohne Scheu, mit der Methode         der Schutz der Persönlichkeitsrechte, Cyber-
Versuch und Irrtum: mal sehen, was da pas-        kriminalität, Arbeitsplatzverluste, Suchtpoten-
siert. Heute, mit neun Jahren, liest er gern,     zial oder das Verführungspotenzial virtueller
rechnet exzellent und schreibt auch ganz gut.     Welten. «Mädchen, die mehr als drei Stunden
Trotz Computer. Es ist eben alles eine Frage      in Facebook sind mit 13, haben die doppelte
des Maßes. Und ja, seine Eltern haben ihm         Wahrscheinlichkeit, mit 18 depressiv zu sein.
Zeiten vorgegeben, die er für das Spielen auf     Smartphones erzeugen Sucht», so Manfred
dem Tablet nutzen darf. Er hat das akzeptiert,    Spitzer im März 2018 in einem Interview mit
aber er kämpft um jede Minute.                    dem Deutschlandfunk. Spitzer fordert eine
In jüngster Zeit ist es modern geworden, die      Folgenabschätzung. Gut, das alles ist notwen-
Gefahren der Digitalisierung zu beschwören.       dig. Aber stimmen die Zusammenhänge? Ist
Sozusagen als Gegenentwurf zum Hype der           das Smartphone der Auslöser für Depressio-
Fortschrittsfanatiker*innen. Mit dem ungezü-      nen? Oder sind es vielmehr Fragen der gesell-
gelten Einsatz digitaler Medien und Techno-       schaftlichen Entwicklung, Fragen von Moral
logien sei ein Verlust an Bildung verbunden,      und Ethik, Fragen des Umgangs mit den neu-
heißt es. In der Debatte gibt es die fürchter-    en Medien – Fragen der Bildung?
lichsten Szenarien: Die einen fordern, das Er-    Ja, auch die schon beschriebenen und die
lernen der Handschrift abzuschaffen, die an-      noch zu erforschenden Gefahren müssen be-
deren befürchten neurologische Schäden,           dacht und öffentlich gemacht werden. Da­
weil Google uns das Denken abgewöhne. Vir-        ran haben die großen Internetriesen und Di-
tuelle Welten ersetzen scheinbar die Wirklich-    gitalkonzerne aber kein primäres Interesse,
keit. Das Haptische scheint ausgedient zu ha-     denn das nährt die Nachdenklichkeit und die
ben. Wieso einen Schalter händisch bedienen,      Zurückhaltung bei der Nutzung dieser Tech-
wenn eine Geste oder gar ein Gedanke ausrei-      nologien, und das ist für sie durchaus ge-
chen? Smart home und smart city regeln alles.     schäftsschädigend. Instagram & Co. leben
Der Euphorie über die schier unbegrenzten         schließlich davon. Aber was ist dann zu tun?
Möglichkeiten digitaler Medien und künstli-       Und was bedeutet das für die Bildung in dieser
cher Intelligenz wird die Beschwörung von         durch digitale Medien und Technologien ge-
Gefahren gegenübergestellt, die der Mensch-       prägten Welt?
Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung 11

Möglichkeiten und Grenzen                        auch in der Bildung: Die Einrichtung von Fa-
technischer Entwicklungen                        brikschulen im 19. Jahrhundert entsprach si-
sehen                                            cher einem wachsenden sozialen Gewissen in
Keine Frage: Die Einführung digitaler Tech- Teilen der Gesellschaft und folgte dabei mög-
nologien in fast allen Bereichen der Gesell- licherweise auch den Bildungsvorstellungen
schaft verändert die Art, wie wir leben, ähn- solcher Reformer*innen und Humanist*innen
lich nachhaltig und unumkehrbar wie die wie Humboldt. Aber sie entsprangen eben
Beherrschung des Feuers die Entwicklungs- nicht nur einem altruistischen Menschenbild.
