Chancen-gerechtigkeit - Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus - VPOD
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Nummer 222 | Juni 2021 Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft Chancen- gerechtigkeit Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus Sektion Zürich Lehrberufe Regionalteil beider Basel GE vpod basel lehrberufe Regionalteil Bern vpod BERN lehrberufe
Inhalt Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft vpod bildungspolitik 222 Juni 2021 Ausgewählte Artikel der aktuellen Nummer der vpod bildungspolitik sind auch auf unserer Homepage zu finden. Jeweils zwei Monate nach Erscheinen sind die vollständigen Hefte als pdf abrufbar: vpod-bildungspolitik.ch Chancengerechtigkeit Buch und Film Impressum Was tun gegen welche 21 Arbeiten in der Tagesschule Redaktion / Koordinationsstelle Bildungsungleichheiten? Zwei neue Publikationen über die Arbeitsbe- Birmensdorferstr. 67 dingungen in der schulergänzenden Betreuung. Postfach 8279, 8036 Zürich Tel: 044 266 52 17 04 Gleichheit und Emanzipation Fax: 044 266 52 53 Was Bildungspolitik bewirken kann und warum sie 22 Bürgerliche Moral im städtischen nicht ausreicht. Email: redaktion@vpod-bildungspolitik.ch Kontext Homepage: www.vpod-bildungspolitik.ch Einblicke des Frauenstadtrundgangs Basel. 06 Selektion und Marktorientierung Herausgeberin: Trägerschaft im Rahmen des Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD Die Ausgabe 76 des Widerspruch hat den 23 Langer Abschied von Privilegien Schwerpunkt «Jugend». Auch Fragen von Schule, Ein Sammelband zum Jubiläum 50 Jahre Einzelabonnement: Fr. 40.– pro Jahr (5 Nummern) Ausbildung und Studium werden behandelt. Frauenwahlrecht in der Schweiz. Einzelheft: Fr. 8.– Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe; 07 Chancenungleichheiten in Schule 24 All inclusive Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG. und Job Ein Schulfilm zum Thema «Kreuzfahrttourismus». Satz: erfasst auf Macintosh Empirische Hinweise. Layout: Sarah Maria Lang, Brooklyn Titelseite Foto: 106313 / photocase.de 11 Bildungshunger Aktuell Druck: Ropress, Zürich ISSN: 1664-5960 Eine Lehrerin berichtet über Kinder mit Migationshintergrund in ihrer Klasse. Erscheint fünf Mal jährlich 26 Lebendiger Unterricht durch Stimme Redaktionsschluss Heft 223: 12 Hilfe zur Selbständigkeit 16. August 2021 Was tun gegen Stimmprobleme? Bei Matura- und Diplomarbeiten ist Unterstützung Auflage Heft 222: 2800 Exemplare gerade für schwächere Schüler*innen wichtig. 28 Wenn Männer Frauen die Welt Zahlungen: 13 Auf der Kriechspur unterwegs erklären PC 80 - 69140 - 0, vpod bildungspolitik, Zürich Inklusion in der Schule kommt in der Schweiz nur Warum wir etwas gegen «Mansplaining» tun Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann langsam voran. müssen und was wir tun können. die Aufnahme eines Inserates ablehnen. 15 Solidarität, Gerechtigkeit und sich Redaktion zu Wehr setzen Basel Verantwortlich im Sinne des Presserechts Johannes Gruber Ein Interview mit Fabio Höhener, Zentralsekretär für Bildung, Erziehung und Wissenschaft. 31 Kerstin Wenk nimmt Abschied Redaktionsgruppe Susanne Beck-Burg, Fabio Höhener, Anna-Lea 32 Miriam Locher im Portrait Pflichtlektion Zürich Imbach, Markus Holenstein, Ute Klotz, Ruedi Lambert (Zeichnungen), Thomas Ragni, Michela Seggiani, Béatrice Stucki, Ruedi Tobler, Yvonne Bern Foto: przemekklos / photocase.de 17 – 20 Das Mitgliedermagazin Tremp (Präsidentin), Peter Wanzenried, Kerstin der Sektion Zürich Lehrberufe Wenk – Nachbesserungen bei Tagesschulen nötig 33 Gemeinsam für bessere – 1.5.21: Keine Reduktion auf Reproduktion! Arbeitsbedingungen! Beteiligt an Heft 222 – «Politisch neutrale» Lehrmittel? David Bärtschi, Miriam Fahrni, Christine Flitner, – 10ni-Pause Rebecca Joss, Vanessa Käser, Ruth Kunz, Beatrice Messerli, Regula Nyffeler, Eric Scherer, Martin Stohler, Monika Wicki 2 vpod bildungspolitik 222
Editorial B ereits 1995 bezeichnete die OECD Aber ob man sich nun auf «Chancengerechtigkeit» «Equity» als eines der fünf wichtigsten oder auf den Begriff der «Chancengleichheit» bezieht: Zukunftsthemen. Ausgerechnet eine Entscheidend ist, dass die real existierenden sozialen Organisation, die für die Erweiterung der Ungleichheiten wahrgenommen und konsequente ökonomischen Perspektive auf Bildungsfragen Massnahmen gegen diese ergriffen werden. Die steht, die Bildung im Zeichen von wirtschaftlicher Welt, in die Kinder heute hineingeboren werden, Zusammenarbeit und Entwicklung sowie als Mittel ist eine höchst ungleiche. Ihrem Herkunftsmilieu zur Erweiterung von Humankapital sieht, brachte entsprechend sind diese mehr oder weniger gut damit Fragen der Chancengerechtigkeit auf die gerüstet, vor den schulischen Herausforderungen politische Agenda. Wie Elke-Nicole Kappus in der sowie in den lebensgeschichtlich später folgenden Einleitung zum Grundlagenbericht der EDK «Equity Konkurrenzkämpfen der Arbeitswelt zu bestehen. – Diskriminierung und Chancengerechtigkeit im Um die Chancengerechtigkeit zu erhöhen, ist Bildungswesen» feststellt, wurde der Begriff «Equity» bildungsstrukturell ein Verzicht auf Selektion oder jedoch in Abgrenzung zum Begriff «Equality» zumindest ein möglichst später Selektionszeitpunkt formuliert: Statt auf absolute Gleichheit zielt er auf anzustreben. Empirische Analysen und Empfehlungen, einen relativen, «kontext- und diversitätssensiblen» wie z.B. die der im Auftrag des Schweizerischen Ausgleich bestehender Ungleichheiten. Das Konzept Wissenschaftsrats herausgegebenen Studie «Soziale von «Equity» soll dazu beitragen, dass die Aufteilung Selektivität», gibt es schon lange, anscheinend werden sozialer Gruppen auf verschiedene Ausbildungsgänge diese aber aufgrund politischer Widerstände weiterhin und Ausbildungsniveaus «gerechter» wird, was immer ignoriert. Ebenso fehlt es am politischen Willen, den das auch konkret heissen mag. Mittlerweile ist «Equity» Umbau des Bildungssystems hin zu mehr Inklusion ein zentraler Indikator im Schweizer Bildungsbericht. voranzutreiben, Förderangebote im Bereich «Frühe Immer schwingt bei dessen Verwendung auch die Bildung, Betreuung und Erziehung» systematisch humankapitalistische Ebene des Begriffs mit. Ein auszubauen oder öffentliche Ganztagsschulen für unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem einzuführen. Zum Schaden sozioökonomisch funktionales Bildungswesen muss, so impliziert der benachteiligter Kinder und Jugendlicher, zum Schaden Aufbau des Bildungsberichts, über ein hohes Ausmass aber auch unserer Gesellschaft und Wirtschaft im an «Effektivität», «Effizienz» und «Equity» verfügen. Ganzen. Cui bono? Johannes Gruber vpod bildungspolitik vpod bildungspolitik 222 3
