Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte

 
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Dokumentationszentrum
                                                  Oberer Kuhberg Ulm e. V.
                                                    – KZ-Gedenkstätte –

                                                  Mitteilungen
                                                  Heft 71 / November 2019

   Historischer und aktueller Antiziganismus

                             Forschung auf Landesebene

                             Politische und kulturelle Interventionen

                             Pädagogische Präventivarbeit

Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte · So, 17. November 2019 · 11 Uhr
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Vorwort                                                            Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte
                                                                       für den Widerstand von 1933 bis 1945
                                                                                 und die Opfer der
                                                                      nationalsozialistischen Gewaltherrschaft

                                                                      Sonntag, 17. November 2019, 11 Uhr
Liebe Leserinnen und Leser,

Sinti und Roma leben in Deutschland bereits seit hunderten       „… Unsere Aufgabe ist also klar:
von Jahren. Dennoch werden sie bis heute oftmals nicht
als Teil der Gesellschaft wahrgenommen und erfahren auf          Vernichtung des Marxismus und
vielen Ebenen Diskriminierung und Ausgrenzung bis hin zu          Niederringung des Zentrums“
gewaltvollen Überfällen.
                                                                 Die Rolle der württembergischen und badischen
Dass im Mai 2019 hier in der Region ein Brandanschlag            Landesministerien bei der politischen Verfolgung
auf eine französische Romafamilie verübt wurde, die zuvor                    im Nationalsozialismus
die KZ-Gedenkstätte besucht hatte, war für uns Anlass,
Antiziganismus zum Schwerpunktthema dieses Hefts zu                   Ein Gespräch mit Prof. Frank Engehausen,
machen. Dazu verknüpfen wir wissenschaftliche, poli-             Universität Heidelberg, und Dr. Nicola Wenge, DZOK
tische und pädagogische Perspektiven und stellen sowohl                        Moderation: Josef Naßl
überregionale als auch lokale Interventionen vor. So führt
der Historiker Tim B. Müller in die wechselvolle Geschichte       Ab 12.45 Uhr: Führung durch die KZ-Gedenkstätte
der Sinti und Roma ein. Sein Heidelberger Kollege Frank
Reuter gibt Einblicke in aktuelle Forschungsansätze der
historischen Antiziganismusforschung auf Landesebene.
Daniel Strauß informiert als Vertreter der Bürgerrechts-
bewegung von Sinti und Roma über aktuelle Erfolge und
Herausforderungen im Kampf gegen den „Rassismus von             Inhalt
nebenan“. Pädagogische Ansätze präsentieren Nadine              Vorwort                                                        2
Küßner sowie Nathalie Geyer und Mareike Wacha, regio-
nale Interventionen Peter Langer und Andreas Hoffmann-          Sinti und Roma und die Erinnerungskultur                       3
Richter. Die Vorstellung des Verbandes Deutscher Sinti und
Roma als neues Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft           Forschungsstelle Antiziganismus                                5
der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen (LAGG)           Strategien gegen Antiziganismus                                6
rundet das Schwerpunktthema ab.
                                                                Verband Deutscher Sinti und Roma in der LAGG                   7
Im zweiten Teil des Heftes informieren wir Sie über Neu-
                                                                Antiziganismusprävention                                       8
igkeiten aus dem DZOK und erinnerungskulturelle Akti-
vitäten in Stadt und Region: Dazu gehört als Höhepunkt          ROMNO POWER FESTIVAL in Ulm                                    9
unserer Arbeit die Einweihung des Erinnerungszeichens
für die Ulmer Opfer von NS-Zwangssterilisation und              Begegnungen gegen Vorurteile                                  10
„Euthanasie“-Morden mit der Vorstellung des umfang-
                                                                Das Thema Antiziganismus in neuem
reichen Begleitprogramms. Außerdem geht es um die
                                                                DZOK-Didaktikheft                                             11
Umbenennung der Heilmeyersteige, einen Gedanken-
austausch mit Friedensaktivist*innen aus Serbien und die        Begleitprogramm zum Erinnerungszeichen
Eröffnung der Dauerausstellung in der Herrlinger Linden-        am Ulmer Landgericht                                          12
hofvilla.
                                                                Umbenennung der Heilmeyersteige                               13
Als Leiterin des DZOK freue ich mich sehr, dass wir zur
                                                                Neue Dauerausstellung in Herrlingen                           14
diesjährigen Gedenkstunde in der KZ-Gedenkstätte Prof.
Frank Engehausen begrüßen dürfen. Er wird im Gespräch           Friedensarbeit im ehemaligen Jugoslawien                      15
mit mir neue Forschungsergebnisse zur Rolle der würt­
tembergischen und badischen Landesministerien bei der           Konservatorische Arbeiten in der Gedenkstätte                 16
Verfolgung der politischen Gegner im NS präsentieren.           Praktikumsbericht Patrycja Safian                             17
Herzliche Einladung dazu!
Wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, nähern sich          Rückblick 2019                                                18
schon die letzten Wochen des Jahres. Gleichzeitig befinden
wir uns in einem dicht gewebten und spannenden Zyklus           Neues in Kürze                                                22
von Veranstaltungen. Wir stehen an der Schnittstelle zwi-       Neue Bücher                                                   26
schen dem Abschluss großer Projekte und dem Beginn
neuer wichtiger Vorhaben, die unsere Forschungs- und            Veröffentlichungen des DZOK                                   30
Bildungsarbeit weiterführen. Lassen Sie uns diesen Weg
gemeinsam gehen.                                                DZOK-Veranstaltungen Winter/Frühjahr                          31
                                                                Förderer dieser Nummer                                        32
Ich grüße Sie herzlich
                                                                Beitrittserklärung                                            32

Ihre Nicola Wenge                                             Titelbild: Auftritt des Milan Nikolic Donja Brass Orkestra im Rahmen des
                                                              Ulmer ROMNO POWER FESTIVAL im Gleis 44, 14.9.2019. Foto: Miroslav
                                                              Tancik

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Die Geschichte der deutschen Sinti und Roma und die Erinnerungskultur

