DIGITALPAKT UND DIE FOLGEN - Karl-Heinz Heinemann (Hrsg.) - MATERIALIEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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MATERIALIEN Karl-Heinz Heinemann (Hrsg.) DIGITALPAKT UND DIE FOLGEN WAS UND WEM SOLL DIGITALE BILDUNG NÜTZEN?
INHALT Vorwort 2 Karl-Heinz Heinemann Analoges Lernen für eine digitalisierte Welt 4 Digitalisierung und Allgemeinbildung Rosemarie Hein Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung 10 Ein Essay Dan Verständig «Digitale Bildung» und andere Paradoxien zwischen 0 und 1 18 Ralf Lankau Medienmündigkeit statt Kompetenz 24 Medientechnik an Schulen Thomas Höhne Digitale Transformation 33 Zur Veränderung von Wissen in Bildungsmedien Bernd Schorb Welche Fähigkeiten brauchen wir für eine Bildung unter dem Diktat der Digitalität? 40 Gunhild Böth Sinnvolles Geld oder eine Möhre, die Kommunen vors Maul gehalten wird? 47 Anmerkungen zum Digitalpakt aus kommunalpolitischer Perspektive Die Autor*innen 51
2 Vorwort VORWORT In der Straßenbahn, auf dem Bahnsteig oder in Der Digitalpakt zwischen Bund und Ländern der Schlange vor der Kinokasse – wer in diesen sieht 5,5 Milliarden Euro für die Ausstattung Situationen nicht auf sein Smartphone starrt, von Schulen in den nächsten fünf Jahren vor. gilt mittlerweile fast schon als Exotin. Spielen Wollte man wirklich jeden Schüler, jede Schü- auf dem Tablet stellt nörgelnde Kleinkinder ru- lerin mit einem Tablet oder Laptop ausstatten, hig. Am familiären Esstisch werden Zweifels- die Schulen total vernetzen und eine Infra- fragen durch Nachschlagen auf Wikipedia ge- struktur mit Clouds aufbauen, so wird selbst klärt. Nicht nur ältere Menschen stehen diesen dieses Geld nicht reichen. Und vor allem: Wis- Veränderungen in Kommunikation und Ver- sen die Lehrerinnen und Lehrer überhaupt, halten skeptisch gegenüber – ganz abgese- was sie damit anfangen können? hen von den damit verbundenen Datenschutz- Die Beiträge der vorliegenden Broschüre las- problemen. Das Verhältnis von Öffentlichkeit sen sich nicht in das Schema «Bist du für oder und Privatheit verändert sich, wenn uns Alexa gegen Computer in der Schule?» pressen. Es gewollt oder ungewollt abhört und wenn wir geht uns nicht um eindeutige, glatt gebügelte beim Joggen unseren Puls an anonyme Rech- Antworten, sondern darum, Probleme zu be- ner weitergeben. Grund genug also, bei der Di- nennen und Perspektiven für eine Bildung in gitalisierung – anders als etwa Christian Lind- Zeiten der Digitalisierung zu entwickeln. ner und die FDP – Bedenken anzumelden. In der Auseinandersetzung um den Einsatz Andererseits: Kein Arbeitsplatz bleibt von der von Computern in den Schulen tun sich alte Digitalisierung verschont – der Kellner tippt Gegensätze auf. Auf der einen Seite stehen unsere Bestellung in sein Smartphone, in der die Kritikerinnen, die in der Digitalisierung eine Tischlerei stehen CNC-Maschinen, also com- Strategie der In-Wert-Setzung des öffentlichen putergesteuerte Werkzeugmaschinen, im Guts Bildung sehen. Sie befürchten, dass Kon- Malerbetrieb wird der Farbton mithilfe eines zerne, die an der Ausstattung verdienen, damit Computers gemischt, die Installateurin muss mehr Einfluss auf die Inhalte nehmen und al- anspruchsvolle Berechnungen am PC ausfüh- lein daran interessiert sind, die Kids schon mal ren. Schulen und Bildungseinrichtungen wä- auf ihre computerisierten Arbeitsplätze vorzu- ren weltfremd, wenn sie das nicht zur Kennt- bereiten. Wenn etwas gelernt werden soll, was nis nehmen und ihren Bildungsanspruch im Beruf nützlich ist, dann diene es lediglich daran ausrichten würden. Und wir müssen der Anpassung an bestehende Verhältnisse prüfen, ob und wie die Digitalisierung das Ler- und habe nichts mit Bildung zu tun, die eher nen erleichtern und den Unterricht verändern zweckfrei sein sollte. Auf der anderen Seite kann. Lernprogramme können das Verspre- stehen die Pragmatikerinnen, die argumentie- chen einlösen, den Lernprozess an die indivi- ren, dass die Schule nur dann die Chancen für duellen Erfordernisse anzupassen – machen Benachteiligte verbessert, wenn sie auf einen sie damit Lehrerinnen und Lehrer überflüssig? qualifizierten Beruf und einen hochwertigen, Zugleich können solche Programme Lehrerin- sicheren Arbeitsplatz vorbereitet. nen1 ganz neue Kontrollmöglichkeiten an die Im folgenden ersten Beitrag geht es um die- Hand geben – ist das sinnvoll? Lernprogram- sen alten Gegensatz von Allgemeinbildung me können virtuelle Welten erschließen, aber und Nützlichkeit, der schon bei Marxens Über- sie können nicht die unmittelbare Anschau- legungen zur polytechnischen Bildung eine ung ersetzen. Rolle spielte.
Vorwort 3 «Die Ängste vor neuen Technologien sind im- berechtigt, dass das Internet auch kleinen und mer die Ängste von Erwachsenen», meint Ro- alternativen Anbietern bessere Zugangsmög- semarie Hein, langjährige Bildungspolitikerin. lichkeiten zu diesem Markt eröffnet? Thomas Sie knüpft an die Erfahrungen mit ihrem En- Höhne untersucht nicht nur den veränder- kelsohn an. Die Kritik an digitalen Medien hat ten Markt der Bildungsmedien, sondern zeigt manchmal etwas Kulturkritisches. Rosema- auch, wie sich die Produktion der Medien ver- rie Hein erinnert an Neil Postman, der in den ändert und wie die Didaktik dabei zunehmend 1970er Jahren mit dem Fernsehen «Das Ver- ins Hintertreffen gerät. schwinden der Kindheit» kommen sah und für Kritisch an neue Medien heranzugehen heißt, den allein die Digitaltechnik samt den darin sich mit ihnen auch detailliert auseinander- enthaltenen Möglichkeiten der Interaktivität zusetzen und zugleich die Fähigkeiten zu er- Rettung versprach. lernen, sie im eigenen Sinn zu nutzen. Bernd Medienbildung ist mehr, als den Umgang mit Schorb entwickelt dazu einen Ansatz kriti- digitaler Technik und Standardsoftware zu er- scher Medienbildung. lernen, warnt Dan Verständig und kritisiert das Kommunalpolitikerinnen müssen sich ent- verkürzte Verständnis von Medienbildung, das scheiden, was in ihren Schulen angeschafft nicht nur im Digitalpakt, sondern auch in der werden soll, wie die Schulen technisch aus- Strategie der Kultusministerkonferenz und in gestattet und vernetzt werden, ob und wie sie manchen linken Debatten durchscheint. Ver- Einfluss nehmen können auf die Fortbildung ständig geht es darum zu verstehen, wie sich der Lehrkräfte und damit auch auf die Inhal- gesellschaftliche Beziehungen, Konsum und te. Gunhild Böth, Stadträtin in Wuppertal, ver- Kommunikation im letzten Jahrhundert verän- sucht, diese Fragen aus ihrer Praxis heraus zu dert haben, und einen kritischen Bildungsbe- beantworten. griff in Zeiten der Digitalität zu entwickeln. Jede technische Entwicklung, jede wissen- Ralf Lankau nimmt Studien und Argumen- schaftliche Entdeckung im Kapitalismus dient te auseinander, die von den Digitalisierungs- der Kapitalverwertung und meistens auch der befürworterinnen leichtfertig ins Feld geführt Herrschaftssicherung. Doch zugleich enthält werden. Obwohl er keinen Hehl aus seiner kri- sie, wenn auch jeweils in unterschiedlichem tischen Haltung gegenüber dem Digitalpakt Maße, Möglichkeiten der Vergesellschaftung zwischen Bund und Ländern und den landläu- und der Befreiung. Wäre dem nicht so, sähe figen Digitalisierungsstrategien macht, gibt er es trübe aus. praktische und altersgemäße Anregungen, wie sich die Bildungseinrichtungen konstruk- Karl-Heinz Heinemann tiv mit diesem gesellschaftlichen Trend ausei- Köln, September 2019 nandersetzen können. 1 Bei Gruppen von Personen unterschiedlichen Geschlechts werden Mit der Digitalisierung verändert sich auch der in den Beiträgen dieser Publikation in der Regel Gendersternchen ver- Markt der Bildungsmedien. Ist die Hoffnung wendet, in den Texten des Herausgebers die weibliche Form.
