Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
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Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V. – KZ-Gedenkstätte – Mitteilungen Heft 71 / November 2019 Historischer und aktueller Antiziganismus Forschung auf Landesebene Politische und kulturelle Interventionen Pädagogische Präventivarbeit Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte · So, 17. November 2019 · 11 Uhr
Vorwort Gedenkstunde in der Ulmer KZ-Gedenkstätte für den Widerstand von 1933 bis 1945 und die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Sonntag, 17. November 2019, 11 Uhr Liebe Leserinnen und Leser, Sinti und Roma leben in Deutschland bereits seit hunderten „… Unsere Aufgabe ist also klar: von Jahren. Dennoch werden sie bis heute oftmals nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen und erfahren auf Vernichtung des Marxismus und vielen Ebenen Diskriminierung und Ausgrenzung bis hin zu Niederringung des Zentrums“ gewaltvollen Überfällen. Die Rolle der württembergischen und badischen Dass im Mai 2019 hier in der Region ein Brandanschlag Landesministerien bei der politischen Verfolgung auf eine französische Romafamilie verübt wurde, die zuvor im Nationalsozialismus die KZ-Gedenkstätte besucht hatte, war für uns Anlass, Antiziganismus zum Schwerpunktthema dieses Hefts zu Ein Gespräch mit Prof. Frank Engehausen, machen. Dazu verknüpfen wir wissenschaftliche, poli- Universität Heidelberg, und Dr. Nicola Wenge, DZOK tische und pädagogische Perspektiven und stellen sowohl Moderation: Josef Naßl überregionale als auch lokale Interventionen vor. So führt der Historiker Tim B. Müller in die wechselvolle Geschichte Ab 12.45 Uhr: Führung durch die KZ-Gedenkstätte der Sinti und Roma ein. Sein Heidelberger Kollege Frank Reuter gibt Einblicke in aktuelle Forschungsansätze der historischen Antiziganismusforschung auf Landesebene. Daniel Strauß informiert als Vertreter der Bürgerrechts- bewegung von Sinti und Roma über aktuelle Erfolge und Herausforderungen im Kampf gegen den „Rassismus von Inhalt nebenan“. Pädagogische Ansätze präsentieren Nadine Vorwort 2 Küßner sowie Nathalie Geyer und Mareike Wacha, regio- nale Interventionen Peter Langer und Andreas Hoffmann- Sinti und Roma und die Erinnerungskultur 3 Richter. Die Vorstellung des Verbandes Deutscher Sinti und Roma als neues Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Forschungsstelle Antiziganismus 5 der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen (LAGG) Strategien gegen Antiziganismus 6 rundet das Schwerpunktthema ab. Verband Deutscher Sinti und Roma in der LAGG 7 Im zweiten Teil des Heftes informieren wir Sie über Neu- Antiziganismusprävention 8 igkeiten aus dem DZOK und erinnerungskulturelle Akti- vitäten in Stadt und Region: Dazu gehört als Höhepunkt ROMNO POWER FESTIVAL in Ulm 9 unserer Arbeit die Einweihung des Erinnerungszeichens für die Ulmer Opfer von NS-Zwangssterilisation und Begegnungen gegen Vorurteile 10 „Euthanasie“-Morden mit der Vorstellung des umfang- Das Thema Antiziganismus in neuem reichen Begleitprogramms. Außerdem geht es um die DZOK-Didaktikheft 11 Umbenennung der Heilmeyersteige, einen Gedanken- austausch mit Friedensaktivist*innen aus Serbien und die Begleitprogramm zum Erinnerungszeichen Eröffnung der Dauerausstellung in der Herrlinger Linden- am Ulmer Landgericht 12 hofvilla. Umbenennung der Heilmeyersteige 13 Als Leiterin des DZOK freue ich mich sehr, dass wir zur Neue Dauerausstellung in Herrlingen 14 diesjährigen Gedenkstunde in der KZ-Gedenkstätte Prof. Frank Engehausen begrüßen dürfen. Er wird im Gespräch Friedensarbeit im ehemaligen Jugoslawien 15 mit mir neue Forschungsergebnisse zur Rolle der würt tembergischen und badischen Landesministerien bei der Konservatorische Arbeiten in der Gedenkstätte 16 Verfolgung der politischen Gegner im NS präsentieren. Praktikumsbericht Patrycja Safian 17 Herzliche Einladung dazu! Wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, nähern sich Rückblick 2019 18 schon die letzten Wochen des Jahres. Gleichzeitig befinden wir uns in einem dicht gewebten und spannenden Zyklus Neues in Kürze 22 von Veranstaltungen. Wir stehen an der Schnittstelle zwi- Neue Bücher 26 schen dem Abschluss großer Projekte und dem Beginn neuer wichtiger Vorhaben, die unsere Forschungs- und Veröffentlichungen des DZOK 30 Bildungsarbeit weiterführen. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen. DZOK-Veranstaltungen Winter/Frühjahr 31 Förderer dieser Nummer 32 Ich grüße Sie herzlich Beitrittserklärung 32 Ihre Nicola Wenge Titelbild: Auftritt des Milan Nikolic Donja Brass Orkestra im Rahmen des Ulmer ROMNO POWER FESTIVAL im Gleis 44, 14.9.2019. Foto: Miroslav Tancik 2
Die Geschichte der deutschen Sinti und Roma und die Erinnerungskultur Fragilität der Zivilisation Die Geschichte der deutschen autochthone nationale Minderheit Minderheit der Sinti und Roma ist der Sinti und Roma gemeint ist, deren vielgestaltig und zugleich wenig Status vom europäischen Rahmen- bekannt. Von Verfolgung und Ver- übereinkommen zum Schutz natio- nichtung bis zu Anerkennung und naler Minderheiten garantiert wird, Miteinander reichen die histo- die nach 1945 als „Gastarbeiter“ rischen Konstellationen. In der nach Deutschland migrierten Roma Erinnerungskultur kommt dieser aus Jugoslawien oder Griechenland, Geschichte eine besondere Bedeu- von denen viele längst deutsche tung zu, weil in ihr die Fragilität der Staatsbürger sind, die Bürgerkriegs- Zivilisation deutlich sichtbar wird. flüchtlinge der 1990er Jahre oder Roma aus neuen EU-Staaten, die seit Tim B. Müller 2007 in die Bundesrepublik kommen – die Heterogenität und kulturelle Pluralität der größten europäischen Am Nachmittag des 2. August 1944 Minderheit, in Wahrheit eine Vielzahl wurde das „Zigeunerfamilienlager“ unterschiedlicher Minderheiten, wird in Auschwitz-Birkenau „liquidiert“. im medialen und alltäglichen Sprach- Die über 4 200 Menschen – Kinder, gebrauch mit dem Begriff „Sinti und Frauen und ältere Männer – die Roma“ zumeist verdeckt. noch im Lager waren, wurden in den Gaskammern ermordet. „In dieser Tim Müller. Foto: Verband Deutscher Sinti und Aber es gilt eine lange und alles Roma, Landesverband Baden-Württemberg Nacht“, berichtete der Zeitzeuge andere als lineare Geschichte zu und Auschwitz-Häftling Alfred Fider- entdecken. Sinti sind seit 1407 im kiewicz später, „lag über dem Lager Heiligen Römischen Reich belegt. Rauch, der dichter war als Teer“. Der Charakter der nationalsozialistischen Sie wurden anfangs vielerorts will- 75. Gedenktag in diesem Jahr hat Verfolgung von Sinti und Roma bis kommen geheißen und mit kaiser- diese Ereignisse mehr als sonst ins 1943. Eine Konsequenz dieser nach- lichen Schutzbriefen versehen. Im öffentliche Bewusstsein gerückt. Die haltigen Ent-Zivilisierung von Sprache Zuge der „Türkenkriege“, die nach Deportationen und der Völkermord und Denken ist, dass bis heute noch dem Fall von Konstantinopel 1453 an den