Fragilität der Zivilisation
Die Geschichte der deutschen                                                              autochthone nationale Minderheit
Minderheit der Sinti und Roma ist                                                         der Sinti und Roma gemeint ist, deren
vielgestaltig und zugleich wenig                                                          Status vom europäischen Rahmen-
bekannt. Von Verfolgung und Ver-                                                          übereinkommen zum Schutz natio-
nichtung bis zu Anerkennung und                                                           naler Minderheiten garantiert wird,
Miteinander reichen die histo-                                                            die nach 1945 als „Gastarbeiter“
rischen Konstellationen. In der                                                           nach Deutschland migrierten Roma
Erinnerungskultur kommt dieser                                                            aus Jugoslawien oder Griechenland,
Geschichte eine besondere Bedeu-                                                          von denen viele längst deutsche
tung zu, weil in ihr die Fragilität der                                                   Staatsbürger sind, die Bürgerkriegs-
Zivilisation deutlich sichtbar wird.                                                      flüchtlinge der 1990er Jahre oder
                                                                                          Roma aus neuen EU-Staaten, die seit
Tim B. Müller                                                                             2007 in die Bundesrepublik kommen
                                                                                          – die Heterogenität und kulturelle
                                                                                          Pluralität der größten europäischen
Am Nachmittag des 2. August 1944                                                          Minderheit, in Wahrheit eine Vielzahl
wurde das „Zigeunerfamilienlager“                                                         unterschiedlicher Minderheiten, wird
in Auschwitz-Birkenau „liquidiert“.                                                       im medialen und alltäglichen Sprach-
Die über 4 200 Menschen – Kinder,                                                         gebrauch mit dem Begriff „Sinti und
Frauen und ältere Männer – die                                                            Roma“ zumeist verdeckt.
noch im Lager waren, wurden in den
Gaskammern ermordet. „In dieser           Tim Müller. Foto: Verband Deutscher Sinti und   Aber es gilt eine lange und alles
                                          Roma, Landesverband Baden-Württemberg
Nacht“, berichtete der Zeitzeuge                                                          andere als lineare Geschichte zu
und Auschwitz-Häftling Alfred Fider-                                                      entdecken. Sinti sind seit 1407 im
kiewicz später, „lag über dem Lager                                                       Heiligen Römischen Reich belegt.
Rauch, der dichter war als Teer“. Der     Charakter der nationalsozialistischen           Sie wurden anfangs vielerorts will-
75. Gedenktag in diesem Jahr hat          Verfolgung von Sinti und Roma bis               kommen geheißen und mit kaiser-
diese Ereignisse mehr als sonst ins       1943. Eine Konsequenz dieser nach-              lichen Schutzbriefen versehen. Im
öffentliche Bewusstsein gerückt. Die      haltigen Ent-Zivilisierung von Sprache          Zuge der „Türkenkriege“, die nach
Deportationen und der Völkermord          und Denken ist, dass bis heute noch             dem Fall von Konstantinopel 1453
an den deutschen Sinti und Roma           immer negative Bilder zertrüm-                  einsetzen, änderte sich allerdings
sind wenig präsent, noch weniger          mert werden müssen, die die NS-                 das Klima. Die neuen Einwanderer,
das Morden im Osten, wo Roma oft          „Zigeunerexperten“ der deutschen                die ursprünglich einmal aus Indien
zusammen mit Juden erschossen             Gesellschaft eingepflanzt haben.                gekommen und später über den
wurden, oder der europaweite Wider-                                                       Balkan gezogen waren, wurden auf
stand von Sinti und Roma, die in den      Die Erfolge dabei sind vor allem dem            dem Reichstag von Freiburg 1498
Lagern Aufstände wagten oder sich         Kampf der internationalen wie der               verdächtigt, Spione der Osmanen zu
Partisanenverbänden und der Rési-         deutschen Bürgerrechtsbewegung                  sein, und als Reichsfeinde geächtet.
stance anschlossen.                       der Sinti und Roma zu verdanken,                Für Jahrhunderte waren sie vogelfrei.
                                          die sich seit den 1970er Jahren for-            Die Ansiedlung wurde ihnen ebenso
Die Bundesrepublik hat den überle-        mierte. Der von der Bürgerrechtsbe-             verwehrt wie die meisten Berufe.
benden Sinti und Roma in Deutsch-         wegung in der Öffentlichkeit durch-             Es war die Obrigkeit, die sie zur per-
land nicht nur jahrzehntelang die         gesetzte Doppelbegriff Sinti und                manenten Migration zwang – eine
Anerkennung als Opfer eines Völker-       Roma führte zur Sensibilisierung und            Überlebensstrategie, die Sinti von
mords vorenthalten. Die Täter, viele      löste das diffamierende Z-Wort ab               einem deutschen Territorium, in dem
von ihnen weiterhin „Experten“ in         (so wie in den USA das N-Wort aus               man vorübergehend geduldet wurde,
Polizei, Ministerien und kommu-           dem öffentlichen Diskurs verbannt               in das nächste führte. Aber Sinti
nalen Behörden, in Wissenschaft und       ist). Das war ein Gewinn an Men-                wurden nicht nur vertrieben und ver-
Medien, beherrschten das Reden            schenwürde: Umfragen zeigen, dass               folgt. Die Gesetze und Vorschriften
über Sinti und Roma. Um die eigenen       Sinti und Roma das Wort „Zigeuner“              bilden nur einen Teil der vielfältigen
Verbrechen zu verschleiern und Ras-       fast ausnahmslos als diskriminierend            sozialen Praxis ab. Grenzen waren
sismus zu rechtfertigen, wurden etwa      ablehnen. Es ist der Begriff, in dessen         nicht undurchlässig, es gab Heiraten
Deportationen bis in die 1960er Jahre     Zeichen der Völkermord geschah, das             zwischen der Minderheit und der sie
als „relativ humane“ Maßnahmen            Wort der Täter, das im zivilisierten
der „Umsiedlung“ aus „kriminalprä-        Gespräch keinen Platz mehr hat.
ventiven“ oder „militärpolitischen“       Selbstorganisationen der Minderheit
Gründen bezeichnet. Die Kriminal-         sprechen mittlerweile auch über-                  Info
polizei benutzte weiterhin die NS-        greifend von Menschen mit Romno-                  Dr. Tim B. Müller ist wissenschaftlicher
„Zigeunerakten“. Grundgesetzwidrig        Hintergrund oder mit Romani-Back-                 Leiter und Verwaltungsleiter beim Lan-
wurde jahrzehntelang die polizeiliche     ground. Das Ziel ist, einen Begriff zu            desverband Deutscher Sinti & Roma
Sondererfassung von Sinti und Roma        prägen, der zur Reflexion anregt und              Baden-Württemberg. Vorher arbeitete
betrieben. Der Bundesgerichtshof          Differenzen überwindet – auch inner-              er als Wissenschaftler am Hamburger
leugnete 1956 den rassistischen           halb der Minderheit. Denn ob die                  Institut für Sozialforschung.

DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019                                                                                                        3
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umgebenden Gesellschaft, und als                    Im Kaiserreich von 1871 waren Sinti               Hausbesitzer und Nachbarn, Mieter
Soldaten, Verwalter oder Polizisten                 von Anfang an Staatsbürger und doch               und Vermieter, Arbeitgeber und
konnten Sinti bis ins 18. Jahrhundert               Überwachung und Reglementierung                   Arbeitnehmer oder Vereinsmitglieder
immer wieder herausragende Stel-                    ausgesetzt. Nicht nur Bayern, wo                  Teil der Gesellschaft. Etliche kamen
lungen bei einzelnen deutschen Für-                 schon seit 1899 die „Zigeunerzen-                 in Sport oder Musik zu Berühmtheit,
sten erlangen.                                      trale“ der Polizei angesiedelt war, tat           wie der später im KZ Neuengamme
                                                    sich in der Weimarer Republik 1926                ermordete Boxer Johann Trollmann
Das Zusammenleben blieb jedoch                      durch ein diskriminierendes und ver-              oder die in Mannheim und später bei
fragil und wurde schwieriger, als                   fassungswidriges „Zigeunergesetz“                 Ulm lebenden Violinisten Johannes
mit Industrialisierung und National-                hervor, sondern auch der Sozialde-                und Albert Eckstein, die vom gerade
staatsbildung     Erwerbsgrundlagen                 mokrat und spätere Widerstands-                   erst gegründeten Süddeutschen
                                                                                                      Rundfunk übertragen wurden.

                                                                                                      Auch in ihre zumeist katholischen
                                                                                                      Kirchengemeinden waren die deut-
                                                                                                      schen Sinti und Roma integriert.
                                                                                                      Es half ihnen nichts: In Ravensburg
                                                                                                      erinnert heute ein Denkmal vor der
                                                                                                      St. Jodokskirche an die in Auschwitz
                                                                                                      ermordeten Gemeindemitglieder. Im
                                                                                                      katholischen Kinderheim St. Josefs-
                                                                                                      pflege in Mulfingen wurden junge
                                                                                                      Sinti untergebracht, deren Eltern
                                                                                                      deportiert worden waren. Eva Justin,
                                                                                                      die Assistentin des führenden NS-
                                                                                                      „Zigeunerexperten“ Robert Ritter –
                                                                                                      beide standen nach 1945 in Diensten
                                                                                                      der Stadt Frankfurt –, missbrauchte
                                                                                                      die Kinder und Jugendlichen als „For-
                                                                                                      schungsobjekte“. Nach Abschluss
                                                                                                      ihrer Doktorarbeit wurden sie am
                                                                                                      9. Mai 1944 nach Auschwitz depor-
                                                                                                      tiert. Vier von ihnen überlebten, weil
                                                                                                      sie als „arbeitsfähig“ galten. Die
                                                                                                      übrigen 35 Kinder waren unter den
                                                                                                      mehr als 4.200 Menschen, die in der
                                                                                                      Nacht vom 2. zum 3. August 1944
                                                                                                      durch Vergasung ermordet wurden.

                                                                                                      Diese Geschichte zu erforschen und
                                                                                                      zu vermitteln, sensibilisiert nicht nur
                                                                                                      gegenüber Antiziganismus. Ein sol-
                                                                                                      ches Geschichtsbewusstsein schafft
Im September 1981 besetzten Sinti-Aktivist*innen den Keller des Tübinger Uniarchivs, wo Unterlagen    darüber hinaus ein Bewusstsein für
der NS-„Rasseforschung“ aufbewahrt wurden, die auch nach 1945 genutzt worden waren. Die Forde-
rung der Bürgerrechtsbewegung, die Akten ins Bundesarchiv zu überführen, wurde erfüllt. 3.v.l.: der
                                                                                                      die Fragilität der Zivilisation. „Ich
Ulmer Ranco Brantner. Foto: NL Ranco Brantner, A-DZOK                                                 bin eine Generation nach Auschwitz
                                                                                                      geboren und mit der beunruhigenden
                                                                                                      Vorstellung aufgewachsen, dass die
                                                                                                      humanistischen Ideale und republi-
etwa als Söldner wegbrachen, der                    kämpfer Wilhelm Leuschner 1929                    kanischen Utopien jederzeit wider-
Abstieg großer Bevölkerungskreise                   mit einem „Gesetz zur Bekämpfung                  rufbar sind“, erklärte Daniel Strauß,
in die Massenarmut einsetzte und                    des Zigeunerunwesens“ in Hessen.                  dessen Vater Auschwitz überlebt
der moderne Nationalismus trium-                    Verfassungskommentatoren und Ver-                 hat. Auf eigener Erfahrung beru-
phierte. Die Stellung der Minderheit                waltungsjuristen stellten sich auf die            hend, ist damit in wenigen Worten
blieb auch im Verfassungsstaat unsi-                Seite der Minderheit, unter den Par-              auf den Punkt gebracht, was im Mit-
cher. Gleichberechtigung war eine                   teien allein die KPD.                             telpunkt guter Gedenkarbeit steht.
Utopie. In einem Brief an die würt­                                                                   Erinnerungskultur ist auch Arbeit an
tembergische Königin etwa brachten                  Aber Antiziganismus war noch nicht                der Demokratie, die nach 1945 so
ihre Sinti-Untertanen im Januar 1818                Ziel der Politik. Die Mehrheit der deut-          lange als ein delikat ausbalanciertes
den Wunsch zum Ausdruck, „nichts                    schen Sinti und Roma führte vor 1933              System von checks and balances,
mehr als nützliche Staatsbürger“ sein               ein selbstbestimmtes Leben. Männer                das die Menschenwürde und Grund-
zu dürfen. Ihr Ruf blieb ungehört. Die              kämpften für den Kaiser an der Front              rechte ins Zentrum stellt, funktioniert
württembergischen Sinti gaben den                   und wurden mit dem Eisernen Kreuz                 hat. Zunehmend erscheint der Schutz
Kampf nicht auf. Am 20. Juli 1829                   ausgezeichnet – und noch 1939 zogen               von Minderheiten fragiler, wird die
legten sie dem König einen Plan für                 etliche Sinti als Wehrmachtsange-                 Demokratie von Kräften innerhalb
die Gründung einer gemeinsamen                      hörige in den Zweiten Weltkrieg, bis              und außerhalb dieser Republik zur
„Kolonie“ vor, um sowohl dem                        sie spätestens 1942 aus dem Militär               Tyrannei der Mehrheit umgedeutet.
Wunsch nach familiärer Gemein-                      ausgeschlossen und oft direkt nach                Erinnerungskultur und Gedenkarbeit
schaft als auch den Ansprüchen                      Auschwitz deportiert wurden. Viele                werden damit umso wichtiger.
einer „bürgerlichen Verfassung“ zu                  deutsche Sinti und Roma waren bis
genügen.                                            1933 wie andere Deutsche auch als