4 Analoges Lernen für eine d igitalisierte Welt Karl-Heinz Heinemann ANALOGES LERNEN FÜR EINE DIGITALISIERTE WELT DIGITALISIERUNG UND ALLGEMEINBILDUNG Digitalisierung ist anscheinend unser Schick- ternativlose Entwicklung umsteuern müssen, sal: Wir sollten möglichst schnell nicht nur auf auch in der Bildung. den fahrenden Zug aufspringen, sondern uns Computer in die Schule? Kaum ein Thema auch bis zur Lok vorarbeiten: Digitalisierung wird in der linken Bildungsdebatte so heftig first, Bedenken second. Wir, wer immer damit und kontrovers diskutiert. Grob gesagt stehen gemeint ist: die deutschen Unternehmen, die sich zwei Lager gegenüber: deutsche Gesellschaft? «Wir» drohen, den An- Auf der einen Seite stehen die Bildungspo- schluss zu verpassen, weil andere, etwa das litikerinnen in den diversen Gremien. Die in kleine Estland, schon mehr digitalisiert sind. der Bundesarbeitsgemeinschaft Bildungs- Auch wem das nicht passt, der bzw. die weiß: politik der LINKEN zusammengeschlosse- Digitalisierung verändert nicht nur die Produk- nen Praktikerinnen trafen sich vor einem Jahr, tion und den Austausch materieller und im- um über die Digitalisierung in der Bildung zu materieller Güter, sondern unsere gesamte diskutieren. Sie kamen sehr schnell von den Lebensweise – die Kommunikation, die sozia im Programm angekündigten Themen wie len Beziehungen, die Aneignung und Verbrei- tung von Informationen Computer in die Schule? Kaum ein Thema und Wissen. Insofern ist wird in der linken Bildungsdebatte so es ziemlich überflüssig, heftig und kontrovers diskutiert. darüber zu diskutieren, ob Digitalisierung in der Schule etwas zu su- «Medienkompetenz» oder «Inhalte von Me- chen hat oder nicht. Nur: In der Linken ist – an- dienbildung» auf die miserable Ausstattung ders als zu Marxens Zeiten – der Glaube daran von Schulen mit Computern zu sprechen, sie längst zerstört, dass die Weiterentwicklun- klagten über fehlende Lehrerfortbildungen, gen in Wissenschaft und Technik, also auch sie freuen sich, wenn ihnen Samsung einen die Digitalisierung, die Vergesellschaftung Klassensatz Tablets zur Verfügung stellt, und von Produktion und Lebensweise weiter vo diskutierten über die Möglichkeiten des Mini- ranbringen – also Fortschritt bedeuten. Wenn computers «Calliope», sie fragten, ob sich die nun die Digitalisierung die Schulen und das soziale Spaltung weiter vertiefen wird, weil die Lernen grundlegend umwälzen soll, stößt das einen die Digitalisierung nur als Konsumen- eher auf Skepsis als auf Begeisterung. Und tinnen erfahren, die anderen dagegen lernen, die Skepsis ist angebracht. Anders als zu Mar- wie sie sie sich zunutze machen können. xens Zeiten glauben wir nicht mehr, dass wis- Auf der anderen Seite stehen die Kritikerin- senschaftlicher und technischer Fortschritt nen. So etwa linke Erziehungswissenschaft- und die damit einhergehende reale Vergesell- lerinnen, die im Gesprächskreis Bildungspoli- schaftung der Produktion nur eine Richtung tik der Rosa-Luxemburg-Stiftung regelmäßig kennt. Deshalb ist zu prüfen, wo politische zusammenkommen. Sie sehen in der Einfüh- und gesellschaftliche Kräfte die scheinbar al- rung digitaler Medien in Schulen eine weitere
Analoges Lernen für eine d igitalisierte Welt 5 Fessel für emanzipatorische Bildungsprozes- verfehlt. Um sie zu erörtern, braucht man frei- se: Unternehmen verkaufen ihre Maschinen lich keine flächendeckende Ausstattung mit und ihre Software und Schülerinnen verlernen Laptops, sondern engagierte Lehrerinnen und das selbstständige Denken in Strukturen, die Lehrer und möglicherweise auch entsprechen- möglicherweise andere sind als die Algorith- de Vorgaben in Lehrplänen und Schulbüchern. men ihrer Maschinen. Digitalisierung steht für die Unterordnung von Bildung unter die kapi- Digitalisierung ist mehr als talistische Ökonomie. PISA, VERA, QUIMMS Smartboard statt Schiefer und wie die vielen Vergleichstests heißen und tafel neue, am Leitbild des Unternehmens orien- In der öffentlichen Debatte geht es darum, tierte Steuerungsmodelle für Schulen und welche Rolle Digitalisierung in der Schule und Hochschulen sind deren augenfälliger Aus- der Bildung spielen sollte. Dabei sollten wir druck. Das gilt auch für den Bologna-Prozess unterscheiden, dass es zum einen um die mit mit seinen bürokratischen Zumutungen, die, Digitalisierung nur schemenhaft beschriebe- wenn sie denn wirklich ernst genommen und nen gesellschaftlichen Prozesse geht, die In- nicht von gewitzten Wissenschaftlerinnen halt und Gegenstand von Schule und Lernen und Studierenden unterlaufen würden, die werden sollten, anderseits um den Einsatz di- Freiheit der Wissenschaft längst erstickt hät- gitaler Medien in Schule und Unterricht. Oft ten. Der heute in jedem Lehrplan stehende fokussiert sich die Debatte auf Letzteres, so- Kompetenzbegriff ist ihnen suspekt, da er den wohl bei den «Freunden» als auch den «Kriti- bzw. die Einzelnen auf sich selbst als den Un- kerinnen» der Digitalisierung: Sollen Compu- ternehmer seiner selbst zurückwerfe und den ter in der Schule genutzt werden? Wenn ja, Begriff der Bildung ersetzen solle. Dem Kom- ab welchem Alter der Beschulten? Mit dem petenzbegriff entspreche eine instrumentelle Digitalpakt haben Bundes- und Landesregie- Orientierung auf neue Medien und Computer, rungen erst einmal eine Willensbekundung deren Einsatz derart fetischisiert werde, dass abgegeben, die Ausstattung mit Computern, er unabhängig von den darin steckenden In- Netzen und Software kräftig zu fördern. Völ- halten zum Wert an sich werde. Damit einher lig zu Recht steht die Frage im Raum: Wer be- gehe eine Umwertung von Autonomie, Frei- kommt das Geld, wer profitiert davon im ganz heit und Verantwortung. In der Digitalisierung materiellen Sinne? wird zu großen Teilen eine Zurichtung auf die Digitale Medien in der Schule verändern weit Bedürfnisse des Kapitals gesehen. mehr, als dass die Lehrerin bzw. der Leh- Wie viel Informatik braucht der Mensch? Was rer nun statt eines liebevoll gestalteten Ta- müssen wir angesichts des Klimawandels wis- felbilds des Mammuts – in Waldorfschulen sen? In welchem Ausmaß nehmen uns Robo- sehr beliebt – auf das Smartboard professio- ter die Jobs weg? Was bedeutet künstliche In- nell erstellte Grafiken projizieren kann. Jede telligenz? Was macht unser Menschsein aus? Schülerin kann je nach eigenem Tempo und Eine Schule, die diese Fragen bewusst aus- Geschmack individuell lernen – in dieser Hin- klammern würde, hätte ihren Bildungsauftrag sicht scheint die Digitalisierung das Verspre- Bildung wird nicht dadurch definiert, dass sie unnütz ist. Selbst das scheinbar zweckfreie Parlieren über Emilia Galotti, über Arnold Schönberg oder die Wiener Klassik ist ja enorm nützlich.
