Chancen-gerechtigkeit - Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus - VPOD

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Chancen-gerechtigkeit - Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus - VPOD
Nummer 222 | Juni 2021

                                 Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft

Chancen-
gerechtigkeit
Was gegen
Bildungsungleichheiten
zu tun ist

Mansplaining
im Fokus

Sektion Zürich Lehrberufe

Regionalteil beider Basel

GE       vpod basel lehrberufe
Regionalteil Bern

 vpod BERN lehrberufe
Chancen-gerechtigkeit - Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus - VPOD
Inhalt

                                                                                                                            Zeitschrift für
                                                                                                                            Bildung, Erziehung
                                                                                                                            und Wissenschaft

                                                                                                    vpod bildungspolitik 222
                                                                                                    Juni 2021
                                                                                                    Ausgewählte Artikel der aktuellen Nummer
                                                                                                    der vpod bildungspolitik sind auch auf unserer
                                                                                                    Homepage zu finden. Jeweils zwei Monate
                                                                                                    nach Erscheinen sind die vollständigen Hefte
                                                                                                    als pdf abrufbar: vpod-bildungspolitik.ch

Chancengerechtigkeit Buch und Film                                                                  Impressum
Was tun gegen welche                               21 Arbeiten in der Tagesschule                   Redaktion / Koordinationsstelle

Bildungsungleichheiten?                            Zwei neue Publikationen über die Arbeitsbe-      Birmensdorferstr. 67
                                                   dingungen in der schulergänzenden Betreuung.     Postfach 8279, 8036 Zürich
                                                                                                    Tel: 044 266 52 17
04 Gleichheit und Emanzipation
                                                                                                    Fax: 044 266 52 53
Was Bildungspolitik bewirken kann und warum sie    22 Bürgerliche Moral im städtischen
nicht ausreicht.                                                                                    Email: redaktion@vpod-bildungspolitik.ch
                                                   Kontext
                                                                                                    Homepage: www.vpod-bildungspolitik.ch
                                                   Einblicke des Frauenstadtrundgangs Basel.
06 Selektion und Marktorientierung                                                                  Herausgeberin: Trägerschaft im Rahmen des
                                                                                                    Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD
Die Ausgabe 76 des Widerspruch hat den             23 Langer Abschied von Privilegien
Schwerpunkt «Jugend». Auch Fragen von Schule,      Ein Sammelband zum Jubiläum 50 Jahre             Einzelabonnement: Fr. 40.– pro Jahr (5 Nummern)
Ausbildung und Studium werden behandelt.           Frauenwahlrecht in der Schweiz.                  Einzelheft: Fr. 8.–
                                                                                                    Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe;
07 Chancenungleichheiten in Schule                 24 All inclusive                                 Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG.

und Job                                            Ein Schulfilm zum Thema «Kreuzfahrttourismus».   Satz: erfasst auf Macintosh
Empirische Hinweise.                                                                                Layout: Sarah Maria Lang, Brooklyn
                                                                                                    Titelseite Foto: 106313 / photocase.de

11 Bildungshunger                                  Aktuell                                          Druck: Ropress, Zürich
                                                                                                    ISSN: 1664-5960
Eine Lehrerin berichtet über Kinder mit
Migationshintergrund in ihrer Klasse.                                                               Erscheint fünf Mal jährlich
                                                   26 Lebendiger Unterricht durch
                                                   Stimme                                           Redaktionsschluss Heft 223:
12 Hilfe zur Selbständigkeit                                                                        16. August 2021
                                                   Was tun gegen Stimmprobleme?
Bei Matura- und Diplomarbeiten ist Unterstützung
                                                                                                    Auflage Heft 222: 2800 Exemplare
gerade für schwächere Schüler*innen wichtig.
                                                   28 Wenn Männer Frauen die Welt                   Zahlungen:

13 Auf der Kriechspur unterwegs                    erklären                                         PC 80 - 69140 - 0, vpod bildungspolitik, Zürich

Inklusion in der Schule kommt in der Schweiz nur   Warum wir etwas gegen «Mansplaining» tun         Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann
langsam voran.                                     müssen und was wir tun können.                   die Aufnahme eines Inserates ablehnen.

15 Solidarität, Gerechtigkeit und sich                                                              Redaktion
zu Wehr setzen                                     Basel                                            Verantwortlich im Sinne des Presserechts
                                                                                                    Johannes Gruber
Ein Interview mit Fabio Höhener, Zentralsekretär
für Bildung, Erziehung und Wissenschaft.           31 Kerstin Wenk nimmt Abschied
                                                                                                    Redaktionsgruppe
                                                                                                    Susanne Beck-Burg, Fabio Höhener, Anna-Lea
                                                   32 Miriam Locher im Portrait
Pflichtlektion Zürich
                                                                                                    Imbach, Markus Holenstein, Ute Klotz, Ruedi
                                                                                                    Lambert (Zeichnungen), Thomas Ragni, Michela
                                                                                                    Seggiani, Béatrice Stucki, Ruedi Tobler, Yvonne
                                                   Bern
                                                                                                                                                        Foto: przemekklos / photocase.de

17 – 20 Das Mitgliedermagazin                                                                       Tremp (Präsidentin), Peter Wanzenried, Kerstin
der Sektion Zürich Lehrberufe                                                                       Wenk
–   Nachbesserungen bei Tagesschulen nötig         33 Gemeinsam für bessere
–   1.5.21: Keine Reduktion auf Reproduktion!      Arbeitsbedingungen!                              Beteiligt an Heft 222
–   «Politisch neutrale» Lehrmittel?                                                                David Bärtschi, Miriam Fahrni, Christine Flitner,
–   10ni-Pause                                                                                      Rebecca Joss, Vanessa Käser, Ruth Kunz, Beatrice
                                                                                                    Messerli, Regula Nyffeler, Eric Scherer, Martin
                                                                                                    Stohler, Monika Wicki

2   vpod bildungspolitik 222
Chancen-gerechtigkeit - Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus - VPOD
Editorial

B
           ereits 1995 bezeichnete die OECD               Aber ob man sich nun auf «Chancengerechtigkeit»
           «Equity» als eines der fünf wichtigsten        oder auf den Begriff der «Chancengleichheit» bezieht:
           Zukunftsthemen. Ausgerechnet eine              Entscheidend ist, dass die real existierenden sozialen
           Organisation, die für die Erweiterung der      Ungleichheiten wahrgenommen und konsequente
ökonomischen Perspektive auf Bildungsfragen               Massnahmen gegen diese ergriffen werden. Die
steht, die Bildung im Zeichen von wirtschaftlicher        Welt, in die Kinder heute hineingeboren werden,
Zusammenarbeit und Entwicklung sowie als Mittel           ist eine höchst ungleiche. Ihrem Herkunftsmilieu
zur Erweiterung von Humankapital sieht, brachte           entsprechend sind diese mehr oder weniger gut
damit Fragen der Chancengerechtigkeit auf die             gerüstet, vor den schulischen Herausforderungen
politische Agenda. Wie Elke-Nicole Kappus in der          sowie in den lebensgeschichtlich später folgenden
Einleitung zum Grundlagenbericht der EDK «Equity          Konkurrenzkämpfen der Arbeitswelt zu bestehen.
– Diskriminierung und Chancengerechtigkeit im             Um die Chancengerechtigkeit zu erhöhen, ist
Bildungswesen» feststellt, wurde der Begriff «Equity»     bildungsstrukturell ein Verzicht auf Selektion oder
jedoch in Abgrenzung zum Begriff «Equality»               zumindest ein möglichst später Selektionszeitpunkt
formuliert: Statt auf absolute Gleichheit zielt er auf    anzustreben. Empirische Analysen und Empfehlungen,
einen relativen, «kontext- und diversitätssensiblen»      wie z.B. die der im Auftrag des Schweizerischen
Ausgleich bestehender Ungleichheiten. Das Konzept         Wissenschaftsrats herausgegebenen Studie «Soziale
von «Equity» soll dazu beitragen, dass die Aufteilung     Selektivität», gibt es schon lange, anscheinend werden
sozialer Gruppen auf verschiedene Ausbildungsgänge        diese aber aufgrund politischer Widerstände weiterhin
und Ausbildungsniveaus «gerechter» wird, was immer        ignoriert. Ebenso fehlt es am politischen Willen, den
das auch konkret heissen mag. Mittlerweile ist «Equity»   Umbau des Bildungssystems hin zu mehr Inklusion
ein zentraler Indikator im Schweizer Bildungsbericht.     voranzutreiben, Förderangebote im Bereich «Frühe
Immer schwingt bei dessen Verwendung auch die             Bildung, Betreuung und Erziehung» systematisch
humankapitalistische Ebene des Begriffs mit. Ein          auszubauen oder öffentliche Ganztagsschulen
für unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem            einzuführen. Zum Schaden sozioökonomisch
funktionales Bildungswesen muss, so impliziert der        benachteiligter Kinder und Jugendlicher, zum Schaden
Aufbau des Bildungsberichts, über ein hohes Ausmass       aber auch unserer Gesellschaft und Wirtschaft im
an «Effektivität», «Effizienz» und «Equity» verfügen.     Ganzen. Cui bono?