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Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Perspektiven historischer Antiziganismusforschung

Forschungsstelle Antiziganismus in Heidelberg
Nach einer langen Periode des aka-                                                     Einen dezidiert interdisziplinären
demischen Schattendaseins hat die                                                      Zugang erfordern die vielschichtigen
Antiziganismusforschung in den                                                         medialen Repräsentationen des Anti-
letzten Jahren einen bemerkens-                                                        ziganismus. Massenmedien tradieren
werten Aufschwung erlebt. Sicht-                                                       und konservieren „Zigeuner“-Bilder
barer Ausdruck dieser Entwicklung                                                      über lange Zeiträume und prägen sie
ist die Etablierung der Forschungs-                                                    gleichsam in das kollektive Bewusst-
stelle Antiziganismus (FSA) am                                                         sein ein. Im 19. und 20. Jahrhundert
Historischen Seminar der Univer-                                                       kommt vor allem visuellen Medien
sität Heidelberg: Als erste universi-                                                  (Druckgrafik, Fotografie, Film) ent-
täre Institution mit diesem Schwer-                                                    scheidende Bedeutung bei der Aus-
punkt wurde die Forschungsstelle                                                       formung von „Zigeuner“-Stereotypen
im Juli 2017 feierlich eröffnet.                                                       und deren gesellschaftlicher Veranke-
                                                                                       rung zu.
Frank Reuter                                                                           Diesem Themenfeld widmet sich
                                                                        Foto: privat   auch der erste Band der Schriften-
                                                                                       reihe der FSA („Antiziganismusfor-
Die FSA begreift sich als Wissen-           schiedenen geografischen Räumen            schung interdisziplinär“), der jüngst
schaftsplattform, die vielfältige Per-      lassen sich Akzentuierungen oder           bei Heidelberg University Publishing
spektiven auf das historisch gewach-        Konjunkturen bestimmter Elemente           erschienen ist. Die Literatur- und
sene Phänomen des Antiziganismus            des „Zigeuner“-Bildes ausmachen,           Filmwissenschaftlerin Radmila Mla-
wie auch verschiedene methodische           die eng mit den jeweiligen Selbstbil-      denova setzt sich darin mit einem
Ansätze zusammenführt. Vorrangiges          dern zusammenhängen. So befasst            besonders wirkungsmächtigen antizi-
Ziel ist es, den Mechanismen der            sich ein Dissertationsprojekt der FSA      ganistischen Stereotyp auseinander:
antiziganistischen Vorurteilsbildung        mit der Indienstnahme des „Gitano“         dem „Zigeunern“ zugeschriebenen
auf den Grund zu gehen und deren            bei der Konstruktion einer spanischen      Raub von Kindern aus der Mehr-
spezifische Funktionen in den euro-         Identität ab Mitte des 19. Jahrhun-        heitsgesellschaft. Ausgehend von
päischen Gesellschaften – von der           derts; der Fokus liegt auf dem Fran-       Cervantes berühmter Erzählung „La
Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart         quismus.                                   gitanilla“ (erschienen 1613) nimmt
– zu untersuchen.                           Einen besonderen Stellenwert hat           die Autorin eine Bestandsaufnahme
Für die Analyse des Antiziganismus          zweifellos die Verfolgungsgeschichte       der Anpassungen des Motivs in ver-
und seiner Erscheinungsformen ist           der Sinti und Roma im Nationalso-          schiedenen visuellen Medien vor und
eine Erkenntnis der Stereotypen-            zialismus – stellt der nationalsozia-      arbeitet seine vielschichtigen Bedeu-
forschung fundamental: dass nach            listische Genozid doch die bislang         tungen und Funktionen heraus.
außen gerichtete Vorurteilskomplexe         radikalste Form antiziganistischer         Doch wäre es eine einseitige Perspek-
in ihrer Dynamik primär durch die           Politik dar. Gerade am Beispiel der        tive, Sinti und Roma nur als passive
Widersprüche der eigenen Gesell-            „Zigeuner“-Politik des NS-Staates          Objekte oder Opfer staatlicher Maß-
schaft bedingt sind, weshalb dem            lässt sich die Verschränkung von           nahmen zu betrachten. Historische
Wechselverhältnis von Fremd- und            antiziganistischem Feindbild, ras-         Antiziganismusforschung beschäftigt
Selbstbild wesentliche Bedeutung            senideologischer Utopie und staat-         sich ebenso mit den Strategien, mit
zukommt. Eine wichtige Fragestel-           lich-bürokratischer    Ausgrenzungs-       denen von Antiziganismus Betroffene
lung der Antiziganismusforschung            praxis exemplarisch untersuchen.           Stigmatisierungen begegnen. Dies
betrifft infolgedessen die Rolle von        Aus dem Zusammenwirken unter-              zeigt beispielhaft das Promotions-
„Zigeuner“-Bildern für Identitäts-          schiedlicher Faktoren resultierte ein      projekt von Daniela Gress, wissen-
konstruktionen. In unterschiedlichen        Radikalisierungsprozess bis hin zur        schaftliche Mitarbeiterin an der FSA.
historischen Epochen oder in ver-           systematischen Ermordung, den              Ihr Thema ist die Bürgerrechtsbewe-
                                            es empirisch zu analysieren gilt.          gung der deutschen Sinti und Roma,
                                            Ein Dissertationsvorhaben der FSA          die sich seit Ende der 1970er Jahre
                                            widmet sich der NS-Verfolgung der          als politische Interessenvertretung
                                            Sinti und Roma in Magdeburg; ins-          fest etablieren konnte und die öffent-
  Literaturempfehlungen:                    besondere das Zusammenwirken               liche Wahrnehmung der Minderheit
  Die genannte Studie von Radmila           von lokalen Akteuren und zentralen         nachhaltig verändert hat.
  Mladenova (in englischer Sprache) ist     Entscheidungsträgern wird in den
  abrufbar unter:                           Blick genommen. Ein weiteres an
      https://heiup.uni-heidelberg.de/      der FSA angesiedeltes Forschungs-
      catalog/series/ai.                    projekt untersucht die Kontinuitäten
  Einen guten Einstieg in die Gesamt-       des Antiziganismus in Baden-Würt­            Info
  thematik bietet Karola Fings: Sinti und   temberg nach 1945, wobei der Ver-            Dr. Frank Reuter ist wissenschaftlicher
  Roma. Geschichte einer Minderheit.        waltungsapparat ebenso einbezogen            Geschäftsführer der Forschungsstelle
  München 2016.                             wird wie Wissenschaft, Medien und            Antiziganismus.
                                            Öffentlichkeit.

DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019                                                                                                    5
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Erfolge und Herausforderungen im Kampf gegen Antiziganismus

Der Rassismus von nebenan
Der Schutz von Minderheiten
gehört zur demokratischen Kultur
und     in   Baden-Württemberg
erfahren Sinti und Roma Aner-
kennung auf Augenhöhe. Aber die
Zunahme von Antiziganismus in
ganz Europa und sogar Anschläge
hierzulande erinnern daran, dass
diese Form des Rassismus nicht
überwunden ist.

