3| 2020 - Der Paritätische

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                  3| 2020

Nachrichten | Berichte | Reportagen
3| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt
                                                                                         Inhalt

                                                Editorial       3

                                                Aus aktuellem Anlass
                                                Frage an die Mitglieder: Was macht Corona mit Ihnen? 4
                                                Corona: Das sagen unsere Landesverbände              6

                                                Schwerpunkt: Queer
                                                Erstes queeres Vernetzungstreffen unter dem Dach
                                                des Paritätischen Gesamtverbandes                        8
                                                Drei Fragen an Henny Engels,
                                                Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD)          9
                                                Interview mit Vava Vilde, Drag-Artist und Aktivistin    10
                                                Drei Fragen an Heike Gronski, Deutsche AIDS-Hilfe 12
                                                In Ordenstracht gegen HIV und Co.                       13
                                                Auf der Suche nach einem Zuhause                        14

                                          125
                                                „Barrierefreiheit wird nicht mitgedacht“                16
                                                Wir helfen hier und jetzt – und das ist auch gut so!    18
                                                Drei Fragen an Jörg Duden, Schwulenberatung Berlin 19
                                                Queer im Alter:
                                                Ältere Lesben und Schwule fordern Teilhabe              20
                                                Trans-Coming Out: „Und plötzlich ist der Mann an
                                                meiner Seite eine Frau.“/ Infokasten: LGBT...? Was steht
                                                wofür?22
                                                30 Jahre rat + tat in Rostock:
                                                Angekommen in der Mitte der Gesellschaft                24
                                                Drei Fragen an Malte Legenhausen, Queere Bildung e.V.26
                                                Vorgestellt: Die Akademie Waldschlösschen!              27

                                                Sozialpolitik & Verbandsrundschau
                                                Aktuelle Forderungen / Corona FAQ                      28
                                                Verhaltensprävention gegen Corona                      29
                                                Frisch gebloggt: Das Soziale in der Krise              30
                                                Frisch veröffentlicht / Aktion #LagerEvakuieren        31
                                                COVID-19: Ältere Menschen schützen                     32
                                                Kinderschutz in Corona-Zeiten                          33
                                                Einblicke in den Fachtag „Paritätische

                                          18    Freiwilligendienste für die Jugend von heute“
                                                Kinderrechte ins Grundgesetz
                                                Happy Birthday / Webzeugkoffer
                                                                                                        34
                                                                                                        35
                                                                                                        36
                                                Einkaufsvorteile nutzen! / Bildnachweise / Impressum   37

                                                             Aktuelles aus Verband
                                                                                  en auch auf
                                                       und Mitgliedsorganisation
                                                               der neuen Plattform
                                                                                 e und unter
                                                        ww w.wir-sind-paritaet.d
                                                              facebook.com/paritaet
                                                                                    itaet
                                                            bei Twitter unter @par
                                                                                       t
                                                             bei Instagram als paritae

                                                 Dieses Magazin kann als barrierefreie pdf-

                                          31     Datei im Internet heruntergeladen werden:
                                                              www.paritaet.org

2   www.der-paritaetische.de   3 | 2020
3| 2020 - Der Paritätische
Editorial

                                                     Professor Dr. Rolf Rosenbrock,
                                      Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands

Liebe Leser*innen,
die Lage von queeren Menschen, also       online offener über sich selbst berich-
von Personen, die nicht dem binären       ten können, als es im analogen Leben
Mann-Frau-Schema entsprechen, hat         möglich wäre. Gleichzeitig ist das In-
sich in den letzten Jahren und Jahr-      ternet für Jugendliche, die nicht hete-       zu fördern, das die Verschiedenheit der
zehnten in Deutschland entscheidend       rosexuell sind oder sich selbst nicht als     Menschen akzeptiert und Stigmatisie-
verbessert. Aber trotz besserer Gesetze   cis-geschlechtlich identifizieren (deren      rungen konsequent entgegenwirkt.
und breiter Aufklärungsarbeit zur         Geschlecht nicht mit dem überein-             Dazu muss auch die Bildungs- und
Vielfalt geschlechtlicher Identitäten     stimmt, das ihnen bei der Geburt zu-          Aufklärungsarbeit in den Schulen
und sexueller Orientierungen treffen      gewiesen wurde), auch der Ort, wo sie         noch stärker forciert werden.
queere Menschen nach wie vor vielfach     Exklusion erfahren. Rund 88 Prozent           Als Verband, der für Vielfalt, Respekt
auf offene und versteckte Ablehnung       der Studienteilnehmenden geben an,            und Offenheit steht, engagieren wir
und sind Diskriminierung ausgesetzt.      im Internet mindestens einmal Diskri-         uns fest an der Seite der Menschen, die
Zusätzlich befeuert werden Tendenzen      minierung wegen ihrer sexuellen Ori-          sich für die Gleichberechtigung von
der systematischen Ausgrenzung            entierung bzw. geschlechtlichen Zuge-         homo-, bi-, inter- und transgeschlecht-
durch das Erstarken rechtsextremer        hörigkeit erfahren zu haben.                  lichen Menschen einsetzen. In diesem
Kräfte, die nicht-heterosexuelle sowie                                                  Heft geben wir einen Einblick in die
inter- und trans- Menschen als nicht      Um die körperliche Erscheinung und            Arbeit Paritätischer Mitgliedsorganisa-
gleichwertig betrachten.                  Funktion von intergeschlechtlichen            tionen, die auf vielfältige Weise queer
Ein Blick in verschiedene Lebensbe-       Kindern mit den binären Geschlech-            lebende Menschen beraten und beglei-
reiche zeigt, wie stark die Kultur der    terstereotypen in Einklang zu bringen,        ten sowie gesellschaftliche Aufklä-
Zweigeschlechtlichkeit und der Hete-      finden in Deutschland immer noch              rungsarbeit leisten.
ronormativität immer noch die Gesell-     geschlechtsverändernde Eingriffe an
schaft prägen und welche negativen        ihnen statt. Eine medizinische Not-           Kein Magazin in dieser Zeit ohne Co-
Auswirkungen dies auf queere Men-         wendigkeit besteht dafür meistens             rona: in dieser Ausgabe finden Sie
schen hat.                                nicht. Zum Schutz der bio-psycho-so-          auch erste Berichte über Auswir-
Eine Studie des Deutschen Jugendin-       zialen Unversehrtheit und der ge-             kungen des Virus SARS-CoV-2 auf
stituts zeigt, dass das Internet für      schlechtlichen Selbstbestimmung ist           Einrichtungen der sozialen Arbeit,
queere Jugendliche während des Co-        ein Verbot geschlechtszuweisender             weltweites Engagement zum Schutz
ming-out-Prozesses durch Anonymität       oder -verändernder Eingriffe bei inter-       älterer Menschen und von Kindern in
und jederzeitigen Zugriff große Unter-    geschlechtlichen Kindern notwendig,           Corona-Zeiten.
stützung bietet. Sie nutzen das Web,      wenn sie nicht medizinisch zwingend
um sich zu informieren, sich mit an-      notwendig sind. Zeitgleich ist es unab-       Herzlich, Ihr Rolf Rosenbrock
deren LSBTIQ-Jugendlichen (lesbisch,      dingbar, u.a. den Beratungsanspruch
schwul, bisexuell, trans, inter, queer)   und die Beratungsangebote zu ge-
zu vernetzen oder sich für ihre Belan-    schlechtlicher Vielfalt auszudehnen.
ge zu engagieren. Es bietet ihnen auch    Politik und Gesellschaft bleiben aufge-
die Möglichkeit, authentischer als im     fordert, politische, rechtliche und sozi-
realen Leben aufzutreten, indem sie       ale Voraussetzungen sowie ein Klima

                                                                                      www.der-paritaetische.de   3 | 2020    3
3| 2020 - Der Paritätische
Aus aktuellem Anlass