6 Analoges Lernen für eine d igitalisierte Welt chen der Individualisierung des Lernens zu Was Bildung ist und wie sie sich von purer erfüllen. Die Programme erkennen Lernfort- Anpassung an die Bedürfnisse der Kapital- schritte und Defizite in messbaren Größen wie verwertung unterscheidet, lässt sich nicht Fehlerzahl, und Arbeitszeit. Die Rolle der Leh- daran messen, ob Kenntnisse und Fähigkei- rerin ändert sich: Sie kann – theoretisch – die ten nützlich, also brauchbar sind oder nicht. Messwerte ihrer Schülerinnen abrufen und «Brauchbar» war im Rahmen eines reaktio- den Lernprozess in den Messgrößen kontrol- nären Bildungsverständnisses das Verhal- lieren, die ja auch in den Lernstandsverglei- ten eines Untertanen, der gelernt hat, den chen und Qualitätssicherungsmaßnahmen für ihn vorherbestimmten Platz in der Gesell- die wichtigste Rolle spielen. schaft zu akzeptieren, und aus Gottesfurcht und Kaisertreue keine Anstalten machte, über Darf Bildung «nützlich» seinen Tellerrand zu gucken. Mit dem Argu- sein? ment der mangelnden Brauchbarkeit mag Im Hintergrund lauert ein alter Streit: Soll heute manche Schülerin infrage stellen, wo- Schule und Studium auf einen Beruf vorbe- für sie Differenzialrechnung, Goethe oder den reiten, oder müssen sie nicht gerade befrei- Kunstunterricht braucht. («Ich kann Gedichte en von den Fesseln, die unser Leben durch interpretieren, aber verstehe den Mietvertrag ständische Regularien, soziale Abhängigkei- nicht.») Nur das als brauchbar und wichtig an- ten und Unterdrückung einengen? Verheißt zusehen, was sich aus der unmittelbaren Le- Bildung nicht, die Grenzen zu überschreiten, benswelt erschließt, wäre exkludierend und die uns die materielle Existenzsicherung auf- zutiefst undemokratisch, weil es Menschen erlegt? Zeichnet sie sich nicht dadurch aus, auf eine schon durch die Schullaufbahn vor- dass sie eben nicht am ökonomischen Zweck, bestimmte Rolle im Berufsleben einengt. Die an Effizienz und Effektivität orientiert ist? All- Stromrechnung zu verstehen und ein Bewer- gemeine Bildung heißt seit Comenius: allen bungsschreiben aufsetzen zu können und da- alles zu lehren. Und auch Humboldt postu- mit gut, das wäre reaktionär. Und wer sich an- lierte eine Bildung, die sowohl dem Tischler sieht, was in Ausbildungsordnungen verlangt den Zugang zur Philosophie eröffnet als auch, wird oder welche Maßstäbe die PISA-Studie auf der anderen Seite, dem Philosophen, der anlegt, wird feststellen, dass heute Selbst- Philosophin (für Humboldt spielte freilich die ständigkeit, Kreativität und Verantwortungs- Genderfrage noch keine Rolle) den Zugang bewusstsein gefordert werden und nicht nur zum Handwerk. Also «Brauchbarkeit» versus Gehorsam und Anpassung. «Allseitigkeit»? Ganz klar: Der Maßstab für Bil- Die Auseinandersetzung mit «Digitalität», wie dung muss sein, ob sie allen, unabhängig von etwa Schorb und Verständig schreiben, ist ihrer Herkunft, alle Möglichkeiten erschießt, nützlich, nicht weil man mit diesem Wissen sich diese Welt anzueignen, sich selbst im morgen besser am Computer arbeiten kann, Gestaltungsprozess, der Arbeit heißt, zu ver- sondern weil man einen Eindruck von den Ver- ändern, Möglichkeiten zu eröffnen, die die änderungen im technischen, ökonomischen Gesellschaft gegenwärtig der Mehrheit noch und sozialen Raum bekommt – Voraussetzun- vorenthält: so sprachfähig zu sein, dass man gen also für Autonomie. am öffentlichen Diskurs teilnehmen kann, Bildung wird nicht dadurch definiert, dass hinterfragen zu können, was sich im Betrieb sie unnütz ist. Selbst das scheinbar zweck- und in den unmittelbaren Beziehungen tut freie Parlieren über Emilia Galotti, über Ar- oder was in Koalitionsgesprächen oder in den nold Schönberg oder die Wiener Klassik ist ja Nachrichten verhandelt wird. enorm nützlich. Wer zum Beispiel in der Bank
Analoges Lernen für eine d igitalisierte Welt 7 nicht hinterm Schalter sitzen bleiben, sondern verzichten könne, denn der Kampf für mehr in die 30. Etage aufsteigen will, der braucht BAföG, billiges Mensaessen und Wohnheim- dieses Distinktionswissen mehr als das über plätze sei «gewerkschaftliche Orientierung», doppelte Buchführung. Die Erwartung, über also die korrekte Massenlinie. die schulische Allgemeinbildung und später Damals kritisierten wir eine von der gesell- auch über ein Studium den Zugang zu einem schaftlichen und beruflichen Realität gleicher- anspruchsvollen Beruf zu finden, durch den maßen abgehobene akademische Bildung. man einen Platz in dieser Gesellschaft findet Heute hat uns diese Kritik eingeholt und über- und der für den Lebensunterhalt taugt, ist nur holt, weil gesellschaftliche und individuelle In- legitim. Eine Bildungspolitik, die diesen Aspekt teressen an der Ausbildung auf die Verwert- des individuellen Nutzens von Bildung ver- barkeit im Sinne des Kapitals verkürzt werden. nachlässigt oder verleugnet, wäre arrogant, Wir sollten darüber sprechen, wie heute ei- elitär und exkludierend. Also: Etwas über den ne verkürzte Berufsorientierung im Studium Umgang mit Computern lernen zu wollen, um überwunden werden kann zugunsten dieser damit auf das spätere Berufsleben gut vorbe- Doppelqualifikation – für den Beruf und für reitet zu sein, ist eine berechtigte Erwartung. die Vertretung der eigenen Interessen an ei- Umso besser, wenn es nicht unter dem un- ner sinnvollen Gestaltung der Arbeit und der mittelbaren Verwertungszwang in der Berufs- gesellschaftlichen Organisation, auch über ausbildung stattfindet, sondern in der Schule, das unmittelbar Nützliche hinaus. Nur: Auch einem Raum, der nicht auf unmittelbaren Nut- so wird man dem Dilemma nicht entkommen, zen programmiert ist und in dem ökonomische dass alles, was man sich lernend aneignet, Interessen nur vermittelt zum Tragen kommen. auch wieder kapitalistischen Verwertungsin- teressen untergeordnet werden kann. Mehr Digitale Technik kennen Weitblick, um die Folgen des eigenen Tuns und kritisieren abschätzen zu können? Mehr Kreativität, um Im marxistischen Teil der Studentenbewe- auch mal Umwege gehen zu können? Prima, gung der 1970er Jahre kursierte – damals üb- das ist genau das, was in der modernen Ar- rigens nicht unwidersprochen – das Theorem beitswelt erwartet wird. Aber ist es deswegen der «Doppelqualifikation»: Man will eine be- verkehrt? rufliche Qualifikation erwerben und zugleich die Befähigung, die eigene Tätigkeit gesell- Polytechnische Bildung schaftlich einordnen und kritisch hinterfragen neu gesehen zu können. Dazu hätte man sich kritisch mit Vielleicht hilft die Rückbesinnung auf die po- seiner Wissenschaft auseinandersetzen, sich lytechnische Bildung, zwischen allseitiger Bil- also Bildung aneignen müssen. «Bildung» war dung und «Brauchbarkeit» zu vermitteln. Für damals ein verpönter Begriff aus dem Reper- Karl Marx war sie neben geistiger Bildung und toire der geisteswissenschaftlichen Pädago- körperlicher Erziehung die dritte Säule einer gik, mit der Menschen nichts zu tun haben Bildung für alle: Mit der Entwicklung der gro- wollten, die sich auf eine kritische Sozialwis- ßen Industrie wurden Naturwissenschaften senschaft bezogen. Der Ansatz der kritischen und Technologien zu einem entscheidenden Wissenschaft, eine der Initialzündungen der Hebel der gesellschaftlichen Umgestaltung. Studentenbewegung in den 1960er Jahren, Für Karl Marx war deshalb «polytechnische war damals im Marxistischen Studentenbund Ausbildung, die die allgemeinen Prinzipien Spartakus umstritten, weil man das für ein bil- aller Produktionsprozesse vermittelt», neben dungsbürgerliches Relikt hielt, auf das man geistiger und körperlicher Erziehung wichtig.