Daniel Strauß

Am 14. November 2018 wurde der
Vertrag des Landes Baden-Württem-
berg mit dem Verband Deutscher
Sinti und Roma, Landesverband
Baden-Württemberg e.V. (VDSR-
BW), geschlossen. Die Verabschie-
dung des Gesetzes zum Staats-
vertrag durch den Landtag erfolgte         Daniel Strauß, Landesvorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma BW, bei der Gedenkfeier in
mit überwältigender Mehrheit am            der St. Josefspflege in Mulfingen, 9.5.2019. Foto: Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband
19. Dezember 2018. Die Debatte im          Baden-Württemberg
Landtag an diesem Tag kann zu den
parlamentarischen Sternstunden der
jüngeren Vergangenheit in Baden-           Vernichtung, die den Erfolg, der in                 ehemalige starke Mann Salvini Res-
Württemberg gezählt werden. Sie            Baden-Württemberg erreicht wurde,                   sentiments gegen Sinti und Roma
machte die große Bedeutung des             so bemerkenswert macht. Vor dem                     an. Auch Baden-Württemberg darf
Staatsvertrags für die politische          gegenwärtigen Hintergrund anhal-                    sich nicht in Sicherheit wiegen. Die
Kultur des Landes deutlich sichtbar        tender Diskriminierung lässt sich erst              Zahlen, die etwa die Leipziger Auto-
– weit über die nationale Minderheit       ermessen, welch großer Schritt mit                  ritarismus-Studie 2018 erhoben hat,
der Sinti und Roma hinaus. Füh-            dem Staatsvertrag von 2013 getan                    sprechen eine deutliche Sprache:
rende Politikerinnen und Politiker         wurde, der 2018 auf Dauer gestellt                  Der Leipziger Studie zufolge lehnen
des Landes bekannten sich dazu,            wurde. Mit diesem Durchbruch                        56 % der Deutschen Sinti und Roma
dass sich demokratische Kultur im          wurden      die   Gleichberechtigung                in ihrer Nachbarschaft ab, 60,4 %
Respekt vor Minderheiten zeigt. Sie        und die Begegnung auf Augenhöhe                     halten Sinti und Roma für grundsätz-
erklärten, dass nach Auschwitz und         institutionell verankert. Eine neue                 lich kriminell. Die Zahlen sind in Ost-
nach dem Völkermord an den Sinti           Ära der Beziehungen zwischen                        deutschland noch höher (60,3 % und
und Roma Europas der Schutz dieser         Minderheit und „Mehrheitsgesell-                    69,2 %).
Minderheit zur Staatsräson der Bun-        schaft“, zwischen dem Staat und
desrepublik Deutschland gehört.            seinen Bürgerinnen und Bürgern mit                  Diese Zahlen sind erschreckend.
                                           Romani-Background, zwischen dem                     Dahinter kann sich ein gewalttätiges
Und doch gilt zugleich, was Minis-         Land und den als Teil des Landes in                 Potential verbergen – und es offen-
terpräsident Winfried Kretschmann          diesem Land lebenden Menschen,                      bart sich bei Brandanschlägen wie am
an diesem Dezembertag im Landtag           die neben ihrer Heimatsprache                       25. Mai 2019 auf der Schwäbischen
betonte: „Sinti und Roma sind die          Deutsch in der Regel auch ihre Mut-                 Alb (s. Seite 9), in unserem Ländle.
am stärksten diskriminierte Minder-        tersprache Romanes sprechen, ist                    Diese Zahlen zeigen auch, dass der
heit Europas“. Gerade erst stellte der     eingeläutet. Dem Staatsvertrag kam                  Kampf gegen Antiziganismus noch
am 1. Juli 2019 veröffentliche Bericht     schnell deutschland- und europaweit                 lange nicht gewonnen ist, sondern
des Beauftragten der Landesregie-          Modellcharakter zu.                                 intensiviert werden muss. Dieser
rung Baden-Württemberg gegen
Antisemitismus fest: „In Umfragen          Aber es ist noch ein langer Weg
äußern sehr viel größere Bevölke-          zu gehen, bis daraus überall in
rungsteile antiziganistische als antise-   Europa Wirklichkeit wird. Studien                     Info
mitische Einstellungen. […] Zu einer       und Umfragen zeigen die Virulenz                      Daniel Strauß ist ein führender Vertreter
konsequenten und glaubwürdigen             des Antiziganismus. In vielen Regi-                   der Bürgerrechtsbewegung von Sinti
Bekämpfung von Antisemitismus              onen Europas leben Menschen mit                       und Roma in Deutschland. Strauß ist
und Rassismus gehört also auch die         Romani-Background unter men-                          Verbandsfunktionär in verschiedenen
Überwindung des Antiziganismus“.           schenunwürdigen Bedingungen. Kör-                     Einrichtungen und seit 1995 Vorstands-
Das Bild bleibt widersprüchlich.           perliche Angriffe nehmen zu, selbst                   vorsitzender des Landesverbands Deut-
                                           rassistisch motivierte Morde an                       scher Sinti & Roma Baden-Württem-
Es ist nicht nur die lange Geschichte      Roma werden aus europäischen Län-                     berg.
von Ausgrenzung, Verfolgung und            dern gemeldet. In Italien heizte der

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Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
antiziganistische Angriff setzt die    wurde. Aber in diesen Jahrzehnten        ment, auf dem die Menschen- und
gewalttätige Rhetorik gegenüber        formierte sich eine Bürgerrechtsbe-      Minderheitenrechte errichtet sind.
Sinti und Roma in die Tat um, die im   wegung der Minderheit, die auch          Darum bedeutet es dem VDSR-BW
Europawahlkampf wieder vielerorts      zu einem Wandel der politischen          viel, künftig in der Landesarbeits-
zu erkennen war. Antiziganismus –      Kultur in Baden-Württemberg beige-       gemeinschaft der Gedenkstätten
das ist der Rassismus von nebenan.     tragen hat. So ist unser Land heute      und Gedenkstätteninitiativen mit-
Antiziganismus kann auch heute         bundesweit ein Vorbild, was die Ein-     zuwirken. Die Verteidigung unserer
noch Menschenleben kosten.             beziehung aller NS-Opfergruppen in       Erinnerungskultur und ihre Sensibili-
                                       das offizielle Gedenken an die unter     sierung für neue Herausforderungen
Diskriminierung bestimmte lange        nationalsozialistischer   Herrschaft     gehören zu den zentralen Aufgaben
den Alltag von Sinti und Roma, auch    Verfolgten und Ermordeten betrifft.      der kommenden Zeit. Auch so werden
in der Bundesrepublik. Es dauerte                                               Antisemitismus, Antiziganismus und
37 Jahre, bis der Völkermord an den    Die Erinnerung an Verfolgung und         jede andere Form gruppenbezogener
Sinti und Roma von der Regierung       Völkermord unter nationalsozialisti-     Menschenfeindlichkeit und Diskrimi-
der Bundesrepublik 1982 anerkannt      scher Herrschaft bleibt das Funda-       nierung effektiv bekämpft.