geschichte der Menschen und der Mensch- Sie erwuchsen sehr wohl aus der Einsicht,
heit. Auch der aufrechte Gang hatte eine dass Menschen im Industriezeitalter einer ge-
solche Wirkung. Er brachte dem Menschen ei- wissen Bildung bedurften, um für diese auf-
nen großen Freiheitsgewinn durch die Mög- strebende kapitalistische Gesellschaft – und
lichkeit, die Hände frei zu haben für die Nut- hier meine ich nicht nur die Arbeit in der Fa-
zung von Werkzeugen – und er verursacht bis brik – gewappnet zu sein. Die Fabrikschulen
heute Rückenprobleme.                            waren nicht ohne Grund in der Nähe der Fabri-
Technische Entwicklungen in der menschli- ken angesiedelt. Die Fabrikschulen ermöglich-
chen Gesellschaft waren mit Fortschritten, zu- ten Bildung – und die Verfügbarkeit der Kinder
mindest für einen Teil der Gesellschaft, aber für die Fabrikarbeit. Aber eben auch Bildung!
auch mit erheblichen Nachteilen, mit
schrecklichen Auswirkungen verbun-
den. Der Einsatz der Kernspaltung ist        Jede technische Neuerung kann
dafür ein Beispiel, das den meisten          nicht von den gesellschaft­lichen
sehr bewusst ist: Ihre Zerstörungskraft      Bedingungen gelöst werden,
ist ungeheuerlich, hat Langzeitwirkung       unter denen sie entsteht und
und ist unabsehbar. Radioaktive Strah-       in denen sie wirkt.
lung riecht man nicht, hört man nicht,
spürt man nicht. Zunächst nicht. Ihr Einsatz in Das ist heute nicht wesentlich anders: Wenn
Kriegen ist für alle Zeit mit den Namen Hiroshi- Bertelsmann, Bitkom, Microsoft und andere
ma, Nagasaki und Bikini verbunden. Auch als scheinbar uneigennützig Angebote für digi-
scheinbar saubere Möglichkeit der Energie- tale Bildung machen, so steht dahinter immer
gewinnung erweist sie sich als in ihren Folgen zuerst das Interesse der besseren Vermark-
nicht beherrschbar. Selbst wenn kein Kraft- tung der eigenen Produkte und die Vorberei-
werk «hochgeht» wie in Tschernobyl oder Fu- tung junger Menschen auf die Nutzung dieser
kushima. Denn wohin mit dem jahrtausende- Technologien in der Industrie 4.0. Sie bilden
lang strahlenden Müll?                           für das Leben im digitalen Zeitalter. Das aber
Als die Weber*innen und Textilarbeiter*innen entspricht durchaus auch den persönlichen
des frühen 19. Jahrhunderts gegen die Bedro- Interessen der Lernenden.
hung ihrer Existenz durch den Einsatz von Ma- Jede technische Neuerung kann nicht von
schinen protestierten, richteten sie ihren Pro- den gesellschaftlichen Bedingungen gelöst
test auch gegen diese Maschinen, als seien werden, unter denen sie entsteht und in de-
sie die Ursache für die Bedrohung ihrer Exis- nen sie wirkt. Sie ist ebenso Produkt wie Mo-
tenz. Mir scheint, heute ist das kaum anders.    tor gesellschaftlicher Entwicklungen. In den
Fortschritte, die es zweifellos durch den Ein- 1970er Jahren gehörte es in der kapitalisti-
satz von neuen Technologien für Menschen schen Welt zu einem der Hauptthemen des
gibt, sind in der Regel ambivalent. Das gilt gewerkschaftlichen Kampfes, die Auswir-
12 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung

kungen der Automatisierung durch moderne          Die Angst vor Veränderungen durch techni-
Technologien und ihren Einsatz in der Indus-      schen Fortschritt ist umso größer, je tief grei-
trie durch Rationalisierungsschutzabkommen        fender und schneller die Veränderungen vor
zu begrenzen.                                     sich gehen. In der massiv vernetzten Welt von
Meine Begegnungen mit wissenschaft-               heute sind Prozesse zudem immer schwe-
lich-technischem Fortschritt in derselben Zeit    rer zu durchschauen – auch ein Einfallstor
waren andere. Der Begriff sagt es schon. In       für skrupellose Geschäftemacher*innen, nai-
der DDR galt die Wissenschaft selbst als Pro-     ve Euphoriker*innen, aber auch für jene, die
duktivkraft, um die ökonomische Leistungs-        Bedenken geltend machen oder gar Ängs-
fähigkeit der sozialistischen Wirtschaft zu er-   te schüren. Manches ist berechtigt, anderes
höhen und somit der sozialistischen Welt im       nicht.