deutschen Sinti und Roma immer negative Bilder zertrüm- einsetzen, änderte sich allerdings sind wenig präsent, noch weniger mert werden müssen, die die NS- das Klima. Die neuen Einwanderer, das Morden im Osten, wo Roma oft „Zigeunerexperten“ der deutschen die ursprünglich einmal aus Indien zusammen mit Juden erschossen Gesellschaft eingepflanzt haben. gekommen und später über den wurden, oder der europaweite Wider- Balkan gezogen waren, wurden auf stand von Sinti und Roma, die in den Die Erfolge dabei sind vor allem dem dem Reichstag von Freiburg 1498 Lagern Aufstände wagten oder sich Kampf der internationalen wie der verdächtigt, Spione der Osmanen zu Partisanenverbänden und der Rési- deutschen Bürgerrechtsbewegung sein, und als Reichsfeinde geächtet. stance anschlossen. der Sinti und Roma zu verdanken, Für Jahrhunderte waren sie vogelfrei. die sich seit den 1970er Jahren for- Die Ansiedlung wurde ihnen ebenso Die Bundesrepublik hat den überle- mierte. Der von der Bürgerrechtsbe- verwehrt wie die meisten Berufe. benden Sinti und Roma in Deutsch- wegung in der Öffentlichkeit durch- Es war die Obrigkeit, die sie zur per- land nicht nur jahrzehntelang die gesetzte Doppelbegriff Sinti und manenten Migration zwang – eine Anerkennung als Opfer eines Völker- Roma führte zur Sensibilisierung und Überlebensstrategie, die Sinti von mords vorenthalten. Die Täter, viele löste das diffamierende Z-Wort ab einem deutschen Territorium, in dem von ihnen weiterhin „Experten“ in (so wie in den USA das N-Wort aus man vorübergehend geduldet wurde, Polizei, Ministerien und kommu- dem öffentlichen Diskurs verbannt in das nächste führte. Aber Sinti nalen Behörden, in Wissenschaft und ist). Das war ein Gewinn an Men- wurden nicht nur vertrieben und ver- Medien, beherrschten das Reden schenwürde: Umfragen zeigen, dass folgt. Die Gesetze und Vorschriften über Sinti und Roma. Um die eigenen Sinti und Roma das Wort „Zigeuner“ bilden nur einen Teil der vielfältigen Verbrechen zu verschleiern und Ras- fast ausnahmslos als diskriminierend sozialen Praxis ab. Grenzen waren sismus zu rechtfertigen, wurden etwa ablehnen. Es ist der Begriff, in dessen nicht undurchlässig, es gab Heiraten Deportationen bis in die 1960er Jahre Zeichen der Völkermord geschah, das zwischen der Minderheit und der sie als „relativ humane“ Maßnahmen Wort der Täter, das im zivilisierten der „Umsiedlung“ aus „kriminalprä- Gespräch keinen Platz mehr hat. ventiven“ oder „militärpolitischen“ Selbstorganisationen der Minderheit Gründen bezeichnet. Die Kriminal- sprechen mittlerweile auch über- Info polizei benutzte weiterhin die NS- greifend von Menschen mit Romno- Dr. Tim B. Müller ist wissenschaftlicher „Zigeunerakten“. Grundgesetzwidrig Hintergrund oder mit Romani-Back- Leiter und Verwaltungsleiter beim Lan- wurde jahrzehntelang die polizeiliche ground. Das Ziel ist, einen Begriff zu desverband Deutscher Sinti & Roma Sondererfassung von Sinti und Roma prägen, der zur Reflexion anregt und Baden-Württemberg. Vorher arbeitete betrieben. Der Bundesgerichtshof Differenzen überwindet – auch inner- er als Wissenschaftler am Hamburger leugnete 1956 den rassistischen halb der Minderheit. Denn ob die Institut für Sozialforschung. DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019 3
umgebenden Gesellschaft, und als Im Kaiserreich von 1871 waren Sinti Hausbesitzer und Nachbarn, Mieter Soldaten, Verwalter oder Polizisten von Anfang an Staatsbürger und doch und Vermieter, Arbeitgeber und konnten Sinti bis ins 18. Jahrhundert Überwachung und Reglementierung Arbeitnehmer oder Vereinsmitglieder immer wieder herausragende Stel- ausgesetzt. Nicht nur Bayern, wo Teil der Gesellschaft. Etliche kamen lungen bei einzelnen deutschen Für- schon seit 1899 die „Zigeunerzen- in Sport oder Musik zu Berühmtheit, sten erlangen. trale“ der Polizei angesiedelt war, tat wie der später im KZ Neuengamme sich in der Weimarer Republik 1926 ermordete Boxer Johann Trollmann Das Zusammenleben blieb jedoch durch ein diskriminierendes und ver- oder die in Mannheim und später bei fragil und wurde schwieriger, als fassungswidriges „Zigeunergesetz“ Ulm lebenden Violinisten Johannes mit Industrialisierung und National- hervor, sondern auch der Sozialde- und Albert Eckstein, die vom gerade staatsbildung Erwerbsgrundlagen mokrat und spätere Widerstands- erst gegründeten Süddeutschen Rundfunk übertragen wurden. Auch in ihre zumeist katholischen Kirchengemeinden waren die deut- schen Sinti und Roma integriert. Es half ihnen nichts: In Ravensburg erinnert heute ein Denkmal vor der St. Jodokskirche an die in Auschwitz ermordeten Gemeindemitglieder. Im katholischen Kinderheim St. Josefs- pflege in Mulfingen wurden junge Sinti untergebracht, deren Eltern deportiert worden waren. Eva Justin, die Assistentin des führenden NS- „Zigeunerexperten“ Robert Ritter – beide standen nach 1945 in Diensten der Stadt Frankfurt –, missbrauchte die Kinder und Jugendlichen als „For- schungsobjekte“. Nach Abschluss ihrer Doktorarbeit wurden sie am 9. Mai 1944 nach Auschwitz depor- tiert. Vier von ihnen überlebten, weil sie als „arbeitsfähig“ galten. Die übrigen 35 Kinder waren unter den mehr als 4.200 Menschen, die in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 durch Vergasung ermordet wurden. Diese Geschichte zu erforschen und zu vermitteln, sensibilisiert nicht nur gegenüber Antiziganismus. Ein sol- ches Geschichtsbewusstsein schafft Im September 1981 besetzten Sinti-Aktivist*innen den Keller des Tübinger Uniarchivs, wo Unterlagen darüber hinaus ein Bewusstsein für der NS-„Rasseforschung“ aufbewahrt wurden, die auch nach 1945 genutzt worden waren. Die Forde- rung der Bürgerrechtsbewegung, die Akten ins Bundesarchiv zu überführen, wurde erfüllt. 3.v.l.: der die Fragilität der Zivilisation. „Ich Ulmer Ranco Brantner. Foto: NL Ranco Brantner, A-DZOK bin eine Generation nach Auschwitz geboren und mit der beunruhigenden Vorstellung aufgewachsen, dass die humanistischen Ideale und republi- etwa als Söldner wegbrachen, der kämpfer Wilhelm Leuschner 1929 kanischen Utopien jederzeit wider- Abstieg großer Bevölkerungskreise mit einem „Gesetz zur Bekämpfung rufbar sind“, erklärte Daniel Strauß, in die Massenarmut einsetzte und des Zigeunerunwesens“ in Hessen. dessen Vater Auschwitz überlebt der moderne Nationalismus trium- Verfassungskommentatoren und Ver- hat. Auf eigener Erfahrung beru- phierte. Die Stellung der Minderheit waltungsjuristen stellten sich auf die hend, ist damit in wenigen Worten blieb auch im Verfassungsstaat unsi- Seite der Minderheit, unter den Par- auf den Punkt gebracht, was im Mit- cher. Gleichberechtigung war eine teien allein die KPD. telpunkt guter Gedenkarbeit steht. Utopie. In einem Brief an die würt Erinnerungskultur ist auch Arbeit an tembergische Königin etwa brachten Aber Antiziganismus war noch nicht der Demokratie, die nach 1945 so ihre Sinti-Untertanen im Januar 1818 Ziel der Politik. Die Mehrheit der deut- lange als ein delikat ausbalanciertes