NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
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NOT DARK YET – Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs Herausgeber: Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers Verantwortlich: Arbeitsfeld Kunst und Kultur, Dr. Matthias Surall (V.i.S.d.P.) Hausanschrift: Archivstraße 3, 30169 Hannover Postanschrift: Postfach 2 65, 30002 Hannover Fon: 0511 1241-431/-432 Fax: 0511 1241-499 E-Mail: kunst.kultur@kirchliche-dienste.de Internet: www.kunstinfo.net Fotos: AnnenMayKantereit, Pressefoto Tourankündigung 2019, Martin- Lamberty; Bob Dylan 2009, Foto William Claxton (Sony Music); Dolly Par- ton, Pressefoto 2016 © Courtesy of Dolly Parton Entertainment (Sony Mu- sic); Eric Clapton, 2002, Lester Cohen © Warner Media Group; Patti Smith 2012, Foto Steven Sebring (Sony Music); tocotronic © Michael Petersohn; Tom Jones, Live At Cardiff Castle © Warner Media Group; Deine Lakaien, © ODYSSEY MUSIC NETWORK; Leonard Cohen, Foto: Laszlo (Sony Music); Johnny Cash © Warner Media Group; Johnny Cash, Photo live close up 1959 © Sony Music; Paul Simon © Warner Media Group; Paul Simon 1980 © Louis Goldman, Sony Music Archives; Udo Lindenberg 2002, Foto Fritz Brinkmann (Sony Music); Dr. Matthias Surall (Titelbild, S.2,5,14,19,26,29,33, 37,39,44,50,60,66,70/71,77) Bildnachweise der Porträtbilder: Dr. Matthias Surall (Dr. V. Bastert), Gunnar Schulz-Achelis (Dr. M. Surall), Norman Klaß (A. Behr), Jens Schulze (A. de Vries), Andreas Schoelzel (J. H. Claussen), Elena Bokelmann/HkD (M. Käth- ler), Lukas Mücke (C. Schröder), Fotoraum Reinhold (I. Schwarz), Bundes- ESG (Dr. U.-K. Plisch) Satz und Layout: HkD (11936) Druck: MHD Druck und Service GmbH, Hermannsburg, gedruckt auf Recyclingpapier aus 100% Altpapier Auflage: 1000 Ausgabe: Oktober 2018
Inhaltsverzeichnis Einführung Dr. Matthias Surall ...................................................................................... 3 Johnny Cash „LIKE THE 309“ und „WE’LL MEET AGAIN“ oder keine Berührungsängste Dr. Matthias Surall ................................................... 8 Patti Smith „GONE AGAIN“ oder Alles ist eitel Dr. Uwe-Karsten Plisch ................................................................13 Bob Dylan „NOT DARK YET“ und „MARCHIN’ TO THE CITY” oder Alter schützt vor Sehnsucht nicht Dr. Matthias Surall ................................17 Tom Jones „SEXBOMB“ und „TOWER OF SONG“ oder Alter, Sexualität und Würde Dr. Matthias Surall ..........................................23 Dolly Parton „BACKWOODS BARBIE“ oder was wirklich zählt Imke Schwarz ....................................................................28 Leonard Cohen „YOU WANT IT DARKER“ oder zwischen Zweifel und Zuflucht Imke Schwarz ............................................31 Deine Lakaien „LONELY“ Ein Klagepsalm aus der Gothic-Szene Andreas Behr ...........................................34 John Prine „GOD ONLY KNOWS “ und „WHEN I GET TO HEAVEN” oder heitere Ergebung Dr. Johann Hinrich Claussen ................................................39 Paul Simon mit „OUTRAGEOUS“ und „AFTERLIFE“ gegen unsere Ängste Dr. Volker Bastert ..................................................................45 Tocotronic „IM KELLER“ und „ABSCHAFFEN“ oder angstfrei im Souterrain Christine Schröder ...................................................51 AnnenMayKantereit „21, 22, 23“ und „OFT GEFRAGT“ oder das Alter aus der Perspektive von Twentysomethings Dr. Matthias Surall...58 Udo Lindenberg „JACK“ oder im Himmel ist Jahrmarkt! Und überhaupt … Martin Käthler...................62 Eric Clapton „TEARS IN HEAVEN“ oder vom Umgang mit dem Unfassbaren Arend de Vries...................................68 Die Autor*innen ............................................................................................. 74 Das Arbeitsfeld Kunst und Kultur ................................................................. 75 Materialien und Kontakt................................................................................ 76 1