                                                          Johannes Gruber
                                                          vpod bildungspolitik

                                                                                          vpod bildungspolitik 222   3
Chancen-gerechtigkeit - Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus - VPOD
Chancengerechtigkeit

    Gleichheit und
    Emanzipation
                                                                                      Foto: suze / photocase.de

    Was Bildungspolitik vermag und warum sie nicht ausreicht.
    Von Johannes Gruber

Von Johannes Gruber                       Von Johannes Gruber   Von Johannes Gruber
4    vpod bildungspolitik 222
Chancen-gerechtigkeit - Was gegen Bildungsungleichheiten zu tun ist Mansplaining im Fokus - VPOD
Chancengerechtigkeit

1
         784, wenige Jahre vor der fran-        zer Bildungssystem die Faktoren tiefer sozio-    Erkenntnisse ernst nimmt, muss die Einfüh-
         zösischen Revolution, hatte der        ökonomischer Status, Migrationshinter-           rung von Gesamtschulen fordern, in denen
         Philosoph Immanuel Kant in seinem      grund / Fremdsprachigkeit, Bildungsferne /       keine Selektion nach Leistungsvermögen
         bekannten Aufsatz «Was ist Aufklä-     tiefer Bildungsstand der Eltern die Schullauf-   stattfindet. Die Pisa-Ergebnisse zeigen, dass
rung?» die Frage mit der Herausbildung          bahn der Kinder stark beeinflussen. Zu           dies auch insgesamt zu besseren Leistungen
der Fähigkeit beantwortet, «sich seines         primären Herkunftseffekten wie schlechtere       führen kann: Die finnischen Schüler*innen,
Verstandes ohne die Leitung eines anderen       Leistungen kommen sekundäre: Auch bei            die 9 Jahre lang bis zum Alter von 15 eine
zu bedienen». Sowohl eine Grundbedingung        gleichen oder sogar besseren Leistungen          Gemeinschaftsschule besuchen, schneiden
dafür als einzelner Mensch sein Schicksal       werden Schüler*innen je nach Herkunft            bei internationalen Leistungsvergleichen
in die eigene Hand zu nehmen, als auch als      schlechter bewertet. Die soziale Selektivität    überdurchschnittlich gut ab.
Gesellschaft demokratische Entscheidungen       des Schweizer Bildungssystems vergrössert           Besonders stark profitieren von einer
zu treffen.                                     sich von Bildungsstufe zu Bildungsstufe.         vielfältigen und damit anregungsreichen
   Die Institutionalisierung der öffentlichen   Hinsichtlich der gymnasialen Maturität ver-      sozialen Zusammensetzung von Schu-
Schulen im 19. Jahrhundert waren diesem         merkt die Studie für Akademikerkinder eine       len und Schulklassen auch Kinder und
aufklärerischen Programm verpflichtet,          7 Mal höhere Chance, «die gymnasiale Ma-         Jugendliche mit Handicaps. Dementspre-
Menschen zu bilden und zu verbessern. Bis       turität zu erwerben als Kinder von geringer      chend ist auch Inklusion von Kindern mit
heute prägt es den Kern dessen, was wir         gebildeten Eltern, und eine 2,9 Mal höhere       Behinderungen in die Regelschule eine
unter Bildung verstehen. Diese erschöpft        Chance als Kinder von Eltern mit mittlerem       wichtige bildungspolitische Strategie. Mit
sich nicht in der Aneignung von Wissen,         Bildungsniveau.» (SWR 2018, S. 48)               dem Behindertengleichstellungsgesetz von
sondern beinhaltet auch das Vermögen, das          Bereits zu Beginn der 1970er Jahre hatte      2004, dem Sonderpädagogik-Konkordat
Anerzogene und Gelernte in Frage zu stellen.    Pierre Bourdieu in seinen Studien zum            von 2013 und der 2014 erfolgten Ratifika-
Selbständige Urteils- und Handlungsfähig-       französischen Bildungssystem aufgezeigt,         tion der UN-Behindertenrechtskonvention
keit als oberstes Bildungsziel – angesichts     dass «Chancengleichheit» nicht nur eine          durch die Schweiz wurde hierzulande eine
des derzeitigen beschleunigten technologi-      Illusion ist, sondern dass diese Illusion        Entwicklung hin zu einem inklusiven
schen Wandels sowie kultureller und sozialer    zudem auch eine wichtige ideologische            Bildungssystems aufgegleist. Damit diese
Umbrüche geradezu ein unerhört aktuelles        Funktion hat. Indem so getan wird, als ob        jedoch auch tatsächlich stattfindet, braucht
Bildungsverständnis.                            alle Schüler*innen die gleichen Chancen          es Strukturreformen und vor allem ausrei-
   Doch mit dem Zeitalter der Aufklärung        hätten und fair bewertet werden, wird dem        chende Ressourcen für die notwendigen
und der französischen Revolution wurden         Schulerfolg die Legitimität zugeschrie-          Massnahmen. Bis jetzt ist dies noch nicht
gesellschaftliche Ungleichheiten nicht auf-     ben, über den weiteren Lebensverlauf der         abzusehen.
gehoben, weiterhin blieb Bildung erst einmal    Schüler*innen – den Zugang zu beruflichen           Es spricht vieles dafür, dass gemeinsames
ein Privileg, von dem die Mehrheit der          Karrieren, höheren Einkommen und sozialer        Lernen ganztags stattfinden sollte. Der der-
Schweizer Bevölkerung – Bauern, Arbeiter        Wertschätzung – zu entscheiden. Bourdieu         zeit in einigen Kantonen laufende Ausbau
sowie die meisten Frauen – ausgeschlossen       kommt zu dem Schluss, dass eine solche «Re-      der Tagesstrukturen hin zu einer Tagesschu-
waren. Dies änderte sich nur sehr lang-         produktion sozialer Ungleichheit» sogar die      le ist deshalb unbedingt unterstützenswert.
sam: Wichtige Wegmarken waren hier die          zentrale Funktion des Bildungssystems ist.       Zu bevorzugen wäre jedoch eine öffentliche
Einführung von öffentlichen Schulen und         Wie aber kann Bildungspolitik gegen solche       Ganztagsschule, in der Schule und Betreu-
Schulpflicht im 19. Jahrhundert sowie der       Strukturmechanismen gute Bildungsmög-            ung konzeptuell aufeinander abgestimmt
schrittweise Auf- und Ausbau eines diffe-       lichkeiten und -erfolge für alle erreichen?      sind und Kinder in festen Teams ganztägig
renzierten öffentlichen Bildungssystems im                                                       unterrichtet und gefördert werden.
20. Jahrhundert. Bis heute bestehen viele       Für eine Schule ohne Selektion
Bildungsungleichheiten fort.                    Je mehr Zeit die Kinder und Jugendlichen         Frühes und lebenslanges Lernen
                                                überwiegend im sozialen Umfeld ihrer             ermöglichen
Bildung – Mittel oder                           Herkunftsfamilie verbringen, desto stärker       Weil vom gemeinsamen Lernen alle profi-
Gegenmittel zur Reproduktion                    reproduzieren sich die herkunftsbedingten        tieren, ist eine früh beginnende Schulpflicht
von Ungleichheiten?                             Ungleichheiten.                                  (bzw. die Einführung des obligatorischen
Seit Jahrzehnten legen bildungssoziologi-         Auf Ebene des Bildungssystems muss             Kindergartens) sinnvoll, die entsprechend
sche Studien dar, dass weiterhin soziale Her-   deshalb eine möglichst lange gemeinsame          dem HarmoS-Konkordat (ab dem 4. Le-
kunft für den Schulerfolg entscheidend ist.     Beschulung von Kindern aus verschiede-           bensjahr) bereits jetzt für eine Mehrheit der
Verortete die empirische Bildungsforschung      nen sozialen Milieus gefordert werden.           Kantone Standard ist. Ohne Obligatorium
in den 1960er Jahren die «katholischen          Bestätigt wird dies in den Ergebnissen des       wären wohl – aus finanziellen und kulturel-
Arbeitermädchen vom Lande» als die im           SWR-Berichts, der darauf verweist, dass in       len Gründen – gerade die Kinder nicht erfasst
Bildungssystem am stärksten benachteiligte      hierarchisch gegliederten Bildungssystemen       worden, die nun am meisten von den zwei
Gruppe, so sind es heute die «Knaben aus-       die soziale Herkunft den Bildungs- und           zusätzlichen Schuljahren profitieren. Dies
ländischer Herkunft»: In den Regelklassen       Lebensweg von Kindern und Jugendlichen           bestätigt ein Blick in den Bereich frühkind-
der Schweizer Volksschule betrug 2018/19        aus unteren sozialen Schichten besonders         liche Bildung, Betreuung und Erziehung
der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit     stark prägt. Im Schweizer Schulsystem            (FBBE), in dem gerade im internationalen
ausländischer Staatsangehörigkeit 27 Pro-       seien zudem der «früh vorgenommene               Vergleich erhebliche Defizite bestehen. Auch
zent, dagegen 49 in den Einführungsklassen      erste Übergang im Bildungssystem und die         hier ist der Ausbau der wenigen existieren-
und 55 in den anderen Sonderklassen – je-       dabei stark ausgeprägte leistungsbezogene        den öffentlichen Angebote und Programme
weils mehrheitlich Knaben (BFS 2020, S. 9).     Allokation auf die Schullaufbahnen in der        ein Muss.
  Die Studie «Soziale Selektivität» des         Sekundarstufe I […] weitere institutionelle         Da die Notwendigkeit zu lernen in einer
Schweizerischen Wissenschaftsrates von          und strukturelle Schlüsselfaktoren für           modernen Gesellschaft wie der Schweiz we-
2018 zeigt eindrücklich auf, dass im Schwei-    soziale Ungleichheit». (SWR, 45) Wer diese       der mit der obligatorischen Schule noch mit