Chancengerechtigkeit Gleichheit und Emanzipation Foto: suze / photocase.de Was Bildungspolitik vermag und warum sie nicht ausreicht. Von Johannes Gruber Von Johannes Gruber Von Johannes Gruber Von Johannes Gruber 4 vpod bildungspolitik 222
Chancengerechtigkeit 1 784, wenige Jahre vor der fran- zer Bildungssystem die Faktoren tiefer sozio- Erkenntnisse ernst nimmt, muss die Einfüh- zösischen Revolution, hatte der ökonomischer Status, Migrationshinter- rung von Gesamtschulen fordern, in denen Philosoph Immanuel Kant in seinem grund / Fremdsprachigkeit, Bildungsferne / keine Selektion nach Leistungsvermögen bekannten Aufsatz «Was ist Aufklä- tiefer Bildungsstand der Eltern die Schullauf- stattfindet. Die Pisa-Ergebnisse zeigen, dass rung?» die Frage mit der Herausbildung bahn der Kinder stark beeinflussen. Zu dies auch insgesamt zu besseren Leistungen der Fähigkeit beantwortet, «sich seines primären Herkunftseffekten wie schlechtere führen kann: Die finnischen Schüler*innen, Verstandes ohne die Leitung eines anderen Leistungen kommen sekundäre: Auch bei die 9 Jahre lang bis zum Alter von 15 eine zu bedienen». Sowohl eine Grundbedingung gleichen oder sogar besseren Leistungen Gemeinschaftsschule besuchen, schneiden dafür als einzelner Mensch sein Schicksal werden Schüler*innen je nach Herkunft bei internationalen Leistungsvergleichen in die eigene Hand zu nehmen, als auch als schlechter bewertet. Die soziale Selektivität überdurchschnittlich gut ab. Gesellschaft demokratische Entscheidungen des Schweizer Bildungssystems vergrössert Besonders stark profitieren von einer zu treffen. sich von Bildungsstufe zu Bildungsstufe. vielfältigen und damit anregungsreichen Die Institutionalisierung der öffentlichen Hinsichtlich der gymnasialen Maturität ver- sozialen Zusammensetzung von Schu- Schulen im 19. Jahrhundert waren diesem merkt die Studie für Akademikerkinder eine len und Schulklassen auch Kinder und aufklärerischen Programm verpflichtet, 7 Mal höhere Chance, «die gymnasiale Ma- Jugendliche mit Handicaps. Dementspre- Menschen zu bilden und zu verbessern. Bis turität zu erwerben als Kinder von geringer chend ist auch Inklusion von Kindern mit heute prägt es den Kern dessen, was wir gebildeten Eltern, und eine 2,9 Mal höhere Behinderungen in die Regelschule eine unter Bildung verstehen. Diese erschöpft Chance als Kinder von Eltern mit mittlerem wichtige bildungspolitische Strategie. Mit sich nicht in der Aneignung von Wissen, Bildungsniveau.» (SWR 2018, S. 48) dem Behindertengleichstellungsgesetz von sondern beinhaltet auch das Vermögen, das Bereits zu Beginn der 1970er Jahre hatte 2004, dem Sonderpädagogik-Konkordat Anerzogene und Gelernte in Frage zu stellen. Pierre Bourdieu in seinen Studien zum von 2013 und der 2014 erfolgten Ratifika- Selbständige Urteils- und Handlungsfähig- französischen Bildungssystem aufgezeigt, tion der UN-Behindertenrechtskonvention keit als oberstes Bildungsziel – angesichts dass «Chancengleichheit» nicht nur eine durch die Schweiz wurde hierzulande eine des derzeitigen beschleunigten technologi- Illusion ist, sondern dass diese Illusion Entwicklung hin zu einem inklusiven schen Wandels sowie kultureller und sozialer zudem auch eine wichtige ideologische Bildungssystems aufgegleist. Damit diese Umbrüche geradezu ein unerhört aktuelles Funktion hat. Indem so getan wird, als ob jedoch auch tatsächlich stattfindet, braucht Bildungsverständnis. alle Schüler*innen die gleichen Chancen es Strukturreformen und vor allem ausrei- Doch mit dem Zeitalter der Aufklärung hätten und fair bewertet werden, wird dem chende Ressourcen für die notwendigen und der französischen Revolution wurden Schulerfolg die Legitimität zugeschrie- Massnahmen. Bis jetzt ist dies noch nicht gesellschaftliche Ungleichheiten nicht auf- ben, über den weiteren Lebensverlauf der abzusehen. gehoben, weiterhin blieb Bildung erst einmal Schüler*innen – den Zugang zu beruflichen Es spricht vieles dafür, dass gemeinsames ein Privileg, von dem die Mehrheit der Karrieren, höheren Einkommen und sozialer Lernen ganztags stattfinden sollte. Der der- Schweizer Bevölkerung – Bauern, Arbeiter Wertschätzung – zu entscheiden. Bourdieu zeit in einigen Kantonen laufende Ausbau sowie die meisten Frauen – ausgeschlossen kommt zu dem Schluss, dass eine solche «Re- der Tagesstrukturen hin zu einer Tagesschu- waren. Dies änderte sich nur sehr lang- produktion sozialer Ungleichheit» sogar die le ist deshalb unbedingt unterstützenswert. sam: Wichtige Wegmarken waren hier die zentrale Funktion des Bildungssystems ist. Zu bevorzugen wäre jedoch eine öffentliche Einführung von öffentlichen Schulen und Wie aber kann Bildungspolitik gegen solche Ganztagsschule, in der Schule und Betreu- Schulpflicht im 19. Jahrhundert sowie der Strukturmechanismen gute Bildungsmög- ung konzeptuell aufeinander abgestimmt schrittweise Auf- und Ausbau eines diffe- lichkeiten und -erfolge für alle erreichen? sind und Kinder in festen Teams ganztägig renzierten öffentlichen Bildungssystems im unterrichtet und gefördert werden. 20. Jahrhundert. Bis heute bestehen viele Für eine Schule ohne Selektion Bildungsungleichheiten fort. Je mehr Zeit die Kinder und Jugendlichen Frühes und lebenslanges Lernen überwiegend im sozialen Umfeld ihrer ermöglichen Bildung – Mittel oder Herkunftsfamilie verbringen, desto stärker Weil vom gemeinsamen Lernen alle profi- Gegenmittel zur Reproduktion reproduzieren sich die herkunftsbedingten tieren, ist eine früh beginnende Schulpflicht von Ungleichheiten? Ungleichheiten. (bzw. die Einführung des obligatorischen Seit Jahrzehnten legen bildungssoziologi- Auf Ebene des Bildungssystems muss Kindergartens) sinnvoll, die entsprechend sche Studien dar, dass weiterhin soziale Her- deshalb eine möglichst lange gemeinsame dem HarmoS-Konkordat (ab dem 4. Le- kunft für den Schulerfolg entscheidend ist. Beschulung von Kindern aus verschiede- bensjahr) bereits jetzt für eine Mehrheit der Verortete die empirische Bildungsforschung nen sozialen Milieus gefordert werden. Kantone Standard ist. Ohne Obligatorium in den 1960er Jahren die «katholischen Bestätigt wird dies in den Ergebnissen des wären wohl – aus finanziellen und kulturel- Arbeitermädchen vom Lande» als die im SWR-Berichts, der darauf verweist, dass in len Gründen – gerade die Kinder nicht erfasst Bildungssystem am stärksten benachteiligte hierarchisch gegliederten Bildungssystemen worden, die nun am meisten von den zwei Gruppe, so sind es heute die «Knaben aus- die soziale Herkunft den Bildungs- und zusätzlichen Schuljahren profitieren. Dies ländischer Herkunft»: In den Regelklassen