Wettstreit der Systeme einen Vorteil zu ver-
schaffen. Die Bedeutung der wissenschaft-         Müssen Kinder vor digitalen
lich-technischen Revolution, kurz WTR,            Medien geschützt werden?
schaffte es regelmäßig, in Beschlüsse der Par-    Auch das ist nicht neu. In seinem Buch «Das
tei und Staatsführung Eingang zu finden. Ich      Verschwinden der Kindheit» setzt sich der
will mich über die einschränkenden Auswir-        US-amerikanische Medienwissenschaftler
kungen auf das wissenschaftliche Arbeiten ob      Neil Postman mit dem vermeintlich schädli-
ihrer mitunter bornierten Ausrichtung an ober-    chen Einfluss des Fernsehens auf Kinder und
flächlichem Nützlichkeitsdenken nicht weiter      Jugendliche auseinander. Er bezeichnet das
auslassen – das kann man bei Peer Pasternack      Fernsehen als eine «Technologie des freien
(2012) gut nachlesen –, aber ein Beispiel aus     Eintritts» zu Informationen, ohne irgendwel-
meiner eigenen Bildungslaufbahn einfügen:         che Schranken, jede*r sei «gleichermaßen
In den späten 1960er und frühen 1970er Jah-       qualifiziert mitzuerleben, was Fernsehen an-
ren machte die Kybernetik als zukunftsträch-      zubieten hat» (Postman 2014: 100). Er kriti-
tige Wissenschaft im Osten die Runde. In          sierte die allgegenwärtige Verfügbarkeit von
der Erweiterten Oberschule gab es plötz-          Informationen – sogar ohne die Schranke der
lich und für kurze Zeit eine Einführung in das    Literalität, die in der Regel ja die Erwachse-
«­LOLO-System», die Grundlagen der Pro-           nenwelt von der Kinderwelt trennen würde,
grammiersprache, wie ich heute weiß. Dann         aufgrund der Anschaulichkeit der angebote-
wurde die Kybernetik höchst parteiöffent-         nen Informationen. Kindheit ist für ihn verbun-
lich zur Pseudowissenschaft erklärt (vgl. Se-     den mit informationellen Geheimnissen, die
gal 2001) – und schon war der Spuk vorbei.        Erwachsene Kindern gegenüber haben. Die
Mehr als ein Jahrzehnt später wurden Klimm-       Unmündigkeit der Kinder als bewahrenswer-
züge gemacht bei der Entwicklung der Mi­          tes Kulturgut sozusagen, als Ordnungsprinzip
kroelektronik und des ersten Mikrochips, weil     zwischen den Generationen. Und Postman
der Westen technologisch davonzulaufen            begrüßte deshalb Bewegungen aus der Mit-
drohte. Will sagen: Borniertheit ist immer wie-   te des 20. Jahrhunderts, solche Fernsehsen-
der im Spiel, wenn es um die Möglichkeiten        dungen und ihre Sponsoren zu boykottieren
und Grenzen technologischer Entwicklungen         sowie besondere Schulen mit einem entspre-
geht. Aufseiten der Befürworter*innen ebenso      chenden Moralkodex (vergleichbar etwa mit
wie auf der Seite der Bedenkenträger*innen.       dem heutigen Handyverbot an Schulen) ein-
Und es gibt immer auch unzulässige Verknüp-       zurichten, obwohl ihm bewusst war, dass sol-
fungen von Ursachen, Wirkungen und Not-           che Bemühungen am Ende ergebnislos blei-
wendigkeiten.                                     ben würden. Die Begrenzung des Zugangs zu
Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung 13

den Medien Radio und Fernsehen erschien           Das ist wohl so. Ist es aber eine Lösung, Wis-
ihm als Ausweg aus dem «Verschwinden der          senserwerb zu unterbinden, um dies zu ver-
Kindheit» (ebd.: 171). Für mich ist das ein Dé-   meiden? Oder ist es nicht vielmehr nötig, die
jà-vu. Eine solche Sichtweise ist auch heute      Nutzung zu regeln, Wissen zu verbreiten und
bei manchen Wissenschaftler*innen und Po-         Aufklärung zu betreiben?
