3| 2020 - Der Paritätische
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Schwerpunkt Inhalt Editorial 3 Aus aktuellem Anlass Frage an die Mitglieder: Was macht Corona mit Ihnen? 4 Corona: Das sagen unsere Landesverbände 6 Schwerpunkt: Queer Erstes queeres Vernetzungstreffen unter dem Dach des Paritätischen Gesamtverbandes 8 Drei Fragen an Henny Engels, Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD) 9 Interview mit Vava Vilde, Drag-Artist und Aktivistin 10 Drei Fragen an Heike Gronski, Deutsche AIDS-Hilfe 12 In Ordenstracht gegen HIV und Co. 13 Auf der Suche nach einem Zuhause 14 125 „Barrierefreiheit wird nicht mitgedacht“ 16 Wir helfen hier und jetzt – und das ist auch gut so! 18 Drei Fragen an Jörg Duden, Schwulenberatung Berlin 19 Queer im Alter: Ältere Lesben und Schwule fordern Teilhabe 20 Trans-Coming Out: „Und plötzlich ist der Mann an meiner Seite eine Frau.“/ Infokasten: LGBT...? Was steht wofür?22 30 Jahre rat + tat in Rostock: Angekommen in der Mitte der Gesellschaft 24 Drei Fragen an Malte Legenhausen, Queere Bildung e.V.26 Vorgestellt: Die Akademie Waldschlösschen! 27 Sozialpolitik & Verbandsrundschau Aktuelle Forderungen / Corona FAQ 28 Verhaltensprävention gegen Corona 29 Frisch gebloggt: Das Soziale in der Krise 30 Frisch veröffentlicht / Aktion #LagerEvakuieren 31 COVID-19: Ältere Menschen schützen 32 Kinderschutz in Corona-Zeiten 33 Einblicke in den Fachtag „Paritätische 18 Freiwilligendienste für die Jugend von heute“ Kinderrechte ins Grundgesetz Happy Birthday / Webzeugkoffer 34 35 36 Einkaufsvorteile nutzen! / Bildnachweise / Impressum 37 Aktuelles aus Verband en auch auf und Mitgliedsorganisation der neuen Plattform e und unter ww w.wir-sind-paritaet.d facebook.com/paritaet itaet bei Twitter unter @par t bei Instagram als paritae Dieses Magazin kann als barrierefreie pdf- 31 Datei im Internet heruntergeladen werden: www.paritaet.org 2 www.der-paritaetische.de 3 | 2020
Editorial Professor Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands Liebe Leser*innen, die Lage von queeren Menschen, also online offener über sich selbst berich- von Personen, die nicht dem binären ten können, als es im analogen Leben Mann-Frau-Schema entsprechen, hat möglich wäre. Gleichzeitig ist das In- sich in den letzten Jahren und Jahr- ternet für Jugendliche, die nicht hete- zu fördern, das die Verschiedenheit der zehnten in Deutschland entscheidend rosexuell sind oder sich selbst nicht als Menschen akzeptiert und Stigmatisie- verbessert. Aber trotz besserer Gesetze cis-geschlechtlich identifizieren (deren rungen konsequent entgegenwirkt. und breiter Aufklärungsarbeit zur Geschlecht nicht mit dem überein- Dazu muss auch die Bildungs- und Vielfalt geschlechtlicher Identitäten stimmt, das ihnen bei der Geburt zu- Aufklärungsarbeit in den Schulen und sexueller Orientierungen treffen gewiesen wurde), auch der Ort, wo sie noch stärker forciert werden. queere Menschen nach wie vor vielfach Exklusion erfahren. Rund 88 Prozent Als Verband, der für Vielfalt, Respekt auf offene und versteckte Ablehnung der Studienteilnehmenden geben an, und Offenheit steht, engagieren wir und sind Diskriminierung ausgesetzt. im Internet mindestens einmal Diskri- uns fest an der Seite der Menschen, die Zusätzlich befeuert werden Tendenzen minierung wegen ihrer sexuellen Ori- sich für die Gleichberechtigung von der systematischen Ausgrenzung entierung bzw. geschlechtlichen Zuge- homo-, bi-, inter- und transgeschlecht- durch das Erstarken rechtsextremer hörigkeit erfahren zu haben. lichen Menschen einsetzen. In diesem Kräfte, die nicht-heterosexuelle sowie Heft geben wir einen Einblick in die inter- und trans- Menschen als nicht Um die körperliche Erscheinung und Arbeit Paritätischer Mitgliedsorganisa- gleichwertig betrachten. Funktion von intergeschlechtlichen tionen, die auf vielfältige Weise queer Ein Blick in verschiedene Lebensbe- Kindern mit den binären Geschlech- lebende Menschen beraten und beglei- reiche zeigt, wie stark die Kultur der terstereotypen in Einklang zu bringen, ten sowie gesellschaftliche Aufklä- Zweigeschlechtlichkeit und der Hete- finden in Deutschland immer noch rungsarbeit leisten. ronormativität immer noch die Gesell- geschlechtsverändernde Eingriffe an schaft prägen und welche negativen ihnen statt. Eine medizinische Not- Kein Magazin in dieser Zeit ohne Co- Auswirkungen dies auf queere Men- wendigkeit besteht dafür meistens rona: in dieser Ausgabe finden Sie schen hat. nicht. Zum Schutz der bio-psycho-so- auch erste Berichte über Auswir- Eine Studie des Deutschen Jugendin- zialen Unversehrtheit und der ge- kungen des Virus SARS-CoV-2 auf stituts zeigt, dass das Internet für schlechtlichen Selbstbestimmung ist Einrichtungen der sozialen Arbeit, queere Jugendliche während des Co- ein Verbot geschlechtszuweisender weltweites Engagement zum Schutz ming-out-Prozesses durch Anonymität oder -verändernder Eingriffe bei inter- älterer Menschen und von Kindern in und jederzeitigen Zugriff große Unter- geschlechtlichen Kindern notwendig, Corona-Zeiten. stützung bietet. Sie nutzen das Web, wenn sie nicht medizinisch zwingend um sich zu informieren, sich mit an- notwendig sind. Zeitgleich ist es unab- Herzlich, Ihr Rolf Rosenbrock deren LSBTIQ-Jugendlichen (lesbisch, dingbar, u.a. den Beratungsanspruch schwul, bisexuell, trans, inter, queer) und die Beratungsangebote zu ge- zu vernetzen oder sich für ihre Belan- schlechtlicher Vielfalt auszudehnen. ge zu engagieren. Es bietet ihnen auch Politik und Gesellschaft bleiben aufge- die Möglichkeit, authentischer als im fordert, politische, rechtliche und sozi- realen Leben aufzutreten, indem sie ale Voraussetzungen sowie ein Klima www.der-paritaetische.de 3 | 2020 3