Frage an die Mitglieder: Was macht Corona mit Ihnen?
Die Corona-Pandemie stellt die Wohlfahrt auf den Kopf. Unsere 10.000 Mitgliedsorga-
nisationen müssen sich seit dem Shutdown Mitte März ganz neuen und ungeahnten
Herausforderungen stellen. Täglich staunen wir im Gesamtverband, wie viele diese mei-
stern. Anlass einmal nachzufragen: Wie geht Ihr Verband oder Ihr Verein mit Corona
um und was bedeutet es für die Menschen, die Sie vertreten?                              Bei uns geht es um zwei Gruppen Men-
                                                                                         schen: um die rund 2,9 Millionen Stu-
                                              uns helfen wollen, haben Angst, uns
                                                                                         dierenden, und um die 20.000 Beschäf-
                                              den Arm zu reichen.
                                                                                         tigten der Studenten- und Studieren-
                                              Auch für uns als Verband ist die Epide-
                                                                                         denwerke. Die Studierenden versorgen
                                              mie ein Stresstest. Veranstaltungen
                                                                                         wir mit aktuellen Informationen, vor
Wie unter einem Vergrößerungsglas             werden abgesagt, Vorbereitungen rück-
                                                                                         allem zu hochschul-, arbeits-, sozial-
macht Corona überdeutlich, womit wir          abgewickelt. Das macht keinen Spaß.
                                                                                         rechtlichen Themen und zum BAföG.
auch sonst zu tun haben:                      Parallel läuft die Beratung unter deut-
                                                                                         Gerade Studierende, denen wegen der
Epidemien rufen ein großes Informati-         lich erschwerten Bedingungen weiter,
                                                                                         Corona-Pandemie die Nebenjobs weg-
onsbedürfnis hervor. Was ist mit Sexu-        nur noch telefonisch bzw. per Mail und
                                                                                         brechen, geraten in finanzielle Nöte; für
alität? Steigert HIV das Risiko? Helfen       nun auch zu Corona. Aber es lohnt sich,
                                                                                         sie setzen wir uns auf politischer Ebene
HIV-Medikamente gegen Covid-19? Wir           die Ratsuchenden sind unglaublich
                                                                                         für eine Öffnung des BAföG oder einen
haben rasch ein Infoangebot geschaf-          dankbar und die Resonanz auf Ange-
                                                                                         Notfonds ein. Die Studentenwerke
fen.                                          bote wie unseren Corona-Ratgeber un-
                                                                                         mussten ihre ganze Hochschulgastro-
Ob Drogenkonsument_innen, Sexar-              ter www.dbsv.org/corona.html ist über-
                                                                                         nomie praktisch stilllegen, dafür wer-
beiter_innen oder Migrant_innen ohne          wältigend.
                                                                                         den ihre Beratungsangebote sehr stark
Aufenthaltspapiere: In unseren margi-            Klaus Hahn, Präsident beim Deutschen
                                                                                         nachgefragt. Wir unterstützen sie mit
nalisierten Zielgruppen haben sich Not             Blinden- und Sehbehindertenverband
                                                                                         Informationen, Handreichungen, Mu-
und Gesundheitsrisiken verschärft. Wir
                                                                                         ster-Aushängen – und wir setzen uns
drängen auf Lösungen – auch für die
                                                                                         bei den Ländern dafür ein, dass die Stu-
Zeit nach Corona.
                                                                                         dentenwerke von den staatlichen Ret-
Beim Datenschutz erleben wir in atem-
                                                                                         tungsschirmen profitieren.“
beraubendem Tempo Chancen und Ri-
                                                                                                     Achim Meyer auf der Heyde,
siken. Wir treten ein für Modelle, die
                                                                                           Generalsekretär des Deutschen Studen-
Persönlichkeitsrechte achten.                 Was uns in diesen schwierigen Pande-
                                                                                               tenwerks (DSW), des Verbands der
Wie arbeiten wir in unserer Organisati-       mie-Zeiten zusammenhält, ist der un-
                                                                                               Studenten- und Studierendenwerke:
on zusammen? Auch in dieser Frage             bedingte Wille für die Menschen da zu
hat uns Corona zu Höchstleistungen            sein, die von Rheuma betroffen sind.
getrieben. Manchmal überfordert uns           Zusammen mit unseren medizinischen
das. Aber wir lernen täglich dazu.            Beratern informieren wir zum Beispiel
Quantensprünge inklusive.                     regelmäßig auf www.rheuma-liga.de
        Silke Klumb, Geschäftsführerin der    über rheumaspezifische Aspekte von
                                                                                         Bei uns im Kinderschutzbund fallen
                      Deutschen Aidshilfe     Corona-Themen. Ein regelmäßiges Up-
                                                                                         viele ehrenamtliche Kräfte aus, weil sie
                                              date, ein Online-Expertenforum, der
                                                                                         sich selbst vor Ansteckung schützen
                                              Aufbau von Online-Bewegungsangebo-
                                                                                         oder eigene Kinder betreuen müssen.
                                              ten, regionalen Info-Hotlines und erste
                                                                                         Dennoch sind wir froh über viele Rück-
                                              Selbsthilfetreffs per Videokonferenz
                                                                                         meldungen von Gliederungen, die ihre
                                              sind dabei die Maßnahmen der Stunde.
                                                                                         Arbeit so gut es geht, aufrechterhalten.
                                              Bundesweit arbeiten die Landes- und
                                                                                         Die Eltern- und Kindertelefone haben
                                              Mitgliedsverbände der Rheuma-Liga
                                                                                         ihr Angebot ausgeweitet, die Kinder
                                              zurzeit mit noch mehr Engagement
                                                                                         und Jugendlichen treffen sich mit
Blinde und sehbehinderte Menschen             und Kreativität daran, für die Betrof-
                                                                                         den Sozialarbeiter*innen auf
sind auf das Tasten und oft auch auf          fenen da zu sein. Diese Kraft und unse-
                                                                                         Instagram zur Foto-Chal-
körperliche Berührung angewiesen.             re über 50 Jahre währende Verbunden-
                                                                                         lenge und manches The-
Deshalb treffen uns Kontaktbeschrän-          heit wird uns – da bin ich mir sicher –
                                                                                         rapie-Gespräch     wird
kungen und Abstandsvorschriften be-           auch über diese weltweite Krise hinweg-
                                                                                         nun      bei    einem
sonders hart. Viele von uns trauen sich       tragen.
                                                                                         Waldspaziergang ge-
nicht mehr vor die Tür, um ja nichts                            Rotraut Schmale Grede,
                                                                                         führt. Das alles sind
falsch zu machen. Und Menschen, die             Präsidentin der Deutschen Rheuma-Liga
                                                                                         Angebote, um beste-

4     www.der-paritaetische.de     3 | 2020
3| 2020 - Der Paritätische
Aus aktuellem Anlass