litiker*innen zu finden.                          In Bezug auf die Bildung möchte ich einen
Kurios ist im Zusammenhang mit unserem            Zeitgenossen Postmans zitieren. Robert Ha-
Thema allerdings, dass Postman sich aus-          vemann beschrieb in seiner «Reise in das Land
gerechnet vom Einsatz von Computern eine          unserer Hoffnungen» die Art, wie im Land Uto-
Wiedergewinnung der Kindheit erwartete:           pia gelernt wird: «Der Bildschirm ist für die
«Die einzige Technologie, die diese Fähigkeit     Utopier das wichtigste Lernmittel. Und Ler-
besitzt, ist der Computer.» (Ebd.: 167) Denn      nen ist eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Sie
man müsse die Sprache des Computers erler-        fassen aber das Lernen nicht als Büffelei und
nen, eine «Computerliteralität» entwickeln, in    ständiges Ansammeln von immer mehr Kennt-
der Schule wohlgemerkt, und dadurch entste-       nissen auf. […] Lernen heißt in Utopia erst
he eine von der Jugendkultur unterschiedene       einmal Kennenlernen. Die großen Werke der
Erwachsenenkultur – welch grandiose Fehl­         Weltliteratur lesen …» (Havemann 1990: 86)
einschätzung!                                     Es lohnt sich, die ganze Geschichte zu lesen.

Ist es aber eine Lösung, Wissenserwerb zu unterbinden,
um zu vermeiden, das alles, was erfunden wird, auch
gemacht wird? Oder ist es nötig, die Nutzung zu regeln,
Wissen zu verbreiten und Aufklärung zu betreiben?

Postmans Untersuchungen zu den damals             Und wenn sich auch hier viel Naivität über ge-
modernen Medien, Informationstechnologi-          sellschaftliche Entwicklung manifestiert – es
en, zur Unterhaltungselektronik, bewirkten        ist eine Utopie, eine gewünschte Gesellschaft,
bei ihm Überlegungen und Forderungen nach         aber verbunden mit einer Nachdenklichkeit,
Meidstrategien (Postman 1988). Sein Ansatz        die nur aus einem im Grunde positiven Fort-
zur Bewahrung der Kindheit ist antiaufkläre-      schrittsverständnis erwachsen kann.
risch und hat viel mit der Maschinenstürmerei     Nun zur «digitalen Bildung» heute. Die Anfüh-
des 19. Jahrhunderts gemein.                      rungszeichen sollen darauf hinweisen, dass
Wie wir heute wissen, sind alle diese Strate-     es bei digitaler Bildung in einer und für eine
gien zum Scheitern verurteilt, und die Frage,     von immer mehr und immer neuen digitalen
die auch Postman stellte, warum man diese         Technologien geprägten Welt um sehr unter-
Technologien überhaupt braucht, führt eben        schiedliche Dinge geht. Fangen wir mit dem
nicht zu einem aufgeklärten Umgang mit ih-        Einfachen an: dem Einsatz digitaler Medien im
nen. Diese Fragen erwachsen vielmehr aus          Unterricht.
einer fundamentalen Technikskepsis, und es        Nach der Konferenz der Rosa-­Luxemburg-
sind zutiefst ethische Fragen des Umganges        Stiftung im November 2017 in Magdeburg –
damit. Ein früherer Kollege hat in einem Ge-      und wahrscheinlich häufig auch schon ander-
spräch mit mir den ernüchternden Satz ge-         norts – wurde die Frage nach dem Mehrwert
sagt: «Alles, was erfunden wird, wird auch ge-    des Einsatzes von Whiteboards und Tablets
macht werden, irgendwann von irgendwem.»          im Unterricht gestellt. Die Ausführungen ei-
14 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung

nes Geschichtsdidaktikers über die Möglich-         Die nahezu sofortige Verfügbarkeit von Infor-
keiten des Einsatzes digitaler Medien im Ge-        mationen ist ein Vorteil der neuen Medien.
schichtsunterricht wurden von einigen mit           Lehrbücher sind oft jahrelang im Umlauf, nicht
Unverständnis ob des Neuerungswerts quit-           lange auf dem neuesten Stand. In vielen Schu-
tiert. Das, was er vorgestellt habe, ginge al-      len schwindet ihre Bedeutung immer mehr. Zu
les auch analog. Stimmt. Ich habe mal darü-         Unrecht, wie ich finde. Auch sie sind Wissens-
ber nachgedacht, welche Medien und andere           speicher. Heute kann man das Tablet vielleicht
technischen Lernmittel mir und meinen Kin-          mit der Schiefertafel vergleichen, nur dass
dern so in ihrer Schullaufbahn begegnet sind:       man sie nicht mehr mit Graphitstift beschreibt
Ich lernte in Mathematik, wie man mit dem           und dass das Wissen auch (wieder) abrufbar
Rechenschieber addiert, multipliziert und so-       ist – vorausgesetzt die entsprechende Ausrüs-
gar Wurzeln zieht – habe ich alles vergessen.       tung gibt es an der Schule. Das Whiteboard
Meine Kinder gingen dann schon mit dem              ist dann vielleicht die Kombination aus Kreide-
Taschenrechner um. Also einer digitalen Re-         tafel und Fernseher fürs Bildungsfernsehen.