                                                                                                                      vpod bildungspolitik 222   5
Chancengerechtigkeit

Abschluss eines Studiums endet, braucht es       Chancengleichheit im Bildungssystem ver-          eine Sozial- und vor allem Wirtschaftspolitik,
auch öffentliche Weiterbildungsangebote,         bessert werden muss.                              die über mehr Umverteilung eine tatsächli-
die für wirklich alle Bevölkerungsgruppen          Unser Ansatz muss jedoch ein anderer            che Angleichung von Lebensbedingungen
zugänglich sind. Das in der Schweiz vor-         sein. Es geht um mehr, als «nur» die              bewirkt. Vermutlich würde dies, wenn auch
handene Weiterbildungsgesetz (WeBiG)             Chancen von benachteiligten Gruppen im            indirekt, stärker zur Chancengerechtigkeit
ist hier jedoch kaum hilfreich, da es stark      schulischen Wettbewerb zu verbessern. Wir         im Bildungssystem beitragen als alle bil-
von der Vorstellung privatwirtschaftlich         müssen die Freiheitsräume von Individuen          dungspolitischen Reformen zusammen.
organisierter und marktorientierter Wei-         erweitern – und nicht lediglich Sieger*innen
terbildung geprägt und zudem inhaltlich          und Verlierer*innen im schulischen Wett-          Johannes Gruber ist Redaktor der «vpod
auf Nachholbildung beschränkt ist. So            bewerb leistungsgerechter ermitteln. Auch         bildungspolitik» und als VPOD-Fachsekretär für
jedenfalls wird das Gesetz seinem eigenen        die Praxis, erstere privilegierten und letztere   den Bereich Migration verantwortlich. Viele Jahre
Anspruch nicht gerecht, «lebenslanges            prekären Segmenten des Arbeitsmarktes             war er als promovierter Soziologe in Lehre und
Lernen» zu fördern. Wir müssen erreichen,        zuzuordnen, muss infrage gestellt werden.         Forschung sowie in der Erwachsenenbildung tätig.
dass für niemanden in der Schweiz Weiter-          Emanzipatorische Bildungspolitik zu
bildung an mangelnden Angeboten oder             betreiben, bedeutet auch, sich klar darüber
mangelnder Finanzierbarkeit scheitert.           zu sein, dass mit Bildung alleine die gesell-     BFS (2020). Statistik der Sonderpädagogik. Schuljahr
                                                                                                   2018/19.
                                                 schaftlichen Unfreiheiten und Zwänge, Aus-
                                                                                                   SWR (2018): Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schwei-
Mehr Ressourcen für                              beutung und Diskriminierung nicht über-           zerischen Wissenschaftsrates SWR. Expertenbericht von
schülerorientierten Unterricht                   wunden werden können. Hierfür braucht es          Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR.

Wir brauchen jedoch nicht nur Reformen
auf Ebene des Bildungssystems, sondern
auch auf Schul- und Unterrichtsebene.
Oft höre ich von Lehrpersonen, dass hier-
archische und bürokratische Strukturen an
den Schulen eine Unterrichtsentwicklung
verhindern, die sich an der Logik und            Selektion und Marktorientierung
Dynamik des Lernens orientiert. Immer
mehr Zeit müsse darauf verwendet werden          In ihrer 76. Ausgabe widmet sich die Zeitschrift «Widerspruch» dem
zu überwachen, wo welche Schüler*in              Themenschwerpunkt «Jugend – aufbrechen, scheitern,
wann steht und den Eltern entsprechende          weitergehen». Auch strukturelle Probleme der Volksschule und
Rückmeldungen zu geben, diese Zeit fehle         Berufsbildung werden aufgezeigt. Von Johannes Gruber
dann für die Gestaltung des Unterrichts.
   Generell sollte der Unterricht weniger
notenorientiert erfolgen und individuell
auf die jeweilige Schüler*in hin ausgerich-
                                                 F   itzgerald Crain arbeitet in seinem Bei-
                                                     trag «Die Ausgegrenzten des A-Zugs
                                                 und das Versprechen der integrativen
                                                                                                      Der Beitrag «Schule als Stigma. Die
                                                                                                    Sekundarstufe aus Sicht des untersten
                                                                                                    Leistungszugs» von Rebekka Sagelsdorf
tet sein. Oft scheitert dies jedoch bereits an   Schule» den grundlegenden Widerspruch
den vorhandenen Ressourcen.                      zwischen der Idee einer integrativen
   Für eine hohe Bildungsqualität braucht        Schule und unserer auf Konkurrenz
es zuallererst gute Arbeitsbedingungen           beruhenden Leistungsgesellschaft her-
für Lehrpersonen, kleinere Schulklassen          aus, der die Schule durchgehend präge:
und mehr Möglichkeiten individueller             «Der integrativen Schule entspricht die
Förderung. Jedenfalls gilt: Je besser der        Forderung, dass jedes Kind an seinen
Unterricht, je kleiner die Auswirkung der        individuellen Möglichkeiten zu messen
sozialen Herkunft auf den Schulerfolg.           sei. Kooperation und Gemeinschaftsleben
Deswegen braucht es einen massiven               werden grossgeschrieben. Dieser Idee
Ausbau des öffentlichen Bildungssystems          entgegengesetzt sind das Konkurrenz-
respektive die dafür nötigen finanziellen        denken, die durchgehende vergleichende
Ressourcen. Bei der Bildung unserer              Leistungsmessung sowie der Nützlich-
Kinder dürfen weder Kosten noch Mühen            keitsgedanke, gemäss dem die Schule
gescheut werden, damit diese unabhängig          primär auf die Erfordernisse der moder-
von ihrer Herkunft ihren Weg gehen und           nen Arbeitswelt vorbereiten soll.» (15)
zu einem selbstbestimmten Leben in un-             In einer skizzenhaften Analyse der
serer Gesellschaft befähigt werden.              Entwicklung des globalen Kapitalismus
                                                 und seiner Auswirkungen auf das Basler
Grenzen der Bildungspolitik                      Schulsystem kommt Crain zum Schluss,
Seit dem Reüssieren der Humankapital-            dass die Basler Schulreform von 2009 mit
theorie in den Wirtschaftswissenschaften         der Wiedereinführung einer dreigliedrigen
ist das Fordern nach mehr Investitionen          Struktur der Sekundarstufe I den Funkti-
in den Bildungsbereich nicht länger ein          onserfordernissen des aktuellen Kapitalis-
Alleinstellungsmerkmal linker Bildungs-          mus entspricht. Diese untergrabe jedoch                Widerspruch 76. Beiträge zu
politik. Inzwischen ist es bildungsöko-          die Arbeit an der integrativen Schule.                 sozialistischer Politik.
nomisches Allgemeingut, dass es Res-             Wenn diese mehr als eine Worthülse sein                Rotpunkt Verlag, Zürich.
sourcenverschwendung ist, vorhandene             soll, muss, so Crain, «die Einteilung in               200 Seiten, Fr. 26.90
Bildungspotentiale brachliegen zu lassen         vorgegebene Leistungszüge auf der Sekun-
– und dass aus diesem Grund auch die             darschulstufe» (16) aufgegeben werden.