hende Kontakte nach Möglichkeit nicht         dass ihr jeder Zeit recht vernünftig          schaft ein. Solidarität für den Schutz
zu verlieren. Sie sind selbstverständlich     lebt.“ Das soziale Miteinander, das gera-     von Menschen ist jetzt mehr denn je
nicht gleichwertig zu echten Gesprächen       de unsere bundesweite Kneipp-Bewe-            gefragt. Unsere Pflegekräfte leisten en-
oder regelhaften therapeutischen Ange-        gung auszeichnet, muss jetzt für einige       gagiert ihre verantwortungsvolle Arbeit
boten. Insofern hoffen auch wir, dass         Wochen ruhen, so schwer das auch              und pädagogische Fachkräfte unterstüt-
diese Krise bald überstanden ist, um          fällt. Als Deutschlands größte private        zen in anderen Bereichen. Unser fahr-
bald wieder in voller Stärke für die Kin-     Gesundheitsorganisation müssen wir            barer Mittagstisch wurde ausgebaut.
der da zu sein.                               unsere Werte wie Solidarität, Rücksicht-      Wir haben Freiwilligen-Pools und Hil-
              Heinz Hilgers, Präsident des    nahme und Teamgeist unter Beweis              fe-Hotlines eingerichtet und organisie-
           Deutschen Kinderschutzbundes       stellen und damit einen wirkungsvollen        ren eine Spendenaktion für die von Iso-
                  Bundesverband (DSKB)        Beitrag zum Meistern dieser gesell-           lation betroffenen Pflegebedürftigen.
                                              schaftlichen Krise leisten. Mit unserer       Die Forderungen der Volkssolidarität
Bei     allem                                 Serie „Kneipp-Tipps für daheim“ (www.         nach Schutzausstattung in der Altenpfle-
was wir tun                                   kneippbund.de/wer-wir-sind/videos) ge-        ge und gegen die Isolation von Älteren
hat die Ge-                                   ben wir aktuell Anregungen, was jeder         zeigen Wirkung. Unser Kampf gegen
sundheit                                      selbst für die eigene Gesundheit tun          Armut und soziales Auseinandertriften
und Sicher-                                   kann.                                         wird erheblich zunehmen.
heit     unserer      Freiwilligen    und                             Klaus Holetschek,                   Dr. Wolfram Friedersdorff,
Mitarbeiter*innen oberste Priorität. Für                                      Präsident
unsere konkrete Arbeit bedeutet das:                                       Kneipp-Bund
Wir holen unsere Freiwilligen aus dem                                               e.V.
Ausland zurück, haben Veranstal-
tungen, Seminare, Bildungstage für die                                     Der Groß-
nächsten Wochen abgesagt und arbei-           teil unserer Ehrenamtlichen ist älter                      Präsident der Volkssolidarität
ten aus dem Homeoffice. Wir nutzen            und muss sich schützen. Lebensmittel-
digitale Alternativen, sei es für Vi-deo-     spenden sind zwischenzeitlich wegen           Die Mitgliedsorganisationen des bvkm
konferenzen oder bei der Umstellung           Hamster-Käufen         zurückgegangen.        kämpfen mit vielfältigen Ängsten und
auf Online-Seminare. Den kommen-              Gleichzeitig suchen wegen Kurzarbeit          Sorgen. Sowohl in den Einrichtungen
den Zyklus unserer Freiwilligendienste        oder Jobverlust mehr Menschen Hilfe           als auch in den Familien fehlen ausrei-
planen wir sorgfältig optimistisch, freu-     bei den Tafeln. Mit Unterstützung jün-        chend Schutzmasken und -kleidung.
en uns über Bewerbungen, verfolgen            gerer Helfer*innen und Spenden orga-          Viele Familien im bvkm stehen vor be-
aktuelle Entwicklungen jedoch genau.          nisieren viele Tafeln Lieferdienste oder      sonderen Herausforderungen, die sich
Auch wenn die Corona-Krise unsere Ar-         die Abgabe von vorgepackten Tüten im          durch die Schließungen von Schulen,
beit vor Herausforderungen stellt, ver-       Freien. Aber nicht überall ist das mög-       Werkstätten und anderen Angeboten
lieren wir nicht den Blick auf gesell-        lich. Über 350 Tafeln sind noch ge-           ergeben. Die Kontaktsperren stellen für
schaftliche Verhältnisse und Menschen,        schlossen. Wir sind in Sorge um Men-          Menschen mit Behinderungen eine
die ganz akut von der Krise bedroht           schen, die sowieso schon wenig haben.         starke Belastung dar.
sind.                                         Familien müssen ihre Kinder vollstän-         Unser Verband setzt sich auch in diesen
        Katrin Bäumler, Geschäftsführerin     dig zuhause versorgen, ältere Menschen        herausfordernden Zeiten für die Inte-
      Internationale Jugendgemeinschafts-     vereinsamen. Wir brauchen jetzt poli-         ressen seiner Mitglieder ein und hat ein
        dienste (ijgd) – Bundesverein e. V.   tische Unterstützung für bedürftige           kritisches Auge auf die aktuellen politi-
                                              Menschen, aber auch für die Tafeln.           schen Entwicklungen.
                                              Eigentlich sind wir Begegnungsorte            Gemeinsam mit den Fachverbänden
                                              und helfen nicht nur mit Lebensmit-           für Menschen mit Behinderungen
                                              teln, sondern auch gegen Einsamkeit.          setzt sich der bvkm für eine stärkere
                                                                          Jochen Brühl,     Beachtung der Menschen mit Behin-
                                                                Vorsitzender der Tafeln     derungen und ihrer besonderen Be-
      Es ist aktuell noch zu früh, die                                                      dürfnisse bei allen politischen Vorha-
         konkreten Auswirkungen auf           Seit 75 Jahren vertritt die Volkssolidari-    ben in dieser Krise ein. Darin werden
             den Kneipp-Bund und die          tät die Inte-                                 wir auch bei allmählicher Rückkehr
               über 500 Kneipp-Vereine        ressen     der                                zur Normalität nicht nachlassen!
                abschätzen zu können.         Mensc hen,
                 Um es mit Sebastian          die     bereits                                             Helga Kiel, Vorsitzende des
                 Kneipp zu sagen: „Ich        vor der Coro-                                          Bundesverbands für körper- und
                  will euch nur auf-          na-Krise benachteiligt wurden und                    mehrfachbehinderte Menschen e.V.
                  merksam     machen,         setzt sich für eine solidarische Gesell-

                                                                                           www.der-paritaetische.de    3 | 2020      5
3| 2020 - Der Paritätische
Aus aktuellem Anlass

Corona: Das sagen unsere Landesverbände
                                                                                             rg
                                                                            Baden-Wür ttembe
Wie hilft der Paritätische in Ihrem Bundesland den Mitgliedsorgani-
sationen durch die Krise? Welche Besonderheiten gibt es vielleicht     „Social Distancing“ und #Stayathome stellt Sozialunternehmen vor
vor Ort und was machen unsere 15 Landesverbande in Corona-             neue akute Herausforderungen. Mit dem ersten sozialen 24-Stun-
Zeiten. Wir haben nachgefragt!                                         den-Hackathon „Care hackt Corona“ unterstützen wir unsere
                                                                       über 880 Mitgliedsorganisationen dabei, in interdisziplinären Teams
Weitere Beiträge zu Corona finden Sie auch unter „Sozialpolitik“       gemeinsam an innovativen Lösungen für die Betreuung und Beglei-
und „Verbandsrundschau“ ab Seite 28.                                   tung von Klient*innen in Zeiten von Corona zu arbeiten.
                                                                                        Ursel Wolfgramm, Vorstandsvorsitzende des
                                                                                                   Paritätischen Baden-Württemberg

            Bayern                                                                 Berlin

In Bayern arbeiten wir vor allem an zwei Baustellen: Erstens           Die zuverlässige Finanzierung der sozialen Arbeit – egal in wel-
kämpfen wir für einen bayerischen Schutzschirm Soziales, damit         chem Feld – muss auch in der jetzigen Zeit sichergestellt sein,
unsere Mitglieder in der Krise finanziell abgesichert sind. Zweitens   denn die Arbeit wird ja erbracht, nur eben teilweise etwas anders.
dringen wir darauf, alle sozialen Dienste und Einrichtungen mit        Extrem wichtig ist auch, dass alle sozialen Dienstleister ausrei-
dem notwendigen Infektionsschutz auszustatten.                         chend Schutzausrüstung bekommen. Dafür setzen wir uns konti-
                                                                       nuierlich ein.
         Margit Berndl, Vorstand Verbands- und Sozialpolitik                                                    Dr. Gabriele Schlimper,
                                 des Paritätischen in Bayern                            Geschäftsführerin des Paritätischen in Berlin

         Brandenburg                                                               Bremen

 Wir kämpfen an verschiedenen Fronten für eine Belieferung der         Die Corona-Epidemie stellt uns alle vor große Herausforde-
 Pflegeeinrichtungen mit Schutzausrüstung. Wir haben uns an die        rungen. Wir als Paritätischer Bremen helfen, die Krise zu mana-
 Öffentlichkeit gewandt und drängten sowohl gegenüber der Lan-         gen – für unsere Mitglieder und natürlich für die Menschen, die
 desregierung wie auch den Kreisen/ Kommunen auf eine entspre-         sie pflegen und betreuen. Schutzmaterialien, Kurzarbeitergeld,
 chende Versorgung der Träger. Uns ist es in Eigenregie gelungen       Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, Handlungsanweisungen für Ein-
 für 100.000 Euro zertifizierte Schutzmasken zu bestellen.             richtungen... Das sind nur einige der vielen Themen, die wir klä-
                                            Andreas Kaczynski,         ren und abstimmen müssen.
        Vorstandsvorsitzender des Paritätischen Brandenburg                             Wolfgang Luz, Vorstand Paritätischer Bremen

            Hamburg                                                                Hessen

 Fast rund um die Uhr stehen wir in Video- und Telefonkonfe-           Soziale Fachkräfte und Unterstützung dorthin zu vermitteln, wo
 renzen unseren Mitgliedern mit Rat und Tat zur Seite, v.a. bei        sie jetzt dringend gebraucht werden – dafür haben wir eine Ver-
 Fragen rund um Hygienemanagement, Schutzausrüstung und fi-            mittlungsbörse gestartet. Manche Mitgliedsorganisationen haben
 nanzielle Schutzschirme wie das SodEG. Trotz Social Distancing        jetzt sehr viel, manche nichts zu tun. In der Corona-Pandemie ist
 sind wir unseren Mitgliedern zurzeit besonders nah.                   Solidarität wichtiger denn je. Dazu kann auch gehören, dass Ein-
                                                                       richtungen für andere Mund-Nasen-Bedeckungen nähen.
                                                 Kristin Alheit,                                                    Dr. Yasmin Alinaghi,
                 Geschäftsführerin des Paritätischen Hamburg                         Landesgeschäftsführerin des Paritätischen Hessen

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3| 2020 - Der Paritätische
Aus aktuellem Anlass

                      mmern                                                 Niedersachsen
 Mecklenburg-Vorpo

Unsere wichtigste Aufgabe ist gerade die Information und Bera-      Wir liefern unseren Mitgliedern die Informationen, die sie brau-
tung. Unsere Mitglieder brauchen schnelle und verlässliche Infor-   chen. Wir zeigen Handlungsoptionen auf, wir helfen bei der Be-
mationen über aktuelle Erlasse, gesetzliche Regelungen und          schaffung von Schutzausrüstung, und wir wirken erfolgreich auf
Hilfsprogramme. Darüber hinaus bündeln wir die Anliegen und         die Politik ein, damit auch der soziale Bereich bestmöglichen Zu-
Fragen unserer Mitglieder zur Klärung mit der Landesregierung.      gang zu existenzsichernden Fördermitteln erhält.