Vernetzung des Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg

Neues Mitglied der LAGG
Der Verband Deutscher Sinti und        Ermordung der Sinti und Roma unter       politische, musikalische und künstle-
Roma, Landesverband Baden-             nationalsozialistischer Herrschaft. In   rische Elemente einschließt.
Württemberg (VDSR-BW), ist seit        eine Perspektive der longue durée        In Baden-Württemberg befinden
den 1980er Jahren in der Gedenkar-     wird der Völkermord in der Aus-          sich zentrale Orte der Vorbereitung
beit aktiv und trägt mit Gedenkpro-    stellung „Mari Parmissi – Unsere         und Planung des Völkermords an
jekten und Gedenkveranstaltungen       Geschichte“ eingeordnet. In Ulm war      den Sinti und Roma. Die Festung
sowie als Dokumentationszentrum        sie im September 2019 im Rahmen          Hohenasperg nördlich von Stuttgart
zur Erinnerungskultur in Baden-        des Romno Power Festivals in der         war der zentrale südwestdeutsche
Württemberg bei. Seit diesem Jahr      vh zu sehen. Die Ausstellungen sind      Sammelort der ersten Familiende-
ist er auch Teil der Landesarbeits-    sowohl permanent im „RomnoKher“          portationen im Mai 1940 und auch
gemeinschaft der Gedenkstätten         in Mannheim als auch als Wander-         späterer Deportationen. Das Kin-
und Gedenkstätteninitiativen in        ausstellungen an unterschiedlichen       derheim St. Josefspflege in Mul-
Baden-Württemberg (LAGG).              Orten in Baden-Württemberg und           fingen ist zum Inbegriff der ras-
                                       darüber hinaus zu sehen.                 sistischen Experimente und des
Tim B. Müller                          An Schulen im ganzen Land ist der        Völkermords an Kindern geworden.
                                       VDSR-BW regelmäßig aktiv, um             Tübingen mit seiner Universität war
                                       vor Ort das Gedenken an die Opfer        ein Zentrum der Täter*innen, die als
Der VDSR-BW, eine Selbstorgani-        des Völkermords zu fördern und           Wissenschaftler*innen galten und
sation der Minderheit, die aus der     jungen Menschen nahezubringen.           noch lange nach 1945 ihr Unwesen
Bürgerrechtsbewegung der Sinti und     Er entwickelt auch gemeinsam mit         trieben. Der VDSR-BW setzte
Roma hervorgegangen ist, betreibt in   Kooperationspartner*innen wie der        1995 durch, dass in Tübingen eine
Mannheim in einem historischen, in     Stiftung Denkmal für die ermor-          Gedenktafel angebracht wurde, ist
der NS-Zeit „arisierten“ Gebäude das   deten Juden Europas, die auch das        an Gedenkfeiern in Mulfingen betei-
Kulturhaus „RomnoKher“ als einen       Denkmal für die im Nationalsozia-        ligt und hat zahlreiche Gedenkpro-
Ort der Begegnung, des Gedenkens       lismus ermordeten Sinti und Roma         jekte im ganzen Land begleitet und
und des Lernens über den Völkermord    Europas in Berlin betreut, zeitge-       Gedenkveranstaltungen       durchge-
an den Sinti und Roma Europas. Die     mäße Formen und Inhalte der Doku-        führt. Ein Projekt, an dem der VDSR-
Anerkennung des Völkermords war        mentation und des Gedenkens, die         BW aktuell in Kooperation mit der
das Schlüsselthema der frühen Bür-     die gegenwartsrelevante Auseinan-        Stadt Ravensburg arbeitet, ist die
gerrechtsarbeit.                       dersetzung von jungen Menschen           Erarbeitung eines Gedenkkonzepts
Als Dokumentationszentrum widmet       mit dem NS-Völkermord unter dem          zur Sichtbarmachung des einstigen
sich der VDSR-BW der Sammlung          Gesichtspunkt der heutigen Virulenz      NS-„Zigeunerzwangslagers“          in
von Zeitzeug*inneninterviews und       des Antiziganismus ermöglichen. Die      Ravensburg. Auch in Singen unter-
Dokumenten, der Erarbeitung und        Gedenkformate beziehen die Erin-         stützt der VDSR-BW die Stadt bei
Förderung von Publikationen sowie      nerungspraktiken der Opfergruppe         der Entwicklung des Gedenkens an
der Erstellung von Ausstellungen,      selbst ein – der Überlebenden und        den Völkermord, das auch die dort
darunter     „…       weggekommen.     ihrer Nachkommen – und zielen auf        lebenden Nachkommen der Opfer
Abschied ohne Wiederkehr“, eine        ein Mehrgenerationengedenken, das        und Angehörigen der Minderheit ein-
Dokumentation der Verfolgung und       wissenschaftliche,      pädagogische,    bezieht.

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Pädagogische Möglichkeiten, Herausforderungen und Chancen

Antiziganismusprävention an der PH Heidelberg
Als wissenschaftliche Mitarbeiterin           Geschichte angesiedelt ist. Neben der      Diskriminierungsformen einher. Erst
arbeitet Nadine Küßner an der                 Sensibilisierung für die Diskriminie-      die Verschränkung von Wissens-
Pädagogischen Hochschule Heidel-              rungsform innerhalb der Hochschule         aneignung und Reflexionsfähigkeit
berg im Projekt „Transfer Together“,          geht es bei uns um die Entwicklung         versetzt Fachkräfte in die Lage, in
Teilbereich    Antiziganismusprä-             von Multiplikator*innenworkshops,          konkreten Situationen eigene Pro-
vention. Dort ist es ihre Aufgabe,            die Etablierung des Themas in der          jektionen zu erkennen und bewusst
Lehrende und Studierende für                  Lehre sowie um eine Vernetzung von         anders zu handeln.
das Thema zu sensibilisieren. Im              Akteur*innen innerhalb und außer-          Das Wissen über die Diskriminie-
Interview   mit    DZOK-Mitarbei-             halb der Hochschule.                       rungsform Antiziganismus ist bei
terin Annette Lein spricht Nadine                                                        pädagogischen Fachkräften jedoch
Küßner über das Projekt und die               Worin besteht die Notwendigkeit            marginal und der Zugang zu Men-
Herausforderungen der Antiziga-               eines solchen Projektes?                   schen mit Romno-Hintergrund pro-
nismusprävention.                             Unser Projekt begreift Antiziga-           blemzentriert. So werden Schulab-
                                              nismus als Problem der Mehrheits-          stinenz und Sprachprobleme sowie
                                              gesellschaft; als solches muss es          die daraus resultierenden ordnungs-
                                              benannt und begriffen werden. Oft          politischen Maßnahmen als Erfah-
                                              wird Antiziganismus als Diskriminie-       rung mit der Minderheit benannt,
                                              rungsform nicht erkannt und stigma-        was wiederum deutlich macht, dass
                                              tisierende Verhaltensweisen werden         Sanktionen in der Praxis handlungs-
                                              als „normal“ angesehen. Insbeson-          leitend sind. Hierbei wird auf antizi-
                                              dere im Bildungsbereich sehen sich         ganistische Vorurteile und Stereotype
                                              Menschen mit Romno-Hintergrund             zurückgegriffen, was Pädagog*innen
                                              mit dem Vorurteil der Bildungsferne        eine schnelle Entlastung ermöglicht:
                                              konfrontiert und Antiziganismus            In dieser Logik wird Angehörigen der
                                              stellt für sie, trotz des formal gleich-   Minderheit selbst die Schuld an der
                                              berechtigten Zugangs, eine zentrale        Bildungsbenachteiligung gegeben,
                                              Bildungsbarriere dar. Hier besteht         da sie die angebotene Hilfe nicht
                                              dringender Handlungsbedarf, bereits        annehmen und Bildung ablehnen
                                              in der Lehrer*innenbildung für das         würden. Dieser Homogenisierung
                                              Thema zu sensibilisieren. Bisher ist       und Essentialisierung von Menschen
                                              es dem Engagement von einzelnen            mit Romno-Hintergrund gilt es ent-
                                              Professor*innen und Dozent*innen           gegenzuwirken – mit Präventionsan-
                                              zu verdanken, dass Antiziganismus          sätzen, die die Stärkung der Reflexi-
                                              in Seminaren thematisiert wird.            onskompetenz als Grundlage haben.
                                              Eine curriculare Verankerung in der
                Nadine Küßner. Foto: privat   Ausbildung gibt es so bisher noch          Inwiefern kann der neu entwi-
                                              nicht. Unser Projekt bietet die Mög-       ckelte virtuelle Stadtrundgang
                                              lichkeit, gemeinsam mit der Minder-        zur Geschichte der Sinti*ze und
Sie arbeiten im Projekt „Transfer             heit Strukturen an der Hochschule          Rom*nja in Heidelberg eine Ant-
Together“ Teilbereich Antiziganis-            zu schaffen, die für die Etablierung       wort auf die genannten Herausfor-
musprävention. Können Sie uns                 und Entwicklung präventiver Maß-           derungen sein?
das Projekt vorstellen?                       nahmen, Methoden und Konzepte              Wie bereits erwähnt ist die Verknüp-
„Transfer Together“ besteht aus               förderlich sind.                           fung von Reflexionsfähigkeit und
einem 15-köpfigen Team an der                                                            Wissensaneignung Grundlage einer
Pädagogischen Hochschule Heidel-              In Ihrer mit dem Karin und Carl-           diskriminierungssensiblen      päda-
berg, das in Teilprojekten an unter-          Heinrich Esser-Preis 2017 ausge-           gogischen Haltung. Hierzu gehört
schiedlichen Themen arbeitet sowie            zeichneten Masterarbeit haben Sie          nicht nur das Wissen über die Dis-
einer regionalen Transferstelle bei           ein Konzept für pädagogische Fach-         kriminierungsform Antiziganismus,
der Metropolregion Rhein-Neckar               kräfte in der Antiziganismusprä-           sondern auch die Auseinanderset-
GmbH. Ziel ist es, eine Transferkultur        vention entwickelt. Vor welchen            zung mit der Geschichte der Sinti*ze
zu etablieren, bei der regionale Koo-         besonderen        Herausforderungen        und Rom*nja in Vergangenheit und
perationen im außerschulischen                stehen nach Ihrer Einschätzung             Gegenwart. Heidelberg ist für die
Bildungsbereich gefördert und stra-           Pädagoginnen und Pädagogen?                lokalhistorische    Erinnerungskultur
tegisch ausgebaut werden. Hierbei             Die größte Herausforderung für             diesbezüglich sehr bedeutend, da
ist der bidirektionale Transfer von           Pädagog*innen ist es, eine diskrimi-       hier nicht nur die Bürgerrechtsbe-
Wissen bei der Entwicklung von Bil-           nierungssensible Haltung zu entwi-         wegung der Minderheit ihre Anfänge
dungskonzepten leitend. Gemeinsam             ckeln, die für ihre Praxis handlungslei-   nahm, sondern auch das Dokumen-
mit den Kooperationspartner*innen             tend ist. Eine solche Haltung erfordert    tations- und Kulturzentrum sowie der
sollen innovative wissenschaftliche           eine hohe Reflexionsfähigkeit und die      Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Erkenntnisse, Methoden und Kon-               Bereitschaft, eigene diskriminierende      ihren Sitz haben. Das Wissen über
zepte aus der Praxis erprobt und wei-         Verhaltensweisen zu erkennen und           die lokalen Ereignisse, ihre Voraus-
terentwickelt werden.                         sie zu verändern. Dies geht mit der        setzungen und Folgen sowie ihre
Ich arbeite im Teilprojekt Antiziga-          Aneignung von Wissen über die Funk-        Bedeutung für das Selbstbild der
nismusprävention, welches im Fach             tion und Auswirkung verschiedener          Minderheit ist wichtig, um dieses