6   vpod bildungspolitik 222
Chancengerechtigkeit

                                     und Augustus Simons knüpft an diese Er-
                                     kenntnis Crains an, die «frühe Aufteilung
                                     der Schüler*innen in Leistungszüge [wird]
                                     als einer der wesentlichen Gründe für die
                                     vergleichsweise tiefe Chancengleichheit im
                                     Schweizer Bildungssystem» (19) angesehen.
                                     Idealtypisch werden für die Schweiz drei
                                     Sekundarschulmodelle mit unterschiedli-
                                     chen Graden von Leistungsdifferenzierung
                                     beschrieben, in der Deutschschweiz domi-
                                     niert das «geteilte Modell» mit starr drei Leis-
                                     tungszügen. Empirische Analysen zeigen,
                                     dass diese Differenzierung tatsächlich die
                                     Schüler*innen weniger nach Leistung ver-
                                     schiedenen Schultypen zuweist, denn nach
                                     sozialer Herkunft. Die soziale Herkunft be-
                                     stimmt also das besuchte «Leistungsniveau»
                                     dieses wiederum die Ausbildungschancen.
                                        Anhand der Perspektiven zweier A-Zug-
                                     Schüler einer baselstädtischen Sekundar-
                                     schule wird exemplarisch vorgeführt, wel-          Chancenungleich-
                                                                                        heiten in Schule
                                     che Auswirkungen die Zuteilung in den
                                     anspruchslostesten Zug auf die Schüler
                                     hat. Bojan, eine Junge serbischer Herkunft,

                                                                                        und Job
                                     berichtet von Stigmatisierung und Zukunfts-
                                     ängsten. Davide wiederum, ein ehemals
                                     guter Primarschüler, ist beim Übergang auf
                                     die Sekundarschule in den A-Zug abgestürzt:
                                     «Seine Überforderung und die daraus                Empirische Hinweise, dass die sozialen Unterschiede bei Bildungs-
                                     entstehende Gleichgültigkeit der Schule            und Lebensperspektiven weiter bestehen und grösser werden.
                                     gegenüber belegen nicht unbedingt ein              Von Thomas Ragni
                                     defizitäres Verhalten seinerseits. Sie können
                                     durchaus auch als Indikatoren dafür gelesen
                                     werden, dass die Strukturen der neuen
                                     Schule nicht ausreichen, um den grösseren
                                                                                        N    achfolgend will ich in Abbildungen eini-
                                                                                             ge Kennzahlen darstellen, die Hinweise
                                                                                        geben auf das Ausmass und die Entwicklung
                                                                                                                                         Beträgen ausgedrückt), nämlich von -80%
                                                                                                                                         auf -114%. In der gleichen Zeit hat die relative
                                                                                                                                         Überrepräsentation der Studierenden, deren
                                     Bedarf nach Orientierung und Anleitung von         faktisch bestehender Chancenungleichhei-         Eltern bereits einen Hochschulabschluss
                                     Schüler*innen sozial benachteiligter Famili-       ten bei der schulischen Selektion, die für den   erreicht haben, abgenommen von +70%
                                     en aufzufangen.» (26) Und: Studien zeigen,         individuellen Bildungserfolg bestimmend          auf +57%. Zwischen 2005 und 2016 ist
                                     dass der Lernfortschritt von Schülerinnen          ist und so die spätere Jobkarriere vorspurt.     somit die relative Überrepräsentation in
                                     mit vergleichbaren Voraussetzungen im                 Leider sind empirische Daten für die          der höchsten Bildungsherkunftsgruppe um
                                     tiefsten Leistungsniveau deutlich geringer         Schweiz nur sehr spärlich und lückenhaft         13% gesunken, während die relative Unter-
                                     als im erweiterten Niveau ist.                     verfügbar. Zeitreihen ohne statistische          repräsentation der niedrigsten Bildungsher-
                                        Zwei weitere Beiträge widmen sich der           Brüche existieren nur sehr selten. Aus «Geld-    kunftsgruppe um 34% gestiegen ist. Dies
                                     Berufsbildung. Während Joëlle Racine und           mangel» – sprich: aus Mangel an politischem      weist zusammengenommen auf eine eher
                                     Kathrin Ziltener danach fragen, wie stark          Interesse aufgrund fehlenden öffentlichen        gesunkene intergenerationelle Bildungsmo-
                                     «das Schweizer Berufsbildungssystem von            Drucks – nahm die Schweiz auch nicht an          bilität zwischen 2005 und 2016 hin. Sicher
                                     einem neoliberalen Wirtschafts- und Ge-            neueren Projekten der OECD teil, die etwas       aber ist sie nicht spürbar angestiegen.
                                     sellschaftsbild geprägt» wird und wie sich         Licht auf Fragen der Chancengerechtigkeit          Hinsichtlich geschlechterspezifischer Un-
                                     dies insbesondere in Zeiten von Covid-19           werfen könnten. International harmonisier-       terschiede weisen empirische Studien darauf
                                     auf die Arbeits- und Lebensrealität von            te Indikatoren für einen belastbaren Län-        hin, dass die systematisch besseren Test
                                     jungen Menschen» auswirkt, schildert Luca          dervergleich unter Einschluss der Schweiz        scores bei der Selektion in «weiterführende
                                     Preite anhand einer Fallstudie, wie eine           sind daher auch nicht verfügbar. Immerhin        Schulen» von Mädchen gegenüber Jungen
                                     Jugendliche mangels anderer Perspektiven           habe ich vereinzelte Statistiken entdeckt, die   unter anderem mit den höheren Bildungsas-
                                     eine teure berufsbildende Privatschule             einen Hinweis auf die Lage in der Schweiz        pirationen der Mädchen zusammenhängen.
                                     besucht. Preite stellt unter anderem die           geben können.                                    Diese Aspirationen wiederum sind abhängig
                                     These auf, dass die jedes Jahr wieder hohe                                                          von genderspezifisch unterschiedlichen
Foto: Hyejin Kang / stockAdobe.com

                                     Zahl unbesetzter Lehrstellen auch auf die          Bildungsungleichheiten                           Einflussstärken von objektiven sozioökono-
                                     Betriebe zurückzuführen ist, «die es trotz         Was lässt sich aus der Grafik Abbildung 1        mischen und subjektiven sozialisierenden
                                     Bewerbungen vorziehen, ausgeschriebene             (S. 8) für die intergenerationelle Bildungs-     Determinanten.1 Das heisst, der systematisch
                                     Lehrstellen nicht zu besetzen.» (46) Auf           mobilität ablesen? Von 2005 bis 2016 hat die     bessere Bildungserfolg der Mädchen gegen-
                                     welcher Basis die Ablehnungen zustande             relative (prozentuale) Unterrepräsentation       über Jungen ist im Wesentlichen nicht erklär-
                                     kommen, darüber können nur Vermutun-               der universitären Hochschülerinnen und           bar durch institutionelle Diskriminierung
                                     gen angestellt werden: «die Schulnoten,            Hochschüler, deren Eltern höchstens einen        und Diskrimination von Jungen innerhalb
                                     die Schulleistung, das Sozialverhalten, das        obligatorischen Schulabschluss haben,            des Bildungswesens, sondern ist das Resultat
                                     Geschlecht, die Nationalität?                      deutlich weiter zugenommen (in absoluten         von genderspezifisch unterschiedlich stark