Einführung Dr. Matthias Surall „Es dauert sehr lange, hat die Generation der bis man jung wird.“ Pablo Picasso sogenannten „Silver-Ager“ fest im Blick; der Deutsche „Ah, but I was so much older then Evangelische Kirchentag I’m younger than that now”1 wird von aktiven Ü60er- Bob Dylan („The Picasso of Song” – Scharen bevölkert, und Leonard Cohen), „My Back Pages“, 1964 auch Kunst und Kultur ha- ben das Altersthema längst entdeckt und entstaubt, was nicht zuletzt Es ist eine unleugbare Tatsache: Die die 2017/2018 präsentierte famose Menschen werden immer älter, zu- Ausstellung „Silberglanz – Von der mindest in den westlichen Industrie- Kunst des Alters“ im Landesmuseum nationen. Ob der demographische Hannover belegt hat. Wandel bemüht oder die umge- drehte Alterspyramide angeführt Mit der verstärkten Entdeckung wird – klar ist: Der Anteil der Gene- und Behandlung des Altersthemas rationen Ü60 und Ü70 bis Ü80 an der verknüpft oder quasi in seinem Wind- Gesamtbevölkerung nimmt stetig zu. schatten segelnd ist inzwischen auch Und dies ist erst der Anfang. Denn seine Zuspitzung auf Endlichkeit, Ster- im nächsten Jahrzehnt steht die ben und Tod hin aus der Tabuzone Verrentung und Pensionierung der herausgekommen. Dazu beigetragen Generation der „Babyboomer“ aus hat auch die ambulante und statio- den 1960er Jahren an. näre Hospizbewegung und -arbeit, der Ausbau palliativmedizinischer Diese evidente und virulente Ent- Angebote sowie die künstlerisch- wicklung zeitigt etliche Konse- existentielle Auseinandersetzung quenzen. Dazu gehört, dass das mit dem eigenen nahen Tod wie im Themenspektrum dieser Broschüre Falle von Christoph Schlingensief und „Alter und Tod, Endlichkeit und Wolfgang Herrndorf. Einsamkeit“ nicht (mehr) quasi unter der Ladentheke gehandelt, tabuisiert Aber wie verhält es sich mit diesem oder ignoriert, sondern vielfältig und Themenfeld im Bereich der Pop- offensiv behandelt wird. Altersrat- musikkultur? Gebietet es nicht die geber boomen; persönliche Veröf- Redlichkeit, sich im 50. Jubiläumsjahr fentlichungen älterer Promis finden der 68er-Unruhen und -Bewegung reißenden Absatz; die Werbung hier zweierlei klarzumachen: 1. Noch 1968 war die Pop- und 1 Der komplette Songtext dieses frühen Dylan Titels findet sich hier auf seiner Rockmusik exklusiv die Musik Homepage: https://www.bobdylan.com/ der Jugend und diente der songs/my-back-pages/ – aufgerufen am Abgrenzung von der älteren 02.10.2018. Generation, vom Mief der 3
Nachkriegszeit und ihrer Ver- Verkaufen und Vorgaukeln drängungsszenarien. Für junge ‚ewiger‘ Jugend. Popkünstler wie die damaligen Beatles mit Mitte bis Ende 20 Doch entgegen dieser Reminis- war das Alter kein wirkliches zenz und Klischees ist mittlerweile Thema – jenseits von leicht hu- festzuhalten: Die Popmusikkultur morvoll getränkter Annäherung ist ein Spiegel und Bestandteil un- an mehr oder minder spießige serer postmodernen Gesellschaft. Altersvorstellungen wie in dem Das heißt, dass sich auch in ihr der Song „When I’m 64“ auf „Sgt. gesamtgesellschaftliche Trend zur Pepper’s Lonely