               Christina Hömke, Landesgeschäftsführung des                                                        Birgit Eckhardt,
                    Paritätischen Mecklenburg-Vorpommern                             Vorsitzende des Paritätischen Niedersachsen

    Nordrhein -Westfa
                        len                                                               d- Pfalz
                                                                      Saarland/Rheinlan

Wie kommen unsere Träger an Schutzkleidung, wo muss das
Land dringend politisch nachsteuern, um drohende Insolvenzen        Wir versuchen, der Krise immer einen Schritt voraus zu sein. Es
zu verhindern? Riesige Herausforderungen, stündlich ein neuer       geht uns insbesondere darum, die Handlungsfähigkeit unserer
Stand, keine Auszeit am Wochenende: Dank des großen Engage-         Mitglieder bestmöglich aufrecht zu erhalten und vor allem deren
ments unserer Kolleg*innen im Landesverband meistern wir das        Fortbestand für die Zeit nach der Krise zu sichern.
– gemeinsam und pragmatisch!
                  Andrea Büngeler und Christian Woltering,                                 Michael Hamm, Landesgeschäftsführer
             Landesgeschäftsführung des Paritätischen NRW                              des Paritätischen Saarland/Rheinland-Pfalz

            Sachsen                                                        Sachsen- Anhalt

Als Verband war es unser dringlichstes Anliegen, drohende Finan-
zierungsausfälle für die Träger abzuwenden und somit den Fort-      Künftig wird es darauf ankommen, den sozialen Bereich als den-
bestand der Angebote zu sichern. Im guten Kontakt mit Politik       jenigen wertzuschätzen und zu sichern, der für das Gelingen der
und Verwaltung konnten wir auf Regelungslücken hinweisen und        bevorstehenden Lockerungen und wirtschaftlichen Gesundung
zu Lösungen beitragen.                                              des Landes essentiell ist.

                                             Michael Richter,                                                    Anja Naumann,
             Landesgeschäftsführer des Paritätischen Sachsen                  Geschäftsführerin des Paritätischen Sachsen-Anhalt

      Schleswig- Holstein                                                     Thüringen

Es gibt zwei große Handlungsstränge: den Erhalt der Arbeitsfä-
higkeit unserer Mitglieder und die Kommunikation mit den ver-       Es geht um die Sicherung der sozialen Infrastruktur, darum, dass
schiedensten Akteuren, um perspektivisch die wirtschaftlichen       wir alle in den Blick nehmen. Das heißt zur Not braucht es Indi-
Folgen kompensieren zu können. Wichtige Teile der sozialen In-      viduallösungen für einzelne Träger, wenn andere Hilfen nicht grei-
frastruktur dürfen nicht wegbrechen, das wäre gerade jetzt für      fen. Hier werden wir nicht lockerlassen.
unsere Gesellschaft fatal.
                                             Michael Saitner,                                                    Stefan Werner,
Landesgeschäftsführung des Paritätischen Schleswig-Holstein                   Landesgeschäftsführer des Paritätischen Thüringen

                                                                                       www.der-paritaetische.de      3 | 2020      7
3| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt

Erstes queeres
Vernetzungstreffen unter
dem Dach des Paritätischen
Gesamtverbandes                               Die Teilnehmer*innen

Mit 45 Teilnehmer*innen fand am 12.          Die Paritätischen Verbandsgrundsätze         •   hoher Bedarf an niedrigschwel-
Februar 2020 das erste Vernetzungs-          Vielfalt, Offenheit und Toleranz sind            ligen Informationen, Angeboten,
treffen queerer Organisationen unter         Auftrag und Kompass zugleich, was die            Zugängen, Beratung für Betrof-
dem Dach des Paritätischen Gesamtver-        Bearbeitung von queeren Themen in                fene und Interessierte
bandes statt. Sowohl Vertreter*innen         Paritätischen Strukturen anbelangt.          •   Strategien Öffentlichkeitsarbeit:
der bundesweit agierenden queeren In-        Wobei in der inhaltlichen Auseinander-           digitale Strategien, Bilder, Erzäh-
teressenvertretungen wie LSVD, Queere        setzung schon deutlich wurde: Toleranz           lungen, Beispiele, Role Models
Bildung, Trans* e.V., Lambda Jugend-         allein reicht vielen queeren Menschen        •   hoher Qualifizierungsbedarf von
netzwerk, Akademie Waldschlösschen           nicht. Es muss um Akzeptanz in allen             Ausbildungsinhalten der sozialen
als auch Vertreter*innen der Paritä-         Lebensbereichen und Lebenslagen ge-              Arbeit, Pädagogik, Medizin, Psy-
                                             hen. Da, wo es sie nicht gibt, braucht es        chologie etc. und von Fachkräften
tischen Landesverbände, des ASB oder
                                             aktiven Schutz vor Diskriminierung bis           in den Regelstrukturen (Kita, Schu-
Pro Familia haben den Tag genutzt, um
                                             hin zum Schutz vor Gewalt, die für viele         le, Kinder- und Jugendhilfe, Ge-
gemeinsam zu überlegen, wie das The-
                                             queere Menschen reale Erfahrung ist.             sundheit, Migration, Psychothera-
ma rund um geschlechtliche und sexu-
                                             Gute Soziale Arbeit heißt daher insbe-           pie…)
elle Vielfalt in den Strukturen des Pari-
                                             sondere auch hier der Einsatz für und        •   strukturelle und finanzielle Absi-
tätischen bearbeitet werden kann. Fo-                                                         cherung queerer Angebote, Schaf-
                                             die Verwirklichung von Menschenrech-
kus waren die Bedürfnisse von queeren                                                         fung von Angeboten im ländlichen
                                             ten. Unser Verständnis Sozialer Arbeit
Kindern, Jugendlichen und Eltern in                                                           Raum
                                             ist geprägt von einer menschenrechtso-
der Sozialen Arbeit. Denn diese erfor-                                                    •   Schutzräume schaffen
                                             rientierten Haltung, die diskriminie-
dern ganz besonderer Sorgfalt. Das                                                        •   Unterstützung in der Abwehr von
                                             rende und menschenfeindliche Bezüge
kann Bereiche der Kinder- und Jugend-                                                         rechten und populistischen Hal-
                                             ausschließt und wirksame Interventi-
hilfe, der psychosozialen Beratung so-                                                        tungen und Gewalt
                                             onen ermöglicht.
wie der Jugendsozialarbeit und Kinder-                                                    •   Anregung und Unterstützung von
und Jugendarbeit genauso betreffen,                                                           Forschung zu queeren Themen
                                             Konkret wurden folgende Ideen für die
wie Angebote der Familienhilfe oder
                                             Bearbeitung queerer Themen entwi-
der Frühen Hilfen. Queere Themen                                                          Nun gilt es, die an dem Fachtag entwi-
                                             ckelt:
spielen überall dort eine Rolle, wo Kin-                                                  ckelten Ideen in die Paritätischen
                                             • das Thema als Querschnittsthema
der, Jugendliche und Eltern sind – ganz                                                   Strukturen zu tragen, um gemeinsam
                                                  im Paritätischen (Bundesebene,
egal ob in der Kita, der Schule, dem Ju-                                                  mit den Mitgliedsorganisationen auf
                                                  Landesebenen) verankern (Kinder,
gendtreff, dem Sportverein, dem                                                           Bundes- und Landesebene die Veran-
                                                  Familie, Kinder- und Jugendhilfe,
Freund*innenkreis oder in der eigenen                                                     kerung von queeren Themen für Kin-
                                                  Gesundheit, Selbsthilfe, Migrati-
Familie, um nur einige Bereiche zu                                                        der, Jugendliche und Eltern in unseren
                                                  on, Behinderung, Pflege), in den        Strukturen zu eruieren. Für uns steht
nennen. Mit Paritätischen Landesver-              Arbeitskreisen als Querschnitts-
bänden, überregionalen Mitgliedsorga-                                                     fest, dass das Treffen am 12. Februar
                                                  thema etablieren                        2020 der erste Schritt hin zu einer dies-
nisationen und Paritätischen Einrich-        • weitere Vernetzung zu queeren              bezüglichen Vernetzung ganz unter-
tungen wurde sich ausgetauscht, was es            Themen innerhalb des Paritä-            schiedlicher Organisationen im Paritä-
zu berücksichtigen gilt, wenn es um               tischen                                 tischen war.
Soziale Arbeit für und mit queeren Kin-      • interne Weiterentwicklungsbedar-
dern, Jugendlichen und ihren Eltern               fe identifizieren: Paritätische Leit-   Wie sich die weitere Zusammenarbeit
geht. Wir fragten, zu welchen Themen              bilder, gendergerechte Sprache          und Vernetzung konkret ausgestalten
wir zukünftig zusammenarbeiten wol-               und Kommunikation, Infrastruk-          wird, daran wollen wir in den kom-
len. Unser erklärtes Ziel: Herauszufin-           turausstattung etc.                     menden Monaten weiterarbeiten.
den, ob wir ein gemeinsames Verständ-        • Paritätische Positionen und Stel-                 Juliane Meinhold ist Referentin für
nis von Sozialer Arbeit zu queeren The-           lungnahmen zu queeren Themen,                        Kinder- und Jugendhilfe beim
men haben und woran wir uns im Pa-                Kooperationen und Bündnissen                         Paritätischen Gesamtverband
ritätischen messen wollen.                        eingehen und unterstützen

8     www.der-paritaetische.de    3 | 2020
3| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt

Drei Fragen an Henny Engels,
Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD)

Der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands wurde vor 30 Jahren am 18. Februar
1990 zunächst in der DDR gegründet. Bereits wenige Monate später war die DDR
Geschichte und der LSVD wurde Gesamtdeutsch.