                                                                                                                                                                vpod bildungspolitik 222   7
Chancengerechtigkeit

wirkenden gesellschaftlichen Einflüssen,         Abbildung 1           Über- / Unterrepräsentation (+ / -) der Hochschülerinnen
die aber nicht eindeutig als gesellschaftliche   und Hochschüler bezüglich höchster abgeschlossener Ausbildung der
Diskrimination zu qualifizieren sind. – Der      Elterngeneration (in %) Quelle: BFS – SSEE, SAKE, eigene Darstellung und eigene Berechnung
nochmals deutlich grössere Unterschied
der Selektionsquoten zwischen schweizeri-
schen und ausländischen Kindern könnte
die Kombination zweier Effekte zeigen:
einerseits jenen der institutionellen Diskri-
minierung / Diskrimination in den Schulen
der Sekundarstufe I, anderseits jenen der
«reinen» Chancenungleichheit aufgrund
sozioökonomischer und -kultureller Merk-
male (des tieferen Wohlstands bzw. der
grösseren «Bildungsferne» der Eltern etc.)
(vgl. Abbildung 2).
   Der Verdacht der entscheidenden Rolle
des Wohlstands der Eltern für den Selek-
tionserfolg ihrer Kinder kann noch weiter
erhärtet werden: Wenigstens für den Kanton
Zürich existieren statistische Erhebungen
auf Gemeindestufe, die es erlauben, den
durchschnittlich realisierten «Bildungser-
folg» der Schülerinnen und Schüler (SuS)
mit dem durchschnittlichen Wohlstand der
Eltern in Verbindung zu setzen. Für das
letzte verfügbare Jahr 2018 zeigt sich nämlich   Lesebeispiel:                           Bildungsabschluss. Somit waren die        die effektive Unterrepräsentation in
                                                                                         Hochschülerinnen und Hochschüler          Bezug zur relativen Kleinheit dieser
                                                 2005 hatten die Eltern von 8.8% aller
Folgendes:                                       Hochschülerinnen und Hochschüler
                                                                                         mit dieser niedrigsten Bildungsherkunft   Gruppe im Vergleich zu den zum Teil
                                                                                         um -7.0 Prozentpunkte (PP) unterre-       viel grösseren Gruppen mit höherem
   Im Kanton Zürich hängt der durch-             nur die obligatorische Schule als       präsentiert. Weil aber diese Gruppe       Bildungsabschluss. In Bezug zur
                                                 höchsten Bildungsabschluss. Im          mit niedrigstem Bildungsabschluss         eigenen Bildungsgruppe entspricht die
schnittliche «Bildungserfolg» der SuS der        gleichen Jahr hatten aber 15.8%         anteilsmässig zum Teil viel kleiner ist   absolute Unterrepräsentation von -7.0
Gemeinden mit dem durchschnittlichen             der gesamten Elterngeneration der       als jene der anderen Bildungsgruppen,     PP einer relativen Unterrepräsentation
                                                 45-54-jährigen Erwerbspersonen          unterschätzt die Unterrepräsentation      von -80%: -7.0 PP sind knapp -80%
«Wohlstand» der privaten Haushalte der           höchstens einen obligatorischen                                                   von 8.8 PP.
                                                                                         in absoluten Prozentpunkten (PP)
Gemeinden augenscheinlich sehr eng zu-
sammen (vgl. Abbildung 3).
   Verklausuliert spricht man meistens           Abbildung 2          Selektion der Schülerinnen und Schüler (SuS) auf
nicht platt direkt vom unterschiedlichen         der Sekundarstufe I nach Geschlecht und Nationalität, 1995/96–2018/19 in
«Wohlstand» der Elternhaushalte, sondern         weiterführende Schulen mit «erweiterten Ansprüchen»; in % der SuS der 8. Klasse
distinguiert von ihrer «Bildungsnähe / -fer-     (10. Schuljahr HarmoS) in öffentlichen Bildungsinstitutionen
ne», weil auch im internationalen Vergleich      Quelle: BFS
empirisch robust nachzuweisen ist, dass der
mit dem höchsten erworbenen symbolischen
Bildungstitel gemessene «Bildungserfolg»
mit dem «Wohlstand» der Erwerbspersonen,
gemessen mit ihrem Nettoeinkommen, sehr
hoch korreliert (vgl. Abbildung 4).
   Bei je gleichen schulisch bewerteten Skills
(das heisst bei statistischer Kontrolle der
schulischen Performance der Kinder) ist der
sozioökonomisch und -kulturell unterschied-
liche Bildungserfolg in der Bildungskarriere
abhängig von bewussten institutionellen Dis-
kriminierungen und unwillkürlich und un-
bemerkt bleibenden Diskriminationen, die
via die «feinen Unterschiede» im sozioöko-
nomischen und -kulturellen Habitus (Pierre
Bourdieu) in diesbezüglich je unterschiedli-
che Selektivitäten transformiert werden. Der
Bildungserfolg in der Bildungskarriere ist
aber auch von den wie auch immer «objekti-
vierbar» zu messenden schulisch bewerteten
Skills abhängig, die ihrerseits von sozioöko-
nomischen und -kulturellen Determinanten         übergreifenden Tests z.B. bei der Beurtei-                   Reflex gesellschaftlicher Diskrimination,
beeinflusst werden. (Im PISA-Projekt ist der     lung der Lesekompetenz ganz zu neutrali-                     die sich in unterschiedlichen Startchancen
Anspruch, dass die verzerrenden Einflüsse        sieren sind.) Diese Determinanten sind nicht                 im Bildungswesen niederschlagen. Gemäss
der Notengebung durch die Lehrpersonen           Reflex der institutionellen Diskrimination                   einer jüngst publizierten empirischen Unter-
dank standardisierten schul- und länder-         innerhalb des Bildungswesens, sondern der                    suchung2 hat aber auch noch die «subjektive»

8   vpod bildungspolitik 222
Chancengerechtigkeit

Abbildung 3          Zusammenhang zwischen durchschnittlichem Wohlstand                                                     kann man rückschliessend argumentieren,
der Haushalte und durchschnittlicher Maturaquote der Zürcher Gemeinden                                                      dass das über den sozialen Status vermittelte
Quelle: Statistisches Amt Kanton Zürich, Erhebung 2018, eigene Berechnung und eigene Darstellung; gestrichelte Linie =      grössere oder kleinere «Selbstvertrauen»
Trendlinie (polynomisch)                                                                                                    und die ebenso vermittelte stärkere oder
                                                                                                                            schwächere «Selbstsicherheit» und die
                                                                                                                            entsprechende «Anspruchshaltung» ein
                                                                                                                            weiterer indirekter Kanal der Diskrimina-
                                                                                                                            tion ist. Einerseits rührt dieser von einem
                                                                                                                            «Signalling» auf die Lehrpersonen her (und
                                                                                                                            stellt damit einen Teil der institutionellen
                                                                                                                            Diskrimination dar), anderseits übt dieser
                                                                                                                            Kanal aber auch mit steigendem sozialen
                                                                                                                            Status einen objektiven positiven bzw. mit
                                                                                                                            sinkendem sozialen Status einen objektiven
                                                                                                                            negativen «Leistungs»-effekt auf die schu-
                                                                                                                            lisch bewerten Skills aus (und stellt einen
                                                                                                                            Teil der gesellschaftlichen Diskrimination
                                                                                                                            dar). Beide Arten der Diskrimination, die
                                                                                                                            institutionelle und die gesellschaftliche,
                                                                                                                            bestimmen zusammengenommen das totale
                                                                                                                            Ausmass der Chancenungleichheit.
                                                                                                                               In der Schweiz ist der totale Effekt der
                                                                                                                            mittels ESCS erfassten sozioökonomischen
                                                                                                                            und -kulturellen Determinanten auf die
                                                                                                                            Leseperformance nach Frankreich am zweit-
                                                                                                                            stärksten (grüne Balken) im Vergleich der
                                                                                                                            vier Nachbarländer und vier weiteren mit
Abbildung 4            Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und
                                                                                                                            der Schweiz vergleichbaren Ländern (vgl.
Nettoeinkommen 2018 in der Schweiz im Vergleich zu den Nachbarländern (nicht
                                                                                                                            Abbildung 5, S. 10). Dieser objektive Effekt
verfügbar: Italien) und vier ähnlichen Ländern (hinsichtlich Wohlstand pro Kopf und
                                                                                                                            von ESCS reduziert sich in der Schweiz unter
Einwohnerzahl)
                                                                                                                            den Vergleichsländern am drittschwächsten
Quelle: OECD, Education at a glance 2020, Erhebung 2018, eigene Berechnung und eigene Darstellung; Nettoeinkommen
indexiert (100 / rote Linie = «Below upper secondary» = höchstens obligatorischer Schulabschluss)                           (nach Italien und den Niederlanden), wenn
                                                                                                                            der Einfluss der subjektiven Selbstwahr-
                                                                                                                            nehmung der eigenen Leseperformance auf
                                                                                                                            die objektiv gemessene Leseperformance
                                                                                                                            kontrolliert wird (schwarze Balken). Das
                                                                                                                            heisst, der zusammengenommene Einfluss
                                                                                                                            des «Signalling» des sozialen Status auf die
                                                                                                                            Lehrpersonen und des objektiv positiven
                                                                                                                            Einflusses des mit dem sozialen Status stei-
                                                                                                                            genden Selbstvertrauens ist in der Schweiz
                                                                                                                            zwar noch immer hochsignifikant, aber
                                                                                                                            vergleichsweise relativ schwach ausgeprägt.