den Wunsch zum Ausdruck, „nichts schen Sinti und Roma führte vor 1933 System von checks and balances, mehr als nützliche Staatsbürger“ sein ein selbstbestimmtes Leben. Männer das die Menschenwürde und Grund- zu dürfen. Ihr Ruf blieb ungehört. Die kämpften für den Kaiser an der Front rechte ins Zentrum stellt, funktioniert württembergischen Sinti gaben den und wurden mit dem Eisernen Kreuz hat. Zunehmend erscheint der Schutz Kampf nicht auf. Am 20. Juli 1829 ausgezeichnet – und noch 1939 zogen von Minderheiten fragiler, wird die legten sie dem König einen Plan für etliche Sinti als Wehrmachtsange- Demokratie von Kräften innerhalb die Gründung einer gemeinsamen hörige in den Zweiten Weltkrieg, bis und außerhalb dieser Republik zur „Kolonie“ vor, um sowohl dem sie spätestens 1942 aus dem Militär Tyrannei der Mehrheit umgedeutet. Wunsch nach familiärer Gemein- ausgeschlossen und oft direkt nach Erinnerungskultur und Gedenkarbeit schaft als auch den Ansprüchen Auschwitz deportiert wurden. Viele werden damit umso wichtiger. einer „bürgerlichen Verfassung“ zu deutsche Sinti und Roma waren bis genügen. 1933 wie andere Deutsche auch als 4
Perspektiven historischer Antiziganismusforschung Forschungsstelle Antiziganismus in Heidelberg Nach einer langen Periode des aka- Einen dezidiert interdisziplinären demischen Schattendaseins hat die Zugang erfordern die vielschichtigen Antiziganismusforschung in den medialen Repräsentationen des Anti- letzten Jahren einen bemerkens- ziganismus. Massenmedien tradieren werten Aufschwung erlebt. Sicht- und konservieren „Zigeuner“-Bilder barer Ausdruck dieser Entwicklung über lange Zeiträume und prägen sie ist die Etablierung der Forschungs- gleichsam in das kollektive Bewusst- stelle Antiziganismus (FSA) am sein ein. Im 19. und 20. Jahrhundert Historischen Seminar der Univer- kommt vor allem visuellen Medien sität Heidelberg: Als erste universi- (Druckgrafik, Fotografie, Film) ent- täre Institution mit diesem Schwer- scheidende Bedeutung bei der Aus- punkt wurde die Forschungsstelle formung von „Zigeuner“-Stereotypen im Juli 2017 feierlich eröffnet. und deren gesellschaftlicher Veranke- rung zu. Frank Reuter Diesem Themenfeld widmet sich Foto: privat auch der erste Band der Schriften- reihe der FSA („Antiziganismusfor- Die FSA begreift sich als Wissen- schiedenen geografischen Räumen schung interdisziplinär“), der jüngst schaftsplattform, die vielfältige Per- lassen sich Akzentuierungen oder bei Heidelberg University Publishing spektiven auf das historisch gewach- Konjunkturen bestimmter Elemente erschienen ist. Die Literatur- und sene Phänomen des Antiziganismus des „Zigeuner“-Bildes ausmachen, Filmwissenschaftlerin Radmila Mla- wie auch verschiedene methodische die eng mit den jeweiligen Selbstbil- denova setzt sich darin mit einem Ansätze zusammenführt. Vorrangiges dern zusammenhängen. So befasst besonders wirkungsmächtigen antizi- Ziel ist es, den Mechanismen der sich ein Dissertationsprojekt der FSA ganistischen Stereotyp auseinander: antiziganistischen Vorurteilsbildung mit der Indienstnahme des „Gitano“ dem „Zigeunern“ zugeschriebenen auf den Grund zu gehen und deren bei der Konstruktion einer spanischen Raub von Kindern aus der Mehr- spezifische Funktionen in den euro- Identität ab Mitte des 19. Jahrhun- heitsgesellschaft. Ausgehend von päischen Gesellschaften – von der derts; der Fokus liegt auf dem Fran- Cervantes berühmter Erzählung „La Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart quismus. gitanilla“ (erschienen 1613) nimmt – zu untersuchen. Einen besonderen Stellenwert hat die Autorin eine Bestandsaufnahme Für die Analyse des Antiziganismus zweifellos die Verfolgungsgeschichte der Anpassungen des Motivs in ver- und seiner Erscheinungsformen ist der Sinti und Roma im Nationalso- schiedenen visuellen Medien vor und eine Erkenntnis der Stereotypen- zialismus – stellt der nationalsozia- arbeitet seine vielschichtigen Bedeu- forschung fundamental: dass nach listische Genozid doch die bislang tungen und Funktionen heraus. außen gerichtete Vorurteilskomplexe radikalste Form antiziganistischer Doch wäre es eine einseitige Perspek- in ihrer Dynamik primär durch die Politik dar. Gerade am Beispiel der tive, Sinti und Roma nur als passive Widersprüche der eigenen Gesell- „Zigeuner“-Politik des NS-Staates Objekte oder Opfer staatlicher Maß- schaft bedingt sind, weshalb dem lässt sich die Verschränkung von nahmen zu betrachten. Historische Wechselverhältnis von Fremd- und antiziganistischem Feindbild, ras- Antiziganismusforschung beschäftigt Selbstbild wesentliche Bedeutung senideologischer Utopie und staat- sich ebenso mit den Strategien, mit zukommt. Eine wichtige Fragestel- lich-bürokratischer Ausgrenzungs- denen von Antiziganismus Betroffene lung der Antiziganismusforschung praxis exemplarisch untersuchen. Stigmatisierungen begegnen. Dies betrifft infolgedessen die Rolle von Aus dem Zusammenwirken unter- zeigt beispielhaft das Promotions- „Zigeuner“-Bildern für Identitäts- schiedlicher Faktoren resultierte ein projekt von Daniela Gress, wissen- konstruktionen. In unterschiedlichen Radikalisierungsprozess bis hin zur schaftliche Mitarbeiterin an der FSA. historischen Epochen oder in ver- systematischen Ermordung, den Ihr Thema ist die Bürgerrechtsbewe- es empirisch zu analysieren gilt. gung der deutschen Sinti und Roma, Ein Dissertationsvorhaben der FSA die sich seit Ende der 1970er Jahre widmet sich der NS-Verfolgung der als politische Interessenvertretung Sinti und Roma in Magdeburg; ins- fest etablieren konnte und die öffent- Literaturempfehlungen: besondere das Zusammenwirken liche Wahrnehmung der Minderheit Die genannte Studie von Radmila von lokalen Akteuren und zentralen nachhaltig verändert hat. Mladenova (in englischer Sprache) ist Entscheidungsträgern wird in den abrufbar unter: Blick genommen. Ein weiteres an https://heiup.uni-heidelberg.de/ der FSA angesiedeltes Forschungs- catalog/series/ai. projekt untersucht die Kontinuitäten Einen guten Einstieg in die Gesamt- des Antiziganismus in Baden-Würt Info thematik bietet Karola Fings: Sinti und temberg nach 1945, wobei der Ver- Dr. Frank Reuter ist wissenschaftlicher Roma. Geschichte einer Minderheit. waltungsapparat ebenso einbezogen Geschäftsführer der Forschungsstelle München 2016. wird wie Wissenschaft, Medien und Antiziganismus. Öffentlichkeit. DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019 5