Lebensweg von Kindern und Jugendlichen bestätigt ein Blick in den Bereich frühkind- der Schweizer Volksschule betrug 2018/19 aus unteren sozialen Schichten besonders liche Bildung, Betreuung und Erziehung der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit stark prägt. Im Schweizer Schulsystem (FBBE), in dem gerade im internationalen ausländischer Staatsangehörigkeit 27 Pro- seien zudem der «früh vorgenommene Vergleich erhebliche Defizite bestehen. Auch zent, dagegen 49 in den Einführungsklassen erste Übergang im Bildungssystem und die hier ist der Ausbau der wenigen existieren- und 55 in den anderen Sonderklassen – je- dabei stark ausgeprägte leistungsbezogene den öffentlichen Angebote und Programme weils mehrheitlich Knaben (BFS 2020, S. 9). Allokation auf die Schullaufbahnen in der ein Muss. Die Studie «Soziale Selektivität» des Sekundarstufe I […] weitere institutionelle Da die Notwendigkeit zu lernen in einer Schweizerischen Wissenschaftsrates von und strukturelle Schlüsselfaktoren für modernen Gesellschaft wie der Schweiz we- 2018 zeigt eindrücklich auf, dass im Schwei- soziale Ungleichheit». (SWR, 45) Wer diese der mit der obligatorischen Schule noch mit vpod bildungspolitik 222 5
Chancengerechtigkeit Abschluss eines Studiums endet, braucht es Chancengleichheit im Bildungssystem ver- eine Sozial- und vor allem Wirtschaftspolitik, auch öffentliche Weiterbildungsangebote, bessert werden muss. die über mehr Umverteilung eine tatsächli- die für wirklich alle Bevölkerungsgruppen Unser Ansatz muss jedoch ein anderer che Angleichung von Lebensbedingungen zugänglich sind. Das in der Schweiz vor- sein. Es geht um mehr, als «nur» die bewirkt. Vermutlich würde dies, wenn auch handene Weiterbildungsgesetz (WeBiG) Chancen von benachteiligten Gruppen im indirekt, stärker zur Chancengerechtigkeit ist hier jedoch kaum hilfreich, da es stark schulischen Wettbewerb zu verbessern. Wir im Bildungssystem beitragen als alle bil- von der Vorstellung privatwirtschaftlich müssen die Freiheitsräume von Individuen dungspolitischen Reformen zusammen. organisierter und marktorientierter Wei- erweitern – und nicht lediglich Sieger*innen terbildung geprägt und zudem inhaltlich und Verlierer*innen im schulischen Wett- Johannes Gruber ist Redaktor der «vpod auf Nachholbildung beschränkt ist. So bewerb leistungsgerechter ermitteln. Auch bildungspolitik» und als VPOD-Fachsekretär für jedenfalls wird das Gesetz seinem eigenen die Praxis, erstere privilegierten und letztere den Bereich Migration verantwortlich. Viele Jahre Anspruch nicht gerecht, «lebenslanges prekären Segmenten des Arbeitsmarktes war er als promovierter Soziologe in Lehre und Lernen» zu fördern. Wir müssen erreichen, zuzuordnen, muss infrage gestellt werden. Forschung sowie in der Erwachsenenbildung tätig. dass für niemanden in der Schweiz Weiter- Emanzipatorische Bildungspolitik zu bildung an mangelnden Angeboten oder betreiben, bedeutet auch, sich klar darüber mangelnder Finanzierbarkeit scheitert. zu sein, dass mit Bildung alleine die gesell- BFS (2020). Statistik der Sonderpädagogik. Schuljahr 2018/19. schaftlichen Unfreiheiten und Zwänge, Aus- SWR (2018): Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schwei- Mehr Ressourcen für beutung und Diskriminierung nicht über- zerischen Wissenschaftsrates SWR. Expertenbericht von schülerorientierten Unterricht wunden werden können. Hierfür braucht es Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR. Wir brauchen jedoch nicht nur Reformen auf Ebene des Bildungssystems, sondern auch auf Schul- und Unterrichtsebene. Oft höre ich von Lehrpersonen, dass hier- archische und bürokratische Strukturen an den Schulen eine Unterrichtsentwicklung verhindern, die sich an der Logik und Selektion und Marktorientierung Dynamik des Lernens orientiert. Immer mehr Zeit müsse darauf verwendet werden In ihrer 76. Ausgabe widmet sich die Zeitschrift «Widerspruch» dem zu überwachen, wo welche Schüler*in Themenschwerpunkt «Jugend – aufbrechen, scheitern, wann steht und den Eltern entsprechende weitergehen». Auch strukturelle Probleme der Volksschule und Rückmeldungen zu geben, diese Zeit fehle Berufsbildung werden aufgezeigt. Von Johannes Gruber dann für die Gestaltung des Unterrichts. Generell sollte der Unterricht weniger notenorientiert erfolgen und individuell auf die jeweilige Schüler*in hin ausgerich- F itzgerald Crain arbeitet in seinem Bei- trag «Die Ausgegrenzten des A-Zugs und das Versprechen der integrativen Der Beitrag «Schule als Stigma. Die Sekundarstufe aus Sicht des untersten Leistungszugs» von Rebekka Sagelsdorf tet sein. Oft scheitert dies jedoch bereits an Schule» den grundlegenden Widerspruch den vorhandenen Ressourcen. zwischen der Idee einer integrativen Für eine hohe Bildungsqualität braucht Schule und unserer auf Konkurrenz es zuallererst gute Arbeitsbedingungen beruhenden Leistungsgesellschaft her- für Lehrpersonen, kleinere Schulklassen aus, der die Schule durchgehend präge: und mehr Möglichkeiten individueller «Der integrativen Schule entspricht die Förderung. Jedenfalls gilt: Je besser der Forderung, dass jedes Kind an seinen Unterricht, je kleiner die Auswirkung der individuellen Möglichkeiten zu messen sozialen Herkunft auf den Schulerfolg. sei. Kooperation und Gemeinschaftsleben Deswegen braucht es einen massiven werden grossgeschrieben. Dieser Idee Ausbau des öffentlichen Bildungssystems entgegengesetzt sind das Konkurrenz- respektive die dafür nötigen finanziellen denken, die durchgehende vergleichende Ressourcen. Bei der Bildung unserer Leistungsmessung sowie der Nützlich- Kinder dürfen weder Kosten noch Mühen keitsgedanke, gemäss dem die Schule gescheut werden, damit diese unabhängig primär auf die Erfordernisse der moder- von ihrer Herkunft ihren Weg gehen und nen Arbeitswelt vorbereiten soll.» (15) zu einem selbstbestimmten Leben in un- In einer skizzenhaften Analyse der serer Gesellschaft befähigt werden. Entwicklung des globalen Kapitalismus und seiner Auswirkungen auf das Basler Grenzen der Bildungspolitik Schulsystem kommt Crain zum Schluss, Seit dem Reüssieren der Humankapital- dass die Basler Schulreform von 2009 mit theorie in den Wirtschaftswissenschaften der Wiedereinführung einer dreigliedrigen ist das Fordern nach mehr Investitionen Struktur der Sekundarstufe I den Funkti- in den Bildungsbereich nicht länger ein onserfordernissen des aktuellen Kapitalis- Alleinstellungsmerkmal linker Bildungs- mus entspricht. Diese untergrabe jedoch Widerspruch 76. Beiträge zu politik. Inzwischen ist es bildungsöko- die Arbeit an der integrativen Schule. sozialistischer Politik. nomisches Allgemeingut, dass es Res- Wenn diese mehr als eine Worthülse sein Rotpunkt Verlag, Zürich. sourcenverschwendung ist, vorhandene soll, muss, so Crain, «die Einteilung in 200 Seiten, Fr. 26.90 Bildungspotentiale brachliegen zu lassen vorgegebene Leistungszüge auf der Sekun- – und dass aus diesem Grund auch die darschulstufe» (16) aufgegeben werden. 6 vpod bildungspolitik 222