Aus aktuellem Anlass Frage an die Mitglieder: Was macht Corona mit Ihnen? Die Corona-Pandemie stellt die Wohlfahrt auf den Kopf. Unsere 10.000 Mitgliedsorga- nisationen müssen sich seit dem Shutdown Mitte März ganz neuen und ungeahnten Herausforderungen stellen. Täglich staunen wir im Gesamtverband, wie viele diese mei- stern. Anlass einmal nachzufragen: Wie geht Ihr Verband oder Ihr Verein mit Corona um und was bedeutet es für die Menschen, die Sie vertreten? Bei uns geht es um zwei Gruppen Men- schen: um die rund 2,9 Millionen Stu- uns helfen wollen, haben Angst, uns dierenden, und um die 20.000 Beschäf- den Arm zu reichen. tigten der Studenten- und Studieren- Auch für uns als Verband ist die Epide- denwerke. Die Studierenden versorgen mie ein Stresstest. Veranstaltungen wir mit aktuellen Informationen, vor Wie unter einem Vergrößerungsglas werden abgesagt, Vorbereitungen rück- allem zu hochschul-, arbeits-, sozial- macht Corona überdeutlich, womit wir abgewickelt. Das macht keinen Spaß. rechtlichen Themen und zum BAföG. auch sonst zu tun haben: Parallel läuft die Beratung unter deut- Gerade Studierende, denen wegen der Epidemien rufen ein großes Informati- lich erschwerten Bedingungen weiter, Corona-Pandemie die Nebenjobs weg- onsbedürfnis hervor. Was ist mit Sexu- nur noch telefonisch bzw. per Mail und brechen, geraten in finanzielle Nöte; für alität? Steigert HIV das Risiko? Helfen nun auch zu Corona. Aber es lohnt sich, sie setzen wir uns auf politischer Ebene HIV-Medikamente gegen Covid-19? Wir die Ratsuchenden sind unglaublich für eine Öffnung des BAföG oder einen haben rasch ein Infoangebot geschaf- dankbar und die Resonanz auf Ange- Notfonds ein. Die Studentenwerke fen. bote wie unseren Corona-Ratgeber un- mussten ihre ganze Hochschulgastro- Ob Drogenkonsument_innen, Sexar- ter www.dbsv.org/corona.html ist über- nomie praktisch stilllegen, dafür wer- beiter_innen oder Migrant_innen ohne wältigend. den ihre Beratungsangebote sehr stark Aufenthaltspapiere: In unseren margi- Klaus Hahn, Präsident beim Deutschen nachgefragt. Wir unterstützen sie mit nalisierten Zielgruppen haben sich Not Blinden- und Sehbehindertenverband Informationen, Handreichungen, Mu- und Gesundheitsrisiken verschärft. Wir ster-Aushängen – und wir setzen uns drängen auf Lösungen – auch für die bei den Ländern dafür ein, dass die Stu- Zeit nach Corona. dentenwerke von den staatlichen Ret- Beim Datenschutz erleben wir in atem- tungsschirmen profitieren.“ beraubendem Tempo Chancen und Ri- Achim Meyer auf der Heyde, siken. Wir treten ein für Modelle, die Generalsekretär des Deutschen Studen- Persönlichkeitsrechte achten. Was uns in diesen schwierigen Pande- tenwerks (DSW), des Verbands der Wie arbeiten wir in unserer Organisati- mie-Zeiten zusammenhält, ist der un- Studenten- und Studierendenwerke: on zusammen? Auch in dieser Frage bedingte Wille für die Menschen da zu hat uns Corona zu Höchstleistungen sein, die von Rheuma betroffen sind. getrieben. Manchmal überfordert uns Zusammen mit unseren medizinischen das. Aber wir lernen täglich dazu. Beratern informieren wir zum Beispiel Quantensprünge inklusive. regelmäßig auf www.rheuma-liga.de Silke Klumb, Geschäftsführerin der über rheumaspezifische Aspekte von Bei uns im Kinderschutzbund fallen Deutschen Aidshilfe Corona-Themen. Ein regelmäßiges Up- viele ehrenamtliche Kräfte aus, weil sie date, ein Online-Expertenforum, der sich selbst vor Ansteckung schützen Aufbau von Online-Bewegungsangebo- oder eigene Kinder betreuen müssen. ten, regionalen Info-Hotlines und erste Dennoch sind wir froh über viele Rück- Selbsthilfetreffs per Videokonferenz meldungen von Gliederungen, die ihre sind dabei die Maßnahmen der Stunde. Arbeit so gut es geht, aufrechterhalten. Bundesweit arbeiten die Landes- und Die Eltern- und Kindertelefone haben Mitgliedsverbände der Rheuma-Liga ihr Angebot ausgeweitet, die Kinder zurzeit mit noch mehr Engagement und Jugendlichen treffen sich mit Blinde und sehbehinderte Menschen und Kreativität daran, für die Betrof- den Sozialarbeiter*innen auf sind auf das Tasten und oft auch auf fenen da zu sein. Diese Kraft und unse- Instagram zur Foto-Chal- körperliche Berührung angewiesen. re über 50 Jahre währende Verbunden- lenge und manches The- Deshalb treffen uns Kontaktbeschrän- heit wird uns – da bin ich mir sicher – rapie-Gespräch wird kungen und Abstandsvorschriften be- auch über diese weltweite Krise hinweg- nun bei einem sonders hart. Viele von uns trauen sich tragen. Waldspaziergang ge- nicht mehr vor die Tür, um ja nichts Rotraut Schmale Grede, führt. Das alles sind falsch zu machen. Und Menschen, die Präsidentin der Deutschen Rheuma-Liga Angebote, um beste- 4 www.der-paritaetische.de 3 | 2020
Aus aktuellem Anlass hende Kontakte nach Möglichkeit nicht dass ihr jeder Zeit recht vernünftig schaft ein. Solidarität für den Schutz zu verlieren. Sie sind selbstverständlich lebt.“ Das soziale Miteinander, das gera- von Menschen ist jetzt mehr denn je nicht gleichwertig zu echten Gesprächen de unsere bundesweite Kneipp-Bewe- gefragt. Unsere Pflegekräfte leisten en- oder regelhaften therapeutischen Ange- gung auszeichnet, muss jetzt für einige gagiert ihre verantwortungsvolle Arbeit boten. Insofern hoffen auch wir, dass Wochen ruhen, so schwer das auch und pädagogische Fachkräfte unterstüt- diese Krise bald überstanden ist, um fällt. Als Deutschlands größte private zen in anderen Bereichen. Unser fahr- bald wieder in voller Stärke für die Kin- Gesundheitsorganisation müssen wir barer Mittagstisch wurde ausgebaut. der da zu sein. unsere Werte wie Solidarität, Rücksicht- Wir haben Freiwilligen-Pools und Hil- Heinz Hilgers, Präsident des nahme und Teamgeist unter Beweis fe-Hotlines eingerichtet und organisie- Deutschen Kinderschutzbundes stellen und damit einen wirkungsvollen ren eine Spendenaktion für die von Iso- Bundesverband (DSKB) Beitrag zum Meistern dieser gesell- lation betroffenen Pflegebedürftigen. schaftlichen Krise leisten. Mit unserer Die Forderungen der Volkssolidarität Bei allem Serie „Kneipp-Tipps für daheim“ (www. nach Schutzausstattung in der Altenpfle- was wir tun kneippbund.de/wer-wir-sind/videos) ge- ge und gegen die Isolation von Älteren hat die Ge- ben wir aktuell Anregungen, was jeder zeigen Wirkung. Unser Kampf gegen sundheit selbst für die eigene Gesundheit tun Armut und soziales Auseinandertriften und Sicher- kann. wird erheblich zunehmen. heit unserer Freiwilligen und Klaus Holetschek, Dr. Wolfram Friedersdorff, Mitarbeiter*innen oberste Priorität. Für Präsident unsere konkrete Arbeit bedeutet das: Kneipp-Bund Wir holen unsere Freiwilligen aus dem e.V. Ausland zurück, haben Veranstal- tungen, Seminare, Bildungstage für die Der Groß- nächsten Wochen abgesagt und arbei- teil unserer Ehrenamtlichen ist älter Präsident der Volkssolidarität ten aus dem Homeoffice. Wir nutzen und muss sich schützen. Lebensmittel- digitale Alternativen, sei es für Vi-deo- spenden sind zwischenzeitlich wegen Die Mitgliedsorganisationen des bvkm konferenzen oder bei der Umstellung Hamster-Käufen zurückgegangen. kämpfen mit vielfältigen Ängsten und auf Online-Seminare. Den kommen- Gleichzeitig suchen wegen Kurzarbeit Sorgen. Sowohl in den Einrichtungen den Zyklus unserer Freiwilligendienste oder Jobverlust mehr Menschen Hilfe als auch in den Familien fehlen ausrei- planen wir sorgfältig optimistisch, freu- bei den Tafeln. Mit Unterstützung jün- chend Schutzmasken und -kleidung. en uns über Bewerbungen, verfolgen gerer Helfer*innen und Spenden orga- Viele Familien im bvkm stehen vor be- aktuelle Entwicklungen jedoch genau. nisieren viele Tafeln Lieferdienste oder sonderen Herausforderungen, die sich Auch wenn die Corona-Krise unsere Ar- die Abgabe von vorgepackten