Hearts Club Umgehensweise mit dem Thema Band“ von 1967. Es gab einfach Alter, Sterben und Tod – wie oben keine wirklich alten Popstars. ansatzweise skizziert – wiederfindet: Zudem widersprach das Alter Da gibt es natürlich nach wie vor der verbreiteten Attitüde vieler das Phänomen von Verdrängung Pop- und Rockmusiker nach dem bis Tabuisierung oder Schönfärberei Motto aus „My Generation“ von des Alters, seiner Begleitumstände The Who: „Hope I die before I und Folgeerscheinungen, wie die get old“. Kurz: Alter war spießig, Ausdrücke „Silver-Ager“ oder „Best- uncool, kein Thema. Ager“ belegen. 2. Es gibt einige hartnäckige Kli- Aber es gibt eben auch eine deut- schees, die gegen die Verbindung liche Verlagerung, Verschiebung der von Popmusikkultur einerseits Grenzen von Alter, Aktivität und Tod. und Alter, Endlichkeit und Tod Und es ist zudem eine neue Art bis andererseits sprechen: Ehrlichkeit des Umgehens mit dem • Pop und Alter passen und ge- Alter bis hin zur Thematisierung des hen einfach nicht zusammen: Todes zu beobachten. Pop steht für Sex and drugs and rock’n’roll. Und das wird Weiter bleibt zu konstatieren: Auch exklusiv mit Jugend assoziiert. Pop- und Rockstars werden älter und • Popstars werden nicht alt. alt. Zahlreiche ihrer führenden und Sie sterben mit 27 oder wer- bekannten Vertreter*innen sind in den jedenfalls keine 50: Jimi die Jahre gekommen und weiterhin Hendrix, Kurt Cobain, Michael aktiv, ob es sich um Paul McCartney Hutchence, Janis Joplin, Jim handelt oder um Bob Dylan, beide Morrison, Brian Jones, Gram im 8. Lebensjahrzehnt unterwegs, Parsons, Keith Moon, Amy die Rolling Stones mit dem Mitt- Winehouse und Elvis Presley siebziger Mick Jagger, um Emmylou belegen das. Harris, Patti Smith oder Annette und • Popstars können nicht altern, Inga Humpe. Auch Madonna ist ganz nicht mit dem Alter, der ei- aktuell 60 geworden. genen Endlichkeit umgehen. Denn Popmusik steht syno- Dann ist es auch bei Pop- und Rock- nym für Jugendkult, und das stars inzwischen der Normalfall, ist gleichbedeutend mit dem dass sie altersbedingt bzw. an mehr 4
oder minder typischen Alterskrank- ren eine quasi materiell inszenierte heiten sterben. Ich denke an Johnny Verleugnung in zweierlei Hinsicht: Cash, Tom Petty und David Bowie, einmal durch chirurgische Eingriffe an Aretha Franklin und Glenn Frey und dann durch ein eher jugendlich von den Eagles, um nur ein paar zu anmutendes Outfit, Gebaren und nennen. Auftreten. Auch hier gilt: Das ist völlig legitim und eine je individuelle Letztlich zeigt sich bei den noch Entscheidung, die es zu respektie- lebenden älteren Popheroen, wie ren gilt. Schließlich gibt es auch die bei anderen Künstler*innen und inhaltliche Auseinandersetzung mit Normalsterblichen dito, eine sehr dem Thema und seinen diversen unterschiedliche Herangehenswei- Facetten in der eigenen Kunst. Hier se an den Themenkomplex von nenne ich stellvertretend Johnny „Alter und Tod, Endlichkeit und Cash, der von schwerer Krankheit Einsamkeit“: Zum einen eine inhalt- gezeichnet, ja den eigenen Tod schon liche Verdrängung bis Negation des vor Augen stehend, eben diesen in Themas als solches, auch wenn es verschiedener Hinsicht thematisiert autobiographisch angesagt wäre bis hat. Dies zeigt meine Besprechung ist. Es gibt ja Popkünstler*innen, die zweier seiner späten Songs hier in einfach immer weitermachen, ohne der Broschüre. Weiter nenne ich das Altersthema zu einem solchen Patti Smith, die sich, auch durch zu machen oder es sich anmerken etliche Todesfälle in ihrem Umfeld bis aufdrängen zu lassen. Und das ist bedingt, bereits seit Jahrzehnten ja auch ihr gutes Recht. Zum ande- mit Tod und Trauer und der damit 5