                                                                                                                            Ungleichheiten auf dem
                                                                                                                            Arbeitsmarkt
                                                                                                                            Der unterschiedliche Schulerfolg hat Folgen.
                                                                                                                            Der Median des Bruttoerwerbseinkommens
                                                                                                                            (BEE) der Hilfsarbeitskräfte ist robust knapp
                                                                                                                            dreimal kleiner als jener der höchstqualifi-
                                                                                                                            zierten Berufe (exklusive «Führungskräfte»)
                                                                                                                            (vgl. Abbildung 6, S. 10).
                                                                                                                              Mit der Zeit hat sich auf dem Arbeits-
Lesebeispiel:                             eliminiert werden und in der Grafik nur   II um rund 25% höher als jenes der      markt eine stabile Struktur mit drei Job-
Für jedes abgebildete Land ist das
                                          noch die länderspezifischen Effekte       Gruppe mit bloss obligatorischem        Hauptsegmenten ausgebildet: (1) Prekäre
                                          höherer Bildungsabschlüsse sichtbar       Abschluss (in Frankreich bloss rund
mittlere standardisierte Einkommen        werden, und zwar so, dass die Länder      5% höher). Die Gruppe mit einem         Hire & Fire-Jobs der Randbelegschaft, (2)
2018 für die Gruppe, die höchstens die
obligatorische Schule absolviert hat,
                                          direkt miteinander vergleichbar sind. –   Bachelor-Abschluss hat in der Schweiz   Normalarbeitsverhältnisse, die mit der Zeit
                                          Wie viele Prozent grösser ist nun das     ein um knapp 70% höheres mittleres
mit 100 Punkte indexiert worden. Dies     mittlere Einkommen für die Gruppen        Einkommen als die Gruppe mit bloss      betriebsspezifisches Humankapital in der
ist mit einer waagrechten grünen Linie
gekennzeichnet. Die Indexierung hat
                                          mit immer «höherer» Ausbildung in         einem obligatorischen Bildungsab-       «Kernbelegschaft» aufbauen und damit auch
                                          jedem Land? In der Schweiz ist das        schluss (in Deutschland deutlich über
den Vorteil, dass die unterschiedlichen   mittlere Einkommen der Gruppe mit         120% höher), etc.                       Lohnrenten realisieren können, (3) Jobs mit
Lohnniveaus der einzelnen Länder          einem Abschluss auf Sekundarstufe                                                 hohem Sozialprestige und meist auch klarer
                                                                                                                            Karriereperspektive. Das dem Arbeitsmarkt
Selbstzuschreibung der eigenen schulischen                     der Einfluss der «rohen» sozioökonomi-                       vorgeschaltete Bildungswesen hat sich über
Skills einen Effekt auf die «objektiv» gemes-                  schen und -kulturellen Determinanten auf                     die Zeit immer «besser» an die stabile hierar-
sene schulische Performance. Weil dadurch                      die schulische Performance verändert wird,                   chische Struktur der Einsteigerjobs adaptiert,

                                                                                                                                                  vpod bildungspolitik 222   9
Chancengerechtigkeit

indem sich im Bildungswesen eine an den                         Abbildung 5         Einfluss von sozioökonomischen und -kulturellen
Arbeitsmarkt anschliessbare hierarchische                       Determinanten (ESCS) auf die Lesekompetenz
Struktur der Bildungsabschlüsse ausgebildet                     Quelle: OECD Database, eigene Darstellung
hat. Die Verlierer im Bildungswettkampf
kommen in das Segment der prekären Jobs.
Die Sieger im Bildungswettkampf werden
in die Karrierejobs hineinselegiert. Und
für die «Normalbegabten» sind eben die
Normalarbeitsverhältnisse reserviert. Die
Verlierer sind gesellschaftlich objektive
Verlierer, weil ihre Jobs kein Sozialprestige,
überwiegend anstrengende, langweilige
und fremdbestimmte Tätigkeiten, unsichere
Anstellungsverhältnisse, schlechte Arbeits-
bedingungen, tiefe Einkommen bieten. Und
spiegelbildlich sind die Sieger gesellschaft-
lich objektive Gewinner, weil sie hohe Ein-
kommen erzielen, Sozialprestige geniessen,
häufig interessante, abwechslungsreiche
und selbstbestimmte Tätigkeiten ausüben,
sichere Anstellungsverhältnisse haben und
sich guter Arbeitsbedingungen erfreuen.
   Sicher, auch eine objektive Verliererin
kann subjektiv sich ihres Lebens erfreuen,
eine glückliche Beziehung führen, ihre
Kinder lieben, schliesslich sogar ihren Job                     Erläuterungen:                              performance that is associated with           the score-point change in reading
                                                                                                            a one-unit change in ESCS when                performance that is associated with
ohne Klagen erledigen. Und sicher, auch ein                     ESCS = total effect of the PISA index       accounting for gender                         a one-unit increase in ESCS when
                                                                of economic, social and cultural status
objektiver Sieger kann todunglücklich sein,                     (ESCS)                                      - ESCS effect when accounting for             accounting for gender and self-
                                                                                                            the indirect effect of self-perception        perception
von Neid und Ehrgeiz zerfressen, in einer                       - Total effect of ESCS represents           of reading performance represents
Katastrophenbeziehung gefangen sein, sich                       the score-point change in reading

von seinen Kinder entfremdet haben, zum
Alkoholiker werden, Suizid begehen. Das än-
dert aber nichts daran, dass sie gesellschaft-                  Abbildung 6             Standardisierte Bruttoerwerbseinkommen (BEE) der höchst-
lich eindeutig objektive Verlierer bzw. Sieger                  und tiefstqualifizierten Berufe nach ISCO, umgerechnet in Frankenwerte 2019
bleiben.3 Reiche, erfolgreiche, angesehene                      Quelle: BFS (SAKE, LIK), eigene Darstellung und eigene Berechnung
Individuen haben im Mittel weniger Krank-
heiten, sind gesünder, leben länger, können
also ihren objektiv besseren Lebensstandard
auch subjektiv besser und länger geniessen.
Ohne diese gesellschaftliche Objektivität
der Begehrtsheitsrangfolge der Einsteiger-
jobs liessen sich viele Phänomene schlecht
verstehen, wie z.B. der immer lückenloser
zu erlebende elterliche Ehrgeiz im Hinblick
auf den hierarchisch möglichst hoch angesie-
delten Bildungserfolg ihrer Schützlinge am
Ausgang der Bildungskarriere – und zwar
auch in den angeblich «bildungsfernen»
Schichten, selbst wenn deren objektiver
Unterstützungs- und Förderbeitrag für ihre
Sprösslinge systematisch geringer ausfällt
als jener aus den «bildungsnahen», sprich:
wohlhabenden Schichten.

Thomas Ragni arbeitet als Ökonom beim Staatssekretariat
für Wirtschaft (SECO). Seit 2001 ist er Mitglied der
Redaktionsgruppe der vpod bildungspolitik.