Tüten im durch die Schließungen von Schulen, beit vor Herausforderungen stellt, ver- Freien. Aber nicht überall ist das mög- Werkstätten und anderen Angeboten lieren wir nicht den Blick auf gesell- lich. Über 350 Tafeln sind noch ge- ergeben. Die Kontaktsperren stellen für schaftliche Verhältnisse und Menschen, schlossen. Wir sind in Sorge um Men- Menschen mit Behinderungen eine die ganz akut von der Krise bedroht schen, die sowieso schon wenig haben. starke Belastung dar. sind. Familien müssen ihre Kinder vollstän- Unser Verband setzt sich auch in diesen Katrin Bäumler, Geschäftsführerin dig zuhause versorgen, ältere Menschen herausfordernden Zeiten für die Inte- Internationale Jugendgemeinschafts- vereinsamen. Wir brauchen jetzt poli- ressen seiner Mitglieder ein und hat ein dienste (ijgd) – Bundesverein e. V. tische Unterstützung für bedürftige kritisches Auge auf die aktuellen politi- Menschen, aber auch für die Tafeln. schen Entwicklungen. Eigentlich sind wir Begegnungsorte Gemeinsam mit den Fachverbänden und helfen nicht nur mit Lebensmit- für Menschen mit Behinderungen teln, sondern auch gegen Einsamkeit. setzt sich der bvkm für eine stärkere Jochen Brühl, Beachtung der Menschen mit Behin- Vorsitzender der Tafeln derungen und ihrer besonderen Be- Es ist aktuell noch zu früh, die dürfnisse bei allen politischen Vorha- konkreten Auswirkungen auf Seit 75 Jahren vertritt die Volkssolidari- ben in dieser Krise ein. Darin werden den Kneipp-Bund und die tät die Inte- wir auch bei allmählicher Rückkehr über 500 Kneipp-Vereine ressen der zur Normalität nicht nachlassen! abschätzen zu können. Mensc hen, Um es mit Sebastian die bereits Helga Kiel, Vorsitzende des Kneipp zu sagen: „Ich vor der Coro- Bundesverbands für körper- und will euch nur auf- na-Krise benachteiligt wurden und mehrfachbehinderte Menschen e.V. merksam machen, setzt sich für eine solidarische Gesell- www.der-paritaetische.de 3 | 2020 5
Aus aktuellem Anlass Corona: Das sagen unsere Landesverbände rg Baden-Wür ttembe Wie hilft der Paritätische in Ihrem Bundesland den Mitgliedsorgani- sationen durch die Krise? Welche Besonderheiten gibt es vielleicht „Social Distancing“ und #Stayathome stellt Sozialunternehmen vor vor Ort und was machen unsere 15 Landesverbande in Corona- neue akute Herausforderungen. Mit dem ersten sozialen 24-Stun- Zeiten. Wir haben nachgefragt! den-Hackathon „Care hackt Corona“ unterstützen wir unsere über 880 Mitgliedsorganisationen dabei, in interdisziplinären Teams Weitere Beiträge zu Corona finden Sie auch unter „Sozialpolitik“ gemeinsam an innovativen Lösungen für die Betreuung und Beglei- und „Verbandsrundschau“ ab Seite 28. tung von Klient*innen in Zeiten von Corona zu arbeiten. Ursel Wolfgramm, Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Baden-Württemberg Bayern Berlin In Bayern arbeiten wir vor allem an zwei Baustellen: Erstens Die zuverlässige Finanzierung der sozialen Arbeit – egal in wel- kämpfen wir für einen bayerischen Schutzschirm Soziales, damit chem Feld – muss auch in der jetzigen Zeit sichergestellt sein, unsere Mitglieder in der Krise finanziell abgesichert sind. Zweitens denn die Arbeit wird ja erbracht, nur eben teilweise etwas anders. dringen wir darauf, alle sozialen Dienste und Einrichtungen mit Extrem wichtig ist auch, dass alle sozialen Dienstleister ausrei- dem notwendigen Infektionsschutz auszustatten. chend Schutzausrüstung bekommen. Dafür setzen wir uns konti- nuierlich ein. Margit Berndl, Vorstand Verbands- und Sozialpolitik Dr. Gabriele Schlimper, des Paritätischen in Bayern Geschäftsführerin des Paritätischen in Berlin Brandenburg Bremen Wir kämpfen an verschiedenen Fronten für eine Belieferung der Die Corona-Epidemie stellt uns alle vor große Herausforde- Pflegeeinrichtungen mit Schutzausrüstung. Wir haben uns an die rungen. Wir als Paritätischer Bremen helfen, die Krise zu mana- Öffentlichkeit gewandt und drängten sowohl gegenüber der Lan- gen – für unsere Mitglieder und natürlich für die Menschen, die desregierung wie auch den Kreisen/ Kommunen auf eine entspre- sie pflegen und betreuen. Schutzmaterialien, Kurzarbeitergeld, chende Versorgung der Träger. Uns ist es in Eigenregie gelungen Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, Handlungsanweisungen für Ein- für 100.000 Euro zertifizierte Schutzmasken zu bestellen. richtungen... Das sind nur einige der vielen Themen, die wir klä- Andreas Kaczynski, ren und abstimmen müssen. Vorstandsvorsitzender des Paritätischen Brandenburg Wolfgang Luz, Vorstand Paritätischer Bremen Hamburg Hessen Fast rund um die Uhr stehen wir in Video- und Telefonkonfe- Soziale Fachkräfte und Unterstützung dorthin zu vermitteln, wo renzen unseren Mitgliedern mit Rat und Tat zur Seite, v.a. bei sie jetzt dringend gebraucht werden – dafür haben wir eine Ver- Fragen rund um Hygienemanagement, Schutzausrüstung und fi- mittlungsbörse gestartet. Manche Mitgliedsorganisationen haben nanzielle Schutzschirme wie das SodEG. Trotz Social Distancing jetzt sehr viel, manche nichts zu tun. In der Corona-Pandemie ist sind wir unseren Mitgliedern zurzeit besonders nah. Solidarität wichtiger denn je. Dazu kann auch gehören, dass Ein- richtungen für andere Mund-Nasen-Bedeckungen nähen. Kristin Alheit, Dr. Yasmin Alinaghi, Geschäftsführerin des Paritätischen Hamburg Landesgeschäftsführerin des Paritätischen Hessen 6 www.der-paritaetische.de 3 | 2020
Aus aktuellem Anlass mmern Niedersachsen Mecklenburg-Vorpo Unsere wichtigste Aufgabe ist gerade die Information und Bera- Wir liefern unseren Mitgliedern die Informationen, die sie brau- tung. Unsere Mitglieder brauchen schnelle und verlässliche Infor- chen. Wir zeigen Handlungsoptionen auf, wir helfen bei der Be- mationen über aktuelle Erlasse, gesetzliche Regelungen und schaffung von Schutzausrüstung, und wir wirken erfolgreich auf Hilfsprogramme. Darüber hinaus bündeln wir die Anliegen und die Politik ein, damit auch der soziale Bereich bestmöglichen Zu- Fragen unserer Mitglieder zur Klärung mit der Landesregierung. gang zu existenzsichernden Fördermitteln erhält. Christina Hömke, Landesgeschäftsführung des Birgit Eckhardt, Paritätischen Mecklenburg-Vorpommern Vorsitzende des Paritätischen Niedersachsen Nordrhein -Westfa len d- Pfalz Saarland/Rheinlan Wie kommen unsere Träger an Schutzkleidung, wo muss das Land dringend politisch nachsteuern, um drohende Insolvenzen Wir versuchen, der Krise immer einen Schritt voraus zu sein. Es zu verhindern? Riesige Herausforderungen, stündlich ein neuer geht uns insbesondere darum, die Handlungsfähigkeit unserer Stand, keine Auszeit am Wochenende: Dank des großen Engage- Mitglieder bestmöglich aufrecht zu erhalten und vor allem deren ments unserer Kolleg*innen im Landesverband