Der Verband kann auf viele Erfolge zurückblicken. Bereits ab 1992 machte er sich stark
für eine komplette Gleichstellung in der Ehe von schwulen und lesbischen mit heterosexu-
ellen Paaren, die 2017 endlich erreicht wurde. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Darüber
sprachen wir mit Henny Engels, Mitglied des Bundesvorstandes des LSVD.

Frau Engels, der LSVD feiert in diesem        zweiter Klasse. Das wollten wir ändern.
Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Glück-        Seit 2017 können Lesben und Schwule
wunsch noch einmal dazu. Warum hat sich       nun heiraten. Ist damit die Gleichstellung
der Verband damals eigentlich gegründet?      erreicht, für die der LSVD seit Jahren ge-
                                              kämpft hat?
Herzlichen Dank für die Glückwün-                                                           liches Verbot der Diskriminierung we-
sche. Unser Verband hat sich 1990 in          Unbestritten war die Öffnung der Ehe          gen sexueller Identität verankert wird.
Leipzig als Schwulenverband in der            ein unglaublich großer Schritt in Rich-       Mal abgesehen vom Corona-Virus: Wel-
DDR (SVD) gegründet und sich kur-             tung Gleichstellung. Ich muss daran           ches Thema beschäftigt den Verband ge-
ze Zeit später in Schwulenverband in          erinnern, dass nach der Einführung            rade besonders? Was ist die größte Bau-
Deutschland umbenannt. Seine Wur-             der Eingetragenen Lebenspartnerschaft         stelle?
zeln hat er in der staatskritischen, un-      2001 die zunehmende Gleichstellung
abhängigen schwulen Bürgerrechtsbe-           bspw. im Steuerrecht, im Erbrecht oder        Corona beschäftigt uns natürlich auch
wegung der DDR – damals noch unter            dem Adoptionsrecht in unendlich vie-          – wir haben auf unserer Website Tipps,
dem Dach der evangelischen Kirche.            len Schritten, zum Teil auch vor Ge-          Hinweise und Links zu Beratungs- und
Die Ziele sind Akzeptanz von Vielfalt,        richt, erstritten werden musste. Die          Unterstützungsangeboten für LSBTI
volle gesellschaftliche Teilhabe und          Öffnung der Ehe und damit die weit-           und andere veröffentlicht.
Gleichberechtigung. Dafür leisten wir         gehende Gleichstellung war das Ende           Die größte Baustelle ist aus meiner
Überzeugungsarbeit, richten konkrete          eines unwürdigen und ermüdenden               Sicht die tatsächliche gesellschaftliche
Lösungsvorschläge an die Politik und          Prozesses.                                    Akzeptanz und Gleichstellung im All-
wollen dort Mehrheiten gewinnen.                                                            tag. Rechtliche Gleichstellung ist unbe-
Dieser Bürgerrechtsansatz war 1990            Aber es bleiben noch offene Baustel-          stritten wichtig und richtig – aber sie
auch für viele westdeutsche schwule           len, z.B. im Abstammung- und Fa-              ist nicht alles. Um es mit einem Zitat
Aktivisten viel- und erfolgsverspre-          milienrecht. Zwar gibt es jetzt das ge-       eines schwulen Paares in der DDR zu
chend. Auf Initiative vieler engagierter      meinschaftliche Adoptionsrecht, aber          sagen „Das Gesetz war gnädig, die Ge-
Lesben wandelte sich der Schwulen-            bei einem Kind, das in eine Zwei-Müt-         sellschaft war es nicht“. Sätze wie „Nun
verband dann 1999 zum Lesben- und             ter-Familie geboren wird, kann eine ge-       sind wir Ihnen doch schon so weit ent-
Schwulenverband (LSVD). Seit über 20          meinsame rechtliche Elternschaft nur          gegen gekommen…“ machen deutlich,
Jahren treten wir also gemeinsam für          durch das langwierige Verfahren der           dass LSBTI oft immer noch nicht als
Menschenrechte, Vielfalt und Respekt          Stiefkindadoption erreicht werden. Ich        gleichwertige Mitglieder dieser Gesell-
ein.                                          sehe nicht, wie das dem Kindeswohl            schaft wahrgenommen und akzeptiert
                                              dienen soll.                                  sind: Die rechtliche und gesellschaftli-
Warum die Verbandsgründung? Den-                                                            che Gleichstellung von LSBTI ist kein
ken Sie zurück: Vor 30 Jahren gab             Das diskriminierende Transsexuel-             Gnadenakt, sondern die Umsetzung der
es in der Bundesrepublik noch den             lengesetz muss zugunsten echter               Erkenntnis, dass die Würde aller Men-
menschenrechtswidrigen § 175 StGB.            Selbstbestimmung abgelöst werden,             schen und nicht nur die der Heterose-
Gleichgeschlechtliche Paare waren             intergeschlechtliche Kinder müssen            xuellen unantastbar ist. In Zeiten, in
rechtlos, sie wurden vom Recht wie            vor medizinisch nicht notwendigen             denen Rechtsextremisten in den Parla-
Fremde behandelt. Viele Positionen in         geschlechtszuweisenden Operationen            menten sitzen, Hetze und Hasskrimi-
Gesellschaft oder Politik waren offen le-     geschützt werden. Der Diskriminie-            nalität zugenommen haben, scheint mir
benden Lesben und Schwulen de facto           rungsschutz im Allgemeinen Gleich-            dies wichtiger denn je. Um Werte wie
verschlossen, es gab Berufsverbote, z.B.      behandlungsgesetz (AGG) muss effek-           Freiheit, Gleichheit und Respekt muss
für Schwule in der Bundeswehr. Wir wa-        tiver werden und wir wollen, dass auch        täglich neu gerungen werden.
ren rechtlich Bürgerinnen und Bürger          im Grundgesetz endlich ein ausdrück-                   Die Fragen stellte Philipp Meinert

                                                                                           www.der-paritaetische.de    3 | 2020      9
3| 2020 - Der Paritätische
Schwerpunkt
                                                                                                                 Schwerpunkt

 Interview mit Vava Vilde,
 Drag-Artist und
 Aktivistin

Vava Vilde beschreibt sich selbst als
ein reptiloides Drag-Alien aus dem
All. Ihre Looks sind futuristisch, fan-
tasievoll und beeindruckend. Vava
engagiert sich seit 2009 in der Initia-
tivgruppe Homosexualität Stuttgart
e.V., anfangs in der Jugendarbeit
mit Jugendgruppen und Schulaufklä-
rungsarbeit, zuletzt mehrere Jahre
als stellvertretender Vorsitzender.
Darüber besteht eine enge Ver-
knüpfung zum LSBTTIQ-Zentrum
Weissenburg Stuttgart. Seit 2011 ist
Vava im MSM-Präventionsteam der
AIDS-Hilfe Stuttgart e.V. und seit ca.
3 Jahren hilft sie dort bei den mo-
natlichen HIV-Schnelltest-Aktionen.