chenmaschine. Wenn zu meiner Zeit in der            Was ist schlecht daran? Anschaulichkeit ge-
Schule ausnahmsweise ein Bild an die Wand           hört zu den didaktischen Grundsätzen des Ler-
projiziert wurde, geschah das mit einem Dia­        nens und Lehrens. Interaktivität beim Lernen
projektor. War das Bild in einem Buch, kam          steht bei manchen Lehrenden – zum Teil auch
ein Episkop zum Einsatz: Klappe runter, Buch        heute noch – nicht hoch im Kurs, im Frontal-
drauf, Klappe wieder hoch und scharf stel-          unterricht fristet sie eher ein Schattendasein.
len – sozusagen ein altertümlicher Beamer.          Selbstständiges Erschließen von Lerninhalten
Die Qualität war grauslich! Dann kam das Bil-       und kollaboratives Lernen sind natürlich auch
dungsfernsehen, und gut ausgestattete Schu-         ganz analog möglich – aber nicht unbedingt
len hatten nach Jahren in jedem Klassenraum         immer im Klassenraum. Man müsste rausge-
einen Fernseher. Da konnte man das laufen-          hen, in Bibliotheken, in Einrichtungen – auch
de Fernsehprogramm, das eigens für diesen           das ist noch nicht unbedingt üblich, aber es
Zweck produzierte Bildungsfernsehen, ein-           wäre gut. Niemand käme heute auf die Idee,
schalten und musste notfalls Unterrichtsstun-       wieder mit Schiefertafel und Episkop zu arbei-
den verlegen und anfangs Räume wechseln,            ten. Aber die Kombination von digitalen und
um in den Genuss dieser didaktisch gut aufge-       analogen Unterrichtsmedien ist sehr wohl ei-
bauten 20-minütigen Sendungen zu kommen.            ne sinnvolle Sache, weil sie die Anschaulich-
Gut, dass die Stundeneinteilung der Vormitta-       keit verbessert und Abwechslung bringt – Me-
ge fast überall gleich war. Später kam der Po-      thodenvielfalt eben.
lylux oder auch der Tageslicht- oder Overhead-      Doch eines ist natürlich klar: Weder durch
projektor zum Einsatz – das erforderte schon        den Einsatz des Episkops noch des Fernse-
gezeichnete oder gedruckte Folien.                  hers noch des Tablets verbessern sich per se
Worin bestand der didaktische Mehrwert der          die Lernergebnisse. Das ist schon deshalb so,
damals neuen Medien Episkop und Polylux?            weil Lernen ein sehr individueller Prozess ist
Vor allem in der Anschaulichkeit, die beson-        und eben nicht bei jedem und jeder gleich ver-
ders in den gesellschaftswissenschaftlichen         läuft. Zudem ist Lernen abhängig von denen,
Fächern und Naturwissenschaften nützlich            die den Lernstoff anbieten oder Lernprozesse
war. Nun sind es Tablets und Whiteboards und        auslösen sollen. Das gelingt mit digitalen Me-
anderes, die für mehr Anschaulichkeit, aktu-        dien vielleicht nicht besser, aber es muss auch
elle Informationen und, wenn es gut gemacht         nicht schlechter sein. Darauf zu verzichten
ist, sogar für eine Art von Authentizität sorgen.   wäre etwas Ähnliches, als wollte man sich in
Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung 15

der Medizin aufs Röntgen beschränken, auch        te so lapidar unter digitaler Bildung gefasst
wenn wesentlich genauere Diagnoseverfah-          wird. Es geht auch darum, zu lernen, mit den
ren zur Verfügung stehen.                         digitalen Medien umzugehen, sie «zu beherr-
                                                  schen», erst einmal ganz praktisch. Das ge-
Digitalpakt als Tropfen auf                       schieht heute oft schon außerhalb der Schule.