Chancengerechtigkeit und Augustus Simons knüpft an diese Er- kenntnis Crains an, die «frühe Aufteilung der Schüler*innen in Leistungszüge [wird] als einer der wesentlichen Gründe für die vergleichsweise tiefe Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem» (19) angesehen. Idealtypisch werden für die Schweiz drei Sekundarschulmodelle mit unterschiedli- chen Graden von Leistungsdifferenzierung beschrieben, in der Deutschschweiz domi- niert das «geteilte Modell» mit starr drei Leis- tungszügen. Empirische Analysen zeigen, dass diese Differenzierung tatsächlich die Schüler*innen weniger nach Leistung ver- schiedenen Schultypen zuweist, denn nach sozialer Herkunft. Die soziale Herkunft be- stimmt also das besuchte «Leistungsniveau» dieses wiederum die Ausbildungschancen. Anhand der Perspektiven zweier A-Zug- Schüler einer baselstädtischen Sekundar- schule wird exemplarisch vorgeführt, wel- Chancenungleich- heiten in Schule che Auswirkungen die Zuteilung in den anspruchslostesten Zug auf die Schüler hat. Bojan, eine Junge serbischer Herkunft, und Job berichtet von Stigmatisierung und Zukunfts- ängsten. Davide wiederum, ein ehemals guter Primarschüler, ist beim Übergang auf die Sekundarschule in den A-Zug abgestürzt: «Seine Überforderung und die daraus Empirische Hinweise, dass die sozialen Unterschiede bei Bildungs- entstehende Gleichgültigkeit der Schule und Lebensperspektiven weiter bestehen und grösser werden. gegenüber belegen nicht unbedingt ein Von Thomas Ragni defizitäres Verhalten seinerseits. Sie können durchaus auch als Indikatoren dafür gelesen werden, dass die Strukturen der neuen Schule nicht ausreichen, um den grösseren N achfolgend will ich in Abbildungen eini- ge Kennzahlen darstellen, die Hinweise geben auf das Ausmass und die Entwicklung Beträgen ausgedrückt), nämlich von -80% auf -114%. In der gleichen Zeit hat die relative Überrepräsentation der Studierenden, deren Bedarf nach Orientierung und Anleitung von faktisch bestehender Chancenungleichhei- Eltern bereits einen Hochschulabschluss Schüler*innen sozial benachteiligter Famili- ten bei der schulischen Selektion, die für den erreicht haben, abgenommen von +70% en aufzufangen.» (26) Und: Studien zeigen, individuellen Bildungserfolg bestimmend auf +57%. Zwischen 2005 und 2016 ist dass der Lernfortschritt von Schülerinnen ist und so die spätere Jobkarriere vorspurt. somit die relative Überrepräsentation in mit vergleichbaren Voraussetzungen im Leider sind empirische Daten für die der höchsten Bildungsherkunftsgruppe um tiefsten Leistungsniveau deutlich geringer Schweiz nur sehr spärlich und lückenhaft 13% gesunken, während die relative Unter- als im erweiterten Niveau ist. verfügbar. Zeitreihen ohne statistische repräsentation der niedrigsten Bildungsher- Zwei weitere Beiträge widmen sich der Brüche existieren nur sehr selten. Aus «Geld- kunftsgruppe um 34% gestiegen ist. Dies Berufsbildung. Während Joëlle Racine und mangel» – sprich: aus Mangel an politischem weist zusammengenommen auf eine eher Kathrin Ziltener danach fragen, wie stark Interesse aufgrund fehlenden öffentlichen gesunkene intergenerationelle Bildungsmo- «das Schweizer Berufsbildungssystem von Drucks – nahm die Schweiz auch nicht an bilität zwischen 2005 und 2016 hin. Sicher einem neoliberalen Wirtschafts- und Ge- neueren Projekten der OECD teil, die etwas aber ist sie nicht spürbar angestiegen. sellschaftsbild geprägt» wird und wie sich Licht auf Fragen der Chancengerechtigkeit Hinsichtlich geschlechterspezifischer Un- dies insbesondere in Zeiten von Covid-19 werfen könnten. International harmonisier- terschiede weisen empirische Studien darauf auf die Arbeits- und Lebensrealität von te Indikatoren für einen belastbaren Län- hin, dass die systematisch besseren Test jungen Menschen» auswirkt, schildert Luca dervergleich unter Einschluss der Schweiz scores bei der Selektion in «weiterführende Preite anhand einer Fallstudie, wie eine sind daher auch nicht verfügbar. Immerhin Schulen» von Mädchen gegenüber Jungen Jugendliche mangels anderer Perspektiven habe ich vereinzelte Statistiken entdeckt, die unter anderem mit den höheren Bildungsas- eine teure berufsbildende Privatschule einen Hinweis auf die Lage in der Schweiz pirationen der Mädchen zusammenhängen. besucht. Preite stellt unter anderem die geben können. Diese Aspirationen wiederum sind abhängig These auf, dass die jedes Jahr wieder hohe von genderspezifisch unterschiedlichen Foto: Hyejin Kang / stockAdobe.com Zahl unbesetzter Lehrstellen auch auf die Bildungsungleichheiten Einflussstärken von objektiven sozioökono- Betriebe zurückzuführen ist, «die es trotz Was lässt sich aus der Grafik Abbildung 1 mischen und subjektiven sozialisierenden Bewerbungen vorziehen, ausgeschriebene (S. 8) für die intergenerationelle Bildungs- Determinanten.1 Das heisst, der systematisch Lehrstellen nicht zu besetzen.» (46) Auf mobilität ablesen? Von 2005 bis 2016 hat die bessere Bildungserfolg der Mädchen gegen- welcher Basis die Ablehnungen zustande relative (prozentuale) Unterrepräsentation über Jungen ist im Wesentlichen nicht erklär- kommen, darüber können nur Vermutun- der universitären Hochschülerinnen und bar durch institutionelle Diskriminierung gen angestellt werden: «die Schulnoten, Hochschüler, deren Eltern höchstens einen und Diskrimination von Jungen innerhalb die Schulleistung, das Sozialverhalten, das obligatorischen Schulabschluss haben, des Bildungswesens, sondern ist das Resultat Geschlecht, die Nationalität? deutlich weiter zugenommen (in absoluten von genderspezifisch unterschiedlich stark vpod bildungspolitik 222 7