Liebe Vava, Du warst Teilnehmerin und so-            gen Kondome verteilt, Prävention be-       möchten, ist die Frage. Allerdings ha-
gar Finalistin bei der Pro7-Sendung Queen            trieben habe und so mit Menschen ins       ben wir sehr viele Zuschriften von
of Drags. Wie kam es eigentlich dazu?                Gespräch gekommen bin. Drag spielt         Menschen bekommen, denen die
                                                     mit Identität und Geschlechterrol-         Show Mut gemacht hat, denen unsere
Ich bin über Instagram von Pro7 kon-                 len, es muss also nicht unbedingt ein      Geschichten neue Einblicke gegeben
taktiert worden, dass sie ein neues                  schwuler Mann sein, der auf der Büh-       haben, oder die durch die Show zum
Format planten und ob ich nicht Inte-                ne eine weibliche Diva darstellt. Jede*r   ersten Mal mit ihren Familien über
resse hätte, mehr darüber zu erfahren.               kann sich mit Drag kreativ ausleben        LSBTTIQ-Themen sprechen konnten.
Daraus entstand der Castingprozess,                  und sich seinen eigenen Superhelden        Und ich denke damit allein, hat Queen
in welchem ich am Ende für die Show                  erschaffen.                                of Drags schon viel Positives bewirkt.
ausgewählt wurde. Wie Pro7 auf mich
aufmerksam wurde, kann ich nicht                     Durch die Show Queen of Drags haben        Queen of Drags hat den Zuschauer*innen
genau sagen, da ich der breiten Masse                queere Themen eine ganz neue Öffent-       Mut gemacht, man selbst zu sein und sich
vor der Show vermutlich nicht geläufig               lichkeit und Aufmerksamkeit bekommen       zu zeigen. Bekommst Du Feedback, was
war. Mein Drag ist in seiner Art und                 und hoffentlich viele Berührungsängste     die Show und Eure Performances bei Leu-
Qualität denke ich herausgestochen.                  abgebaut. Denkst Du Queen of Drags hat     ten bewirkt haben?
                                                     neben dem gesteigerten Interesse auch
Seit wann machst Du Drag und wie bist                das Verständnis für queere Menschen und    Ja! Immer noch regelmäßig. Und das
Du dazugekommen? Was sollten unsere                  Themen erhöht?                             ist wundervoll zu hören, dass man Leu-
Leser*innen über Drag wissen?                                                                   te erreicht und bereichert hat, ihnen
                                                     Queen of Drags ist eine Unterhal-          durch die Show den Mut gegeben hat,
Ich habe 2011 über mein Ehrenamt bei                 tungsshow. Wie viele Menschen man          mehr sie selbst zu sein, oder sich kre-
der AIDS-Hilfe mit Drag angefangen,                  damit erreicht, die sich mit queeren       ativ auszuleben. Ich bekomme Nach-
indem ich als Vava auf Veranstaltun-                 Themen nicht auseinandersetzen             richten von Kids, die sich zum ersten

10     www.der-paritaetische.de           3 | 2020
Schwerpunkt

Mal gegenüber ihren Eltern öffnen            Außerdem bist Du auch bei der AIDS-Hil-         Auch beim Ehrenamt in der AIDS-Hil-
konnten, genauso wie von Eltern, de-         fe Stuttgart e.V. aktiv. Wie bist Du zu Dei-    fe sind alle immer dankbar, dass es die
nen die Show geholfen hat, ihre Kinder       nem Ehrenamt gekommen?                          Angebote und Anlaufstellen für ihre
besser zu verstehen.                                                                         Fragen und Probleme gibt.
                                             Ich war vor der AIDS-Hilfe bereits in
Durch den Sender und die Sendezeit zur       einer der Jugendgruppen der Initiativ-          Wir im Verband setzen uns ja auch sehr
Primetime habt Ihr ganz neue Zielgrup-       gruppe Homosexualität Stuttgart e.V.            mit dem Thema Hate Speech und Hass auf
pen erreicht und begeistert. Wie hast Du     und dadurch auch mit dem LSBTTIQ                Social Media auseinander. Queere Men-
das wahrgenommen? Waren Zielgruppen          Zentrum Weissenburg eng vernetzt,               schen sind von negativen Kommentaren
darunter, die Dich besonders überrascht      wo auch meine Dragfamilie House of              und Drohungen auf Social Media beson-
haben?                                       V die letzten drei Jahre ihre ausver-           ders betroffen. Wie gehst Du mit Hass
                                             kauften Shows veranstaltet hat. Dort            auf Social Media um? Hat es sich nach der
Zum einen spricht eine Show über             hat uns ein Mitarbeiter der AIDS-Hil-           Show verändert?
Drag natürlich queeres und dragbe-           fe deren Arbeit vorgestellt und für das
geistertes Publikum an, aber auch alle       MSM-Präventionsprojekt       gewinnen           Vor der Show haben sich natürlich viel
drei Juroren haben ihre ganz eigenen         können. Ehrenamt mit Feiern zu verbin-          weniger Menschen für mich interes-
Fangemeinden und durch Pro7 sind             den, war attraktiv.                             siert und in der Öffentlichkeit zu sein
noch viele weitere Menschen mit Drag                                                         macht angreifbar. Aber ich habe zur
in Berührung gekommen. Dass Queen            Welche Auswirkungen, Deiner ehrenamt-           Show hauptsächlich positive Rückmel-
of Drags viele heterosexuelle Frauen         lichen Arbeit, spürst Du persönlich und         dungen bekommen, vermutlich weil
und Teenies in der Findungsphase an-         im Kontakt mit den Menschen, für die Du         sich ganz andere Menschen von mir
spricht, habe ich erwartet, es zu erleben    Dich engagierst?                                angesprochen fühlen. Insgesamt ver-
ist aber doch nochmal etwas anderes.                                                         suche ich, Hass humorvoll und aufklä-
Und ich war überrascht, wie jung man-        Ich glaube, sich für andere einzusetzen         rend zu begegnen, wenn er auf Unwis-
che Fans sind – also nicht nur Teenies       ist nie verkehrt. Mit Drag und Vava hel-        senheit beruht und die Menschen offen
sondern auch wirklich junge Kinder.          fe ich Leuten glaube ich mehr, indem            für Input sind. Ansonsten sollte man
                                             ich inspiriere und eine Stimme gebe.            auf Social Media aber nicht davor zu-
In Deinen Performances in der Show hast      In der Jugendarbeit der ihs konnte ich          rückschrecken, Hasserfülltes einfach
Du Statements zu Themen wie Feminismus,      miterleben, wie sich queere Jugendli-           zu blockieren. Insgesamt ist mir die
Zukunft und Verletzlichkeit gesetzt und in   che entwickeln und aufblühen in ihrer           Meinung solcher Leute vollkommen
den Interviews queere Themen immer wie-      Identität, wenn man ihnen die Mög-              egal, da sie keinerlei Einfluss auf mein
der in den Vordergrund gerückt. Wie wich-    lichkeit zur Entfaltung gibt. Die ihs           Leben hat. Ich umgebe mich lieber mit
tig war es Dir, neben der Unterhaltung den   und Weissenburg bieten beispielsweise           Menschen, die mein Leben bereichern.
Zuschauern auch Botschaften mitzugeben       auch Beratungsangebote und Hilfe für
und diese Themen zu platzieren?              Geflüchtete an. Da erlebt man im di-            Wenn unsere Welt ein bisschen mehr sein
                                             rekten Umgang mit den Menschen im-              könnte wie Planet Vava, was wünscht Du
Von Anfang an war für mich ein Aus-          mer, wie wichtig solche Angebote sind.          Dir für die Zukunft unserer Gesellschaft?
schlusskriterium, ob unsere Identität
und Kunst wertschätzend behandelt                                                            Ganz salopp gesagt, würde ich mir we-
und ob queere Geschichten Gehör fin-                                                         niger Dummheit und Ignoranz wün-
den werden. Drag ist queere Kultur,                                                          schen. Weniger schwarz-weiß im Den-
ist politisch und gesellschaftskritisch.                                                     ken und Handeln, mehr Miteinander
Mir war wichtig, das zu zeigen, meine                                                        und Rücksicht aufeinander. Warum
Identität einfließen zu lassen und die                                                       nicht die Welt durch unsere kurze An-
Plattform positiv zu nutzen. Bei Drag                                                        wesenheit ein bisschen besser machen?
geht es nicht darum, die Schönste
zu sein oder die teuersten Kleider zu                                                                   Das Interview führte Lena Plaut
tragen – Drag benötigt Kreativität,
Individualität und sich kritisch mit
seiner Identität und der Gesellschaft
auseinanderzusetzen. Durch Fernse-
hen Menschen „kennen zu lernen“                                                                    Weitere Informationen
und mit ihnen mitzufühlen bietet
die Chance, Verständnis für Lebens-                                                           Vava Vildes Instagram:
welten zu schaffen, mit denen man                                                             www.instagram.com/vavavilde
vorher keinerlei Berührungspunkte                                                             AIDS-Hilfe Stuttgart:
hatte. Und das wollte ich durch mei-                                                          www.aidshilfe-stuttgart.de
ne Teilnahme mit ermöglichen.                Lena Plaut und Vava Vilde in Zivil

                                                                                            www.der-paritaetische.de    3 | 2020    11
Schwerpunkt

                                                 Drei Fragen an Heike Gronski,
                                                 Deutsche AIDS-Hilfe

                                                Die Deutsche AIDS-Hilfe wurde im Jahr 1983 gegründet. Sie ist ein Dachverband von
                                                rund 130 Organisationen und Einrichtungen in Deutschland und vertritt die Interessen
                                                von Menschen mit HIV/Aids in der Öffentlichkeit sowie gegenüber Politik, Wissenschaft
                                                und medizinischer Forschung. Die AIDS-Hilfe bietet Unterstützung von Menschen mit
                                                HIV/AIDS an und setzt auch auf Prävention, indem sie in Beratungsstellen anonyme
                                                HIV-Tests anbieten.