Erfolge und Herausforderungen im Kampf gegen Antiziganismus Der Rassismus von nebenan Der Schutz von Minderheiten gehört zur demokratischen Kultur und in Baden-Württemberg erfahren Sinti und Roma Aner- kennung auf Augenhöhe. Aber die Zunahme von Antiziganismus in ganz Europa und sogar Anschläge hierzulande erinnern daran, dass diese Form des Rassismus nicht überwunden ist. Daniel Strauß Am 14. November 2018 wurde der Vertrag des Landes Baden-Württem- berg mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg e.V. (VDSR- BW), geschlossen. Die Verabschie- dung des Gesetzes zum Staats- vertrag durch den Landtag erfolgte Daniel Strauß, Landesvorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma BW, bei der Gedenkfeier in mit überwältigender Mehrheit am der St. Josefspflege in Mulfingen, 9.5.2019. Foto: Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband 19. Dezember 2018. Die Debatte im Baden-Württemberg Landtag an diesem Tag kann zu den parlamentarischen Sternstunden der jüngeren Vergangenheit in Baden- Vernichtung, die den Erfolg, der in ehemalige starke Mann Salvini Res- Württemberg gezählt werden. Sie Baden-Württemberg erreicht wurde, sentiments gegen Sinti und Roma machte die große Bedeutung des so bemerkenswert macht. Vor dem an. Auch Baden-Württemberg darf Staatsvertrags für die politische gegenwärtigen Hintergrund anhal- sich nicht in Sicherheit wiegen. Die Kultur des Landes deutlich sichtbar tender Diskriminierung lässt sich erst Zahlen, die etwa die Leipziger Auto- – weit über die nationale Minderheit ermessen, welch großer Schritt mit ritarismus-Studie 2018 erhoben hat, der Sinti und Roma hinaus. Füh- dem Staatsvertrag von 2013 getan sprechen eine deutliche Sprache: rende Politikerinnen und Politiker wurde, der 2018 auf Dauer gestellt Der Leipziger Studie zufolge lehnen des Landes bekannten sich dazu, wurde. Mit diesem Durchbruch 56 % der Deutschen Sinti und Roma dass sich demokratische Kultur im wurden die Gleichberechtigung in ihrer Nachbarschaft ab, 60,4 % Respekt vor Minderheiten zeigt. Sie und die Begegnung auf Augenhöhe halten Sinti und Roma für grundsätz- erklärten, dass nach Auschwitz und institutionell verankert. Eine neue lich kriminell. Die Zahlen sind in Ost- nach dem Völkermord an den Sinti Ära der Beziehungen zwischen deutschland noch höher (60,3 % und und Roma Europas der Schutz dieser Minderheit und „Mehrheitsgesell- 69,2 %). Minderheit zur Staatsräson der Bun- schaft“, zwischen dem Staat und desrepublik Deutschland gehört. seinen Bürgerinnen und Bürgern mit Diese Zahlen sind erschreckend. Romani-Background, zwischen dem Dahinter kann sich ein gewalttätiges Und doch gilt zugleich, was Minis- Land und den als Teil des Landes in Potential verbergen – und es offen- terpräsident Winfried Kretschmann diesem Land lebenden Menschen, bart sich bei Brandanschlägen wie am an diesem Dezembertag im Landtag die neben ihrer Heimatsprache 25. Mai 2019 auf der Schwäbischen betonte: „Sinti und Roma sind die Deutsch in der Regel auch ihre Mut- Alb (s. Seite 9), in unserem Ländle. am stärksten diskriminierte Minder- tersprache Romanes sprechen, ist Diese Zahlen zeigen auch, dass der heit Europas“. Gerade erst stellte der eingeläutet. Dem Staatsvertrag kam Kampf gegen Antiziganismus noch am 1. Juli 2019 veröffentliche Bericht schnell deutschland- und europaweit lange nicht gewonnen ist, sondern des Beauftragten der Landesregie- Modellcharakter zu. intensiviert werden muss. Dieser rung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus fest: „In Umfragen Aber es ist noch ein langer Weg äußern sehr viel größere Bevölke- zu gehen, bis daraus überall in rungsteile antiziganistische als antise- Europa Wirklichkeit wird. Studien Info mitische Einstellungen. […] Zu einer und Umfragen zeigen die Virulenz Daniel Strauß ist ein führender Vertreter konsequenten und glaubwürdigen des Antiziganismus. In vielen Regi- der Bürgerrechtsbewegung von Sinti Bekämpfung von Antisemitismus onen Europas leben Menschen mit und Roma in Deutschland. Strauß ist und Rassismus gehört also auch die Romani-Background unter men- Verbandsfunktionär in verschiedenen Überwindung des Antiziganismus“. schenunwürdigen Bedingungen. Kör- Einrichtungen und seit 1995 Vorstands- Das Bild bleibt widersprüchlich. perliche Angriffe nehmen zu, selbst vorsitzender des Landesverbands Deut- rassistisch motivierte Morde an scher Sinti & Roma Baden-Württem- Es ist nicht nur die lange Geschichte Roma werden aus europäischen Län- berg. von Ausgrenzung, Verfolgung und dern gemeldet. In Italien heizte der 6
antiziganistische Angriff setzt die wurde. Aber in diesen Jahrzehnten ment, auf dem die Menschen- und gewalttätige Rhetorik gegenüber formierte sich eine Bürgerrechtsbe- Minderheitenrechte errichtet sind. Sinti und Roma in die Tat um, die im wegung der Minderheit, die auch Darum bedeutet es dem VDSR-BW Europawahlkampf wieder vielerorts zu einem Wandel der politischen viel, künftig in der Landesarbeits- zu erkennen war. Antiziganismus – Kultur in Baden-Württemberg beige- gemeinschaft der Gedenkstätten das ist der Rassismus von nebenan. tragen hat. So ist unser Land heute und Gedenkstätteninitiativen mit- Antiziganismus kann auch heute bundesweit ein Vorbild, was die Ein- zuwirken. Die Verteidigung unserer noch Menschenleben kosten. beziehung aller NS-Opfergruppen in Erinnerungskultur und ihre Sensibili- das offizielle Gedenken an die unter sierung für neue Herausforderungen Diskriminierung bestimmte lange nationalsozialistischer Herrschaft gehören zu den zentralen Aufgaben den Alltag von Sinti und Roma, auch Verfolgten und Ermordeten betrifft. der kommenden Zeit. Auch so werden in der Bundesrepublik. Es dauerte Antisemitismus, Antiziganismus und 37 Jahre, bis der Völkermord an den Die Erinnerung an Verfolgung und jede andere Form gruppenbezogener Sinti und Roma von der Regierung Völkermord unter nationalsozialisti- Menschenfeindlichkeit und Diskrimi- der Bundesrepublik 1982 anerkannt scher Herrschaft bleibt das Funda- nierung effektiv bekämpft. Vernetzung des Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg Neues Mitglied der LAGG Der Verband Deutscher Sinti und Ermordung der Sinti und Roma unter politische, musikalische und künstle- Roma, Landesverband Baden- nationalsozialistischer Herrschaft. In rische Elemente einschließt. Württemberg (VDSR-BW), ist seit eine Perspektive der longue durée In Baden-Württemberg befinden den 1980er Jahren in der Gedenkar- wird der Völkermord in der Aus- sich zentrale Orte der Vorbereitung beit aktiv und trägt mit Gedenkpro- stellung „Mari Parmissi – Unsere und Planung des Völkermords an jekten und Gedenkveranstaltungen Geschichte“ eingeordnet. In Ulm war den Sinti und Roma. Die Festung sowie als Dokumentationszentrum sie im September 2019 im Rahmen Hohenasperg nördlich von Stuttgart zur Erinnerungskultur in Baden- des Romno Power Festivals in der war der zentrale südwestdeutsche Württemberg bei. Seit diesem Jahr vh zu sehen. Die Ausstellungen sind Sammelort der ersten Familiende- ist er auch Teil der Landesarbeits- sowohl permanent im „RomnoKher“ portationen im Mai 1940 und auch gemeinschaft der Gedenkstätten in Mannheim als auch als Wander- späterer Deportationen. Das Kin- und Gedenkstätteninitiativen in ausstellungen an unterschiedlichen derheim St. Josefspflege in Mul- Baden-Württemberg (LAGG). Orten in Baden-Württemberg und fingen ist zum Inbegriff der ras- darüber hinaus zu sehen. sistischen Experimente und des Tim B. Müller An Schulen im ganzen Land ist der Völkermords an Kindern