Chancengerechtigkeit wirkenden gesellschaftlichen Einflüssen, Abbildung 1 Über- / Unterrepräsentation (+ / -) der Hochschülerinnen die aber nicht eindeutig als gesellschaftliche und Hochschüler bezüglich höchster abgeschlossener Ausbildung der Diskrimination zu qualifizieren sind. – Der Elterngeneration (in %) Quelle: BFS – SSEE, SAKE, eigene Darstellung und eigene Berechnung nochmals deutlich grössere Unterschied der Selektionsquoten zwischen schweizeri- schen und ausländischen Kindern könnte die Kombination zweier Effekte zeigen: einerseits jenen der institutionellen Diskri- minierung / Diskrimination in den Schulen der Sekundarstufe I, anderseits jenen der «reinen» Chancenungleichheit aufgrund sozioökonomischer und -kultureller Merk- male (des tieferen Wohlstands bzw. der grösseren «Bildungsferne» der Eltern etc.) (vgl. Abbildung 2). Der Verdacht der entscheidenden Rolle des Wohlstands der Eltern für den Selek- tionserfolg ihrer Kinder kann noch weiter erhärtet werden: Wenigstens für den Kanton Zürich existieren statistische Erhebungen auf Gemeindestufe, die es erlauben, den durchschnittlich realisierten «Bildungser- folg» der Schülerinnen und Schüler (SuS) mit dem durchschnittlichen Wohlstand der Eltern in Verbindung zu setzen. Für das letzte verfügbare Jahr 2018 zeigt sich nämlich Lesebeispiel: Bildungsabschluss. Somit waren die die effektive Unterrepräsentation in Hochschülerinnen und Hochschüler Bezug zur relativen Kleinheit dieser 2005 hatten die Eltern von 8.8% aller Folgendes: Hochschülerinnen und Hochschüler mit dieser niedrigsten Bildungsherkunft Gruppe im Vergleich zu den zum Teil um -7.0 Prozentpunkte (PP) unterre- viel grösseren Gruppen mit höherem Im Kanton Zürich hängt der durch- nur die obligatorische Schule als präsentiert. Weil aber diese Gruppe Bildungsabschluss. In Bezug zur höchsten Bildungsabschluss. Im mit niedrigstem Bildungsabschluss eigenen Bildungsgruppe entspricht die schnittliche «Bildungserfolg» der SuS der gleichen Jahr hatten aber 15.8% anteilsmässig zum Teil viel kleiner ist absolute Unterrepräsentation von -7.0 Gemeinden mit dem durchschnittlichen der gesamten Elterngeneration der als jene der anderen Bildungsgruppen, PP einer relativen Unterrepräsentation 45-54-jährigen Erwerbspersonen unterschätzt die Unterrepräsentation von -80%: -7.0 PP sind knapp -80% «Wohlstand» der privaten Haushalte der höchstens einen obligatorischen von 8.8 PP. in absoluten Prozentpunkten (PP) Gemeinden augenscheinlich sehr eng zu- sammen (vgl. Abbildung 3). Verklausuliert spricht man meistens Abbildung 2 Selektion der Schülerinnen und Schüler (SuS) auf nicht platt direkt vom unterschiedlichen der Sekundarstufe I nach Geschlecht und Nationalität, 1995/96–2018/19 in «Wohlstand» der Elternhaushalte, sondern weiterführende Schulen mit «erweiterten Ansprüchen»; in % der SuS der 8. Klasse distinguiert von ihrer «Bildungsnähe / -fer- (10. Schuljahr HarmoS) in öffentlichen Bildungsinstitutionen ne», weil auch im internationalen Vergleich Quelle: BFS empirisch robust nachzuweisen ist, dass der mit dem höchsten erworbenen symbolischen Bildungstitel gemessene «Bildungserfolg» mit dem «Wohlstand» der Erwerbspersonen, gemessen mit ihrem Nettoeinkommen, sehr hoch korreliert (vgl. Abbildung 4). Bei je gleichen schulisch bewerteten Skills (das heisst bei statistischer Kontrolle der schulischen Performance der Kinder) ist der sozioökonomisch und -kulturell unterschied- liche Bildungserfolg in der Bildungskarriere abhängig von bewussten institutionellen Dis- kriminierungen und unwillkürlich und un- bemerkt bleibenden Diskriminationen, die via die «feinen Unterschiede» im sozioöko- nomischen und -kulturellen Habitus (Pierre Bourdieu) in diesbezüglich je unterschiedli- che Selektivitäten transformiert werden. Der Bildungserfolg in der Bildungskarriere ist aber auch von den wie auch immer «objekti- vierbar» zu messenden schulisch bewerteten Skills abhängig, die ihrerseits von sozioöko- nomischen und -kulturellen Determinanten übergreifenden Tests z.B. bei der Beurtei- Reflex gesellschaftlicher Diskrimination, beeinflusst werden. (Im PISA-Projekt ist der lung der Lesekompetenz ganz zu neutrali- die sich in unterschiedlichen Startchancen Anspruch, dass die verzerrenden Einflüsse sieren sind.) Diese Determinanten sind nicht im Bildungswesen niederschlagen. Gemäss der Notengebung durch die Lehrpersonen Reflex der institutionellen Diskrimination einer jüngst publizierten empirischen Unter- dank standardisierten schul- und länder- innerhalb des Bildungswesens, sondern der suchung2 hat aber auch noch die «subjektive» 8 vpod bildungspolitik 222
Chancengerechtigkeit Abbildung 3 Zusammenhang zwischen durchschnittlichem Wohlstand kann man rückschliessend argumentieren, der Haushalte und durchschnittlicher Maturaquote der Zürcher Gemeinden dass das über den sozialen Status vermittelte Quelle: Statistisches Amt Kanton Zürich, Erhebung 2018, eigene Berechnung und eigene Darstellung; gestrichelte Linie = grössere oder kleinere «Selbstvertrauen» Trendlinie (polynomisch) und die ebenso vermittelte stärkere oder schwächere «Selbstsicherheit» und die entsprechende «Anspruchshaltung» ein weiterer indirekter Kanal der Diskrimina- tion ist. Einerseits rührt dieser von einem «Signalling» auf die Lehrpersonen her (und stellt damit einen Teil der institutionellen Diskrimination dar), anderseits übt dieser Kanal aber auch mit steigendem sozialen Status einen objektiven positiven bzw. mit sinkendem sozialen Status einen objektiven negativen «Leistungs»-effekt auf die schu- lisch bewerten Skills aus (und stellt einen Teil der gesellschaftlichen Diskrimination dar). Beide Arten der Diskrimination, die institutionelle und die gesellschaftliche, bestimmen zusammengenommen das totale Ausmass der Chancenungleichheit. In der Schweiz ist der totale Effekt der mittels ESCS erfassten sozioökonomischen und -kulturellen Determinanten auf die Leseperformance nach Frankreich am zweit- stärksten (grüne Balken) im Vergleich der vier Nachbarländer und vier weiteren mit Abbildung 4 Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und der Schweiz vergleichbaren Ländern (vgl. Nettoeinkommen 2018 in der Schweiz im Vergleich zu den Nachbarländern (nicht Abbildung 5, S. 10). Dieser objektive Effekt verfügbar: Italien) und vier ähnlichen Ländern (hinsichtlich Wohlstand pro Kopf und von ESCS reduziert sich in der Schweiz unter Einwohnerzahl) den Vergleichsländern am drittschwächsten Quelle: OECD, Education at a glance 2020, Erhebung 2018, eigene Berechnung und eigene Darstellung; Nettoeinkommen indexiert (100 / rote Linie = «Below upper secondary» = höchstens obligatorischer Schulabschluss) (nach Italien und den Niederlanden), wenn der Einfluss der subjektiven Selbstwahr- nehmung der eigenen Leseperformance auf die objektiv gemessene Leseperformance kontrolliert wird (schwarze Balken). Das heisst, der zusammengenommene Einfluss des «Signalling» des sozialen Status auf die Lehrpersonen und des objektiv positiven Einflusses des mit dem sozialen Status stei- genden Selbstvertrauens ist in der Schweiz zwar noch immer hochsignifikant, aber vergleichsweise relativ schwach ausgeprägt. Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt Der unterschiedliche Schulerfolg hat Folgen. Der Median des Bruttoerwerbseinkommens (BEE) der Hilfsarbeitskräfte ist robust knapp dreimal kleiner als jener der höchstqualifi- zierten Berufe (exklusive «Führungskräfte») (vgl. Abbildung 6, S. 10). Mit der Zeit hat sich auf dem Arbeits- Lesebeispiel: eliminiert werden und in der Grafik nur II um rund 25% höher als jenes der markt eine stabile Struktur mit drei Job- Für jedes abgebildete Land ist das noch die länderspezifischen Effekte Gruppe mit bloss obligatorischem Hauptsegmenten ausgebildet: (1) Prekäre höherer Bildungsabschlüsse sichtbar Abschluss (in Frankreich bloss rund mittlere standardisierte Einkommen werden, und zwar so, dass die Länder 5% höher). Die Gruppe mit einem Hire & Fire-Jobs der Randbelegschaft, (2) 2018 für die Gruppe, die höchstens die obligatorische Schule absolviert hat, direkt miteinander vergleichbar sind. – Bachelor-Abschluss hat in der Schweiz Normalarbeitsverhältnisse, die mit der Zeit Wie viele Prozent grösser ist nun das ein um knapp 70% höheres mittleres mit 100 Punkte indexiert worden. Dies mittlere Einkommen für die Gruppen Einkommen als die Gruppe mit bloss betriebsspezifisches Humankapital in der ist mit einer waagrechten grünen Linie gekennzeichnet. Die Indexierung hat mit immer «höherer» Ausbildung in einem obligatorischen Bildungsab- «Kernbelegschaft» aufbauen und damit auch jedem Land? In der Schweiz ist das schluss (in Deutschland deutlich über den Vorteil, dass die unterschiedlichen mittlere Einkommen der Gruppe mit 120% höher), etc. Lohnrenten realisieren können, (3) Jobs mit Lohnniveaus der einzelnen Länder einem Abschluss auf Sekundarstufe hohem Sozialprestige und meist auch klarer Karriereperspektive. Das dem Arbeitsmarkt Selbstzuschreibung der eigenen schulischen der Einfluss der «rohen» sozioökonomi- vorgeschaltete Bildungswesen hat sich über Skills einen Effekt auf die «objektiv» gemes- schen und -kulturellen Determinanten auf die Zeit immer «besser» an die stabile hierar- sene schulische Performance. Weil dadurch die schulische Performance verändert wird, chische Struktur der Einsteigerjobs adaptiert, vpod bildungspolitik 222 9
Chancengerechtigkeit indem sich im Bildungswesen eine an den Abbildung 5 Einfluss von sozioökonomischen und -kulturellen Arbeitsmarkt anschliessbare hierarchische Determinanten (ESCS) auf die Lesekompetenz Struktur der Bildungsabschlüsse ausgebildet Quelle: OECD Database, eigene Darstellung hat. Die Verlierer im Bildungswettkampf kommen in das Segment der prekären Jobs. Die Sieger im Bildungswettkampf werden in die Karrierejobs hineinselegiert. Und für die «Normalbegabten» sind eben die Normalarbeitsverhältnisse reserviert. Die Verlierer sind gesellschaftlich objektive Verlierer, weil ihre Jobs kein Sozialprestige, überwiegend anstrengende, langweilige und fremdbestimmte Tätigkeiten, unsichere Anstellungsverhältnisse, schlechte Arbeits- bedingungen, tiefe Einkommen bieten. Und spiegelbildlich sind die Sieger gesellschaft- lich objektive Gewinner, weil sie hohe Ein- kommen erzielen, Sozialprestige geniessen, häufig interessante, abwechslungsreiche und selbstbestimmte Tätigkeiten ausüben, sichere Anstellungsverhältnisse haben und sich guter Arbeitsbedingungen erfreuen. Sicher, auch eine objektive Verliererin kann subjektiv sich ihres Lebens erfreuen, eine glückliche Beziehung führen, ihre Kinder lieben, schliesslich sogar ihren Job Erläuterungen: performance that is associated with the score-point change in reading a one-unit change in ESCS when performance that is associated with ohne Klagen erledigen. Und sicher, auch ein ESCS = total effect of the PISA index accounting for gender a one-unit increase in ESCS when of economic, social and cultural status objektiver Sieger kann todunglücklich sein, (ESCS) - ESCS effect when accounting for accounting for gender and self- the indirect effect of self-perception perception von Neid und Ehrgeiz zerfressen, in einer - Total effect of ESCS represents of reading performance represents Katastrophenbeziehung gefangen sein, sich the score-point change in reading von seinen Kinder entfremdet haben, zum Alkoholiker werden, Suizid begehen. Das än- dert aber nichts daran, dass sie gesellschaft- Abbildung 6 Standardisierte Bruttoerwerbseinkommen (BEE) der höchst- lich eindeutig objektive Verlierer bzw. Sieger und tiefstqualifizierten Berufe nach ISCO, umgerechnet in Frankenwerte 2019 bleiben.3 Reiche, erfolgreiche, angesehene Quelle: BFS (SAKE, LIK), eigene Darstellung und eigene Berechnung Individuen haben im Mittel weniger Krank- heiten, sind gesünder, leben länger, können also ihren objektiv besseren Lebensstandard auch subjektiv besser und länger geniessen. Ohne diese gesellschaftliche Objektivität der Begehrtsheitsrangfolge der Einsteiger- jobs liessen sich viele Phänomene schlecht verstehen, wie z.B. der immer lückenloser zu erlebende elterliche Ehrgeiz im Hinblick auf den hierarchisch möglichst hoch angesie- delten Bildungserfolg ihrer Schützlinge am Ausgang der Bildungskarriere – und zwar auch in den angeblich «bildungsfernen» Schichten, selbst wenn deren objektiver Unterstützungs- und Förderbeitrag für ihre Sprösslinge systematisch geringer ausfällt als jener aus den «bildungsnahen», sprich: wohlhabenden Schichten. Thomas Ragni arbeitet als Ökonom beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Seit 2001 ist er Mitglied der Redaktionsgruppe der vpod bildungspolitik. 1 So reagieren Jungen in Grossbritannien Series, No. 2013-15, University of Essex, dass Zigarettenrauchen das Risiko für Lun- standard. Die verschwendete Lebenszeit ist vergleichsweise sensitiver auf die negativ Institute for Social and Economic Research genkrebs und Herzinfarkt signifikant erhöht, beträchtlich, die allein der Suchtbefriedi- oder positiv wirkende subjektive elterliche (ISER), Colchester. wenn einzelne Kettenraucher 100-jährig gung dient, nur um immer wieder von neu- Haltung und Aspiration gegenüber Bildung, 2 OECD (hg), 21st‑Century Readers. werden und dann auch nicht an Lungen- em «normal durch den Tag zu kommen» (so während Mädchen den negativ oder positiv Developing Literacy Skills in a Digital World, krebs oder Herzinfarkt sterben. Zweitens: wie ein starker Alkoholiker morgens nach wirkenden Einflüssen objektiver sozioöko- OECD, Paris 2021, S. 114 ff Sogar diese glücklichen Einzelfälle («statis- dem Aufstehen zuerst einen Liter Schnaps nomischer Faktoren vergleichsweise stärker tische Ausreisser») erleiden in ihrem Leben trinken muss, damit das starke Zittern der ausgesetzt sind. Vgl. Tina Rampino, Mark 3 Diese Aussage beinhaltet zwei Teilaspek- massive Nachteile aufgrund ihrer Sucht des Hände wieder aufhört). Etc. Taylor, Gender differences in educational as- te, die an einem Beispiel illustriert werden Kettenrauchens. Die Sucht ist zu finanzieren pirations and attitudes, ISER Working Paper sollen. Erstens: Es bleibt auch dann korrekt, und senkt den sonst erreichbaren Lebens- 10 vpod bildungspolitik 222