1 So reagieren Jungen in Grossbritannien        Series, No. 2013-15, University of Essex,        dass Zigarettenrauchen das Risiko für Lun-          standard. Die verschwendete Lebenszeit ist
vergleichsweise sensitiver auf die negativ      Institute for Social and Economic Research       genkrebs und Herzinfarkt signifikant erhöht,        beträchtlich, die allein der Suchtbefriedi-
oder positiv wirkende subjektive elterliche     (ISER), Colchester.                              wenn einzelne Kettenraucher 100-jährig              gung dient, nur um immer wieder von neu-
Haltung und Aspiration gegenüber Bildung,       2 OECD (hg), 21st‑Century Readers.               werden und dann auch nicht an Lungen-               em «normal durch den Tag zu kommen» (so
während Mädchen den negativ oder positiv        Developing Literacy Skills in a Digital World,   krebs oder Herzinfarkt sterben. Zweitens:           wie ein starker Alkoholiker morgens nach
wirkenden Einflüssen objektiver sozioöko-       OECD, Paris 2021, S. 114 ff                      Sogar diese glücklichen Einzelfälle («statis-       dem Aufstehen zuerst einen Liter Schnaps
nomischer Faktoren vergleichsweise stärker                                                       tische Ausreisser») erleiden in ihrem Leben         trinken muss, damit das starke Zittern der
ausgesetzt sind. Vgl. Tina Rampino, Mark        3 Diese Aussage beinhaltet zwei Teilaspek-       massive Nachteile aufgrund ihrer Sucht des          Hände wieder aufhört). Etc.
Taylor, Gender differences in educational as-   te, die an einem Beispiel illustriert werden     Kettenrauchens. Die Sucht ist zu finanzieren
pirations and attitudes, ISER Working Paper     sollen. Erstens: Es bleibt auch dann korrekt,    und senkt den sonst erreichbaren Lebens-

10    vpod bildungspolitik 222
Chancengerechtigkeit

Bildungshunger
Eine Primarlehrerin berichtet über ihre Erfahrungen mit Kindern mit Migrationshintergrund.
Von Susanne Beck-Burg

V    ier Kinder mit Migrationshintergrund
     in unserer 2. Klasse1 arbeiten mit einer
auffallend dauerhaften Motivation in allen
                                                         herrschen, lösen sie jetzt ab und zu Aufgaben
                                                         aus Arbeitsheften für die 4. Klasse. Sie führen
                                                         wunderschöne Hefte. Vorschläge zur Weiter-
                                                                                                                        arbeiten wollen, sehe ich noch lange keine
                                                                                                                        Gefahr von «Überintellektualisierung». Ich
                                                                                                                        spreche explizit für meine Klasse, in der
Fächern. Durch ihre ausgeprägten Ressour-                führung von Aufgaben werden aufgesogen                         wir uns viel bewegen, in den Wald und auf
cen und ihre hohe Arbeitsmoral wirken sie                und postwendend ausgeführt. Dazu kommt                         den Bauernhof gehen und uns auf Kreatives
anspornend und ziehen voran. Es kommen                   ein Verhalten, das sehr bescheiden, fein und                   einlassen. Vielleicht ist es auch gerade eine
alle Schüler*innen gerne zur Schule und sind             sozial ist. Sind sie unterfordert, stören sie                  Frucht von ganzheitlichem Unterricht, dass
für vieles zu begeistern. Fragt die Lehrkraft:           den Unterricht nicht. Sie beschäftigen sich                    die Schüler*innen der anfallenden Knochen-
«Wer will…….?», so schnellen schon die meis-             dann oft selber, indem sie z.B. Hefteinträge                   und Kopfarbeit nicht überdrüssig werden.
ten Hände in die Höhe, bevor die Lehrerin                vertiefen, Varianten erfinden und ausführen                    Nicht selten ruft nach einer vollen Lektion
den Satz beenden und den Schüler*innen                   etc. Sie kommen gerne eine Viertelstunde zu                    Mathematik über die Hälfte der Klasse vor der
mitteilen kann, um was es geht und was sie               früh in die Schule, entweder um Schach zu                      Pause: «Schade, wir wollen weiter rechnen!»
ihnen vorschlagen will.                                  spielen, Fragen zu stellen oder ihre freiwillig
                                                         ausgefüllten Arbeitsblätter korrigieren zu                     Erhöhte Chancenungleichheit
Die fleissigen Vier                                      lassen. Im Unterricht erweitern sie ihren                      Als IF-Lehrerin (2016-19) hatte ich oft mit Kin-
Was die Motivation unserer vier aus Eritrea,             Wortschatz aus eigener Initiative, indem sie                   dern mit Migrationshintergrund zu tun, die
aus Afghanistan und aus dem Irak stam-                   sich melden, wenn sie etwas nicht verstehen.                   den Unterricht störten und wenig Eigeninitia-
menden Schüler*innen auszeichnet, ist                    Sie schnappen jede sprachliche Korrektur                       tive und Konzentration aufbringen konnten.
ihre grundsätzliche Bejahung der Aufträge,               auf und wollen sich das Deutsch bis in seine                   Dies erstaunte mich nicht, wenn ich erfuhr,
erstaunlich unabhängig davon, welchen Grad               Nuancen einverleiben – mit den richtig                         dass solch ein Kind z.B. zusehen musste, wie
von Verspieltheit diese haben. Sie wollen                gewählten Präpositionen und den richtigen                      sein arbeitsloser Vater (wegen seines Status
arbeiten und zwar so viel wie möglich. Trotz             Fallformen. Dies weckt die Deutschspra-                        mit dem Arbeitsverbot behaftet!) sich dem
ihrer Sprachbarrieren versuchen sie mit                  chigen auf. Sie können sich dadurch ein                        Gamen ergab, während sich die überlastete
grösstem Interesse zu begreifen, um was es               Bewusstsein für die Eigentümlichkeiten                         Mutter um alles kümmern musste.
sich handelt. Mehr und mehr gelingt ihnen                ihrer Sprache aneignen.                                           Bei den Migrantenkindern kommen die un-
dies auf Anhieb. Verstehen sie etwas nicht                                                                              terschiedlichen Start- und Bildungschancen
vollständig, stören sie den Fluss des Unter-             Vorbild und Bereicherung                                       noch viel drastischer zum Ausdruck als bei
richts in keiner Weise. Sie warten den passen-           Die Kinder mit Migrationshintergrund                           den andern Kindern. Eine umfassende Studie
den Moment ab, um genauer nachzufragen.                  freuen sich mindestens so wie die Deutsch-                     der Uni Neuchatel zum Thema: «Kinder mit
Mit blitzschneller Auffassungsgabe gehen                 sprachigen auf Herausforderungen ver-                          Migrationshintergrund: ein grosses Potenti-
sie ans Werk, das sie sorgfältig, ernsthaft              schiedener Art. Und sie wollen dann im                         al»2 befasst sich mit den Einflussfeldern, die
und fleissig ausführen. Wenn dann bei den                Theaterspiel z.B. ihre Rolle sprachlich                        zu einer erfolgreichen Bildungslaufbahn von
meisten Kindern der Arbeitseifer nachlässt,              perfekt spielen. Die Kinder haben anregende                    Migrantenkindern führen: «Das schulische
wollen die Vier (sie nennen sich selber «wir             Vorbildfunktion vis à vis von Kindern, die                     System muss diese Realitäten berücksichti-
Braune») oft noch länger an einer Arbeit                 dazu neigen, schnell mit etwas zufrieden zu                    gen, um Chancengleichheit gewährleisten
dranbleiben und sie vertiefen. Sie hungern               sein, und die, vielleicht beeinflusst durch ihre               zu können. Mit diesem Verständnis von
nach weiterführenden Aufgaben und sind                   eher «gemütlichen» Schweizer Eltern, dazu                      Chancengleichheit sollten nicht grundsätz-
dankbar, wenn sie Arbeitsblätter für zuhause             neigen, freiwillige Arbeitsblätter wieder leer                 lich alle Schülerinnen und Schüler demselben
bekommen. Natürlich kann es sein, dass ihre              in die Schule zurückzubringen. «Nur keinen                     Selektionsverfahren unterzogen werden, son-
Motivation zum Teil darin besteht, ihren                 Stress in der Freizeit!» ist das Motto solcher                 dern lediglich diejenigen Schülerinnen und
Eltern gefallen zu wollen, die vielleicht alle           Eltern. Sie bremsen ihre Kinder eher, auch                     Schüler, welche dieselben Voraussetzungen
ihre Ziele und Wünsche in die Schul-Karriere             wenn sie freiwillig arbeiten wollen. Ist das                   mitbringen.» Diese Theorie ist grossartig. Der
ihrer Kinder stecken. Doch wie die Eltern                nicht «sünd und schade»? Für mein Lehre-                       Praktiker*in aber war schon immer klar, dass
bezeugen ist der Arbeitswille hauptsächlich              rinnenherz jedenfalls ist es so.                               jedes Kind ein Individuum mit ihm eigenen
intrinsisch. Samel (Name geändert) zum                      Wie toll, wenn Schüler*innen zuhause                        spezifischen Voraussetzungen ist.
Beispiel, der mit seiner Mutter zuhause                  intrinsisch weiterarbeiten wollen! Skeptische
Persisch spricht, ist daran, sich mehr oder              und aufgeklärte Eltern berufen sich auf                        Susanne Beck-Burg unterrichtet zusammen mit
weniger eigenständig die persische Schrift               die Bestimmung der Berner Erziehungsdi-                        einer Stellenpartnerin eine 2. Klasse in Biel, wo sie
anzueignen. Auch beobachten die Eltern ihn,              rektion zum LP 21, dass eine halbe Stunde                      seit 2016 bereits als IF-Lehrkraft arbeitete. Sie war in
wie er im Duden Wörter nachschlägt und                   Hausaufgaben pro Woche auf dieser Stufe                        verschiedenen alternativen Schulprojekten tätig. Mit 57
so seinen Wortschatz in beiden Sprachen                  das Höchstmass sei. Ich finde es selbstver-                    Jahren absolvierte sie die Pädagogische Hochschule
erweitert.                                               ständlich auch längstens an der Zeit, dass dem                 als «Quereinsteigerin», nachdem sie mit 17 aus dem
   Ständig fragen die vier Schüler*innen                 Hausaufgabenterror ein Riegel vorgeschoben                     Lehrerseminar ausgestiegen war. Susanne Beck-Burg ist
nach neuen Aufgaben. Da sie den Stoff in                 wird. Aber warum von einem Extrem ins                          Mitglied des «Vereins für eine «Schule ohne Selektion»
der Mathematik der 2. Klasse längstens be-               andere fallen? Wenn Schüler*innen freiwillig                   und der Redaktion der «vpod bildungspolitik».