meistern wir das Fortbestand für die Zeit nach der Krise zu sichern. – gemeinsam und pragmatisch! Andrea Büngeler und Christian Woltering, Michael Hamm, Landesgeschäftsführer Landesgeschäftsführung des Paritätischen NRW des Paritätischen Saarland/Rheinland-Pfalz Sachsen Sachsen- Anhalt Als Verband war es unser dringlichstes Anliegen, drohende Finan- zierungsausfälle für die Träger abzuwenden und somit den Fort- Künftig wird es darauf ankommen, den sozialen Bereich als den- bestand der Angebote zu sichern. Im guten Kontakt mit Politik jenigen wertzuschätzen und zu sichern, der für das Gelingen der und Verwaltung konnten wir auf Regelungslücken hinweisen und bevorstehenden Lockerungen und wirtschaftlichen Gesundung zu Lösungen beitragen. des Landes essentiell ist. Michael Richter, Anja Naumann, Landesgeschäftsführer des Paritätischen Sachsen Geschäftsführerin des Paritätischen Sachsen-Anhalt Schleswig- Holstein Thüringen Es gibt zwei große Handlungsstränge: den Erhalt der Arbeitsfä- higkeit unserer Mitglieder und die Kommunikation mit den ver- Es geht um die Sicherung der sozialen Infrastruktur, darum, dass schiedensten Akteuren, um perspektivisch die wirtschaftlichen wir alle in den Blick nehmen. Das heißt zur Not braucht es Indi- Folgen kompensieren zu können. Wichtige Teile der sozialen In- viduallösungen für einzelne Träger, wenn andere Hilfen nicht grei- frastruktur dürfen nicht wegbrechen, das wäre gerade jetzt für fen. Hier werden wir nicht lockerlassen. unsere Gesellschaft fatal. Michael Saitner, Stefan Werner, Landesgeschäftsführung des Paritätischen Schleswig-Holstein Landesgeschäftsführer des Paritätischen Thüringen www.der-paritaetische.de 3 | 2020 7
Schwerpunkt Erstes queeres Vernetzungstreffen unter dem Dach des Paritätischen Gesamtverbandes Die Teilnehmer*innen Mit 45 Teilnehmer*innen fand am 12. Die Paritätischen Verbandsgrundsätze • hoher Bedarf an niedrigschwel- Februar 2020 das erste Vernetzungs- Vielfalt, Offenheit und Toleranz sind ligen Informationen, Angeboten, treffen queerer Organisationen unter Auftrag und Kompass zugleich, was die Zugängen, Beratung für Betrof- dem Dach des Paritätischen Gesamtver- Bearbeitung von queeren Themen in fene und Interessierte bandes statt. Sowohl Vertreter*innen Paritätischen Strukturen anbelangt. • Strategien Öffentlichkeitsarbeit: der bundesweit agierenden queeren In- Wobei in der inhaltlichen Auseinander- digitale Strategien, Bilder, Erzäh- teressenvertretungen wie LSVD, Queere setzung schon deutlich wurde: Toleranz lungen, Beispiele, Role Models Bildung, Trans* e.V., Lambda Jugend- allein reicht vielen queeren Menschen • hoher Qualifizierungsbedarf von netzwerk, Akademie Waldschlösschen nicht. Es muss um Akzeptanz in allen Ausbildungsinhalten der sozialen als auch Vertreter*innen der Paritä- Lebensbereichen und Lebenslagen ge- Arbeit, Pädagogik, Medizin, Psy- hen. Da, wo es sie nicht gibt, braucht es chologie etc. und von Fachkräften tischen Landesverbände, des ASB oder aktiven Schutz vor Diskriminierung bis in den Regelstrukturen (Kita, Schu- Pro Familia haben den Tag genutzt, um hin zum Schutz vor Gewalt, die für viele le, Kinder- und Jugendhilfe, Ge- gemeinsam zu überlegen, wie das The- queere Menschen reale Erfahrung ist. sundheit, Migration, Psychothera- ma rund um geschlechtliche und sexu- Gute Soziale Arbeit heißt daher insbe- pie…) elle Vielfalt in den Strukturen des Pari- sondere auch hier der Einsatz für und • strukturelle und finanzielle Absi- tätischen bearbeitet werden kann. Fo- cherung queerer Angebote, Schaf- die Verwirklichung von Menschenrech- kus waren die Bedürfnisse von queeren fung von Angeboten im ländlichen ten. Unser Verständnis Sozialer Arbeit Kindern, Jugendlichen und Eltern in Raum ist geprägt von einer menschenrechtso- der Sozialen Arbeit. Denn diese erfor- • Schutzräume schaffen rientierten Haltung, die diskriminie- dern ganz besonderer Sorgfalt. Das • Unterstützung in der Abwehr von rende und menschenfeindliche Bezüge kann Bereiche der Kinder- und Jugend- rechten und populistischen Hal- ausschließt und wirksame Interventi- hilfe, der psychosozialen Beratung so- tungen und Gewalt onen ermöglicht. wie der Jugendsozialarbeit und Kinder- • Anregung und Unterstützung von und Jugendarbeit genauso betreffen, Forschung zu queeren Themen Konkret wurden folgende Ideen für die wie Angebote der Familienhilfe oder Bearbeitung queerer Themen entwi- der Frühen Hilfen. Queere Themen Nun gilt es, die an dem Fachtag entwi- ckelt: spielen überall dort eine Rolle, wo Kin- ckelten Ideen in die Paritätischen • das Thema als Querschnittsthema der, Jugendliche und Eltern sind – ganz Strukturen zu tragen, um gemeinsam im Paritätischen (Bundesebene, egal ob in der Kita, der Schule, dem Ju- mit den Mitgliedsorganisationen auf Landesebenen) verankern (Kinder, gendtreff, dem Sportverein, dem Bundes- und Landesebene die Veran- Familie, Kinder- und Jugendhilfe, Freund*innenkreis oder in der eigenen kerung von queeren Themen für Kin- Gesundheit, Selbsthilfe, Migrati- Familie, um nur einige Bereiche zu der, Jugendliche und Eltern in unseren on, Behinderung, Pflege), in den Strukturen zu eruieren. Für uns steht nennen. Mit Paritätischen Landesver- Arbeitskreisen als Querschnitts- bänden, überregionalen Mitgliedsorga- fest, dass das Treffen am 12. Februar thema etablieren 2020 der erste Schritt hin zu einer dies- nisationen und Paritätischen Einrich- • weitere Vernetzung zu queeren bezüglichen Vernetzung ganz unter- tungen wurde sich ausgetauscht, was es Themen innerhalb des Paritä- schiedlicher Organisationen im Paritä- zu berücksichtigen gilt, wenn es um tischen tischen war. Soziale Arbeit für und mit queeren Kin- • interne Weiterentwicklungsbedar- dern, Jugendlichen und ihren Eltern fe identifizieren: Paritätische Leit- Wie sich die weitere Zusammenarbeit geht. Wir fragten, zu welchen Themen bilder, gendergerechte Sprache und Vernetzung konkret ausgestalten wir zukünftig zusammenarbeiten wol- und Kommunikation, Infrastruk- wird, daran wollen wir in den kom- len. Unser erklärtes Ziel: Herauszufin- turausstattung etc. menden Monaten weiterarbeiten. den, ob wir ein gemeinsames Verständ- • Paritätische Positionen und Stel- Juliane Meinhold ist Referentin für nis von Sozialer Arbeit zu queeren The- lungnahmen zu queeren Themen, Kinder- und Jugendhilfe beim men haben und woran wir uns im Pa- Kooperationen und Bündnissen Paritätischen Gesamtverband ritätischen messen wollen. eingehen und unterstützen 8 www.der-paritaetische.de 3 | 2020