Chancengerechtigkeit Bildungshunger Eine Primarlehrerin berichtet über ihre Erfahrungen mit Kindern mit Migrationshintergrund. Von Susanne Beck-Burg V ier Kinder mit Migrationshintergrund in unserer 2. Klasse1 arbeiten mit einer auffallend dauerhaften Motivation in allen herrschen, lösen sie jetzt ab und zu Aufgaben aus Arbeitsheften für die 4. Klasse. Sie führen wunderschöne Hefte. Vorschläge zur Weiter- arbeiten wollen, sehe ich noch lange keine Gefahr von «Überintellektualisierung». Ich spreche explizit für meine Klasse, in der Fächern. Durch ihre ausgeprägten Ressour- führung von Aufgaben werden aufgesogen wir uns viel bewegen, in den Wald und auf cen und ihre hohe Arbeitsmoral wirken sie und postwendend ausgeführt. Dazu kommt den Bauernhof gehen und uns auf Kreatives anspornend und ziehen voran. Es kommen ein Verhalten, das sehr bescheiden, fein und einlassen. Vielleicht ist es auch gerade eine alle Schüler*innen gerne zur Schule und sind sozial ist. Sind sie unterfordert, stören sie Frucht von ganzheitlichem Unterricht, dass für vieles zu begeistern. Fragt die Lehrkraft: den Unterricht nicht. Sie beschäftigen sich die Schüler*innen der anfallenden Knochen- «Wer will…….?», so schnellen schon die meis- dann oft selber, indem sie z.B. Hefteinträge und Kopfarbeit nicht überdrüssig werden. ten Hände in die Höhe, bevor die Lehrerin vertiefen, Varianten erfinden und ausführen Nicht selten ruft nach einer vollen Lektion den Satz beenden und den Schüler*innen etc. Sie kommen gerne eine Viertelstunde zu Mathematik über die Hälfte der Klasse vor der mitteilen kann, um was es geht und was sie früh in die Schule, entweder um Schach zu Pause: «Schade, wir wollen weiter rechnen!» ihnen vorschlagen will. spielen, Fragen zu stellen oder ihre freiwillig ausgefüllten Arbeitsblätter korrigieren zu Erhöhte Chancenungleichheit Die fleissigen Vier lassen. Im Unterricht erweitern sie ihren Als IF-Lehrerin (2016-19) hatte ich oft mit Kin- Was die Motivation unserer vier aus Eritrea, Wortschatz aus eigener Initiative, indem sie dern mit Migrationshintergrund zu tun, die aus Afghanistan und aus dem Irak stam- sich melden, wenn sie etwas nicht verstehen. den Unterricht störten und wenig Eigeninitia- menden Schüler*innen auszeichnet, ist Sie schnappen jede sprachliche Korrektur tive und Konzentration aufbringen konnten. ihre grundsätzliche Bejahung der Aufträge, auf und wollen sich das Deutsch bis in seine Dies erstaunte mich nicht, wenn ich erfuhr, erstaunlich unabhängig davon, welchen Grad Nuancen einverleiben – mit den richtig dass solch ein Kind z.B. zusehen musste, wie von Verspieltheit diese haben. Sie wollen gewählten Präpositionen und den richtigen sein arbeitsloser Vater (wegen seines Status arbeiten und zwar so viel wie möglich. Trotz Fallformen. Dies weckt die Deutschspra- mit dem Arbeitsverbot behaftet!) sich dem ihrer Sprachbarrieren versuchen sie mit chigen auf. Sie können sich dadurch ein Gamen ergab, während sich die überlastete grösstem Interesse zu begreifen, um was es Bewusstsein für die Eigentümlichkeiten Mutter um alles kümmern musste. sich handelt. Mehr und mehr gelingt ihnen ihrer Sprache aneignen. Bei den Migrantenkindern kommen die un- dies auf Anhieb. Verstehen sie etwas nicht terschiedlichen Start- und Bildungschancen vollständig, stören sie den Fluss des Unter- Vorbild und Bereicherung noch viel drastischer zum Ausdruck als bei richts in keiner Weise. Sie warten den passen- Die Kinder mit Migrationshintergrund den andern Kindern. Eine umfassende Studie den Moment ab, um genauer nachzufragen. freuen sich mindestens so wie die Deutsch- der Uni Neuchatel zum Thema: «Kinder mit Mit blitzschneller Auffassungsgabe gehen sprachigen auf Herausforderungen ver- Migrationshintergrund: ein grosses Potenti- sie ans Werk, das sie sorgfältig, ernsthaft schiedener Art. Und sie wollen dann im al»2 befasst sich mit den Einflussfeldern, die und fleissig ausführen. Wenn dann bei den Theaterspiel z.B. ihre Rolle sprachlich zu einer erfolgreichen Bildungslaufbahn von meisten Kindern der Arbeitseifer nachlässt, perfekt spielen. Die Kinder haben anregende Migrantenkindern führen: «Das schulische wollen die Vier (sie nennen sich selber «wir Vorbildfunktion vis à vis von Kindern, die System muss diese Realitäten berücksichti- Braune») oft noch länger an einer Arbeit dazu neigen, schnell mit etwas zufrieden zu gen, um Chancengleichheit gewährleisten dranbleiben und sie vertiefen. Sie hungern sein, und die, vielleicht beeinflusst durch ihre zu können. Mit diesem Verständnis von nach weiterführenden Aufgaben und sind eher «gemütlichen» Schweizer Eltern, dazu Chancengleichheit sollten nicht grundsätz- dankbar, wenn sie Arbeitsblätter für zuhause neigen, freiwillige Arbeitsblätter wieder leer lich alle Schülerinnen und Schüler demselben bekommen. Natürlich kann es sein, dass ihre in die Schule zurückzubringen. «Nur keinen Selektionsverfahren unterzogen werden, son- Motivation zum Teil darin besteht, ihren Stress in der Freizeit!» ist das Motto solcher dern lediglich diejenigen Schülerinnen und Eltern gefallen zu wollen, die vielleicht alle Eltern. Sie bremsen ihre Kinder eher, auch Schüler, welche dieselben Voraussetzungen ihre Ziele und Wünsche in die Schul-Karriere wenn sie freiwillig arbeiten wollen. Ist das mitbringen.» Diese Theorie ist grossartig. Der ihrer Kinder stecken. Doch wie die Eltern nicht «sünd und schade»? Für mein Lehre- Praktiker*in aber war schon immer klar, dass bezeugen ist der Arbeitswille hauptsächlich rinnenherz jedenfalls ist es so. jedes Kind ein Individuum mit ihm eigenen intrinsisch. Samel (Name geändert) zum Wie toll, wenn Schüler*innen zuhause spezifischen Voraussetzungen ist. Beispiel, der mit seiner Mutter zuhause intrinsisch weiterarbeiten wollen! Skeptische Persisch spricht, ist daran, sich mehr oder und aufgeklärte Eltern berufen sich auf Susanne Beck-Burg unterrichtet zusammen mit weniger eigenständig die persische Schrift die Bestimmung der Berner Erziehungsdi- einer Stellenpartnerin eine 2. Klasse in Biel, wo sie anzueignen. Auch beobachten die Eltern ihn, rektion zum LP 21, dass eine halbe Stunde seit 2016 bereits als IF-Lehrkraft arbeitete. Sie war in wie er im Duden Wörter nachschlägt und Hausaufgaben pro Woche auf dieser Stufe verschiedenen alternativen Schulprojekten tätig. Mit 57 so seinen Wortschatz in beiden Sprachen das Höchstmass sei. Ich finde es selbstver- Jahren absolvierte sie die Pädagogische Hochschule erweitert. ständlich auch längstens an der Zeit, dass dem als «Quereinsteigerin», nachdem sie mit 17 aus dem Ständig fragen die vier Schüler*innen Hausaufgabenterror ein Riegel vorgeschoben Lehrerseminar ausgestiegen war. Susanne Beck-Burg ist nach neuen Aufgaben. Da sie den Stoff in wird. Aber warum von einem Extrem ins Mitglied des «Vereins für eine «Schule ohne Selektion» der Mathematik der 2. Klasse längstens be- andere fallen? Wenn Schüler*innen freiwillig und der Redaktion der «vpod bildungspolitik». 