geworden. VDSR-BW regelmäßig aktiv, um Tübingen mit seiner Universität war vor Ort das Gedenken an die Opfer ein Zentrum der Täter*innen, die als Der VDSR-BW, eine Selbstorgani- des Völkermords zu fördern und Wissenschaftler*innen galten und sation der Minderheit, die aus der jungen Menschen nahezubringen. noch lange nach 1945 ihr Unwesen Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Er entwickelt auch gemeinsam mit trieben. Der VDSR-BW setzte Roma hervorgegangen ist, betreibt in Kooperationspartner*innen wie der 1995 durch, dass in Tübingen eine Mannheim in einem historischen, in Stiftung Denkmal für die ermor- Gedenktafel angebracht wurde, ist der NS-Zeit „arisierten“ Gebäude das deten Juden Europas, die auch das an Gedenkfeiern in Mulfingen betei- Kulturhaus „RomnoKher“ als einen Denkmal für die im Nationalsozia- ligt und hat zahlreiche Gedenkpro- Ort der Begegnung, des Gedenkens lismus ermordeten Sinti und Roma jekte im ganzen Land begleitet und und des Lernens über den Völkermord Europas in Berlin betreut, zeitge- Gedenkveranstaltungen durchge- an den Sinti und Roma Europas. Die mäße Formen und Inhalte der Doku- führt. Ein Projekt, an dem der VDSR- Anerkennung des Völkermords war mentation und des Gedenkens, die BW aktuell in Kooperation mit der das Schlüsselthema der frühen Bür- die gegenwartsrelevante Auseinan- Stadt Ravensburg arbeitet, ist die gerrechtsarbeit. dersetzung von jungen Menschen Erarbeitung eines Gedenkkonzepts Als Dokumentationszentrum widmet mit dem NS-Völkermord unter dem zur Sichtbarmachung des einstigen sich der VDSR-BW der Sammlung Gesichtspunkt der heutigen Virulenz NS-„Zigeunerzwangslagers“ in von Zeitzeug*inneninterviews und des Antiziganismus ermöglichen. Die Ravensburg. Auch in Singen unter- Dokumenten, der Erarbeitung und Gedenkformate beziehen die Erin- stützt der VDSR-BW die Stadt bei Förderung von Publikationen sowie nerungspraktiken der Opfergruppe der Entwicklung des Gedenkens an der Erstellung von Ausstellungen, selbst ein – der Überlebenden und den Völkermord, das auch die dort darunter „… weggekommen. ihrer Nachkommen – und zielen auf lebenden Nachkommen der Opfer Abschied ohne Wiederkehr“, eine ein Mehrgenerationengedenken, das und Angehörigen der Minderheit ein- Dokumentation der Verfolgung und wissenschaftliche, pädagogische, bezieht. DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019 7
Pädagogische Möglichkeiten, Herausforderungen und Chancen Antiziganismusprävention an der PH Heidelberg Als wissenschaftliche Mitarbeiterin Geschichte angesiedelt ist. Neben der Diskriminierungsformen einher. Erst arbeitet Nadine Küßner an der Sensibilisierung für die Diskriminie- die Verschränkung von Wissens- Pädagogischen Hochschule Heidel- rungsform innerhalb der Hochschule aneignung und Reflexionsfähigkeit berg im Projekt „Transfer Together“, geht es bei uns um die Entwicklung versetzt Fachkräfte in die Lage, in Teilbereich Antiziganismusprä- von Multiplikator*innenworkshops, konkreten Situationen eigene Pro- vention. Dort ist es ihre Aufgabe, die Etablierung des Themas in der jektionen zu erkennen und bewusst Lehrende und Studierende für Lehre sowie um eine Vernetzung von anders zu handeln. das Thema zu sensibilisieren. Im Akteur*innen innerhalb und außer- Das Wissen über die Diskriminie- Interview mit DZOK-Mitarbei- halb der Hochschule. rungsform Antiziganismus ist bei terin Annette Lein spricht Nadine pädagogischen Fachkräften jedoch Küßner über das Projekt und die Worin besteht die Notwendigkeit marginal und der Zugang zu Men- Herausforderungen der Antiziga- eines solchen Projektes? schen mit Romno-Hintergrund pro- nismusprävention. Unser Projekt begreift Antiziga- blemzentriert. So werden Schulab- nismus als Problem der Mehrheits- stinenz und Sprachprobleme sowie gesellschaft; als solches muss es die daraus resultierenden ordnungs- benannt und begriffen werden. Oft politischen Maßnahmen als Erfah- wird Antiziganismus als Diskriminie- rung mit der Minderheit benannt, rungsform nicht erkannt und stigma- was wiederum deutlich macht, dass tisierende Verhaltensweisen werden Sanktionen in der Praxis handlungs- als „normal“ angesehen. Insbeson- leitend sind. Hierbei wird auf antizi- dere im Bildungsbereich sehen sich ganistische Vorurteile und Stereotype Menschen mit Romno-Hintergrund zurückgegriffen, was Pädagog*innen mit dem Vorurteil der Bildungsferne eine schnelle Entlastung ermöglicht: konfrontiert und Antiziganismus In dieser Logik wird Angehörigen der stellt für sie, trotz des formal gleich- Minderheit selbst die Schuld an der berechtigten Zugangs, eine zentrale Bildungsbenachteiligung gegeben, Bildungsbarriere dar. Hier besteht da sie die angebotene Hilfe nicht dringender Handlungsbedarf, bereits annehmen und Bildung ablehnen in der Lehrer*innenbildung für das würden. Dieser Homogenisierung Thema zu sensibilisieren. Bisher ist und Essentialisierung von Menschen es dem Engagement von einzelnen mit Romno-Hintergrund gilt es ent- Professor*innen und Dozent*innen gegenzuwirken – mit Präventionsan- zu verdanken, dass Antiziganismus sätzen, die die Stärkung der Reflexi- in Seminaren thematisiert wird. onskompetenz als Grundlage haben. Eine curriculare Verankerung in der Nadine Küßner. Foto: privat Ausbildung gibt es so bisher noch Inwiefern kann der neu entwi- nicht. Unser Projekt bietet die Mög- ckelte virtuelle Stadtrundgang lichkeit, gemeinsam mit der Minder- zur Geschichte der Sinti*ze und Sie arbeiten im Projekt „Transfer heit Strukturen an der Hochschule Rom*nja in Heidelberg eine Ant- Together“ Teilbereich Antiziganis- zu schaffen, die für die Etablierung wort auf die genannten Herausfor- musprävention. Können Sie uns und Entwicklung präventiver Maß- derungen sein? das Projekt vorstellen? nahmen, Methoden und Konzepte Wie bereits erwähnt ist die Verknüp- „Transfer Together“ besteht aus förderlich sind. fung von Reflexionsfähigkeit und einem 15-köpfigen Team an der Wissensaneignung Grundlage einer Pädagogischen Hochschule Heidel- In Ihrer mit dem Karin und Carl- diskriminierungssensiblen päda- berg, das in Teilprojekten an unter- Heinrich Esser-Preis 2017 ausge- gogischen Haltung. Hierzu gehört schiedlichen Themen arbeitet sowie zeichneten Masterarbeit haben Sie nicht nur das Wissen über die Dis- einer regionalen Transferstelle bei ein Konzept für pädagogische Fach- kriminierungsform Antiziganismus, der Metropolregion Rhein-Neckar kräfte in der Antiziganismusprä- sondern auch die Auseinanderset- GmbH. Ziel ist es, eine Transferkultur vention entwickelt. Vor welchen zung mit der Geschichte der Sinti*ze zu etablieren, bei der regionale Koo- besonderen Herausforderungen und Rom*nja in Vergangenheit und perationen im außerschulischen stehen nach Ihrer Einschätzung Gegenwart. Heidelberg ist für die Bildungsbereich gefördert und stra- Pädagoginnen und Pädagogen? lokalhistorische Erinnerungskultur tegisch ausgebaut werden. Hierbei Die größte Herausforderung für diesbezüglich sehr bedeutend, da ist der