Schwerpunkt Drei Fragen an Henny Engels, Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD) Der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands wurde vor 30 Jahren am 18. Februar 1990 zunächst in der DDR gegründet. Bereits wenige Monate später war die DDR Geschichte und der LSVD wurde Gesamtdeutsch. Der Verband kann auf viele Erfolge zurückblicken. Bereits ab 1992 machte er sich stark für eine komplette Gleichstellung in der Ehe von schwulen und lesbischen mit heterosexu- ellen Paaren, die 2017 endlich erreicht wurde. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Darüber sprachen wir mit Henny Engels, Mitglied des Bundesvorstandes des LSVD. Frau Engels, der LSVD feiert in diesem zweiter Klasse. Das wollten wir ändern. Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Glück- Seit 2017 können Lesben und Schwule wunsch noch einmal dazu. Warum hat sich nun heiraten. Ist damit die Gleichstellung der Verband damals eigentlich gegründet? erreicht, für die der LSVD seit Jahren ge- kämpft hat? Herzlichen Dank für die Glückwün- liches Verbot der Diskriminierung we- sche. Unser Verband hat sich 1990 in Unbestritten war die Öffnung der Ehe gen sexueller Identität verankert wird. Leipzig als Schwulenverband in der ein unglaublich großer Schritt in Rich- Mal abgesehen vom Corona-Virus: Wel- DDR (SVD) gegründet und sich kur- tung Gleichstellung. Ich muss daran ches Thema beschäftigt den Verband ge- ze Zeit später in Schwulenverband in erinnern, dass nach der Einführung rade besonders? Was ist die größte Bau- Deutschland umbenannt. Seine Wur- der Eingetragenen Lebenspartnerschaft stelle? zeln hat er in der staatskritischen, un- 2001 die zunehmende Gleichstellung abhängigen schwulen Bürgerrechtsbe- bspw. im Steuerrecht, im Erbrecht oder Corona beschäftigt uns natürlich auch wegung der DDR – damals noch unter dem Adoptionsrecht in unendlich vie- – wir haben auf unserer Website Tipps, dem Dach der evangelischen Kirche. len Schritten, zum Teil auch vor Ge- Hinweise und Links zu Beratungs- und Die Ziele sind Akzeptanz von Vielfalt, richt, erstritten werden musste. Die Unterstützungsangeboten für LSBTI volle gesellschaftliche Teilhabe und Öffnung der Ehe und damit die weit- und andere veröffentlicht. Gleichberechtigung. Dafür leisten wir gehende Gleichstellung war das Ende Die größte Baustelle ist aus meiner Überzeugungsarbeit, richten konkrete eines unwürdigen und ermüdenden Sicht die tatsächliche gesellschaftliche Lösungsvorschläge an die Politik und Prozesses. Akzeptanz und Gleichstellung im All- wollen dort Mehrheiten gewinnen. tag. Rechtliche Gleichstellung ist unbe- Dieser Bürgerrechtsansatz war 1990 Aber es bleiben noch offene Baustel- stritten wichtig und richtig – aber sie auch für viele westdeutsche schwule len, z.B. im Abstammung- und Fa- ist nicht alles. Um es mit einem Zitat Aktivisten viel- und erfolgsverspre- milienrecht. Zwar gibt es jetzt das ge- eines schwulen Paares in der DDR zu chend. Auf Initiative vieler engagierter meinschaftliche Adoptionsrecht, aber sagen „Das Gesetz war gnädig, die Ge- Lesben wandelte sich der Schwulen- bei einem Kind, das in eine Zwei-Müt- sellschaft war es nicht“. Sätze wie „Nun verband dann 1999 zum Lesben- und ter-Familie geboren wird, kann eine ge- sind wir Ihnen doch schon so weit ent- Schwulenverband (LSVD). Seit über 20 meinsame rechtliche Elternschaft nur gegen gekommen…“ machen deutlich, Jahren treten wir also gemeinsam für durch das langwierige Verfahren der dass LSBTI oft immer noch nicht als Menschenrechte, Vielfalt und Respekt Stiefkindadoption erreicht werden. Ich gleichwertige Mitglieder dieser Gesell- ein. sehe nicht, wie das dem Kindeswohl schaft wahrgenommen und akzeptiert dienen soll. sind: Die rechtliche und gesellschaftli- Warum die Verbandsgründung? Den- che Gleichstellung von LSBTI ist kein ken Sie zurück: Vor 30 Jahren gab Das diskriminierende Transsexuel- Gnadenakt, sondern die Umsetzung der es in der Bundesrepublik noch den lengesetz muss zugunsten echter Erkenntnis, dass die Würde aller Men- menschenrechtswidrigen § 175 StGB. Selbstbestimmung abgelöst werden, schen und nicht nur die der Heterose- Gleichgeschlechtliche Paare waren intergeschlechtliche Kinder müssen xuellen unantastbar ist. In Zeiten, in rechtlos, sie wurden vom Recht wie vor medizinisch nicht notwendigen denen Rechtsextremisten in den Parla- Fremde behandelt. Viele Positionen in geschlechtszuweisenden Operationen menten sitzen, Hetze und Hasskrimi- Gesellschaft oder Politik waren offen le- geschützt werden. Der Diskriminie- nalität zugenommen haben, scheint mir benden Lesben und Schwulen de facto rungsschutz im Allgemeinen Gleich- dies wichtiger denn je. Um Werte wie verschlossen, es gab Berufsverbote, z.B. behandlungsgesetz (AGG) muss effek- Freiheit, Gleichheit und Respekt muss für Schwule in der Bundeswehr. Wir wa- tiver werden und wir wollen, dass auch täglich neu gerungen werden. ren rechtlich Bürgerinnen und Bürger im Grundgesetz endlich ein ausdrück- Die Fragen stellte Philipp Meinert www.der-paritaetische.de 3 | 2020 9
Schwerpunkt Schwerpunkt Interview mit Vava Vilde, Drag-Artist und Aktivistin Vava Vilde beschreibt sich selbst als ein reptiloides Drag-Alien aus dem All. Ihre Looks sind futuristisch, fan- tasievoll und beeindruckend. Vava engagiert sich seit 2009 in der Initia- tivgruppe Homosexualität Stuttgart e.V., anfangs in der Jugendarbeit mit Jugendgruppen und Schulaufklä- rungsarbeit, zuletzt mehrere Jahre als stellvertretender Vorsitzender. Darüber besteht eine enge Ver- knüpfung zum LSBTTIQ-Zentrum Weissenburg Stuttgart. Seit 2011 ist Vava im MSM-Präventionsteam der AIDS-Hilfe Stuttgart e.V. und seit ca. 3 Jahren hilft sie dort bei den mo- natlichen HIV-Schnelltest-Aktionen. Liebe Vava, Du warst Teilnehmerin und so- gen Kondome verteilt, Prävention be- möchten, ist die Frage. Allerdings ha- gar Finalistin bei der Pro7-Sendung Queen trieben habe und so mit Menschen ins ben wir sehr viele Zuschriften von of Drags. Wie kam es eigentlich dazu? Gespräch gekommen bin. Drag spielt Menschen bekommen, denen die mit Identität und Geschlechterrol- Show Mut gemacht hat, denen unsere Ich bin über Instagram von Pro7 kon- len, es muss also nicht unbedingt ein Geschichten neue Einblicke gegeben taktiert worden, dass sie ein neues schwuler Mann sein, der auf der Büh- haben, oder die durch die Show zum Format planten und ob ich nicht Inte- ne eine weibliche Diva darstellt. Jede*r ersten Mal mit ihren Familien über resse hätte, mehr darüber zu erfahren. kann sich mit Drag kreativ ausleben LSBTTIQ-Themen sprechen konnten. Daraus entstand der Castingprozess, und sich seinen eigenen Superhelden Und ich denke damit allein, hat Queen in welchem ich am Ende für die Show erschaffen. of Drags schon viel Positives bewirkt. ausgewählt wurde. Wie Pro7 auf mich aufmerksam wurde, kann ich nicht Durch die Show Queen of Drags haben Queen of Drags hat den Zuschauer*innen genau sagen, da ich der