den heißen Stein                                  Ein Smartphone und ein Tablet zu bedienen
Allerdings ist Euphorie fehl am Platz. Die ewi-   oder mit ihrer Hilfe Informationen abzurufen,
ge Leier, dass wir eine Aufholjagd vor uns ha-    darin sind viele Lernende heute manchen
ben, dass es massive Versäumnisse bei der         Lehrenden voraus, was schon auf ein Defi-
Ausstattung der Schulen gibt, täuscht leicht      zit hinweist. Gleichwohl wäre es eine alberne
über die Erfordernisse hinweg, die mit dem        Forderung, darauf bestehen zu wollen, dass
Einzug digitaler Medien in den Unterricht         dies erst in der Schule erlernt werden darf.
auch bedacht werden müssen. Der halbherzi-        Aber die kritische Reflexion des Abgerufenen,
ge Digitalpakt ist ein Tropfen auf den heißen     das Wissen darüber, warum man über diesen
Stein. Und das liegt in der Natur der Sache:      Weg dieses oder jenes erfährt oder aber nicht
Ein Schulbuch kann man etwa fünf Jahre gut        erfährt, also der kritische Umgang mit digita-
gebrauchen, digitale Geräte und die darauf        len Medien, wo immer man ihnen begegnet,
installierte Software haben eine deutlich kür-    den erlernt man nicht ohne Weiteres schon
zere «Halbwertszeit». Nicht nur die Inhalte,      durch die Nutzung der entsprechenden Me­
das Wissen verändert sich in rasantem Tem-        dien. Dazu gehören auch Fragen der Ethik
po, auch die Hard- und Software ist deutlich      und Moral, des Schutzes der Persönlichkeits-
schneller überholt als beim Buch. Mit einma-      sphäre, der eigenen und der von Mitmen-
ligen Investitionen wird es darum nicht getan     schen. Zu dieser kritischen Medienbildung
sein. Und man muss bedenken, dass auch            gehört auch eine gute Werteerziehung, die,
hier die Internetriesen und Softwarefirmen        im Unterschied zu der ganz generell benötig-
ein lukratives Geschäftsfeld wittern und nichts   ten, auf die Besonderheit des Funktionierens
unversucht lassen, die «Kundschaft», also die     von Internet & Co. ausgerichtet ist: verstehen,
Bildungsinstitutionen und die Nutzer*innen,       was virtuelle Welten sind, wie sie entstehen,
an die eigene Produktpalette zu binden. Das       was sie bewirken, wozu sie taugen und dass
umfasst auch den Zugriff auf Daten und Nut-       sie die Wirklichkeit und das Haptische nicht
zerverhalten. Und außerdem gibt es schon          ersetzen können.
die Erfahrungen mit dem Schultrojaner, der        Natürlich kann man mit einer entsprechen-
die Nutzung von Texten oder Liedern massiv        den digitalen Brille die Welt des Waldes, mög-
behindert hätte. Schulen waren plötzlich ver-     licherweise auch seine Geräusche, zum Ver-
unsichert, was sie noch straffrei nutzen dür-     wechseln ähnlich nachbilden. Aber wenn
fen und was nicht. Mit den Upload-Filtern ist –   ich versuche, nach einem Baum zu greifen,
trotz aller Proteste – da auch erst einmal ein    die Rinde zu spüren, dann ist da nichts. Und
Punkt gesetzt, deren Auswirkungen für Bil-        selbst, wenn es gelingt, den Tastsinn zu imi-
dungsinstitutionen noch gar nicht absehbar        tieren, sobald das Gerät ausgeschaltet ist, sind
sind. Vielleicht kommen wir doch in nicht allzu   Wald und Baum weg. Virtuelle Welten werden
ferner Zeit zum guten alten analogen Buch zu-     auch in Spielen immer perfekter inszeniert.