8 Analoges Lernen für eine d igitalisierte Welt Es ging um die «allgemeinen Prinzipien», al- gehört unbedingt zur Allgemeinbildung. Die so nicht um Einübung eines Berufs oder einer Möglichkeiten der Informationstechnik im Tätigkeit, die durchaus praktisch im besonde- Lernprozess sinnvoll einzusetzen ist gera- ren Produktionsprozess angeeignet werden de dort erforderlich, wo Bildungsdefizite auf- könnten. Gleichermaßen wichtig war ihm die zuarbeiten sind, etwa bei der Aneignung der praktische Anwendung – wie sie später im deutschen Schriftsprache, im Fremdspra- Realsozialismus als «produktive Arbeit» der chenlernen oder in der Mathematik. Die Mög- Schülerinnen und Schüler wieder auftauch- lichkeiten sind vielfältig. te. Etwas Sinnvolles zu tun, den gesellschaft- lichen Nutzen von Arbeit zu erfahren, dieser Gedanke der Verbindung von Schule und Le- Entspricht die Logik von ben spielte ja auch in der (bürgerlichen) Re- Lernprogrammen nicht formpädagogik eine wichtige Rolle. Und er genau dem gewünschten richtete sich gegen die in der Pädagogik in Verhalten von modernen geisteswissenschaftlicher Tradition verbrei- Arbeitnehmerinnen – sie sind tete Verachtung von gegenständlicher Arbeit flexibel und kreativ, aber die und der daraus resultierenden Trennung von Grenzen der Kreativität sind höherer und minderer Bildung, wozu ja die Bil- vorgegeben? dung in den «Realien» zählte. Für Marx bedeutete die Entwicklung der Tech- Schule und Bildung dürfen nicht jedem Trend nologie und der Großen Industrie noch sehr hinterherlaufen. Sie dienen nicht der Berufs- viel ungebrochener als für uns heute die zu- ausbildung, noch nicht einmal der Berufsvor- nehmende Vergesellschaftung der Produktion bereitung im engen Sinn, sondern stellen eine und damit die materielle Vorbereitung ihrer ei- der Grundlagen dar für ein selbstbewusstes, gentumsmäßigen Vergesellschaftung. Heute selbstbestimmtes Leben in einer Welt und Ge- sehen wir mehr das zerstörerische Potenzial, sellschaft, die wir heute noch nicht kennen das in Technik und Wissenschaft enthalten und noch unzureichend beschreiben können. sein kann, also nicht nur – platt gesagt – den Bildung bedeutet die Fähigkeit, sich von der Widerspruch zwischen Produktivkraftent- Unmittelbarkeit der Anschauung distanzieren wicklung und den Fesseln der Produktionsver- und Differenz erkennen zu können. Die grie- hältnisse, sondern dass auch die Produktiv- chische Polis, das Römische Reich, der Fa- kraftentwicklung selbst sehr widersprüchlich schismus, Goethe, Shakespeare, Brecht und ist. Umso wichtiger also, sich mit ihr auch in- Böll als Lerngegenstände in der Schule kön- haltlich auseinandersetzen zu können. Man nen dazu befähigen, Probleme der Datensi- muss abschätzen können, was mit der Digi- cherheit oder der Veränderung sozialer Be- talisierung möglich ist, welche unbeabsich- ziehungen heute zu verstehen. Der Kurs in tigten oder beabsichtigten Folgewirkungen – der Programmiersprache «Basic», den ich vor etwa für den Unterricht, das Verständnis von 35 Jahren mitgemacht habe, nützt mir nichts Lernen, die Überwachung der bzw. des Einzel- mehr beim praktischen Umgang mit dem In- nen, der Individualisierung – möglich sind und ternet oder Windows 10, aber er hat mir ge- welche unterschiedlichen Entwicklungen sie holfen zu verstehen, was Digitalisierung ist. nehmen kann. Wir brauchen also nicht die Kenntnis der neu- Für uns heißt das: Zu lernen, dass man auf esten Gerätschaften und Programme, um Computern nicht nur spielen kann, sondern zu verstehen, worum es bei der Digitalisie- dass sich durch sie neue Chancen eröffnen, rung geht und um künftige neue Entwicklun-
Analoges Lernen für eine d igitalisierte Welt 9 gen einordnen zu können, sondern, wie man guckt ihren Schülerinnen nur noch von hin- so schön sagt, solide Bildung. Und die be- ten über die Schulter oder überwacht sie an steht eben nicht nur aus Geisteswissenschaf- ihrem Rechner. Die Programme werten alles ten, sondern ebenso aus der Aneignung der aus: Wer macht wo Fortschritte und wo nicht? Grundlagen der Naturwissenschaften und aus Die nächsten Lernschritte können passgenau einer polytechnischen Bildung, die etwas an- vorgegeben werden, da gibt es keine Umwe- deres ist als Berufsvorbereitung. ge und Sackgassen mehr. Schöne neue Welt Aber es geht auch darum, ob und wie sich Bil- des individualisierten und dennoch gesteuer- dung, Schule und Lernprozesse mit der Digita- ten Lernens? lisierung verändern. Lernprogramme ermögli- Für manche scheint diese Entwicklung die chen die Individualisierung des Lernens: Jede Erfüllung eines vermeintlich antiautoritären lernt im eigenen Tempo, kann Lernzeiten und Traums: der Egalisierung des Lehrers, der Leh- Lernschritte selbstständig bestimmen. Über rerin, die ihre Führungsrolle verlieren und zu Computeranwendungen können naturwissen- Lernbegleiterinnen werden. Die Schule als schaftliche und gesellschaftliche Versuche si- Zwangsanstalt wird überflüssig, jedermann, muliert werden, die Schülerinnen in der Realität jedefrau kann am heimischen Computer ler- nicht durchführen könnten, und, klar, sinnliche nen oder sich zu freien Lerngruppen zusam- Erfahrung wird durch Virtualität ersetzt. Über menfinden, Social Media erleichtern das ja. das Internet haben Schülerinnen und Lehrer Tatsächlich wird so die Vorstellung vom in- Zugang zu unübersehbar vielen Informatio- dividualisierten Lernen am Computer oder nen. Lernplattformen bieten einen Varianten- sonst wo auf die Spitze getrieben und ad ab- reichtum, im Vergleich zu dem jedes «analoge» surdum geführt. Aus der Individualisierung Lernmaterial armselig erscheint. Über Social wird Vereinzelung, aus sozialem Lernen in ei- Media können sich Schülerinnen und Lehre- ner heterogenen Gruppe wird Pauken. Dieses rinnen vernetzen und über alles Mögliche (und Horrorszenario steht den Kritikern der Digitali- Unmögliche) austauschen. Aber: Wie viel In- sierung in der Schule vor Augen. dividualisierung wollen wir? Lernen ist ein in- So wird es nicht kommen. Ivan Illich hat die teraktiver Prozess, braucht reale Partnerinnen, Schule nicht abschaffen können, Bill Gates Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen. oder Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stif- Entspricht die Logik von Lernprogrammen tung werden es auch nicht schaffen. Nicht nicht genau dem gewünschten Verhalten von nur weil sich die Institution als hartnäckig er- modernen Arbeitnehmerinnen – sie sind flexi- weist, sondern weil Lernen und Bildung im- bel und kreativ, aber die Grenzen der Kreativität mer mit Erfahrung von und mit Menschen sind vorgegeben? zu tun haben. Gerade der Einsatz neuer Me- dien in der Schule erfordert starke, kundige Kein Ersatz für Lehrerinnen und selbstbewusste Lehrerinnen und Lehrer, Die Rolle des Lehrers bzw. der Lehrerin ver- die wissen, was sie tun, wo sie hinwollen und ändert sich. Die Lehrkraft steht nicht mehr was sie ihren Schülerinnen und Schülern zu- im Mittelpunkt des Unterrichts, sondern trauen können. Gerade der Einsatz neuer Medien in der Schule erfordert starke, kundige und selbstbewusste Lehrerinnen und Lehrer, die wissen, was sie tun, wo sie hinwollen und was sie ihren Schülerinnen und Schülern zutrauen können.