                                                Heike Gronski ist Referentin „Leben mit HIV“ und beschäftigt sich seit langem mit der
                                                Infektion und der Krankheit. Mit ihr haben wir über Veränderungen im Umgang mit der
                                                Krankheit gesprochen.

Frau Gronski, sie sind seit 1998 bei der        verhindert.                                 mit HIV machen außerdem schlech-
Aidshilfe aktiv. Wie hat sich die Präventi-     Zugleich sind die Testangebote besser       te Erfahrungen bei der Partnersuche
onsarbeit in 22 Jahren verändert?               geworden, so dass Menschen auch frü-        und erleben Schuldzuweisungen im
Vor allem hat sich das Leben mit HIV            her von ihrer Infektion erfahren, vor       familiären Umfeld. Oftmals triggern
geändert. HIV ist eine gut behandelba-          allem schwule Männer. Sich testen zu        diese Situationen frühere negative Er-
re Infektion geworden. Menschen mit             lassen ist leichter und unkomplizierter     fahrungen, die jemand beim schwulen
HIV führen in der Regel ein Leben wie           geworden: Es gibt vielfältige Angebote      Coming-out oder aufgrund von Rassis-
andere Menschen auch: Sie arbeiten,             in Beratungsstellen und Checkpoints.        mus gemacht hat.
reisen, haben Sex, gründen Familien             Beim Schnelltest bekommt man das            Viele HIV-Positive verheimlichen da-
oder Firmen, machen Karriere, werden            Ergebnis sofort vor Ort. Seit 2018 sind     her ihre Infektion. Die Angst vor Ent-
alt und beziehen Renten.                        HIV-Tests auch in Apotheken und Dro-        deckung ist ein dauerhafter Stressor
Auch beim Schutz vor der HIV-Über-              gerien erhältlich und können selbst an-     und wirkt sich negativ auf die Gesund-
tragung hat sich einiges getan: Mitt-           gewendet werden.                            heit aus. Sie kann zu problematischem
lerweile gibt es drei Möglichkeiten.            Ein weiterer Meilenstein war die Ein-       Drogenkonsum oder Depressionen
Neben dem Kondom gibt es die vor-               führung der PrEP, die seit 2019 auch        führen.
beugende Einnahme eines Medika-                 Kassenleistung ist. Sie spricht ins-        Zugleich trägt die Angst vor Zurück-
ments, die PrEP, und den „Schutz                besondere die Menschen an, für die          weisung und Abwertung dazu bei, dass
durch Therapie“. Bei medikamentöser             durchgängiger Kondomgebrauch aus            Menschen aus Angst vorm Ergebnis
Behandlung ist HIV nämlich nicht                verschiedenen Gründen keine Option          keinen HIV-Test machen. Noch immer
mehr übertragbar.                               ist und die daher zuvor ein sehr hohes      wissen rund 11.000 in Deutschland
Das macht die Präventionsarbeit zwar            Risiko hatten.                              nichts von ihrer Infektion. Sie laufen
anspruchsvoller, bietet aber vor allem                                                      Gefahr, schwer zu erkranken und HIV
neue Möglichkeiten und Freiheiten.                                                          bleibt bei ihnen übertragbar.
Sex ohne Kondom ist wieder ohne Risi-           Welche Herausforderungen sehen Sie für      Solange die Gesellschaft keinen ange-
ko möglich. Das schafft Entlastung und          die Zukunft in Ihrer Arbeit?                messenen und selbstverständlichen
trägt für viele zu einer erfüllten Sexua-       All diese positiven Entwicklungen ha-       Umgang mit HIV findet, fällt dies auch
lität bei.                                      ben leider nicht dazu geführt, dass Dis-    Menschen mit HIV schwer. Die Aids-
                                                kriminierung im gleichen Maße abge-         hilfen vermitteln Wissen und unter-
Die Neuinfektionen mit HIV gehen seit           nommen hat. Immer noch haben viele          stützen Menschen mit HIV dabei, ei-
2015 kontinuierlich zurück. Woran liegt         völlig unbegründete Infektionsängste        nen entspannten und offenen Umgang
das?                                            und reagieren deswegen ablehnend,           mit der Infektion zu entwickeln. Wir
Das hat verschiedene Gründe. Zum ei-            wenn jemand sich als HIV-positiv ou-        helfen dabei, mit Ablehnung umzuge-
nen wird seit 2015 empfohlen, schon             tet. Das passiert zum Beispiel häufig       hen und unterstützen Menschen mit
direkt nach der HIV-Diagnose mit ei-            im Medizinsystem, etwa wenn HIV-po-         HIV dabei, sich gegen Diskriminie-
ner Behandlung zu beginnen. Darum               sitive Patient_innen einen Termin in        rung zu wehren.
nehmen insgesamt immer mehr Men-                der Zahnarztpraxis machen möchten.
schen mit HIV Medikamente. Da HIV               Auch im Arbeitsleben kommt es im-
unter Therapie nicht übertragbar ist,           mer wieder zu Benachteiligung, wenn                Die Fragen stellte Philipp Meinert
werden so auch weitere Infektionen              die Infektion bekannt wird. Menschen              Weitere Infos auf www.aidshilfe.de

12     www.der-paritaetische.de      3 | 2020
Schwerpunkt

In Ordenstracht gegen HIV und Co.
Die Aufklärung über Geschlechtskrankheiten, besonders HIV und AIDS, hat sich in den
vergangenen Jahren grundsätzlich gewandelt. In den Achtzigern, als HIV noch fast
zwangsläufig zu einer AIDS-Infektion und zum sicheren Tod führten, waren die Mittel
oft dementsprechend deutlich: Die ersten AIDS-Aktivist*innengruppen wie ACT UP
oder Queer Nation trugen in den USA Grabsteine mit den Namen von AIDS-Toten. In
den Neunzigern änderte sich wieder etwas im Erscheinungsbild. AIDS war nach wie vor
eine tödliche Krankheit, aber die Ansprache änderte sich. Humor war erlaubt. Hella von
Sinnen, die als schrille Kassiererin im Supermarkt mit ihrem Ausruf „Tinaaaa, wat kosten
die Kondome?“ einen verklemmten Kunden bloßstellte, ist bis heute bekannt.