bidirektionale Transfer von Pädagog*innen ist es, eine diskrimi- hier nicht nur die Bürgerrechtsbe- Wissen bei der Entwicklung von Bil- nierungssensible Haltung zu entwi- wegung der Minderheit ihre Anfänge dungskonzepten leitend. Gemeinsam ckeln, die für ihre Praxis handlungslei- nahm, sondern auch das Dokumen- mit den Kooperationspartner*innen tend ist. Eine solche Haltung erfordert tations- und Kulturzentrum sowie der sollen innovative wissenschaftliche eine hohe Reflexionsfähigkeit und die Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Erkenntnisse, Methoden und Kon- Bereitschaft, eigene diskriminierende ihren Sitz haben. Das Wissen über zepte aus der Praxis erprobt und wei- Verhaltensweisen zu erkennen und die lokalen Ereignisse, ihre Voraus- terentwickelt werden. sie zu verändern. Dies geht mit der setzungen und Folgen sowie ihre Ich arbeite im Teilprojekt Antiziga- Aneignung von Wissen über die Funk- Bedeutung für das Selbstbild der nismusprävention, welches im Fach tion und Auswirkung verschiedener Minderheit ist wichtig, um dieses 8
Thema als Teil der Geschichtskultur dungsbereich erhöht. Dies kann nicht Dr. Bettina Degner) angesiedelt ist. zu erleben. Die mitwirkenden Studie- nur die Aufgabe von einem Projekt Neben der Sensibilisierung durch renden haben sich intensiv mit den wie dem unseren sein, welches sich Fortbildungen, Workshops und Vor- verschiedenen Aspekten, Ansichten, explizit damit auseinandersetzt. Anti- träge, geht es auch um die Forschung und Problematiken des Antiziga- ziganismus wird meist in der Beschäf- zu sich verändernden Lehrer*innen- nismus auseinandergesetzt, was mit tigung mit Rassismus und Diskrimi- und Schüler*innenvorstellungen, Hilfe von Quellen, Zeitzeug*innen- nierung nicht mit einbezogen und begleitende Evaluationen sowie die und Expert*inneninterviews zu the- findet prinzipiell im pädagogischen Schulbuchforschung in Bezug auf menspezifischen Beiträgen zum vir- Arbeitsfeld kaum Erwähnung. Genau die Darstellung der Geschichte der tuellen Stadtrundgang geführt hat. aus diesem Grund müssen Bil- Sinti*ze und Rom*nja. Sie haben mit ihrem Produkt an der dungsstätten wie die Pädagogische lokalen Geschichtskultur partizipiert Hochschule Heidelberg Strukturen und dazu beigetragen, eine bisher schaffen, die eine Verstetigung und marginalisierte Geschichte sichtbarer Etablierung dieser Thematik in der Info zu machen. Ausbildung ermöglichen. 2019 wurde Arbeitsstelle Antiziganismusprävention aus diesem Grund die Arbeitsstelle an der PH Heidelberg: Was sind Ihre persönlichen Visi- Antiziganismusprävention an der www.azp-hd.org onen für Ihre Arbeitsfelder? pädagogischen Hochschule Hei- Ich würde mir wünschen, dass sich delberg gegründet, die am Institut Transfer Together: die Aufmerksamkeit für die Diskrimi- für Gesellschaftswissenschaften www.transfertogether.de nierungsform Antiziganismus im Bil- im Fach Geschichte (Leitung: Prof. Interventionen gegen Antiziganismus Zwei lokale Beispiele aus Ulm Das erste Romno Power Angriff auf eine französische Roma- Festival in Ulm vom 13.-21. Familie am 25. Mai 2019 in Dell- September 2019 setzte auf kul- mensingen. Die Täter warfen unter turellen Dialog und Austausch. Hass-Rufen eine brennende Fackel in Dazu schreibt Peter Langer von der Richtung der Wohnwägen, in denen Europäischen Donauakademie. eine Familie mit ihrem neun Monate Anschließend stellt ein Preisträger alten Baby schlief. Auch wenn inzwi- des auf dem Festival verliehenen schen vier Männer im Alter von 16 bis „Kultur- und Ehrenpreises der Sinti 20 Jahren aus der Ulmer Region in und Roma“, Andreas Hoffmann- Untersuchungshaft sitzen, bleibt die Richter, aktuelle Angebote der Feststellung, dass derartige gewalt- Evangelischen Landeskirche in tätige Angriffe europaweit ebenso Württemberg zur Antiziganismus- zunehmen wie die Diskriminierung arbeit in der Region Ulm vor. von Sinti und Roma. Dies zeigt, wie wichtig das ROMNO POWER FESTIVAL ist. Es wurde von der Europäischen Donau-Akademie in Zusammenarbeit mit dem baden- Das ROMNO POWER württembergischen Landesverband FESTIVAL der Sinti und Roma veranstaltet. Die Vielfalt der Kultur und Lebens- Peter Langer welt der Sinti und Roma zu vermit- Foto: Miroslav Tancik teln, ist ein bewusster Beitrag gegen Vorurteile und Rassismus in unserer Die Kultur der Sinti und Roma ist Etwa 80 Prozent der 12 Millionen Gesellschaft. Ganz deutlich wurde vielfältig und außerordentlich euro- europäischen Roma leben in Rumä- dieser Impetus bei der Verleihung päisch. Sie spiegelt auch die eigene nien, Bulgarien, der Slowakei, Ungarn des Kultur- und Ehrenpreises der Leidensgeschichte wider: Im nati- und Serbien – vor allem in den Sinti und Roma 2019 in den Katego- onalsozialistisch besetzten Europa ärmeren und entlegenen Gebieten, rien Bildung (an Pfarrer Andreas Hoff- fielen mehr als 500 000 Sinti und diskriminiert und in immer noch men- mann-Richter), Kultur (an die öster- Roma einem Völkermord zum Opfer, schenunwürdigen Verhältnissen. Wie reichische Autorin Rosa Gitta Martl) der bis heute noch nicht vollständig beängstigend aktuell Antiziganismus sowie Politik und gleichberechtigte aufgearbeitet ist. auch bei uns ist, zeigt der rassistische Teilhabe (an die Vizepräsidentin des DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019 9
Deutschen Bundestages Petra Pau). Aspekte der aktuellen Lebenssitu- ation der Sinti in der Region kamen in einer Podiumsdiskussion in der vh Ulm zur Sprache, die von Andreas Hoffmann-Richter eingeleitet und von der Autorin und Sängerin Dot- schy Reinhardt moderiert wurde. Die Ulmerinnen Liane Winter und Michaela Steinberger sowie die Ravensburgerin Nathalie Reinhardt berichteten von früheren und heu- tigen Ausgrenzungen aber auch vom Versuch des Empowerment der jüngeren Generation für ein neues Selbstbewusstsein. Eine Lesung klassischer deutscher Gedichte auf Romanes, die in der KZ- Gedenkstätte Oberer Kuhberg statt- fand, hinterließ einen bleibenden Ein- druck von der Sprache der größten Verleihung des Kultur- und Ehrenpreises der Sinti und Roma im Ulmer Rathaus, 20.9.2019; 1. Reihe Minderheit Europas. Die Rezitatorin v.l.n.r.: Wolfgang Mayer-Ernst (Studienleiter, Evangelische Akademie Bad Boll), Pfarrer Andreas Hoff- Ilona Lagrene, Bürgerrechtlerin und mann-Richter, Daniel Strauß (Landesvorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma), Petra Pau frühere Landesvorsitzende des Ver- (Bundestagsvizepräsidentin), Ilona Lagrene (Bürgerrechtlerin, frühere Landesvorsitzende des Verbands Deutscher Sinti und Roma BW) und Rosa Gitta Martl. Foto: Miroslav Tancik bands Deutscher Sinti und Roma in BW, betonte die Schwierigkeiten, die lange nur mündlich weitergegebene Sprache zu erhalten und verwies auf die Sprachforschungen ihres verstor- Bewerbungen um Arbeit und Woh- benen Ehemanns Reinhold Lagrene Persönliche Begegnungen nung leiden, im Fokus. Auf Ämtern für die Herausgabe des Gedicht- gegen Vorurteile fehlt es bei Beamten und Ange- bandes im Jahre 2018. stellten