breiten Masse queere Themen eine ganz neue Öffent- Mut gemacht, man selbst zu sein und sich vor der Show vermutlich nicht geläufig lichkeit und Aufmerksamkeit bekommen zu zeigen. Bekommst Du Feedback, was war. Mein Drag ist in seiner Art und und hoffentlich viele Berührungsängste die Show und Eure Performances bei Leu- Qualität denke ich herausgestochen. abgebaut. Denkst Du Queen of Drags hat ten bewirkt haben? neben dem gesteigerten Interesse auch Seit wann machst Du Drag und wie bist das Verständnis für queere Menschen und Ja! Immer noch regelmäßig. Und das Du dazugekommen? Was sollten unsere Themen erhöht? ist wundervoll zu hören, dass man Leu- Leser*innen über Drag wissen? te erreicht und bereichert hat, ihnen Queen of Drags ist eine Unterhal- durch die Show den Mut gegeben hat, Ich habe 2011 über mein Ehrenamt bei tungsshow. Wie viele Menschen man mehr sie selbst zu sein, oder sich kre- der AIDS-Hilfe mit Drag angefangen, damit erreicht, die sich mit queeren ativ auszuleben. Ich bekomme Nach- indem ich als Vava auf Veranstaltun- Themen nicht auseinandersetzen richten von Kids, die sich zum ersten 10 www.der-paritaetische.de 3 | 2020
Schwerpunkt Mal gegenüber ihren Eltern öffnen Außerdem bist Du auch bei der AIDS-Hil- Auch beim Ehrenamt in der AIDS-Hil- konnten, genauso wie von Eltern, de- fe Stuttgart e.V. aktiv. Wie bist Du zu Dei- fe sind alle immer dankbar, dass es die nen die Show geholfen hat, ihre Kinder nem Ehrenamt gekommen? Angebote und Anlaufstellen für ihre besser zu verstehen. Fragen und Probleme gibt. Ich war vor der AIDS-Hilfe bereits in Durch den Sender und die Sendezeit zur einer der Jugendgruppen der Initiativ- Wir im Verband setzen uns ja auch sehr Primetime habt Ihr ganz neue Zielgrup- gruppe Homosexualität Stuttgart e.V. mit dem Thema Hate Speech und Hass auf pen erreicht und begeistert. Wie hast Du und dadurch auch mit dem LSBTTIQ Social Media auseinander. Queere Men- das wahrgenommen? Waren Zielgruppen Zentrum Weissenburg eng vernetzt, schen sind von negativen Kommentaren darunter, die Dich besonders überrascht wo auch meine Dragfamilie House of und Drohungen auf Social Media beson- haben? V die letzten drei Jahre ihre ausver- ders betroffen. Wie gehst Du mit Hass kauften Shows veranstaltet hat. Dort auf Social Media um? Hat es sich nach der Zum einen spricht eine Show über hat uns ein Mitarbeiter der AIDS-Hil- Show verändert? Drag natürlich queeres und dragbe- fe deren Arbeit vorgestellt und für das geistertes Publikum an, aber auch alle MSM-Präventionsprojekt gewinnen Vor der Show haben sich natürlich viel drei Juroren haben ihre ganz eigenen können. Ehrenamt mit Feiern zu verbin- weniger Menschen für mich interes- Fangemeinden und durch Pro7 sind den, war attraktiv. siert und in der Öffentlichkeit zu sein noch viele weitere Menschen mit Drag macht angreifbar. Aber ich habe zur in Berührung gekommen. Dass Queen Welche Auswirkungen, Deiner ehrenamt- Show hauptsächlich positive Rückmel- of Drags viele heterosexuelle Frauen lichen Arbeit, spürst Du persönlich und dungen bekommen, vermutlich weil und Teenies in der Findungsphase an- im Kontakt mit den Menschen, für die Du sich ganz andere Menschen von mir spricht, habe ich erwartet, es zu erleben Dich engagierst? angesprochen fühlen. Insgesamt ver- ist aber doch nochmal etwas anderes. suche ich, Hass humorvoll und aufklä- Und ich war überrascht, wie jung man- Ich glaube, sich für andere einzusetzen rend zu begegnen, wenn er auf Unwis- che Fans sind – also nicht nur Teenies ist nie verkehrt. Mit Drag und Vava hel- senheit beruht und die Menschen offen sondern auch wirklich junge Kinder. fe ich Leuten glaube ich mehr, indem für Input sind. Ansonsten sollte man ich inspiriere und eine Stimme gebe. auf Social Media aber nicht davor zu- In Deinen Performances in der Show hast In der Jugendarbeit der ihs konnte ich rückschrecken, Hasserfülltes einfach Du Statements zu Themen wie Feminismus, miterleben, wie sich queere Jugendli- zu blockieren. Insgesamt ist mir die Zukunft und Verletzlichkeit gesetzt und in che entwickeln und aufblühen in ihrer Meinung solcher Leute vollkommen den Interviews queere Themen immer wie- Identität, wenn man ihnen die Mög- egal, da sie keinerlei Einfluss auf mein der in den Vordergrund gerückt. Wie wich- lichkeit zur Entfaltung gibt. Die ihs Leben hat. Ich umgebe mich lieber mit tig war es Dir, neben der Unterhaltung den und Weissenburg bieten beispielsweise Menschen, die mein Leben bereichern. Zuschauern auch Botschaften mitzugeben auch Beratungsangebote und Hilfe für und diese Themen zu platzieren? Geflüchtete an. Da erlebt man im di- Wenn unsere Welt ein bisschen mehr sein rekten Umgang mit den Menschen im- könnte wie Planet Vava, was wünscht Du Von Anfang an war für mich ein Aus- mer, wie wichtig solche Angebote sind. Dir für die Zukunft unserer Gesellschaft? schlusskriterium, ob unsere Identität und Kunst wertschätzend behandelt Ganz salopp gesagt, würde ich mir we- und ob queere Geschichten Gehör fin- niger Dummheit und Ignoranz wün- den werden. Drag ist queere Kultur, schen. Weniger schwarz-weiß im Den- ist politisch und gesellschaftskritisch. ken und Handeln, mehr Miteinander Mir war wichtig, das zu zeigen, meine und Rücksicht aufeinander. Warum Identität einfließen zu lassen und die nicht die Welt durch unsere kurze An- Plattform positiv zu nutzen. Bei Drag wesenheit ein bisschen besser machen? geht es nicht darum, die Schönste zu sein oder die teuersten Kleider zu Das Interview führte Lena Plaut tragen – Drag benötigt Kreativität, Individualität und sich kritisch mit seiner Identität und der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Durch Fernse- hen Menschen „kennen zu lernen“ Weitere Informationen und mit ihnen mitzufühlen bietet die Chance, Verständnis für Lebens- Vava Vildes Instagram: welten zu schaffen, mit denen man www.instagram.com/vavavilde vorher keinerlei Berührungspunkte AIDS-Hilfe Stuttgart: hatte. Und das wollte ich durch mei- www.aidshilfe-stuttgart.de ne Teilnahme mit ermöglichen. Lena Plaut und Vava Vilde in Zivil www.der-paritaetische.de 3 | 2020 11