1 Die Autorin führt eine Klasse mit      stützungslektionen zugesprochen worden.        2 Dina Bader und Rosita Fibbi (2012).         schweizerischen Konferenz der kantonalen
einer Stellenpartnerin zusammen. Wegen   Eine Speziallehrkraft brauchen wir jedoch      Kinder mit Migrationshintergrund: ein         Erziehungsdirektor*innen.
verschiedenen Kindern mit speziellen     nicht, weil wir diese Zusatzlektionen selber   grosses Potential. Studie im Auftrag der
Bedürfnissen sind der Klasse 18 Unter-   übernehmen können.                             Kommission Bildung und Migration der

                                                                                                                                                 vpod bildungspolitik 222    11
Chancengerechtigkeit

Hilfe zur Selbständigkeit
Das eigenständige Erstellen einer Matura- und Diplomarbeit bietet allen Schüler*innen die Chance,
ihre schlummernden Potenziale zu entfalten. Für leistungsschwächere Schüler*innen ist hierbei die
Beratung und Unterstützung pädagogisch besonders wertvoll. Von Markus Holenstein

I m Reglement der EDK über die Anerken-
  nung von gymnasialen Maturitätsauswei-
sen (MAR, Art. 10, 15, 20) ist festgehalten, dass
Schüler*innen eine grössere eigenständige
schriftliche oder schriftlich kommentierte
Arbeit erstellen, deren Benotung im Matura-
zeugnis steht. Eine analoge Abschlussarbeit
erstellen Schüler*innen auch am Ende der
dreijährigen FMS-Ausbildung und an der
Berufsmittelschule als interdisziplinäre
Projektarbeit.
 Der Begriff «eigenständig» weist darauf
hin, dass die Arbeit selbstständig, in eigener
Wahl des Themas im entsprechenden Fach,
aber mit Betreuung einer Lehrperson zu
leisten ist.1 Dabei ist die Selbstständigkeit
der Lernenden als persönliche Entfaltung
und Mündigkeit, als individueller und
gesellschaftlicher Wert, als soziale Verant-
wortung und Studierfähigkeit zu verstehen.
Die Betreuungsperson nimmt eine Hilfe-
stellung im Rahmen der Konzipierung der             des circa einjährigen Arbeitsprozesses auf      von Verdingkindern (in Form einer Unter-
Arbeit ein – unter anderem Beratung bei der         Grund gezielter Beobachtung einen Teil          suchung und eines Dokumentarfilms) und
Themeneingrenzung, bei der Anwendung                der Gesamtbewertung bildet – neben der          zur Thematik des Arabischen Frühlings
adäquater Methoden und bei Problemen der            schriftlichen Arbeit und der Präsentation.      in Ägypten. Eine Schülerin untersucht
Literaturrecherche –, sie soll jedoch gleich-         Voraussetzung einer kompetenten Betreu-       kunst- und wirtschaftshistorische Objekte
zeitig die Selbständigkeit der Schüler*innen        ung ist, dass sich die betreffende Lehrperson   einer Zentralschweizer Region und kreiert
gezielt fördern.                                    selbst in der Thematik einer Abschlussarbeit    daraus einen publikationswürdigen Führer.
   Mit dem Erstellen einer Matura- respektive       kundig macht, echtes Interesse daran zeigt      Drei FMS-Schüler beschäftigen sich mit
Diplomarbeit schöpfen Schüler*innen, die            und für auftretende Fragen des Schülers / der   der komplizierten Geschichte Somalias seit
in ihnen schlummernden Potenziale aus               Schülerin das nötige Verständnis aufbringt:     den 1990er Jahren und entwickeln daraus
und entwickeln, gestützt durch ihre Moti-           Probleme der Themenwahl, Recherche              ein Projekt zur finanziellen Unterstützung
vation, Forschungsinteresse, erstaunliche           und Methodik, mögliche Arbeitskrisen,           somalischer Flüchtlinge in kenianischen
fachliche Methodenkompetenzen, kognitive            Krankheiten und andere erschwerende             Lagern.
Grundfähigkeiten, Neugier, Initiative und           Lebensumstände. Von grossem Vorteil ist,           Eine versierte Mathematikschülerin ana-
Zielstrebigkeit.                                    dass die Betreuungsperson auch während          lysiert die mathematische Formel eines
                                                    der Ferienzeit ansprechbar bleibt und nicht     amerikanischen Autors für geometrische
Verständnis und Freiheit                            auf Formalitäten pocht, welche die Substanz     Ornamente persisch-islamischer Kunst und
Nicht zu übersehen ist ein gewisses Unver-          einer Arbeit schmälern können, zum Bei-         stösst auf Fehler!
ständnis unter Lehrkräften, dass Maturarbei-        spiel die definierte Seitenzahl. Einfühlende       Die hier beispielhaft aufgeführten Arbei-
ten mit hohen Noten bewertet werden – dies          Beratung stellt für eher leistungsschwächere    ten erhielten die Prämierung gesamtschwei-
bilde einen Widerspruch zu den üblichen             Schüler*innen erwiesenermassen eine             zerischer Wettbewerbe (Schweizer Jugend
Erfahrungsnoten, die sich in der Bandbreite         wichtige Hilfe dar.                             forscht, HISTORIA, Peter-Dolder-Preis), was
der sogenannten Normalverteilung bewegen                                                            die Qualität einer eigenständig erstellten
(müssten)! Zu hohe Bewertungen durch ein-           Beispiel Geschichte                             Maturaarbeit respektive die damit aktivierten
zelne Lehrpersonen, z.B. für Kreativprodukte        Maturitätsarbeiten können von höchster          Potenziale der Autor*innen zusätzlich unter-
im Fachbereich bildnerisches Gestalten,             Qualität sein. Dies kann an Arbeiten im         streicht! Nicht zuletzt stellt das selbständige
seien mittels einer möglichst einheitlichen         Fach Geschichte aufgezeigt werden: Schüle-      Erstellen einer Abschlussarbeit eine sehr
Notengebung zu «harmonisieren». Dieses              rinnen und Schüler tauchen «ohne falsche        nützliche Vorbereitung auf das Hochschul-
«Problem» wird auch zum Thema von                   Hemmungen» in Archive ein, verschaffen          studium dar!
Weiterbildungskursen. Offensichtlich ist            sich Zugang zu nicht geöffneten Familien-
                                                                                                                                                                 Foto: Lensw0rld / phtocase.de

aber, dass die selbstbestimmte Themenwahl           archiven, werten Quellen systematisch aus.      Markus Holenstein ist VPOD-Mitglied und
der Matura- respektive der Diplomarbeit die         Sie eignen sich Statistikkenntnisse an und      Gymnasiallehrer für Geschichte und Philosophie
Schüler*innen hoch motiviert, besondere             analysieren soziologische Fragestellungen.      (pensioniert). Seit 1980 arbeitet er bei der vpod
Leistungen zu erbringen, da sie die Chance          Daraus entstehen u.a. Arbeiten zur schwei-      bildungspolitik mit.
haben, ihren eigenen Forschungsinteres-             zerischen Auswanderungsgeschichte, zur
                                                                                                    1 Vgl. dazu Peter Bonati und Rudolf Hadorn (2007): Matura-
sen mit aller Intensität nachzugehen. Zu            Geschichte der schweizerischen Hotellerie       und andere selbständige Arbeiten betreuen. Ein Handbuch
erwähnen ist zudem, dass die Benotung               in der Belle Epoque, zur Lebenssituation        für Lehrpersonen und Dozierende, Bern: h.e.p. verlag ag.

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