rück. Das ist gekauft. Da weiß man urheber-       Und man muss lernen, diese Welten von der
rechtlich, woran man ist.                         Wirklichkeit zu unterscheiden. Sich nur noch
Aber der Einsatz digitaler Medien im Unter-       im Virtuellen zu bewegen kann sehr wohl
richt ist der geringste Teil von dem, was heu-    zum Verlust von Realitätssinn führen. Darum
16 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung

muss man den Unterschied verstehen und Und nun kommt die Gretchenfrage: Wann be-
lernen, die Folgen, die eine Verwechslung ha- ginnen? So wie man ein Baby nicht zum Sitzen
ben kann, einzuschätzen. Aber für die Model- nötigen soll, wenn es das noch nicht von al-
lierung von Prozessen unterschiedlichster Art lein tut, so sollte man auch Kindern im frühen
können virtuelle Realitäten eben auch sinnvoll Lernalter nichts abverlangen, was sie noch
sein.                                             nicht selbst erkunden können. Kinder soll man
Politische Bildung ist nötig, damit sogenann- nicht dressieren. Aber es käme auch niemand
te Fake News als solche erkannt werden. Ge- auf die Idee, Kindern das Laufen zu verbieten,
gendarstellungen, wie man sie bei Zeitungen wenn sie es doch wollen und können. Mein
noch einfordern konnte, scheinen ausgedient Enkelsohn konnte schon in der ersten Klas-
zu haben. Alle digitalen Nachrichtendienste se dreistellige Zahlen im Kopf addieren. Wie
sind einfach schneller. Und was einmal in der er das gemacht hat – keine Ahnung. Aber die
Welt ist … Dagegen hilft wirkungsvoll nur der Fehlerquote war gering, und er war deutlich
gesunde Menschenverstand, und der muss schneller als ich. Sollte man ihn davon ab-
gebildet werden. Da-                                                  halten? Ich habe keine
zu gehört auch das Wis-                                               Ahnung, wie das gehen
sen darüber, wie solche          Digitale Medien und                  sollte, zudem halte ich es
Nachrichten entstehen,           Technologien müssen                  auch für unsinnig.
was Social-Bots anstel-          entzaubert werden,                   Am Wochenende war
len und wie sie wirken.          damit sie keine Macht                ich mit meinem Enkel
Zu dieser kritischen Me-         über uns gewinnen.                   beim «Robocup», einem
dienbildung gehört auch                                               seit 1997 jährlich statt-
eine kritische ökonomische Bildung zu den findenden Roboterfußball-Wettkampf. Mein
politischen und wirtschaftlichen Interessen, Enkelsohn war kaum wegzubringen von den
Wissen um die Bedeutung persönlicher Daten Robotern, am liebsten hielt er sich bei den
und was mit ihnen passieren kann, wenn man weißen mit den komischen Augen auf, die ab-
allzu freizügig mit ihnen umgeht, und auch ein strakteren auf dem Nachbarspielfeld beachte-
Wissen um das Suchtpotenzial.                     te er wenig. Auch die im Parcours fahrenden,
Es ist wichtig, dass digitale Programme nicht selbstgebauten, elektronisch gesteuerten
wie Mysterien daherkommen: Lernende müs- Fahrzeuge interessierten ihn nur kurz, obwohl
sen künftig erfahren, wie ein Programm ent- das seiner Altersklasse eher entsprochen hät-
steht, wie man es auch selbst steuern kann, te. Der Grund: Die weißen großäugigen Robo-
wie man also programmiert. Digitale Medien ter mit Händen und Füßen hatten etwas Men-
und Technologien müssen entzaubert wer- schenähnliches. Er war wie verzaubert. Wie
den, damit sie keine Macht über uns gewin- und warum sie so funktionierten, war nicht
nen. Man entzaubert sie, wenn man weiß, wichtig. Dies aber wäre das Lernziel gewesen:
wie sie funktionieren. Das gehört ebenso zum Kleine Automaten dahin zu bringen, dass sie
Menschheitswissen wie die Kenntnis um die tun, was man ihnen vorher sagt. Je fehlerfrei-
Folgen der Abholzung des Regenwaldes oder er, desto besser. Dies aber erfordert ein mehr
des Bienensterbens. Ob digitale Bildung – oder weniger umfangreiches Verständnis da-
oder, wie Postman es bezeichnete, Computer- von, was Programmieren ist und wie Algo-
literalität – künftig zu einer Kulturtechnik wird rithmen funktionieren. Dafür fehlt meinem
oder es schon ist, weiß ich nicht. Zur Grund- Enkelsohn das Wissen. Noch. Ob mit dem Be-
bildung wird sie allemal gehören, da bin ich si- such seine Neugier geweckt wurde – ich weiß
cher.                                             es nicht. Wir werden sehen.
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