8
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Thema als Teil der Geschichtskultur     dungsbereich erhöht. Dies kann nicht       Dr. Bettina Degner) angesiedelt ist.
zu erleben. Die mitwirkenden Studie-    nur die Aufgabe von einem Projekt          Neben der Sensibilisierung durch
renden haben sich intensiv mit den      wie dem unseren sein, welches sich         Fortbildungen, Workshops und Vor-
verschiedenen Aspekten, Ansichten,      explizit damit auseinandersetzt. Anti-     träge, geht es auch um die Forschung
und Problematiken des Antiziga-         ziganismus wird meist in der Beschäf-      zu sich verändernden Lehrer*innen-
nismus auseinandergesetzt, was mit      tigung mit Rassismus und Diskrimi-         und      Schüler*innenvorstellungen,
Hilfe von Quellen, Zeitzeug*innen-      nierung nicht mit einbezogen und           begleitende Evaluationen sowie die
und Expert*inneninterviews zu the-      findet prinzipiell im pädagogischen        Schulbuchforschung in Bezug auf
menspezifischen Beiträgen zum vir-      Arbeitsfeld kaum Erwähnung. Genau          die Darstellung der Geschichte der
tuellen Stadtrundgang geführt hat.      aus diesem Grund müssen Bil-               Sinti*ze und Rom*nja.
Sie haben mit ihrem Produkt an der      dungsstätten wie die Pädagogische
lokalen Geschichtskultur partizipiert   Hochschule Heidelberg Strukturen
und dazu beigetragen, eine bisher       schaffen, die eine Verstetigung und
marginalisierte Geschichte sichtbarer   Etablierung dieser Thematik in der           Info
zu machen.                              Ausbildung ermöglichen. 2019 wurde           Arbeitsstelle Antiziganismusprävention
                                        aus diesem Grund die Arbeitsstelle           an der PH Heidelberg:
Was sind Ihre persönlichen Visi-        Antiziganismusprävention an der                  www.azp-hd.org
onen für Ihre Arbeitsfelder?            pädagogischen Hochschule Hei-
Ich würde mir wünschen, dass sich       delberg gegründet, die am Institut           Transfer Together:
die Aufmerksamkeit für die Diskrimi-    für      Gesellschaftswissenschaften             www.transfertogether.de
nierungsform Antiziganismus im Bil-     im Fach Geschichte (Leitung: Prof.

Interventionen gegen Antiziganismus
Zwei lokale Beispiele aus Ulm

Das     erste   Romno      Power                                                   Angriff auf eine französische Roma-
Festival in Ulm vom 13.-21.                                                        Familie am 25. Mai 2019 in Dell-
September 2019 setzte auf kul-                                                     mensingen. Die Täter warfen unter
turellen Dialog und Austausch.                                                     Hass-Rufen eine brennende Fackel in
Dazu schreibt Peter Langer von der                                                 Richtung der Wohnwägen, in denen
Europäischen       Donauakademie.                                                  eine Familie mit ihrem neun Monate
Anschließend stellt ein Preisträger                                                alten Baby schlief. Auch wenn inzwi-
des auf dem Festival verliehenen                                                   schen vier Männer im Alter von 16 bis
„Kultur- und Ehrenpreises der Sinti                                                20 Jahren aus der Ulmer Region in
und Roma“, Andreas Hoffmann-                                                       Untersuchungshaft sitzen, bleibt die
Richter, aktuelle Angebote der                                                     Feststellung, dass derartige gewalt-
Evangelischen Landeskirche in                                                      tätige Angriffe europaweit ebenso
Württemberg zur Antiziganismus-                                                    zunehmen wie die Diskriminierung
arbeit in der Region Ulm vor.                                                      von Sinti und Roma.

                                                                                   Dies zeigt, wie wichtig das ROMNO
                                                                                   POWER FESTIVAL ist. Es wurde von
                                                                                   der Europäischen Donau-Akademie
                                                                                   in Zusammenarbeit mit dem baden-
Das ROMNO POWER                                                                    württembergischen Landesverband
FESTIVAL                                                                           der Sinti und Roma veranstaltet.
                                                                                   Die Vielfalt der Kultur und Lebens-
Peter Langer                                                                       welt der Sinti und Roma zu vermit-
                                        Foto: Miroslav Tancik
                                                                                   teln, ist ein bewusster Beitrag gegen
                                                                                   Vorurteile und Rassismus in unserer
Die Kultur der Sinti und Roma ist       Etwa 80 Prozent der 12 Millionen           Gesellschaft. Ganz deutlich wurde
vielfältig und außerordentlich euro-    europäischen Roma leben in Rumä-           dieser Impetus bei der Verleihung
päisch. Sie spiegelt auch die eigene    nien, Bulgarien, der Slowakei, Ungarn      des Kultur- und Ehrenpreises der
Leidensgeschichte wider: Im nati-       und Serbien – vor allem in den             Sinti und Roma 2019 in den Katego-
onalsozialistisch besetzten Europa      ärmeren und entlegenen Gebieten,           rien Bildung (an Pfarrer Andreas Hoff-
fielen mehr als 500 000 Sinti und       diskriminiert und in immer noch men-       mann-Richter), Kultur (an die öster-
Roma einem Völkermord zum Opfer,        schenunwürdigen Verhältnissen. Wie         reichische Autorin Rosa Gitta Martl)
der bis heute noch nicht vollständig    beängstigend aktuell Antiziganismus        sowie Politik und gleichberechtigte
aufgearbeitet ist.                      auch bei uns ist, zeigt der rassistische   Teilhabe (an die Vizepräsidentin des

DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019                                                                                               9
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Deutschen Bundestages Petra Pau).
Aspekte der aktuellen Lebenssitu-
ation der Sinti in der Region kamen
in einer Podiumsdiskussion in der vh
Ulm zur Sprache, die von Andreas
Hoffmann-Richter eingeleitet und
von der Autorin und Sängerin Dot-
schy Reinhardt moderiert wurde.
Die Ulmerinnen Liane Winter und
Michaela Steinberger sowie die
Ravensburgerin Nathalie Reinhardt
berichteten von früheren und heu-
tigen Ausgrenzungen aber auch
vom Versuch des Empowerment der
jüngeren Generation für ein neues
Selbstbewusstsein.