Schwerpunkt Drei Fragen an Heike Gronski, Deutsche AIDS-Hilfe Die Deutsche AIDS-Hilfe wurde im Jahr 1983 gegründet. Sie ist ein Dachverband von rund 130 Organisationen und Einrichtungen in Deutschland und vertritt die Interessen von Menschen mit HIV/Aids in der Öffentlichkeit sowie gegenüber Politik, Wissenschaft und medizinischer Forschung. Die AIDS-Hilfe bietet Unterstützung von Menschen mit HIV/AIDS an und setzt auch auf Prävention, indem sie in Beratungsstellen anonyme HIV-Tests anbieten. Heike Gronski ist Referentin „Leben mit HIV“ und beschäftigt sich seit langem mit der Infektion und der Krankheit. Mit ihr haben wir über Veränderungen im Umgang mit der Krankheit gesprochen. Frau Gronski, sie sind seit 1998 bei der verhindert. mit HIV machen außerdem schlech- Aidshilfe aktiv. Wie hat sich die Präventi- Zugleich sind die Testangebote besser te Erfahrungen bei der Partnersuche onsarbeit in 22 Jahren verändert? geworden, so dass Menschen auch frü- und erleben Schuldzuweisungen im Vor allem hat sich das Leben mit HIV her von ihrer Infektion erfahren, vor familiären Umfeld. Oftmals triggern geändert. HIV ist eine gut behandelba- allem schwule Männer. Sich testen zu diese Situationen frühere negative Er- re Infektion geworden. Menschen mit lassen ist leichter und unkomplizierter fahrungen, die jemand beim schwulen HIV führen in der Regel ein Leben wie geworden: Es gibt vielfältige Angebote Coming-out oder aufgrund von Rassis- andere Menschen auch: Sie arbeiten, in Beratungsstellen und Checkpoints. mus gemacht hat. reisen, haben Sex, gründen Familien Beim Schnelltest bekommt man das Viele HIV-Positive verheimlichen da- oder Firmen, machen Karriere, werden Ergebnis sofort vor Ort. Seit 2018 sind her ihre Infektion. Die Angst vor Ent- alt und beziehen Renten. HIV-Tests auch in Apotheken und Dro- deckung ist ein dauerhafter Stressor Auch beim Schutz vor der HIV-Über- gerien erhältlich und können selbst an- und wirkt sich negativ auf die Gesund- tragung hat sich einiges getan: Mitt- gewendet werden. heit aus. Sie kann zu problematischem lerweile gibt es drei Möglichkeiten. Ein weiterer Meilenstein war die Ein- Drogenkonsum oder Depressionen Neben dem Kondom gibt es die vor- führung der PrEP, die seit 2019 auch führen. beugende Einnahme eines Medika- Kassenleistung ist. Sie spricht ins- Zugleich trägt die Angst vor Zurück- ments, die PrEP, und den „Schutz besondere die Menschen an, für die weisung und Abwertung dazu bei, dass durch Therapie“. Bei medikamentöser durchgängiger Kondomgebrauch aus Menschen aus Angst vorm Ergebnis Behandlung ist HIV nämlich nicht verschiedenen Gründen keine Option keinen HIV-Test machen. Noch immer mehr übertragbar. ist und die daher zuvor ein sehr hohes wissen rund 11.000 in Deutschland Das macht die Präventionsarbeit zwar Risiko hatten. nichts von ihrer Infektion. Sie laufen anspruchsvoller, bietet aber vor allem Gefahr, schwer zu erkranken und HIV neue Möglichkeiten und Freiheiten. bleibt bei ihnen übertragbar. Sex ohne Kondom ist wieder ohne Risi- Welche Herausforderungen sehen Sie für Solange die Gesellschaft keinen ange- ko möglich. Das schafft Entlastung und die Zukunft in Ihrer Arbeit? messenen und selbstverständlichen trägt für viele zu einer erfüllten Sexua- All diese positiven Entwicklungen ha- Umgang mit HIV findet, fällt dies auch lität bei. ben leider nicht dazu geführt, dass Dis- Menschen mit HIV schwer. Die Aids- kriminierung im gleichen Maße abge- hilfen vermitteln Wissen und unter- Die Neuinfektionen mit HIV gehen seit nommen hat. Immer noch haben viele stützen Menschen mit HIV dabei, ei- 2015 kontinuierlich zurück. Woran liegt völlig unbegründete Infektionsängste nen entspannten und offenen Umgang das? und reagieren deswegen ablehnend, mit der Infektion zu entwickeln. Wir Das hat verschiedene Gründe. Zum ei- wenn jemand sich als HIV-positiv ou- helfen dabei, mit Ablehnung umzuge- nen wird seit 2015 empfohlen, schon tet. Das passiert zum Beispiel häufig hen und unterstützen Menschen mit direkt nach der HIV-Diagnose mit ei- im Medizinsystem, etwa wenn HIV-po- HIV dabei, sich gegen Diskriminie- ner Behandlung zu beginnen. Darum sitive Patient_innen einen Termin in rung zu wehren. nehmen insgesamt immer mehr Men- der Zahnarztpraxis machen möchten. schen mit HIV Medikamente. Da HIV Auch im Arbeitsleben kommt es im- unter Therapie nicht übertragbar ist, mer wieder zu Benachteiligung, wenn Die Fragen stellte Philipp Meinert werden so auch weitere Infektionen die Infektion bekannt wird. Menschen Weitere Infos auf www.aidshilfe.de 12 www.der-paritaetische.de 3 | 2020
Schwerpunkt In Ordenstracht gegen HIV und Co. Die Aufklärung über Geschlechtskrankheiten, besonders HIV und AIDS, hat sich in den vergangenen Jahren grundsätzlich gewandelt. In den Achtzigern, als HIV noch fast zwangsläufig zu einer AIDS-Infektion und zum sicheren Tod führten, waren die Mittel oft dementsprechend deutlich: Die ersten AIDS-Aktivist*innengruppen wie ACT UP oder Queer Nation trugen in den USA Grabsteine mit den Namen von AIDS-Toten. In den Neunzigern änderte sich wieder etwas im Erscheinungsbild. AIDS war nach wie vor eine tödliche Krankheit, aber die Ansprache änderte sich. Humor war erlaubt. Hella von Sinnen, die als schrille Kassiererin im Supermarkt mit ihrem Ausruf „Tinaaaa, wat kosten die Kondome?“ einen verklemmten Kunden bloßstellte, ist bis heute bekannt. Seit gut 20 Jahren ist HIV kontrollier- frühen Neunzigern diverse Orden in bar. Zum Ausbruch von AIDS kommt Deutschland. 2013 gründete Sister es mit den richtigen Medikamenten Mary Clarence das House of Queer Si- nicht mehr und auch das Kondom ist sters 2013 in Berlin, mit dem heiligen mittelt das House of Queer Sisters auch nicht mehr der einzige Schutz vor An- Segen einer Gründungsschwester aus Ärztinnen und Ärzte, die zum Beispiel steckung. Das verändert auch die Prä- San Francisco. Beide Orden kümmern mal Blut für den HIV-Test abnehmen. ventionsarbeit, besonders in der schwu- sich um den Bereich Gesundheitsprä- Aber warum der Habit, frage ich. Sie len Community, nach wie vor eine vention, beim House of Queer Sisters könne doch auch ganz normal in Jeans Gruppe, die durch Prävention beson- kommt noch Behinderten- und Flücht- und T-Shirt für einen Präventionsverein ders angesprochen werden müssen. lingshilfe sowie der Bereich Menschen- arbeiten. Doch sowohl für Sister Mary Selbstverständlich stellt HIV immer rechte hinzu sowie Bildung: „Wir bieten Clarence als auch die Klient*innen noch eine große Bedrohung dar, aber auch Fortbildungen und Seminare an, habe der Look Vorteile, erklärt sie: „Es die heutige Generation schwuler Män- bei denen Ärztinnen und Ärzte referie- ist leichter, im Habit und geschminkt ner hat den AIDS-Schock nicht mehr ren zu den Themen HIV, AIDS, STIs auf die Leute zuzugehen. Mit der erlebt. Beide Faktoren erlauben auch und Hepatitiden.