10 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung Rosemarie Hein KEINE DIGITALE BILDUNG IST AUCH KEINE LÖSUNG EIN ESSAY Nein, ich werde in diesem Leben kein digi- heit drohen, wenn die Digitalisierung überall tal native mehr werden. Meine Kinder auch um sich greift. Menschen werden überflüssig? nicht, obwohl sie mit Tablet und Handy viel Auf der einen Seite die Bitkom, die Interessen- geschickter umgehen als ich. Mein Enkel vertretung der Digitalbranche in Deutschland, sohn dagegen ist bereits einer. So wie meine und auf der anderen Seite Kritiker*innen wie Tochter als Kleinkind durch Neugier lernte, wie Manfred Spitzer. Wer hat nun recht? man eine Lampe ein- und ausschaltet, so pro- Längst ist klar, dass der Einsatz digitaler Tech- bierte mein Enkelsohn, was es mit den Spielen nologien nicht ohne Risiken ist: das Verbreiten auf dem Computer auf sich hat, lange bevor er von Fake News, die Frage der Datensicherheit, lesen konnte. Ohne Scheu, mit der Methode der Schutz der Persönlichkeitsrechte, Cyber- Versuch und Irrtum: mal sehen, was da pas- kriminalität, Arbeitsplatzverluste, Suchtpoten- siert. Heute, mit neun Jahren, liest er gern, zial oder das Verführungspotenzial virtueller rechnet exzellent und schreibt auch ganz gut. Welten. «Mädchen, die mehr als drei Stunden Trotz Computer. Es ist eben alles eine Frage in Facebook sind mit 13, haben die doppelte des Maßes. Und ja, seine Eltern haben ihm Wahrscheinlichkeit, mit 18 depressiv zu sein. Zeiten vorgegeben, die er für das Spielen auf Smartphones erzeugen Sucht», so Manfred dem Tablet nutzen darf. Er hat das akzeptiert, Spitzer im März 2018 in einem Interview mit aber er kämpft um jede Minute. dem Deutschlandfunk. Spitzer fordert eine In jüngster Zeit ist es modern geworden, die Folgenabschätzung. Gut, das alles ist notwen- Gefahren der Digitalisierung zu beschwören. dig. Aber stimmen die Zusammenhänge? Ist Sozusagen als Gegenentwurf zum Hype der das Smartphone der Auslöser für Depressio- Fortschrittsfanatiker*innen. Mit dem ungezü- nen? Oder sind es vielmehr Fragen der gesell- gelten Einsatz digitaler Medien und Techno- schaftlichen Entwicklung, Fragen von Moral logien sei ein Verlust an Bildung verbunden, und Ethik, Fragen des Umgangs mit den neu- heißt es. In der Debatte gibt es die fürchter- en Medien – Fragen der Bildung? lichsten Szenarien: Die einen fordern, das Er- Ja, auch die schon beschriebenen und die lernen der Handschrift abzuschaffen, die an- noch zu erforschenden Gefahren müssen be- deren befürchten neurologische Schäden, dacht und öffentlich gemacht werden. Da weil Google uns das Denken abgewöhne. Vir- ran haben die großen Internetriesen und Di- tuelle Welten ersetzen scheinbar die Wirklich- gitalkonzerne aber kein primäres Interesse, keit. Das Haptische scheint ausgedient zu ha- denn das nährt die Nachdenklichkeit und die ben. Wieso einen Schalter händisch bedienen, Zurückhaltung bei der Nutzung dieser Tech- wenn eine Geste oder gar ein Gedanke ausrei- nologien, und das ist für sie durchaus ge- chen? Smart home und smart city regeln alles. schäftsschädigend. Instagram & Co. leben Der Euphorie über die schier unbegrenzten schließlich davon. Aber was ist dann zu tun? Möglichkeiten digitaler Medien und künstli- Und was bedeutet das für die Bildung in dieser cher Intelligenz wird die Beschwörung von durch digitale Medien und Technologien ge- Gefahren gegenübergestellt, die der Mensch- prägten Welt?
Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung 11 Möglichkeiten und Grenzen auch in der Bildung: Die Einrichtung von Fa- technischer Entwicklungen brikschulen im 19. Jahrhundert entsprach si- sehen cher einem wachsenden sozialen Gewissen in Keine Frage: Die Einführung digitaler Tech- Teilen der Gesellschaft und folgte dabei mög- nologien in fast allen Bereichen der Gesell- licherweise auch den Bildungsvorstellungen schaft verändert die Art, wie wir leben, ähn- solcher Reformer*innen und Humanist*innen lich nachhaltig und unumkehrbar wie die wie Humboldt. Aber sie entsprangen eben Beherrschung des Feuers die Entwicklungs- nicht nur einem altruistischen Menschenbild. geschichte der Menschen und der Mensch- Sie erwuchsen sehr wohl aus der Einsicht, heit. Auch der aufrechte Gang hatte eine dass Menschen im Industriezeitalter einer ge- solche Wirkung. Er brachte dem Menschen ei- wissen Bildung bedurften, um für diese auf- nen großen Freiheitsgewinn durch die Mög- strebende kapitalistische Gesellschaft – und lichkeit, die Hände frei zu haben für die Nut- hier meine ich nicht nur die Arbeit in der Fa- zung von Werkzeugen – und er verursacht bis brik – gewappnet zu sein. Die Fabrikschulen heute Rückenprobleme. waren nicht ohne Grund in der Nähe der Fabri- Technische Entwicklungen in der menschli- ken angesiedelt. Die Fabrikschulen ermöglich- chen Gesellschaft waren mit Fortschritten, zu- ten Bildung – und die Verfügbarkeit der Kinder mindest für einen Teil der Gesellschaft, aber für die Fabrikarbeit. Aber eben auch Bildung! auch mit erheblichen Nachteilen, mit schrecklichen Auswirkungen verbun- den. Der Einsatz der Kernspaltung ist Jede technische Neuerung kann dafür ein Beispiel, das den meisten nicht von den gesellschaftlichen sehr bewusst ist: Ihre Zerstörungskraft Bedingungen gelöst werden, ist ungeheuerlich, hat Langzeitwirkung unter denen sie entsteht und und ist unabsehbar. Radioaktive Strah- in denen sie wirkt. lung riecht man nicht, hört man nicht, spürt man nicht. Zunächst nicht. Ihr Einsatz in Das ist heute nicht wesentlich anders: Wenn Kriegen ist für alle Zeit mit den Namen Hiroshi- Bertelsmann, Bitkom, Microsoft und andere ma, Nagasaki und Bikini verbunden. Auch als scheinbar uneigennützig Angebote für digi- scheinbar saubere Möglichkeit der Energie- tale Bildung machen, so steht dahinter immer gewinnung erweist sie sich als in ihren Folgen zuerst das Interesse der besseren Vermark- nicht beherrschbar. Selbst wenn kein Kraft- tung der eigenen Produkte und die Vorberei- werk «hochgeht» wie in Tschernobyl oder Fu- tung junger Menschen auf die Nutzung dieser kushima. Denn wohin mit dem jahrtausende- Technologien in der Industrie 4.0. Sie bilden lang strahlenden Müll? für das Leben im digitalen Zeitalter. Das aber Als die Weber*innen und Textilarbeiter*innen entspricht durchaus auch den persönlichen des frühen 19. Jahrhunderts gegen die Bedro- Interessen der Lernenden. hung ihrer Existenz durch den Einsatz von Ma- Jede technische Neuerung kann nicht von schinen protestierten, richteten sie ihren Pro- den gesellschaftlichen Bedingungen gelöst test auch gegen diese Maschinen, als seien werden, unter denen sie entsteht und in de- sie die Ursache für die Bedrohung ihrer Exis- nen sie wirkt. Sie ist ebenso Produkt wie Mo- tenz. Mir scheint, heute ist das kaum anders. tor gesellschaftlicher Entwicklungen. In den Fortschritte, die es zweifellos durch den Ein- 1970er Jahren gehörte es in der kapitalisti- satz von neuen Technologien für Menschen schen Welt zu einem der Hauptthemen des gibt, sind in der Regel ambivalent. Das gilt gewerkschaftlichen Kampfes, die Auswir-
12 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung kungen der Automatisierung durch moderne Die Angst vor Veränderungen durch techni- Technologien und ihren Einsatz in der Indus- schen Fortschritt ist umso größer, je tief grei- trie durch Rationalisierungsschutzabkommen fender und schneller die Veränderungen vor zu begrenzen. sich gehen. In der massiv vernetzten Welt von Meine Begegnungen mit wissenschaft- heute sind Prozesse zudem immer schwe- lich-technischem Fortschritt in derselben Zeit rer zu durchschauen – auch ein Einfallstor waren andere. Der Begriff sagt es schon. In für skrupellose Geschäftemacher*innen, nai- der DDR galt die Wissenschaft selbst als Pro- ve Euphoriker*innen, aber auch für jene, die duktivkraft, um die ökonomische Leistungs- Bedenken geltend machen oder gar Ängs- fähigkeit der sozialistischen Wirtschaft zu er- te schüren. Manches ist berechtigt, anderes höhen und somit der sozialistischen Welt im nicht. Wettstreit der Systeme einen Vorteil zu ver- schaffen. Die Bedeutung der wissenschaft- Müssen Kinder vor digitalen lich-technischen Revolution, kurz WTR, Medien geschützt werden? schaffte es regelmäßig, in Beschlüsse der Par- Auch das ist nicht neu. In seinem Buch «Das tei und Staatsführung Eingang zu finden. Ich Verschwinden der Kindheit» setzt sich der will mich über die einschränkenden Auswir- US-amerikanische Medienwissenschaftler kungen auf das wissenschaftliche Arbeiten ob Neil Postman mit dem vermeintlich schädli- ihrer mitunter bornierten Ausrichtung an ober- chen Einfluss des Fernsehens auf Kinder und flächlichem Nützlichkeitsdenken nicht weiter Jugendliche auseinander. Er bezeichnet das auslassen – das kann man bei Peer Pasternack Fernsehen als eine «Technologie des freien (2012) gut nachlesen –, aber ein Beispiel aus Eintritts» zu Informationen, ohne irgendwel- meiner eigenen Bildungslaufbahn einfügen: che Schranken, jede*r sei «gleichermaßen In den späten 1960er und frühen 1970er Jah- qualifiziert mitzuerleben, was Fernsehen an- ren machte die Kybernetik als zukunftsträch- zubieten hat» (Postman 2014: 100). Er kriti- tige Wissenschaft im Osten die Runde. In sierte die allgegenwärtige Verfügbarkeit von der Erweiterten Oberschule gab es plötz- Informationen – sogar ohne die Schranke der lich und für kurze Zeit eine Einführung in das Literalität, die in der Regel ja die Erwachse- «LOLO-System», die Grundlagen der Pro- nenwelt von der Kinderwelt trennen würde, grammiersprache, wie ich heute weiß. Dann aufgrund der Anschaulichkeit der angebote- wurde die Kybernetik höchst parteiöffent- nen Informationen. Kindheit ist für ihn verbun- lich zur Pseudowissenschaft erklärt (vgl. Se- den mit informationellen Geheimnissen, die gal 2001) – und schon war der Spuk vorbei. Erwachsene Kindern gegenüber haben. Die Mehr als ein Jahrzehnt später wurden Klimm- Unmündigkeit der Kinder als bewahrenswer- züge gemacht bei der Entwicklung der Mi tes Kulturgut sozusagen, als Ordnungsprinzip kroelektronik und des ersten Mikrochips, weil zwischen den Generationen. Und Postman der Westen technologisch davonzulaufen begrüßte deshalb Bewegungen aus der Mit- drohte. Will sagen: Borniertheit ist immer wie- te des 20. Jahrhunderts, solche Fernsehsen- der im Spiel, wenn es um die Möglichkeiten dungen und ihre Sponsoren zu boykottieren und Grenzen technologischer Entwicklungen sowie besondere Schulen mit einem entspre- geht. Aufseiten der Befürworter*innen ebenso chenden Moralkodex (vergleichbar etwa mit wie auf der Seite der Bedenkenträger*innen. dem heutigen Handyverbot an Schulen) ein- Und es gibt immer auch unzulässige Verknüp- zurichten, obwohl ihm bewusst war, dass sol- fungen von Ursachen, Wirkungen und Not- che Bemühungen am Ende ergebnislos blei- wendigkeiten. ben würden. Die Begrenzung des Zugangs zu
Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung 13 den Medien Radio und Fernsehen erschien Das ist wohl so. Ist es aber eine Lösung, Wis- ihm als Ausweg aus dem «Verschwinden der senserwerb zu unterbinden, um dies zu ver- Kindheit» (ebd.: 171). Für mich ist das ein Dé- meiden? Oder ist es nicht vielmehr nötig, die jà-vu. Eine solche Sichtweise ist auch heute Nutzung zu regeln, Wissen zu verbreiten und bei manchen Wissenschaftler*innen und Po- Aufklärung zu betreiben? litiker*innen zu finden. In Bezug auf die Bildung möchte ich einen Kurios ist im Zusammenhang mit unserem Zeitgenossen Postmans zitieren. Robert Ha- Thema allerdings, dass Postman sich aus- vemann beschrieb in seiner «Reise in das Land gerechnet vom Einsatz von Computern eine unserer Hoffnungen» die Art, wie im Land Uto- Wiedergewinnung der Kindheit erwartete: pia gelernt wird: «Der Bildschirm ist für die «Die einzige Technologie, die diese Fähigkeit Utopier das wichtigste Lernmittel. Und Ler- besitzt, ist der Computer.» (Ebd.: 167) Denn nen ist eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Sie man müsse die Sprache des Computers erler- fassen aber das Lernen nicht als Büffelei und nen, eine «Computerliteralität» entwickeln, in ständiges Ansammeln von immer mehr Kennt- der Schule wohlgemerkt, und dadurch entste- nissen auf. […] Lernen heißt in Utopia erst he eine von der Jugendkultur unterschiedene einmal Kennenlernen. Die großen Werke der Erwachsenenkultur – welch grandiose Fehl Weltliteratur lesen …» (Havemann 1990: 86) einschätzung! Es lohnt sich, die ganze Geschichte zu lesen. Ist es aber eine Lösung, Wissenserwerb zu unterbinden, um zu vermeiden, das alles, was erfunden wird, auch gemacht wird? Oder ist es nötig, die Nutzung zu regeln, Wissen zu verbreiten und Aufklärung zu betreiben? Postmans Untersuchungen zu den damals Und wenn sich auch hier viel Naivität über ge- modernen Medien, Informationstechnologi- sellschaftliche Entwicklung manifestiert – es en, zur Unterhaltungselektronik, bewirkten ist eine Utopie, eine gewünschte Gesellschaft, bei ihm Überlegungen und Forderungen nach aber verbunden mit einer Nachdenklichkeit, Meidstrategien (Postman 1988). Sein Ansatz die nur aus einem im Grunde positiven Fort- zur Bewahrung der Kindheit ist antiaufkläre- schrittsverständnis erwachsen kann. risch und hat viel mit der Maschinenstürmerei Nun zur «digitalen Bildung» heute. Die Anfüh- des 19. Jahrhunderts gemein. rungszeichen sollen darauf hinweisen, dass Wie wir heute wissen, sind alle diese Strate- es bei digitaler Bildung in einer und für eine gien zum Scheitern verurteilt, und die Frage, von immer mehr und immer neuen digitalen die auch Postman stellte, warum man diese Technologien geprägten Welt um sehr unter- Technologien überhaupt braucht, führt eben schiedliche Dinge geht. Fangen wir mit dem nicht zu einem aufgeklärten Umgang mit ih- Einfachen an: dem Einsatz digitaler Medien im nen. Diese Fragen erwachsen vielmehr aus Unterricht. einer fundamentalen Technikskepsis, und es Nach der Konferenz der Rosa-Luxemburg- sind zutiefst ethische Fragen des Umganges Stiftung im November 2017 in Magdeburg – damit. Ein früherer Kollege hat in einem Ge- und wahrscheinlich häufig auch schon ander- spräch mit mir den ernüchternden Satz ge- norts – wurde die Frage nach dem Mehrwert sagt: «Alles, was erfunden wird, wird auch ge- des Einsatzes von Whiteboards und Tablets macht werden, irgendwann von irgendwem.» im Unterricht gestellt. Die Ausführungen ei-
14 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung nes Geschichtsdidaktikers über die Möglich- Die nahezu sofortige Verfügbarkeit von Infor- keiten des Einsatzes digitaler Medien im Ge- mationen ist ein Vorteil der neuen Medien. schichtsunterricht wurden von einigen mit Lehrbücher sind oft jahrelang im Umlauf, nicht Unverständnis ob des Neuerungswerts quit- lange auf dem neuesten Stand. In vielen Schu- tiert. Das, was er vorgestellt habe, ginge al- len schwindet ihre Bedeutung immer mehr. Zu les auch analog. Stimmt. Ich habe mal darü- Unrecht, wie ich finde. Auch sie sind Wissens- ber nachgedacht, welche Medien und andere speicher. Heute kann man das Tablet vielleicht technischen Lernmittel mir und meinen Kin- mit der Schiefertafel vergleichen, nur dass dern so in ihrer Schullaufbahn begegnet sind: man sie nicht mehr mit Graphitstift beschreibt Ich lernte in Mathematik, wie man mit dem und dass das Wissen auch (wieder) abrufbar Rechenschieber addiert, multipliziert und so- ist – vorausgesetzt die entsprechende Ausrüs- gar Wurzeln zieht – habe ich alles vergessen. tung gibt es an der Schule. Das Whiteboard Meine Kinder gingen dann schon mit dem ist dann vielleicht die Kombination aus Kreide- Taschenrechner um. Also einer digitalen Re- tafel und Fernseher fürs Bildungsfernsehen. chenmaschine. Wenn zu meiner Zeit in der Was ist schlecht daran? Anschaulichkeit ge- Schule ausnahmsweise ein Bild an die Wand hört zu den didaktischen Grundsätzen des Ler- projiziert wurde, geschah das mit einem Dia nens und Lehrens. Interaktivität beim Lernen projektor. War das Bild in einem Buch, kam steht bei manchen Lehrenden – zum Teil auch ein Episkop zum Einsatz: Klappe runter, Buch heute noch – nicht hoch im Kurs, im Frontal- drauf, Klappe wieder hoch und scharf stel- unterricht fristet sie eher ein Schattendasein. len – sozusagen ein altertümlicher Beamer. Selbstständiges Erschließen von Lerninhalten Die Qualität war grauslich! Dann kam das Bil- und kollaboratives Lernen sind natürlich auch dungsfernsehen, und gut ausgestattete Schu- ganz analog möglich – aber nicht unbedingt len hatten nach Jahren in jedem Klassenraum immer im Klassenraum. Man müsste rausge- einen Fernseher. Da konnte man das laufen- hen, in Bibliotheken, in Einrichtungen – auch de Fernsehprogramm, das eigens für diesen das ist noch nicht unbedingt üblich, aber es Zweck produzierte Bildungsfernsehen, ein- wäre gut. Niemand käme heute auf die Idee, schalten und musste notfalls Unterrichtsstun- wieder mit Schiefertafel und Episkop zu arbei- den verlegen und anfangs Räume wechseln, ten. Aber die Kombination von digitalen und um in den Genuss dieser didaktisch gut aufge- analogen Unterrichtsmedien ist sehr wohl ei- bauten 20-minütigen Sendungen zu kommen. ne sinnvolle Sache, weil sie die Anschaulich- Gut, dass die Stundeneinteilung der Vormitta- keit verbessert und Abwechslung bringt – Me- ge fast überall gleich war. Später kam der Po- thodenvielfalt eben. lylux oder auch der Tageslicht- oder Overhead- Doch eines ist natürlich klar: Weder durch projektor zum Einsatz – das erforderte schon den Einsatz des Episkops noch des Fernse- gezeichnete oder gedruckte Folien. hers noch des Tablets verbessern sich per se Worin bestand der didaktische Mehrwert der die Lernergebnisse. Das ist schon deshalb so, damals neuen Medien Episkop und Polylux? weil Lernen ein sehr individueller Prozess ist Vor allem in der Anschaulichkeit, die beson- und eben nicht bei jedem und jeder gleich ver- ders in den gesellschaftswissenschaftlichen läuft. Zudem ist Lernen abhängig von denen, Fächern und Naturwissenschaften nützlich die den Lernstoff anbieten oder Lernprozesse war. Nun sind es Tablets und Whiteboards und auslösen sollen. Das gelingt mit digitalen Me- anderes, die für mehr Anschaulichkeit, aktu- dien vielleicht nicht besser, aber es muss auch elle Informationen und, wenn es gut gemacht nicht schlechter sein. Darauf zu verzichten ist, sogar für eine Art von Authentizität sorgen. wäre etwas Ähnliches, als wollte man sich in
Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung 15 der Medizin aufs Röntgen beschränken, auch te so lapidar unter digitaler Bildung gefasst wenn wesentlich genauere Diagnoseverfah- wird. Es geht auch darum, zu lernen, mit den ren zur Verfügung stehen. digitalen Medien umzugehen, sie «zu beherr- schen», erst einmal ganz praktisch. Das ge- Digitalpakt als Tropfen auf schieht heute oft schon außerhalb der Schule. den heißen Stein Ein Smartphone und ein Tablet zu bedienen Allerdings ist Euphorie fehl am Platz. Die ewi- oder mit ihrer Hilfe Informationen abzurufen, ge Leier, dass wir eine Aufholjagd vor uns ha- darin sind viele Lernende heute manchen ben, dass es massive Versäumnisse bei der Lehrenden voraus, was schon auf ein Defi- Ausstattung der Schulen gibt, täuscht leicht zit hinweist. Gleichwohl wäre es eine alberne über die Erfordernisse hinweg, die mit dem Forderung, darauf bestehen zu wollen, dass Einzug digitaler Medien in den Unterricht dies erst in der Schule erlernt werden darf. auch bedacht werden müssen. Der halbherzi- Aber die kritische Reflexion des Abgerufenen, ge Digitalpakt ist ein Tropfen auf den heißen das Wissen darüber, warum man über diesen Stein. Und das liegt in der Natur der Sache: Weg dieses oder jenes erfährt oder aber nicht Ein Schulbuch kann man etwa fünf Jahre gut erfährt, also der kritische Umgang mit digita- gebrauchen, digitale Geräte und die darauf len Medien, wo immer man ihnen begegnet, installierte Software haben eine deutlich kür- den erlernt man nicht ohne Weiteres schon zere «Halbwertszeit». Nicht nur die Inhalte, durch die Nutzung der entsprechenden Me das Wissen verändert sich in rasantem Tem- dien. Dazu gehören auch Fragen der Ethik po, auch die Hard- und Software ist deutlich und Moral, des Schutzes der Persönlichkeits- schneller überholt als beim Buch. Mit einma- sphäre, der eigenen und der von Mitmen- ligen Investitionen wird es darum nicht getan schen. Zu dieser kritischen Medienbildung sein. Und man muss bedenken, dass auch gehört auch eine gute Werteerziehung, die, hier die Internetriesen und Softwarefirmen im Unterschied zu der ganz generell benötig- ein lukratives Geschäftsfeld wittern und nichts ten, auf die Besonderheit des Funktionierens unversucht lassen, die «Kundschaft», also die von Internet & Co. ausgerichtet ist: verstehen, Bildungsinstitutionen und die Nutzer*innen, was virtuelle Welten sind, wie sie entstehen, an die eigene Produktpalette zu binden. Das was sie bewirken, wozu sie taugen und dass umfasst auch den Zugriff auf Daten und Nut- sie die Wirklichkeit und das Haptische nicht zerverhalten. Und außerdem gibt es schon ersetzen können. die Erfahrungen mit dem Schultrojaner, der Natürlich kann man mit einer entsprechen- die Nutzung von Texten oder Liedern massiv den digitalen Brille die Welt des Waldes, mög- behindert hätte. Schulen waren plötzlich ver- licherweise auch seine Geräusche, zum Ver- unsichert, was sie noch straffrei nutzen dür- wechseln ähnlich nachbilden. Aber wenn fen und was nicht. Mit den Upload-Filtern ist – ich versuche, nach einem Baum zu greifen, trotz aller Proteste – da auch erst einmal ein die Rinde zu spüren, dann ist da nichts. Und Punkt gesetzt, deren Auswirkungen für Bil- selbst, wenn es gelingt, den Tastsinn zu imi- dungsinstitutionen noch gar nicht absehbar tieren, sobald das Gerät ausgeschaltet ist, sind sind. Vielleicht kommen wir doch in nicht allzu Wald und Baum weg. Virtuelle Welten werden ferner Zeit zum guten alten analogen Buch zu- auch in Spielen immer perfekter inszeniert. rück. Das ist gekauft. Da weiß man urheber- Und man muss lernen, diese Welten von der rechtlich, woran man ist. Wirklichkeit zu unterscheiden. Sich nur noch Aber der Einsatz digitaler Medien im Unter- im Virtuellen zu bewegen kann sehr wohl richt ist der geringste Teil von dem, was heu- zum Verlust von Realitätssinn führen. Darum
16 Keine digitale Bildung ist auch keine Lösung muss man den Unterschied verstehen und Und nun kommt die Gretchenfrage: Wann be- lernen, die Folgen, die eine Verwechslung ha- ginnen? So wie man ein Baby nicht zum Sitzen ben kann, einzuschätzen. Aber für die Model- nötigen soll, wenn es das noch nicht von al- lierung von Prozessen unterschiedlichster Art lein tut, so sollte man auch Kindern im frühen können virtuelle Realitäten eben auch sinnvoll Lernalter nichts abverlangen, was sie noch sein. nicht selbst erkunden können. Kinder soll man Politische Bildung ist nötig, damit sogenann- nicht dressieren. Aber es käme auch niemand te Fake News als solche erkannt werden. Ge- auf die Idee, Kindern das Laufen zu verbieten, gendarstellungen, wie man sie bei Zeitungen wenn sie es doch wollen und können. Mein noch einfordern konnte, scheinen ausgedient Enkelsohn konnte schon in der ersten Klas- zu haben. Alle digitalen Nachrichtendienste se dreistellige Zahlen im Kopf addieren. Wie sind einfach schneller. Und was einmal in der er das gemacht hat – keine Ahnung. Aber die Welt ist … Dagegen hilft wirkungsvoll nur der Fehlerquote war gering, und er war deutlich gesunde Menschenverstand, und der muss schneller als ich. Sollte man ihn davon ab- gebildet werden. Da- halten? Ich habe keine zu gehört auch das Wis- Ahnung, wie das gehen sen darüber, wie solche Digitale Medien und sollte, zudem halte ich es Nachrichten entstehen, Technologien müssen auch für unsinnig. was Social-Bots anstel- entzaubert werden, Am Wochenende war len und wie sie wirken. damit sie keine Macht ich mit meinem Enkel Zu dieser kritischen Me- über uns gewinnen. beim «Robocup», einem dienbildung gehört auch seit 1997 jährlich statt- eine kritische ökonomische Bildung zu den findenden Roboterfußball-Wettkampf. Mein politischen und wirtschaftlichen Interessen, Enkelsohn war kaum wegzubringen von den Wissen um die Bedeutung persönlicher Daten Robotern, am liebsten hielt er sich bei den und was mit ihnen passieren kann, wenn man weißen mit den komischen Augen auf, die ab- allzu freizügig mit ihnen umgeht, und auch ein strakteren auf dem Nachbarspielfeld beachte- Wissen um das Suchtpotenzial. te er wenig. Auch die im Parcours fahrenden, Es ist wichtig, dass digitale Programme nicht selbstgebauten, elektronisch gesteuerten wie Mysterien daherkommen: Lernende müs- Fahrzeuge interessierten ihn nur kurz, obwohl sen künftig erfahren, wie ein Programm ent- das seiner Altersklasse eher entsprochen hät- steht, wie man es auch selbst steuern kann, te. Der Grund: Die weißen großäugigen Robo- wie man also programmiert. Digitale Medien ter mit Händen und Füßen hatten etwas Men- und Technologien müssen entzaubert wer- schenähnliches. Er war wie verzaubert. Wie den, damit sie keine Macht über uns gewin- und warum sie so funktionierten, war nicht nen. Man entzaubert sie, wenn man weiß, wichtig. Dies aber wäre das Lernziel gewesen: wie sie funktionieren. Das gehört ebenso zum Kleine Automaten dahin zu bringen, dass sie Menschheitswissen wie die Kenntnis um die tun, was man ihnen vorher sagt. Je fehlerfrei- Folgen der Abholzung des Regenwaldes oder er, desto besser. Dies aber erfordert ein mehr des Bienensterbens. Ob digitale Bildung – oder weniger umfangreiches Verständnis da- oder, wie Postman es bezeichnete, Computer- von, was Programmieren ist und wie Algo- literalität – künftig zu einer Kulturtechnik wird rithmen funktionieren. Dafür fehlt meinem oder es schon ist, weiß ich nicht. Zur Grund- Enkelsohn das Wissen. Noch. Ob mit dem Be- bildung wird sie allemal gehören, da bin ich si- such seine Neugier geweckt wurde – ich weiß cher. es nicht. Wir werden sehen.
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