Eine Lesung klassischer deutscher
Gedichte auf Romanes, die in der KZ-
Gedenkstätte Oberer Kuhberg statt-
fand, hinterließ einen bleibenden Ein-
druck von der Sprache der größten            Verleihung des Kultur- und Ehrenpreises der Sinti und Roma im Ulmer Rathaus, 20.9.2019; 1. Reihe
Minderheit Europas. Die Rezitatorin          v.l.n.r.: Wolfgang Mayer-Ernst (Studienleiter, Evangelische Akademie Bad Boll), Pfarrer Andreas Hoff-
Ilona Lagrene, Bürgerrechtlerin und          mann-Richter, Daniel Strauß (Landesvorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma), Petra Pau
frühere Landesvorsitzende des Ver-           (Bundestagsvizepräsidentin), Ilona Lagrene (Bürgerrechtlerin, frühere Landesvorsitzende des Verbands
                                             Deutscher Sinti und Roma BW) und Rosa Gitta Martl. Foto: Miroslav Tancik
bands Deutscher Sinti und Roma in
BW, betonte die Schwierigkeiten, die
lange nur mündlich weitergegebene
Sprache zu erhalten und verwies auf
die Sprachforschungen ihres verstor-                                                              Bewerbungen um Arbeit und Woh-
benen Ehemanns Reinhold Lagrene
                                             Persönliche Begegnungen
                                                                                                  nung leiden, im Fokus. Auf Ämtern
für die Herausgabe des Gedicht-              gegen Vorurteile                                     fehlt es bei Beamten und Ange-
bandes im Jahre 2018.                                                                             stellten oft an Verständnis. Hier gibt
                                             Andreas Hoffmann-Richter                             es auf beiden Seiten Beratungsbedarf
Das Festival, das vor allem im Musik-                                                             – sowohl für Betroffene als auch für
bereich ein großes Angebot hatte,                                                                 die Behörden. Derzeit ist leider nur in
fand in Ulm ein interessiertes, weitge-      Seit 2014 fördert die Evangelische                   bescheidenem Rahmen eine Unter-
hend auch großes und begeistertes            Landeskirche in Württemberg die                      stützung der Arbeit von Jovica Arvani-
Publikum. Mit den Konzerten,                 Zusammenarbeit mit Sinti und Roma                    telli beim Landesverband möglich. Er
Lesungen, Filmen, einer historischen         durch die Einrichtung einer halben                   ist Referent in der Beratungsstelle für
Ausstellung, einer Modenschau                hauptamtlichen Stelle der Kirche, die                gleichberechtigte Teilhabe und damit
und vielen Begegnungen sollte ein            derzeit in Ulm lokalisiert ist.                      zuständig für die Beratung nichtdeut-
Beitrag gegen Rassismus und für                                                                   scher Roma in Württemberg. Diese
ein aktives und respektvolles Mit-           Der Schwerpunkt liegt in der schu-                   Arbeit ist vor allem im Armutssektor
einander in unserer Gesellschaft             lischen und außerschulischen Bil-                    so aufwändig, dass die Evangelische
gesetzt werden. Es ist geplant, das          dungsarbeit. Hierbei besteht eine                    Landessynode von Württemberg
Festival zu verstetigen.                     enge Zusammenarbeit mit dem                          im Herbst 2019 über die Schaffung
                                             Landesverband Deutscher Sinti und                    einer Stelle für Sozialarbeit durch
                                             Roma Baden-Württemberg in Mann-                      einen Rom/eine Romni beim Diako-
                                             heim. Ein kleines Team von derzeit                   nischen Werk Württemberg berät.
                                             neun Sinti, Sintize, Roma und Romnja                 Diese Person wird gegebenenfalls ab
                                             geht gemeinsam mit mir zu Schulpro-                  Februar 2020 auch obdachlose Roma
     Literaturempfehlungen                   jekten und zu Vorträgen.                             in Ulm beraten können.
                                             Die Minderheit der deutschen Sinti
     Kerem Atasever/Markus End [u.a.]:       und Roma stellt sich dabei vor – in
     Methodenhandbuch zum Thema              der Regel durch eine persönliche
     Antiziganismus. Hg. v. Alte Feuer-      Begegnung mit einer Sinteza oder
     wache. 2. Aufl., Münster 2014.          einem Sinto. Dabei sollen etwaige                       Sinti und Roma stellen
                                             Vorurteile und Stereotype sichtbar                      sich vor
     Andreas      Hoffmann-Richter/Gerhard   gemacht und entkräftet werden, um                       Zielgruppe: Alle Schularten, Sekundar-
     Ziener: Unterrichtsideen Religion       ein vorurteilsfreies und gleichberech-                  stufe ab Klasse 9
     Neu. Sonderband Antiziganismus.         tigtes Miteinander herzustellen.                        Minimalbedarf: 2 Schulstunden
     Stuttgart 2015.                                                                                 Anmeldung des für die Schule kosten-
                                             Neben der Arbeit mit Jugendlichen                       freien Projekts über:
     Landeszentrale für politische Bildung   steht der Umgang mit struktureller                      Pfarrer Andreas Hoffmann-Richter,
     Baden-Württemberg (Hg.): Antiziga-      Ausgrenzung von Menschen mit                            Biberacher Straße 122, 89079 Ulm
     nismus, Bürger und Staat, Heft 1/2-     Romno-Hintergrund, die beispiels-                       0731-9269101,         Andreas.Hoffmann-
     2018.                                   weise unter Mobbing in der Schule                       Richter@elkw.de, Sinti-Roma@elkw.de
                                             oder grundsätzlicher Ablehnung bei

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Antiziganismus als Thema neuer Arbeitsmaterialien

Neue DZOK-Publikation
Im Rahmen des Projekts „Man wird                     über den nationalsozialistischen Völ-     Texte plastisch demonstrieren, wie
ja wohl noch sagen dürfen …: Zum                     kermord an Sinti*ze und Rom*nja           die im Text als „Zigeuner“ diffa-
Umgang mit demokratiefeind-                          in Europa sowie ihre Verfolgung gibt      mierten Menschen in Kontrast zur
licher und menschenverachtender                      es Defizite. Es besteht enormer Auf-      erwünschten „deutschen“ Familie
Sprache“ erarbeitet das DZOK                         klärungsbedarf, nicht nur in Schulen,     gesetzt werden und so zu bedroh-
ein Didaktikheft mit praxisbezo-                     sondern in der ganzen Gesellschaft.       lichen „Fremden“ werden. Genutzt
genen Materialien (s. Mitteilungen                   Die gerade entstehende Broschüre          wird die stereotype Darstellung in
70/2019) – mit Arbeitsbögen auch                     richtet sich an pädagogische Fach-        dem stark belehrenden Buch, Kinder
zum Thema Antiziganismus.                            kräfte in der schulischen und außer-      vor dem Mitgehen mit unbekannten
                                                     schulischen Bildungsarbeit. Das Heft      Menschen zu warnen. Mit Hilfe
Nathalie Geyer und Mareike Wacha                     enthält neben einer Einleitung zur        der historischen Kontextualisierung
                                                     Projektgenese und einem Kapitel           sowie mit den dazu gehörenden Auf-
                                                     zur Wanderausstellung „Man wird ja        gaben lassen sich die Auswirkungen
Die Broschüre, deren Erscheinen                      wohl noch sagen dürfen“ (s. Mittei-       diskriminierender Darstellungen auf
für Anfang 2020 geplant ist, wird ein                lungen 68/2018) besagtes Didaktik-        die betroffene Gruppe sowie auf die
umfängliches Kapitel mit Arbeits-                    kapitel mit den Modulen Rassismus,        Rezipient*innen herausarbeiten.
bögen zu drei Elementen gruppen-                     Antisemitismus und Antiziganismus.        Der dritte Bogen thematisiert mittels
bezogener      Menschenfeindlichkeit                 Die mit adäquater Vorbereitung ein-       Screenshots und kritischer Stellung-
enthalten. Bei Planung der Publika-                  fach einsetzbaren Arbeitsbögen (mit       nahmen die stereotype Darstellung
tion waren wir uns bald einig, dass                  Aufgaben in zwei Niveaustufen) sind       rumänischer Rom*nja im deutschen
wir außer den Themen Rassismus                       für Jugendliche ab 15 Jahren bezie-       Jugendfilm NELLYS ABENTEUER
und Antisemitismus auch Antizi-                      hungsweise ab der 9. Klasse konzi-        (2016). Der Spielfilm reproduziert
ganismus integrieren werden. Die                     piert.                                    stellenweise Vorurteile gegenüber
erschreckende Verbreitung antizi-                    Wie bei den anderen beiden Modulen        osteuropäischen Rom*nja, ohne
ganistischer Einstellungen in der                    wird Antiziganismus anhand von            dies ausreichend in Frage zu stellen
deutschen Bevölkerung sowie die                      zwei Bögen mit historischen Quellen       oder zu brechen. Trotz heftiger Kritik
Aktualität des Themas gaben hierfür                  sowie zwei Bögen mit aktuellen            des Zentralrats Deutscher Sinti und
den Ausschlag. Laut der Autorita-                    Materialien thematisiert. Um den          Roma, einem detaillierten Gutachten
rismus-Studie 2018 hatten mehr als                   Jugendlichen den Zugang zu ermög-         und mehreren Gesprächen leugneten
die Hälfte der Befragten ein Problem                 lichen und die Einordnung zu erleich-     die Filmemacher*innen antiziganis­
damit, wenn sich Menschen mit                        tern, werden die großteils aus DZOK-      tische Darstellungen im Film. Der
Romno-Hintergrund in ihrer Gegend                    Archiv und -Bibliothek stammenden         Arbeitsbogen legt den Fokus auf die
aufhalten. (1) Antiziganismus zeigt                  Quellen kontextualisiert. Wir wollen      Kritik stereotyper Darstellung sowie
sich aktuell auch in der medialen                    vermeiden, Stereotypen lediglich zu       auf die Forderung nach anderen Bil-
Berichterstattung über „Armutsmi-                    reproduzieren, kommen aber bei der        dern von Menschen mit Romno-Hin-
gration“ mit den ewig gleichen Fotos                 Thematisierung von Antiziganismus         tergrund.
von im Müll spielenden, verdreckten                  nicht umhin, sie abzudrucken. Mit-        Die Bürgerrechtsbewegung von
Kindern in zerschlissenen Kleidern.                  tels kontextualisierender Texte, Erfah-   Sinti*ze und Rom*nja in Deutsch-
Dann wird nämlich meist nicht die                    rungsberichte,      Gegenerzählungen      land ist Thema des Arbeitsbogens 4.
sehr reale Armut thematisiert, son-                  und vor allem mit Hilfe der Aufgaben      Hier werden Menschen mit Romno-
dern die Bilder stehen bloß für „die                 befassen sich die Jugendlichen dann       Hintergrund als Akteur*innen prä-
Roma“ und es kommt lediglich zur                     mit den Auswirkungen stereotyper          sentiert. Ihr politisches Engagement,
Festigung antiziganistischer Stereo-                 Darstellungen und diskriminierender       ausgelöst durch die anhaltende Dis-
type – wer kennt schließlich andere                  Sprache.                                  kriminierung nach 1945, verdeutli-
Bilder von Menschen mit Romno-                       Der erste Bogen widmet sich der           chen wir anhand des Hungerstreiks
Hintergrund, wie sie beispielsweise                  nationalsozialistischen     Verfolgung    in der KZ-Gedenkstätte Dachau 1980.
im RomArchive (2) zu finden sind?                    von Sinti*ze und Rom*nja. In ihm          Drei Aktivisten, Ranco Brantner, Wal-
Zugleich sind Kenntnisse über Sinti*ze               erfahren die Jugendlichen anhand          lani Georg und Romani Rose, werden
und Rom*nja wenig verbreitet und                     kontextualisierter    nationalsozialis-   kurz vorgestellt und melden sich zu
stark von den oben genannten Ste-                    tischer Texte aus einem Zeitungs-         Wort. Mit diesem Bogen erarbeiten
reotypen geprägt. Auch im Wissen                     artikel und einem Biologiebuch von        die Jugendlichen auch mögliche
                                                     der rassistischen Ausgrenzung von         Antworten auf die Frage, weshalb
                                                     Sinti*ze und Rom*nja und beschäf-         die Arbeit des Zentralrats Deutscher
                                                     tigen sich mit den Erfahrungsbe-          Sinti und Roma heute immer noch
                                                     richten zweier württembergischer          wichtig ist.
                                                     Überlebender der nationalsozialis-        Mit unserer Broschüre „Man wird ja
(1) Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.): Flucht ins   tischen Verfolgung, Elisabeth Gutten-     wohl noch sagen dürfen…“ hoffen
Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte                                               wir das Thema Antiziganismus
                                                     berger und Richard Reinhardt.
der Gesellschaft; Die Leipziger Autoritarismus-
                                                     Arbeitsbogen 2 zeigt zwei Seiten          zumindest punktuell in Schulen und
Studie 2018. Gießen 2018. S. 103.
                                                     eines Kinderbuchs aus dem Jahr            andere Bildungseinrichtungen tragen
(2) https://www.romarchive.eu/de/                    1940, deren Illustrationen und            zu können.

DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019                                                                                                    11
Begleitprogramm zur Einweihung des Erinnerungszeichens am Ulmer Landgericht

Informieren, gedenken, reflektieren, gestalten
Nach vier Jahren gemeinsamer                  gemacht. Wurden doch bis heute          als auch zu den Lebensgeschichten
Planung für ein zentrales Erin-               weiterhin Gedanken und Verfahren        der „Euthanasie“-Opfer nachzulesen
nerungszeichen für die Ulmer                  über den Umgang mit chronisch           sind. Angehörige der Opfer kommen
Opfer von NS-Zwangssterilisation              kranken, altersschwachen, behin-        in einem Podiumsgespräch Anfang
und „Euthanasie“-Morden hat                   derten und „schwierigen“ Menschen       November zu Wort.
der Initiativkreis zusammen mit               entwickelt, die auf weitgehende
Mitarbeiter*innen des DZOK für                Abgrenzung und ein störungsfreies       Monatliche Mittagsgespräche am
die Wochen vor und nach dessen                Leben im Zeichen uneingeschränkter      Erinnerungszeichen bieten Interes-
Einweihung am 27. Oktober 2019                Leistungsfähigkeit hinauslaufen.        sierten Einblicke in die Thematik
ein Begleitprogramm entworfen.                Durch die Ausweitung des Ulmer          zunächst bis Mitte Januar 2020. In
                                              Gedenkens auf die Opfergruppe           einem Projekt der Kreativwerkstatt
Karin Jasbar                                  der zwangssterilisierten Menschen       Tannenhof setzen sich Menschen
                                              ergaben sich weitere schmerzhafte       mit Lernschwierigkeiten künstlerisch
                                              Erkenntnisse über staatlich organi-     mit den historischen Verbrechen aus-
 E R I NNE R U NG S Z E I C H EN
                                              sierte und juristisch verbrämte Ein-    einander. Die Bilder sind online zu
 FÜ R D I E U L M E R O P F ER V O N          griffe in das Recht auf körperliche     sehen unter: www.behindertenstif-
 NS ­Z WA NG S S T E R I L I SAT I O N        Unversehrtheit jedes Einzelnen.         tung-ulm.de/erinnerung. Einen Blick
 U ND „ E U T H A NA S I E“­ M O R D EN       Von den Details dieses Verbrechens      auf den Ist-Zustand der Gleichbe-
                                              und dem menschenverachtenden            rechtigung von Menschen mit Behin-
                                              Umgang mit den Betroffenen hatten       derungen heute wirft zum Tag der
                                              viele von uns und in unserem Umkreis    Menschenrechte am 10. Dezember
                                              bisher nur vage Vorstellungen gehabt.   die Ergänzende Unabhängige Bera-
                                              So haben unsere „Erschütterungen“       tungsstelle für Menschen mit Behin-
                                              und unsere teilweise noch offenen       derung.
                                              Fragen das Begleitprogramm zur Ein-
                                              weihung des Erinnerungszeichens         Wir danken allen Projektpartner*innen
                                              mitgeprägt:                             und Fördernden, die das vielfältige
                                                                                      Begleitprogramm ermöglichen und
                                              Im     November/Dezember       2019     ihre unterschiedlichen Perspektiven
                                              widmen sich vier wissenschaftliche      einbringen.
                                              Vorträge in der vh Ulm der patien-
                                              tenorientierten   Erinnerungsarbeit,
                                              der Zwangssterilisation von „sozi-
                                              alen Außenseitern“ und der Rolle der
                                              Ärzte und Psychiater bei den Verbre-
                                              chen. Weitere Informationsmöglich-
                                              keiten bringen eine Wanderausstel-
                                              lung zu den „Euthanasie“-Morden           Info
                                              in Grafeneck vom 28. Oktober bis          Details zum Programm finden Sie auf
 Begleitprogramm
                                              23. November im Landgericht, die          Seite 31 in diesem Mitteilungsheft und
 anlässlich der Einweihung                    eine lokale Ergänzung zum Ulmer           unter www.dzok-ulm.de.
 27. September 2019                           Erbgesundheitsgericht und den hier
 bis 30. Januar 2020                          beschlossenen      Zwangssterilisati-     Weitere Formate der Vermittlungsar-
                                              onen enthält, sowie eine Exkursion        beit und des gemeinsamen Gedenkens
Vorderseite des Flyers zum Begleitprogramm.   nach Grafeneck im Januar 2020.
Grafik: Braun Engels Gestaltung
                                                                                        sind im Entstehen, um die Erinnerung
                                                                                        an diese zwei Ulmer Opfergruppen
                                              Zum Gedenken an die Opfer finden          wachzuhalten. Dazu ist weiterhin die
Es war uns in der Initiative von              am 3. November ein ökumenischer           ideelle und finanzielle Unterstützung
Beginn an klar, dass wir uns nicht nur        Gottesdienst im Münster und eine          aus der Bürgerschaft nötig. Für Ihre
mit einem der schlimmsten Naziver-            Gedenkveranstaltung      der   Israe-     Anregungen, Fragen und weitere Betei-
brechen auseinandersetzen werden,             litischen      Religionsgemeinschaft      ligungsmöglichkeiten an diesem Erinne-
sondern auch mit Fragestellungen              Württembergs in der Synagoge              rungsprojekt finden Sie über das DZOK
des gegenwärtigen und künftigen               statt, ferner am 27. Januar 2020 ein      Ansprechpartner*innen (Tel. 0731-21312
Zusammenlebens, die viele Men-                Requiem, veranstaltet vom Arbeits-        oder info@dzok-ulm.de).
schen oftmals verdrängen. Je mehr             kreis 27. Januar Ulm/Neu-Ulm in
wir uns mit den bürokratischen, medi-         St. Michael zu den Wengen. Die            Wir freuen uns über Spenden.
zinischen und technischen Verfahren           Präsentation des Gedenkbuchs am            Stiftung Erinnerung Ulm
des staatlich geplanten Tötens von            30. Januar 2020 verbindet Gedenken         Sparkasse Ulm
nicht „effektiv einsetzbaren“ Men-            mit Aufklärung über das Geschehene.        IBAN: DE98 6305 0000 0002 7207 04
schen auseinandergesetzt haben,               Das Gedenkbuch ist eine wertvolle          BIC: SOLADES1ULM
desto mehr haben uns außer den Ver-           Ergänzung zum Erinnerungszeichen,          Verwendungszweck:
brechen auch die langen Jahrzehnte            weil hier sowohl vertiefende Infor-        Erinnerungszeichen
des Schweigens darüber betroffen              mationen zu den Tathintergründen

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