oft an Verständnis. Hier gibt Andreas Hoffmann-Richter es auf beiden Seiten Beratungsbedarf Das Festival, das vor allem im Musik- – sowohl für Betroffene als auch für bereich ein großes Angebot hatte, die Behörden. Derzeit ist leider nur in fand in Ulm ein interessiertes, weitge- Seit 2014 fördert die Evangelische bescheidenem Rahmen eine Unter- hend auch großes und begeistertes Landeskirche in Württemberg die stützung der Arbeit von Jovica Arvani- Publikum. Mit den Konzerten, Zusammenarbeit mit Sinti und Roma telli beim Landesverband möglich. Er Lesungen, Filmen, einer historischen durch die Einrichtung einer halben ist Referent in der Beratungsstelle für Ausstellung, einer Modenschau hauptamtlichen Stelle der Kirche, die gleichberechtigte Teilhabe und damit und vielen Begegnungen sollte ein derzeit in Ulm lokalisiert ist. zuständig für die Beratung nichtdeut- Beitrag gegen Rassismus und für scher Roma in Württemberg. Diese ein aktives und respektvolles Mit- Der Schwerpunkt liegt in der schu- Arbeit ist vor allem im Armutssektor einander in unserer Gesellschaft lischen und außerschulischen Bil- so aufwändig, dass die Evangelische gesetzt werden. Es ist geplant, das dungsarbeit. Hierbei besteht eine Landessynode von Württemberg Festival zu verstetigen. enge Zusammenarbeit mit dem im Herbst 2019 über die Schaffung Landesverband Deutscher Sinti und einer Stelle für Sozialarbeit durch Roma Baden-Württemberg in Mann- einen Rom/eine Romni beim Diako- heim. Ein kleines Team von derzeit nischen Werk Württemberg berät. neun Sinti, Sintize, Roma und Romnja Diese Person wird gegebenenfalls ab geht gemeinsam mit mir zu Schulpro- Februar 2020 auch obdachlose Roma Literaturempfehlungen jekten und zu Vorträgen. in Ulm beraten können. Die Minderheit der deutschen Sinti Kerem Atasever/Markus End [u.a.]: und Roma stellt sich dabei vor – in Methodenhandbuch zum Thema der Regel durch eine persönliche Antiziganismus. Hg. v. Alte Feuer- Begegnung mit einer Sinteza oder wache. 2. Aufl., Münster 2014. einem Sinto. Dabei sollen etwaige Sinti und Roma stellen Vorurteile und Stereotype sichtbar sich vor Andreas Hoffmann-Richter/Gerhard gemacht und entkräftet werden, um Zielgruppe: Alle Schularten, Sekundar- Ziener: Unterrichtsideen Religion ein vorurteilsfreies und gleichberech- stufe ab Klasse 9 Neu. Sonderband Antiziganismus. tigtes Miteinander herzustellen. Minimalbedarf: 2 Schulstunden Stuttgart 2015. Anmeldung des für die Schule kosten- Neben der Arbeit mit Jugendlichen freien Projekts über: Landeszentrale für politische Bildung steht der Umgang mit struktureller Pfarrer Andreas Hoffmann-Richter, Baden-Württemberg (Hg.): Antiziga- Ausgrenzung von Menschen mit Biberacher Straße 122, 89079 Ulm nismus, Bürger und Staat, Heft 1/2- Romno-Hintergrund, die beispiels- 0731-9269101, Andreas.Hoffmann- 2018. weise unter Mobbing in der Schule Richter@elkw.de, Sinti-Roma@elkw.de oder grundsätzlicher Ablehnung bei 10
Antiziganismus als Thema neuer Arbeitsmaterialien Neue DZOK-Publikation Im Rahmen des Projekts „Man wird über den nationalsozialistischen Völ- Texte plastisch demonstrieren, wie ja wohl noch sagen dürfen …: Zum kermord an Sinti*ze und Rom*nja die im Text als „Zigeuner“ diffa- Umgang mit demokratiefeind- in Europa sowie ihre Verfolgung gibt mierten Menschen in Kontrast zur licher und menschenverachtender es Defizite. Es besteht enormer Auf- erwünschten „deutschen“ Familie Sprache“ erarbeitet das DZOK klärungsbedarf, nicht nur in Schulen, gesetzt werden und so zu bedroh- ein Didaktikheft mit praxisbezo- sondern in der ganzen Gesellschaft. lichen „Fremden“ werden. Genutzt genen Materialien (s. Mitteilungen Die gerade entstehende Broschüre wird die stereotype Darstellung in 70/2019) – mit Arbeitsbögen auch richtet sich an pädagogische Fach- dem stark belehrenden Buch, Kinder zum Thema Antiziganismus. kräfte in der schulischen und außer- vor dem Mitgehen mit unbekannten schulischen Bildungsarbeit. Das Heft Menschen zu warnen. Mit Hilfe Nathalie Geyer und Mareike Wacha enthält neben einer Einleitung zur der historischen Kontextualisierung Projektgenese und einem Kapitel sowie mit den dazu gehörenden Auf- zur Wanderausstellung „Man wird ja gaben lassen sich die Auswirkungen Die Broschüre, deren Erscheinen wohl noch sagen dürfen“ (s. Mittei- diskriminierender Darstellungen auf für Anfang 2020 geplant ist, wird ein lungen 68/2018) besagtes Didaktik- die betroffene Gruppe sowie auf die umfängliches Kapitel mit Arbeits- kapitel mit den Modulen Rassismus, Rezipient*innen herausarbeiten. bögen zu drei Elementen gruppen- Antisemitismus und Antiziganismus. Der dritte Bogen thematisiert mittels bezogener Menschenfeindlichkeit Die mit adäquater Vorbereitung ein- Screenshots und kritischer Stellung- enthalten. Bei Planung der Publika- fach einsetzbaren Arbeitsbögen (mit nahmen die stereotype Darstellung tion waren wir uns bald einig, dass Aufgaben in zwei Niveaustufen) sind rumänischer Rom*nja im deutschen wir außer den Themen Rassismus für Jugendliche ab 15 Jahren bezie- Jugendfilm NELLYS ABENTEUER und Antisemitismus auch Antizi- hungsweise ab der 9. Klasse konzi- (2016). Der Spielfilm reproduziert ganismus integrieren werden. Die piert. stellenweise Vorurteile gegenüber erschreckende Verbreitung antizi- Wie bei den anderen beiden Modulen osteuropäischen Rom*nja, ohne ganistischer Einstellungen in der wird Antiziganismus anhand von dies ausreichend in Frage zu stellen deutschen Bevölkerung sowie die zwei Bögen mit historischen Quellen oder zu brechen. Trotz heftiger Kritik Aktualität des Themas gaben hierfür sowie zwei Bögen mit aktuellen des Zentralrats Deutscher Sinti und den Ausschlag. Laut der Autorita- Materialien thematisiert. Um den Roma, einem detaillierten Gutachten rismus-Studie 2018 hatten mehr als Jugendlichen den Zugang zu ermög- und mehreren Gesprächen leugneten die Hälfte der Befragten ein Problem lichen und die Einordnung zu erleich- die Filmemacher*innen antiziganis damit, wenn sich Menschen mit tern, werden die großteils aus DZOK- tische Darstellungen im Film. Der Romno-Hintergrund in ihrer Gegend Archiv und -Bibliothek stammenden Arbeitsbogen legt den Fokus auf die aufhalten. (1) Antiziganismus zeigt Quellen kontextualisiert. Wir wollen Kritik stereotyper Darstellung sowie sich aktuell auch in der medialen vermeiden, Stereotypen lediglich zu auf die Forderung nach anderen Bil- Berichterstattung über „Armutsmi- reproduzieren, kommen aber bei der dern von Menschen mit Romno-Hin- gration“ mit den ewig gleichen Fotos Thematisierung von Antiziganismus tergrund. von im Müll spielenden, verdreckten nicht umhin, sie abzudrucken. Mit- Die Bürgerrechtsbewegung von Kindern in zerschlissenen Kleidern. tels kontextualisierender Texte, Erfah- Sinti*ze und Rom*nja in Deutsch- Dann wird nämlich meist nicht die rungsberichte, Gegenerzählungen land ist Thema des Arbeitsbogens 4. sehr reale Armut thematisiert, son- und vor allem mit Hilfe der Aufgaben Hier werden Menschen mit Romno- dern