“ Tatsächlich geht es Schminke verschwindet man in eine trotz der Ernsthaftigkeit des Themas bei der Aufklärung nicht nur um die Rolle. Und anderen wiederum fällt es eine niedrigschwellige und kreative An- nüchterne Erklärung medizinischer leichter, mit mir in Kontakt zu kom- sprache. Fakten. men, weil man weiß nicht direkt, wer unter der Schminke steckt“, erklärt sie. Als Nonne in der queeren Szene Auch Geflüchtete gehören zur Außerdem sei sie sowieso schon immer So macht es Sister Mary Clarence, und Community jemand gewesen, der sich sehr gerne zwar in Gestalt einer Ordensschwester. Die Queer Sisters stellen auch ein An- schminkt. Das Schöne mit dem Nütz- Dabei trägt sie dabei einen Habit, eine gebot dar für diejenigen, die sie nicht in lichen verbinden, also. Nonnentracht. Allerdings keine klas- den Treffpunkten der Szene finden. Ge- sische schwarzweiße Tracht, sondern rade queere Geflüchtete sind oft noch Keine Probleme mit Katholik*innen einen bunten, oft glitzernden Habit mit besonderen Repressionen ausgesetzt, Aber wie kommt ihr Outfit eigentlich zahlreichen Ansteckern verziert, dazu auch durch die eigenen Landsleute. Für bei gläubigen Katholik*innen an, die so ein weiß geschminktes Gesicht. Natür- queere Geflüchtete betreibt unter ande- etwas als Beleidigung empfinden lich ist sie keine katholische Geistliche, rem die Schwulenberatung eigene Un- könnten? „Bis heute haben wir mit den die in einem Kloster lebt, sondern als terbringungsmöglichkeiten. Die Pro- katholischen Ordensschwestern keine queere Nonne in der Berliner Szene un- bleme fangen da oft schon mit der An- Probleme gehabt,“ meint Sister Mary terwegs. Die Idee, in dieser Form Auf- sprache an: „Vielen muss vorher gesagt Clarence. Und bei einigen Ordens- klärung zu betreiben, entstand bereits werden, dass sie zu uns, also zur schwestern sei es ja so, dass sie in Kli- in den späten Siebziger Jahren in San LGBTIQ-Community gehören. Die niken oder Hospizen arbeiten und so Francisco, als sich die Sisters of Perpe- können nicht einfach sagen, dass sie auch Menschen mit HIV/AIDS betreu- tual Indulgence gründeten. „Wir haben schwul oder lesbisch sind“, erklärt Sister en. So weit weg ist man da gar nicht uns entschieden, die Attribute der Or- Mary Clarence. Ein Outing ist in vielen vom historischen Vorbild. Und wenn densschwestern zu übernehmen, die Herkunftsländern keine Selbstver- doch jemand frage warum, werde die bei Ihrem Gelübte versprochen haben ständlichkeit. „Für viele ist auch schwie- Absicht erklärt und man gehe mit für Menschen da zu sein, die Hilfe und rig, einfach zur AIDS-Hilfe zu gehen, einem Lächeln auseinander. Geborgenheit brauchen“, erklärt Sister wenn sie sich testen lassen wollen. Es Philipp Meinert könnte sie ja einer ihrer Landsleute da- Weitere Informationen: Mary Clarence an Antrieb für ihre Ar- bei beobachten, wie sie reingehen“, er- www.house-of-queer-sisters.org und beit. Als Schwestern der Perpetuellen klärt Sister Mary Clarence. Daher ver- unter info@house-of-queer-sisters.org Indulgenz gründeten sich auch ab den www.der-paritaetische.de 3 | 2020 13
Schwerpunkt Auf der Suche nach einem Zuhause Unter dem Motto „Ohren auf! Herzen auf! Türen auf!“ hat der Paritätische Oberbayern zusammen mit fünf Mitgliedsorganisationen eine Wohnungskampagne für LGBTI*(lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und intersexuell)-Geflüchtete gestartet. Damit sollen alle Menschen angesprochen werden, die über Wohnraum verfügen und bereit sind, anerkannte lesbische, schwule und trans* Geflüchtete in München und Um- land zu unterstützen. Immoscout ist das Portal auf dem sich fürchtete dort um Leib und Leben: Hanaa am häufigsten einloggt. Seit ih- „You homosexuals have to be killed!“, rer Anerkennung als Geflüchtete sucht schrie sie einer ihrer Mitbewohner an. die 26jährige Transfrau aus Tansania Ihr Zimmer wurde verwüstet. Doch verzweifelt eine Wohnung in Mün- das Wachpersonal war keine Hilfe und chen. In der teuersten Metropole zeigte selbst homophobe Tendenzen. Deutschlands ist das kein leichtes Un- Hanaa musste deshalb hart für eine terfangen – nicht mal für Urbayern mit Verlegung kämpfen. Im Münchner Os- geregeltem Einkommen. Im Moment ten ist es ein bisschen besser, denn lebt Hanaa in einer Flüchtlingsunter- hier muss sie sich das Zimmer immer- (Name von der Redaktion geändert) kunft im Münchner Osten, aber das hin nicht mehr mit heterosexuellen ein Lied singen. Er lebt mit drei hete- gestaltet sich schwierig – vor allem, Männern teilen. Sie kann jetzt mit ei- rosexuellen Männern in einem win- weil sie demnächst eine Hormonbe- ner Freundin zusammenwohnen. zigen Raum, obwohl er bereits seine handlung beginnen will, um auch äu- Trotzdem bleibt die Angst. Dabei wä- Anerkennung hat und bis zur Corona- ßerlich mehr zur Frau zu werden. Da- ren die Voraussetzungen für eine er- Krise in der Lebensmittelindustrie be- für braucht sie viel Ruhe. Abgesehen folgreiche Wohnungssuche gar nicht schäftigt war. Seit über einem Jahr davon, hat sie Angst, dass mit ihrer so schlecht: das Jobcenter hat ihr 600 sucht er vergeblich nach einer Woh- äußerlichen Veränderung die Belästi- bis 700 Euro monatlich für die Miete nung und könnte sich diese sogar lei- gungen durch heterosexuelle Campbe- bewilligt, doch Hanaa wird gar nicht sten. Streng genommen müsste er wohner wieder zunehmen. „Früher litt erst zu den Besichtigungsterminen längst aus der Gemeinschaftsunter- ich an Depressionen und habe mich eingeladen. Allerdings weiß sie nicht, kunft ausziehen, doch er findet in selbst geschnitten“, erzählt sie. Vor ih- was dabei die größere Rolle spielt, dass München und Umgebung kein Apart- rer Zeit im Münchner Osten wohnte sie aus Afrika kommt oder dass sie ment. Hamid kommt ursprünglich aus sie in einer Unterkunft im 40 Kilome- eine Transfrau ist. Sansibar und lebte dort in ständiger ter entfernten Fürstenfeldbruck und Angst, wegen seiner Homosexualität Doppelt gestraft bei der ins Gefängnis zu müssen oder verprü- Wohnungssuche gelt zu werden. Nach einer Odyssee Annika Brose-Görl, Beraterin beim über Tansania und den Oman kehrte Schwulen Kommunikations- und Kul- er zurück nach Sansibar und beantrag- turzentrum SUB in München, kennt te dort ein Visum für Deutschland. die Problematik. An sie wenden sich Noch immer leidet er unter einer post- oft schwule Geflüchtete, die bereits an- traumatischen Belastungsstörung und erkannt sind und zum Teil schon einen chronischen Angstzuständen. Dass Job haben, aber trotzdem noch in der zwei seiner Mitbewohner kein Eng- Asylbewerber-Unterkunft leben müs- lisch sprechen und er sich mit ihnen sen, weil sie keine Wohnung finden. nicht verständigen kann, macht die Viele sind „doppelt gestraft“ sagt sie, Situation noch schwieriger. denn „sie trauen sich nicht ihre sexu- elle Identität auszuleben und müssen Vermieter*innen gezielt ansprechen gleichzeitig noch Angst vor Übergrif- Das SUB betreut jährlich 250 Men- fen haben, wenn die meist heterosexu- schen wie Hamid. Annika Brose-Görl ellen Mitbewohner entdecken, dass sie unterstützt die Betroffenen, indem sie schwul sind“. Davon kann auch Hamid ihnen Tipps bei der Wohnungssuche 14 www.der-paritaetische.de 3 | 2020
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