1 Die Autorin führt eine Klasse mit stützungslektionen zugesprochen worden. 2 Dina Bader und Rosita Fibbi (2012). schweizerischen Konferenz der kantonalen einer Stellenpartnerin zusammen. Wegen Eine Speziallehrkraft brauchen wir jedoch Kinder mit Migrationshintergrund: ein Erziehungsdirektor*innen. verschiedenen Kindern mit speziellen nicht, weil wir diese Zusatzlektionen selber grosses Potential. Studie im Auftrag der Bedürfnissen sind der Klasse 18 Unter- übernehmen können. Kommission Bildung und Migration der vpod bildungspolitik 222 11
Chancengerechtigkeit Hilfe zur Selbständigkeit Das eigenständige Erstellen einer Matura- und Diplomarbeit bietet allen Schüler*innen die Chance, ihre schlummernden Potenziale zu entfalten. Für leistungsschwächere Schüler*innen ist hierbei die Beratung und Unterstützung pädagogisch besonders wertvoll. Von Markus Holenstein I m Reglement der EDK über die Anerken- nung von gymnasialen Maturitätsauswei- sen (MAR, Art. 10, 15, 20) ist festgehalten, dass Schüler*innen eine grössere eigenständige schriftliche oder schriftlich kommentierte Arbeit erstellen, deren Benotung im Matura- zeugnis steht. Eine analoge Abschlussarbeit erstellen Schüler*innen auch am Ende der dreijährigen FMS-Ausbildung und an der Berufsmittelschule als interdisziplinäre Projektarbeit. Der Begriff «eigenständig» weist darauf hin, dass die Arbeit selbstständig, in eigener Wahl des Themas im entsprechenden Fach, aber mit Betreuung einer Lehrperson zu leisten ist.1 Dabei ist die Selbstständigkeit der Lernenden als persönliche Entfaltung und Mündigkeit, als individueller und gesellschaftlicher Wert, als soziale Verant- wortung und Studierfähigkeit zu verstehen. Die Betreuungsperson nimmt eine Hilfe- stellung im Rahmen der Konzipierung der des circa einjährigen Arbeitsprozesses auf von Verdingkindern (in Form einer Unter- Arbeit ein – unter anderem Beratung bei der Grund gezielter Beobachtung einen Teil suchung und eines Dokumentarfilms) und Themeneingrenzung, bei der Anwendung der Gesamtbewertung bildet – neben der zur Thematik des Arabischen Frühlings adäquater Methoden und bei Problemen der schriftlichen Arbeit und der Präsentation. in Ägypten. Eine Schülerin untersucht Literaturrecherche –, sie soll jedoch gleich- Voraussetzung einer kompetenten Betreu- kunst- und wirtschaftshistorische Objekte zeitig die Selbständigkeit der Schüler*innen ung ist, dass sich die betreffende Lehrperson einer Zentralschweizer Region und kreiert gezielt fördern. selbst in der Thematik einer Abschlussarbeit daraus einen publikationswürdigen Führer. Mit dem Erstellen einer Matura- respektive kundig macht, echtes Interesse daran zeigt Drei FMS-Schüler beschäftigen sich mit Diplomarbeit schöpfen Schüler*innen, die und für auftretende Fragen des Schülers / der der komplizierten Geschichte Somalias seit in ihnen schlummernden Potenziale aus Schülerin das nötige Verständnis aufbringt: den 1990er Jahren und entwickeln daraus und entwickeln, gestützt durch ihre Moti- Probleme der Themenwahl, Recherche ein Projekt zur finanziellen Unterstützung vation, Forschungsinteresse, erstaunliche und Methodik, mögliche Arbeitskrisen, somalischer Flüchtlinge in kenianischen fachliche Methodenkompetenzen, kognitive Krankheiten und andere erschwerende Lagern. Grundfähigkeiten, Neugier, Initiative und Lebensumstände. Von grossem Vorteil ist, Eine versierte Mathematikschülerin ana- Zielstrebigkeit. dass die Betreuungsperson auch während lysiert die mathematische Formel eines der Ferienzeit ansprechbar bleibt und nicht amerikanischen Autors für geometrische Verständnis und Freiheit auf Formalitäten pocht, welche die Substanz Ornamente persisch-islamischer Kunst und Nicht zu übersehen ist ein gewisses Unver- einer Arbeit schmälern können, zum Bei- stösst auf Fehler! ständnis unter Lehrkräften, dass Maturarbei- spiel die definierte Seitenzahl. Einfühlende Die hier beispielhaft aufgeführten Arbei- ten mit hohen Noten bewertet werden – dies Beratung stellt für eher leistungsschwächere ten erhielten die Prämierung gesamtschwei- bilde einen Widerspruch zu den üblichen Schüler*innen erwiesenermassen eine zerischer Wettbewerbe (Schweizer Jugend Erfahrungsnoten, die sich in der Bandbreite wichtige Hilfe dar. forscht, HISTORIA, Peter-Dolder-Preis), was der sogenannten Normalverteilung bewegen die Qualität einer eigenständig erstellten (müssten)! Zu hohe Bewertungen durch ein- Beispiel Geschichte Maturaarbeit respektive die damit aktivierten zelne Lehrpersonen, z.B. für Kreativprodukte Maturitätsarbeiten können von höchster Potenziale der Autor*innen zusätzlich unter- im Fachbereich bildnerisches Gestalten, Qualität sein. Dies kann an Arbeiten im streicht! Nicht zuletzt stellt das selbständige seien mittels einer möglichst einheitlichen Fach Geschichte aufgezeigt werden: Schüle- Erstellen einer Abschlussarbeit eine sehr Notengebung zu «harmonisieren». Dieses rinnen und Schüler tauchen «ohne falsche nützliche Vorbereitung auf das Hochschul- «Problem» wird auch zum Thema von Hemmungen» in Archive ein, verschaffen studium dar! Weiterbildungskursen. Offensichtlich ist sich Zugang zu nicht geöffneten Familien- Foto: Lensw0rld / phtocase.de aber, dass die selbstbestimmte Themenwahl archiven, werten Quellen systematisch aus. Markus Holenstein ist VPOD-Mitglied und der Matura- respektive der Diplomarbeit die Sie eignen sich Statistikkenntnisse an und Gymnasiallehrer für Geschichte und Philosophie Schüler*innen hoch motiviert, besondere analysieren soziologische Fragestellungen. (pensioniert). Seit 1980 arbeitet er bei der vpod Leistungen zu erbringen, da sie die Chance Daraus entstehen u.a. Arbeiten zur schwei- bildungspolitik mit. haben, ihren eigenen Forschungsinteres- zerischen Auswanderungsgeschichte, zur 1 Vgl. dazu Peter Bonati und Rudolf Hadorn (2007): Matura- sen mit aller Intensität nachzugehen. Zu Geschichte der schweizerischen Hotellerie und andere selbständige Arbeiten betreuen. Ein Handbuch erwähnen ist zudem, dass die Benotung in der Belle Epoque, zur Lebenssituation für Lehrpersonen und Dozierende, Bern: h.e.p. verlag ag. 12 vpod bildungspolitik 222
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