die Bilder stehen bloß für „die befassen sich die Jugendlichen dann Hintergrund als Akteur*innen prä- Roma“ und es kommt lediglich zur mit den Auswirkungen stereotyper sentiert. Ihr politisches Engagement, Festigung antiziganistischer Stereo- Darstellungen und diskriminierender ausgelöst durch die anhaltende Dis- type – wer kennt schließlich andere Sprache. kriminierung nach 1945, verdeutli- Bilder von Menschen mit Romno- Der erste Bogen widmet sich der chen wir anhand des Hungerstreiks Hintergrund, wie sie beispielsweise nationalsozialistischen Verfolgung in der KZ-Gedenkstätte Dachau 1980. im RomArchive (2) zu finden sind? von Sinti*ze und Rom*nja. In ihm Drei Aktivisten, Ranco Brantner, Wal- Zugleich sind Kenntnisse über Sinti*ze erfahren die Jugendlichen anhand lani Georg und Romani Rose, werden und Rom*nja wenig verbreitet und kontextualisierter nationalsozialis- kurz vorgestellt und melden sich zu stark von den oben genannten Ste- tischer Texte aus einem Zeitungs- Wort. Mit diesem Bogen erarbeiten reotypen geprägt. Auch im Wissen artikel und einem Biologiebuch von die Jugendlichen auch mögliche der rassistischen Ausgrenzung von Antworten auf die Frage, weshalb Sinti*ze und Rom*nja und beschäf- die Arbeit des Zentralrats Deutscher tigen sich mit den Erfahrungsbe- Sinti und Roma heute immer noch richten zweier württembergischer wichtig ist. Überlebender der nationalsozialis- Mit unserer Broschüre „Man wird ja (1) Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.): Flucht ins tischen Verfolgung, Elisabeth Gutten- wohl noch sagen dürfen…“ hoffen Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte wir das Thema Antiziganismus berger und Richard Reinhardt. der Gesellschaft; Die Leipziger Autoritarismus- Arbeitsbogen 2 zeigt zwei Seiten zumindest punktuell in Schulen und Studie 2018. Gießen 2018. S. 103. eines Kinderbuchs aus dem Jahr andere Bildungseinrichtungen tragen (2) https://www.romarchive.eu/de/ 1940, deren Illustrationen und zu können. DZOK-Mitteilungen Heft 71, 2019 11
Begleitprogramm zur Einweihung des Erinnerungszeichens am Ulmer Landgericht Informieren, gedenken, reflektieren, gestalten Nach vier Jahren gemeinsamer gemacht. Wurden doch bis heute als auch zu den Lebensgeschichten Planung für ein zentrales Erin- weiterhin Gedanken und Verfahren der „Euthanasie“-Opfer nachzulesen nerungszeichen für die Ulmer über den Umgang mit chronisch sind. Angehörige der Opfer kommen Opfer von NS-Zwangssterilisation kranken, altersschwachen, behin- in einem Podiumsgespräch Anfang und „Euthanasie“-Morden hat derten und „schwierigen“ Menschen November zu Wort. der Initiativkreis zusammen mit entwickelt, die auf weitgehende Mitarbeiter*innen des DZOK für Abgrenzung und ein störungsfreies Monatliche Mittagsgespräche am die Wochen vor und nach dessen Leben im Zeichen uneingeschränkter Erinnerungszeichen bieten Interes- Einweihung am 27. Oktober 2019 Leistungsfähigkeit hinauslaufen. sierten Einblicke in die Thematik ein Begleitprogramm entworfen. Durch die Ausweitung des Ulmer zunächst bis Mitte Januar 2020. In Gedenkens auf die Opfergruppe einem Projekt der Kreativwerkstatt Karin Jasbar der zwangssterilisierten Menschen Tannenhof setzen sich Menschen ergaben sich weitere schmerzhafte mit Lernschwierigkeiten künstlerisch Erkenntnisse über staatlich organi- mit den historischen Verbrechen aus- E R I NNE R U NG S Z E I C H EN sierte und juristisch verbrämte Ein- einander. Die Bilder sind online zu FÜ R D I E U L M E R O P F ER V O N griffe in das Recht auf körperliche sehen unter: www.behindertenstif- NS Z WA NG S S T E R I L I SAT I O N Unversehrtheit jedes Einzelnen. tung-ulm.de/erinnerung. Einen Blick U ND „ E U T H A NA S I E“ M O R D EN Von den Details dieses Verbrechens auf den Ist-Zustand der Gleichbe- und dem menschenverachtenden rechtigung von Menschen mit Behin- Umgang mit den Betroffenen hatten derungen heute wirft zum Tag der viele von uns und in unserem Umkreis Menschenrechte am 10. Dezember bisher nur vage Vorstellungen gehabt. die Ergänzende Unabhängige Bera- So haben unsere „Erschütterungen“ tungsstelle für Menschen mit Behin- und unsere teilweise noch offenen derung. Fragen das Begleitprogramm zur Ein- weihung des Erinnerungszeichens Wir danken allen Projektpartner*innen mitgeprägt: und Fördernden, die das vielfältige Begleitprogramm ermöglichen und Im November/Dezember 2019 ihre unterschiedlichen Perspektiven widmen sich vier wissenschaftliche einbringen. Vorträge in der vh Ulm der patien- tenorientierten Erinnerungsarbeit, der Zwangssterilisation von „sozi- alen Außenseitern“ und der Rolle der Ärzte und Psychiater bei den Verbre- chen. Weitere Informationsmöglich- keiten bringen eine Wanderausstel- lung zu den „Euthanasie“-Morden Info in Grafeneck vom 28. Oktober bis Details zum Programm finden Sie auf Begleitprogramm 23. November im Landgericht, die Seite 31 in diesem Mitteilungsheft und anlässlich der Einweihung eine lokale Ergänzung zum Ulmer unter www.dzok-ulm.de. 27. September 2019 Erbgesundheitsgericht und den hier bis 30. Januar 2020 beschlossenen Zwangssterilisati- Weitere Formate der Vermittlungsar- onen enthält, sowie eine Exkursion beit und des gemeinsamen Gedenkens Vorderseite des Flyers zum Begleitprogramm. nach Grafeneck im Januar 2020. Grafik: Braun Engels Gestaltung sind im Entstehen, um die Erinnerung an diese zwei Ulmer Opfergruppen Zum Gedenken an die Opfer finden wachzuhalten. Dazu ist weiterhin die Es war uns in der Initiative von am 3. November ein ökumenischer ideelle und finanzielle Unterstützung Beginn an klar, dass wir uns nicht nur Gottesdienst im Münster und eine aus der Bürgerschaft nötig. Für Ihre mit einem der schlimmsten Naziver- Gedenkveranstaltung der Israe- Anregungen, Fragen und weitere Betei- brechen auseinandersetzen werden, litischen Religionsgemeinschaft ligungsmöglichkeiten an diesem Erinne- sondern auch mit Fragestellungen Württembergs in der Synagoge rungsprojekt finden Sie über das DZOK des gegenwärtigen und künftigen statt, ferner am 27. Januar 2020 ein Ansprechpartner*innen (Tel. 0731-21312 Zusammenlebens, die viele Men- Requiem, veranstaltet vom Arbeits- oder info@dzok-ulm.de). schen oftmals verdrängen. Je mehr kreis 27. Januar Ulm/Neu-Ulm in wir uns mit den bürokratischen, medi- St. Michael zu den Wengen. Die Wir freuen uns über Spenden. zinischen und technischen Verfahren Präsentation des Gedenkbuchs am Stiftung Erinnerung Ulm des staatlich geplanten Tötens von 30. Januar 2020 verbindet Gedenken Sparkasse Ulm nicht „effektiv einsetzbaren“ Men- mit Aufklärung über das Geschehene. IBAN: DE98 6305 0000 0002 7207 04 schen auseinandergesetzt haben, Das Gedenkbuch ist eine wertvolle BIC: SOLADES1ULM desto mehr haben uns außer den Ver- Ergänzung zum Erinnerungszeichen, Verwendungszweck: brechen auch die langen Jahrzehnte weil hier sowohl vertiefende Infor- Erinnerungszeichen des Schweigens darüber betroffen mationen zu den Tathintergründen 12
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