Seit gut 20 Jahren ist HIV kontrollier-      frühen Neunzigern diverse Orden in
bar. Zum Ausbruch von AIDS kommt             Deutschland. 2013 gründete Sister
es mit den richtigen Medikamenten            Mary Clarence das House of Queer Si-
nicht mehr und auch das Kondom ist           sters 2013 in Berlin, mit dem heiligen         mittelt das House of Queer Sisters auch
nicht mehr der einzige Schutz vor An-        Segen einer Gründungsschwester aus             Ärztinnen und Ärzte, die zum Beispiel
steckung. Das verändert auch die Prä-        San Francisco. Beide Orden kümmern             mal Blut für den HIV-Test abnehmen.
ventionsarbeit, besonders in der schwu-      sich um den Bereich Gesundheitsprä-            Aber warum der Habit, frage ich. Sie
len Community, nach wie vor eine             vention, beim House of Queer Sisters           könne doch auch ganz normal in Jeans
Gruppe, die durch Prävention beson-          kommt noch Behinderten- und Flücht-            und T-Shirt für einen Präventionsverein
ders angesprochen werden müssen.             lingshilfe sowie der Bereich Menschen-         arbeiten. Doch sowohl für Sister Mary
Selbstverständlich stellt HIV immer          rechte hinzu sowie Bildung: „Wir bieten        Clarence als auch die Klient*innen
noch eine große Bedrohung dar, aber          auch Fortbildungen und Seminare an,            habe der Look Vorteile, erklärt sie: „Es
die heutige Generation schwuler Män-         bei denen Ärztinnen und Ärzte referie-         ist leichter, im Habit und geschminkt
ner hat den AIDS-Schock nicht mehr           ren zu den Themen HIV, AIDS, STIs              auf die Leute zuzugehen. Mit der
erlebt. Beide Faktoren erlauben auch         und Hepatitiden.“ Tatsächlich geht es          Schminke verschwindet man in eine
trotz der Ernsthaftigkeit des Themas         bei der Aufklärung nicht nur um die            Rolle. Und anderen wiederum fällt es
eine niedrigschwellige und kreative An-      nüchterne Erklärung medizinischer              leichter, mit mir in Kontakt zu kom-
sprache.                                     Fakten.                                        men, weil man weiß nicht direkt, wer
                                                                                            unter der Schminke steckt“, erklärt sie.
Als Nonne in der queeren Szene               Auch Geflüchtete gehören zur                   Außerdem sei sie sowieso schon immer
So macht es Sister Mary Clarence, und        Community                                      jemand gewesen, der sich sehr gerne
zwar in Gestalt einer Ordensschwester.       Die Queer Sisters stellen auch ein An-         schminkt. Das Schöne mit dem Nütz-
Dabei trägt sie dabei einen Habit, eine      gebot dar für diejenigen, die sie nicht in     lichen verbinden, also.
Nonnentracht. Allerdings keine klas-         den Treffpunkten der Szene finden. Ge-
sische schwarzweiße Tracht, sondern          rade queere Geflüchtete sind oft noch          Keine Probleme mit Katholik*innen
einen bunten, oft glitzernden Habit mit      besonderen Repressionen ausgesetzt,            Aber wie kommt ihr Outfit eigentlich
zahlreichen Ansteckern verziert, dazu        auch durch die eigenen Landsleute. Für         bei gläubigen Katholik*innen an, die so
ein weiß geschminktes Gesicht. Natür-        queere Geflüchtete betreibt unter ande-        etwas als Beleidigung empfinden
lich ist sie keine katholische Geistliche,   rem die Schwulenberatung eigene Un-            könnten? „Bis heute haben wir mit den
die in einem Kloster lebt, sondern als       terbringungsmöglichkeiten. Die Pro-            katholischen Ordensschwestern keine
queere Nonne in der Berliner Szene un-       bleme fangen da oft schon mit der An-          Probleme gehabt,“ meint Sister Mary
terwegs. Die Idee, in dieser Form Auf-       sprache an: „Vielen muss vorher gesagt         Clarence. Und bei einigen Ordens-
klärung zu betreiben, entstand bereits       werden, dass sie zu uns, also zur              schwestern sei es ja so, dass sie in Kli-
in den späten Siebziger Jahren in San        LGBTIQ-Community gehören. Die                  niken oder Hospizen arbeiten und so
Francisco, als sich die Sisters of Perpe-    können nicht einfach sagen, dass sie           auch Menschen mit HIV/AIDS betreu-
tual Indulgence gründeten. „Wir haben        schwul oder lesbisch sind“, erklärt Sister     en. So weit weg ist man da gar nicht
uns entschieden, die Attribute der Or-       Mary Clarence. Ein Outing ist in vielen        vom historischen Vorbild. Und wenn
densschwestern zu übernehmen, die            Herkunftsländern keine Selbstver-              doch jemand frage warum, werde die
bei Ihrem Gelübte versprochen haben          ständlichkeit. „Für viele ist auch schwie-     Absicht erklärt und man gehe mit
für Menschen da zu sein, die Hilfe und       rig, einfach zur AIDS-Hilfe zu gehen,          einem Lächeln auseinander.
Geborgenheit brauchen“, erklärt Sister       wenn sie sich testen lassen wollen. Es                                   Philipp Meinert
                                             könnte sie ja einer ihrer Landsleute da-                        Weitere Informationen:
Mary Clarence an Antrieb für ihre Ar-
                                             bei beobachten, wie sie reingehen“, er-             www.house-of-queer-sisters.org und
beit. Als Schwestern der Perpetuellen
                                             klärt Sister Mary Clarence. Daher ver-             unter info@house-of-queer-sisters.org
Indulgenz gründeten sich auch ab den

                                                                                           www.der-paritaetische.de   3 | 2020    13
Schwerpunkt

Auf der Suche nach einem Zuhause

Unter dem Motto „Ohren auf! Herzen auf! Türen auf!“ hat der Paritätische Oberbayern
zusammen mit fünf Mitgliedsorganisationen eine Wohnungskampagne für LGBTI*(lesbisch,
schwul, bisexuell, transgender und intersexuell)-Geflüchtete gestartet.
Damit sollen alle Menschen angesprochen werden, die über Wohnraum verfügen und
bereit sind, anerkannte lesbische, schwule und trans* Geflüchtete in München und Um-
land zu unterstützen.

Immoscout ist das Portal auf dem sich        fürchtete dort um Leib und Leben:
Hanaa am häufigsten einloggt. Seit ih-       „You homosexuals have to be killed!“,
rer Anerkennung als Geflüchtete sucht        schrie sie einer ihrer Mitbewohner an.
die 26jährige Transfrau aus Tansania         Ihr Zimmer wurde verwüstet. Doch
verzweifelt eine Wohnung in Mün-             das Wachpersonal war keine Hilfe und
chen. In der teuersten Metropole             zeigte selbst homophobe Tendenzen.
Deutschlands ist das kein leichtes Un-       Hanaa musste deshalb hart für eine
terfangen – nicht mal für Urbayern mit       Verlegung kämpfen. Im Münchner Os-
geregeltem Einkommen. Im Moment              ten ist es ein bisschen besser, denn
lebt Hanaa in einer Flüchtlingsunter-        hier muss sie sich das Zimmer immer-       (Name von der Redaktion geändert)
kunft im Münchner Osten, aber das            hin nicht mehr mit heterosexuellen         ein Lied singen. Er lebt mit drei hete-
gestaltet sich schwierig – vor allem,        Männern teilen. Sie kann jetzt mit ei-     rosexuellen Männern in einem win-
weil sie demnächst eine Hormonbe-            ner Freundin zusammenwohnen.               zigen Raum, obwohl er bereits seine
handlung beginnen will, um auch äu-          Trotzdem bleibt die Angst. Dabei wä-       Anerkennung hat und bis zur Corona-
ßerlich mehr zur Frau zu werden. Da-         ren die Voraussetzungen für eine er-       Krise in der Lebensmittelindustrie be-
für braucht sie viel Ruhe. Abgesehen         folgreiche Wohnungssuche gar nicht         schäftigt war. Seit über einem Jahr
davon, hat sie Angst, dass mit ihrer         so schlecht: das Jobcenter hat ihr 600     sucht er vergeblich nach einer Woh-
äußerlichen Veränderung die Belästi-         bis 700 Euro monatlich für die Miete       nung und könnte sich diese sogar lei-
gungen durch heterosexuelle Campbe-          bewilligt, doch Hanaa wird gar nicht       sten. Streng genommen müsste er
wohner wieder zunehmen. „Früher litt         erst zu den Besichtigungsterminen          längst aus der Gemeinschaftsunter-
ich an Depressionen und habe mich            eingeladen. Allerdings weiß sie nicht,     kunft ausziehen, doch er findet in
selbst geschnitten“, erzählt sie. Vor ih-    was dabei die größere Rolle spielt, dass   München und Umgebung kein Apart-
rer Zeit im Münchner Osten wohnte            sie aus Afrika kommt oder dass sie         ment. Hamid kommt ursprünglich aus
sie in einer Unterkunft im 40 Kilome-        eine Transfrau ist.                        Sansibar und lebte dort in ständiger
ter entfernten Fürstenfeldbruck und                                                     Angst, wegen seiner Homosexualität
                                             Doppelt gestraft bei der                   ins Gefängnis zu müssen oder verprü-
                                             Wohnungssuche                              gelt zu werden. Nach einer Odyssee
                                             Annika Brose-Görl, Beraterin beim          über Tansania und den Oman kehrte
                                             Schwulen Kommunikations- und Kul-          er zurück nach Sansibar und beantrag-
                                             turzentrum SUB in München, kennt           te dort ein Visum für Deutschland.
                                             die Problematik. An sie wenden sich        Noch immer leidet er unter einer post-
                                             oft schwule Geflüchtete, die bereits an-   traumatischen Belastungsstörung und
                                             erkannt sind und zum Teil schon einen      chronischen Angstzuständen. Dass
                                             Job haben, aber trotzdem noch in der       zwei seiner Mitbewohner kein Eng-
                                             Asylbewerber-Unterkunft leben müs-         lisch sprechen und er sich mit ihnen
                                             sen, weil sie keine Wohnung finden.        nicht verständigen kann, macht die
                                             Viele sind „doppelt gestraft“ sagt sie,    Situation noch schwieriger.
                                             denn „sie trauen sich nicht ihre sexu-
                                             elle Identität auszuleben und müssen       Vermieter*innen gezielt ansprechen
                                             gleichzeitig noch Angst vor Übergrif-      Das SUB betreut jährlich 250 Men-
                                             fen haben, wenn die meist heterosexu-      schen wie Hamid. Annika Brose-Görl
                                             ellen Mitbewohner entdecken, dass sie      unterstützt die Betroffenen, indem sie
                                             schwul sind“. Davon kann auch Hamid        ihnen Tipps bei der Wohnungssuche

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