einhergehenden Einsamkeit der Diese widmet sich zudem dem Ti- Hinterbliebenen befasst und dieses telsong „You Want It Darker“ vom Themenfeld beständig beackert. finalen Album des kanadischen Ihrem diesbezüglich prägnanten Songpoeten Leonard Cohen, das Song „Gone Again“ widmet sich hier kurz vor seinem Tod erschien und Uwe-Karsten Plisch. in Anbetracht desselben entstan- den ist. Die Mannigfaltigkeit der künstle- rischen Auseinandersetzung mit Das deutsche Avantgarde-Duo aus „Alter und Tod, Endlichkeit und Ein- der Gothic-Szene Deine Lakaien samkeit“ wird bei der Vielfalt auch wird mit seinem hier als Klagepsalm der weiteren, hier versammelten interpretierten Song „Lonely“ von Künstler*innen und Songs sowie Andreas Behr in den Blick genommen. anhand ihrer jeweiligen Zugänge und Fokussierungen deutlich: Neben Der 71-jährige Singer/Songwriter den schon Genannten ist zunächst John Prine kommt mit den beiden Bob Dylan anzuführen, der auf sei- sein aktuelles Album „The Tree Of nem epochalen Album „Time Out Forgiveness“ beschließenden Songs Of Mind“ von 1997, von dem und vor. Nach zwei Krebsoperationen aus dessen Entstehungszeit die hier nimmt es nicht wunder, dass er sich von mir besprochenen zwei Songs der eigenen Endlichkeit stellt. Darü- stammen, die Themen Alter, Einsam- ber hinaus wagt er aber auch einen keit und Endlichkeit, Rückblick und augenzwinkernden Blick über die Glaubenssehnsucht intensiv behan- Grenze des Todes hinaus. Johann delt. Das Ganze tief im Genre und Hinrich Claussen befasst sich hiermit. der Bildsprache des Blues verwurzelt, für den das Thema Alter noch nie Einer der beiden, hier durch Volker obsolet war. Bastert vorgestellten Songs von Paul Simon, nämlich „Afterlife“, beschrei- Der walisische Popsänger Tom Jones tet einen thematisch sehr ähnlichen ist mit zwei von mir thematisierten Weg, kommt jedoch zu anderen Songs vertreten. Der eine, „Sex Ergebnissen. Bomb“, bescherte dem lange Zeit als männliches Sexsymbol geltenden Christine Schröder nimmt zwei Songs Tiger mit Ende 50 einen Smash-Hit. der deutschen Indierock-Band Toco- Der andere, „Tower Of Song“, steht tronic unter die Lupe, die geradezu für den Kurswechsel auf seinen philosophisch existentiell um die drei letzten Alben, die voller Blues, politischen, individuellen und par- Gospel und Americana stecken und tiell auch spirituellen Aspekte von existentielle Themen umkreisen. Endlichkeit, Tod und der Frage nach dem Bleibenden kreisen. Weiter begegnet hier die Country- Ikone Dolly Parton mit ihrem ent- Mit den beiden von mir bespro- waffnend ehrlichen persönlichen chenen Songs der jungen deutschen Song „Backwoods Barbie“, den Imke Band AnnenMayKantereit kommt Schwarz behandelt. eine intergenerative Perspektive ins 6
Spiel sowie der Blick junger Erwach- Jahren aufgekommen, sondern ein sener auf das Thema Älterwerden. bereits viel älteres Phänomen, das im Bereich der Kunst auch etwas mit Martin Käthler widmet sich einem der Verbreitung und Akzeptanz von schon älteren Songtitel von Udo Lin- Bildern, Symbolen und Zeichen und denberg, der in „Jack“ den Tod eines der Reproduzierbarkeit von Kunst- Freundes und überhaupt behandelt. werken zu tun hat. Dessen einge- denk begegnet in dieser Broschüre in Schließlich beschäftigt sich Arend de Gestalt von hier auch eingestreuten Vries noch mit dem bekannten Song Fotos aus dem Friedhofskontext eine „Tears In Heaven“ von Eric Clapton, alltagskulturelle Verbindungslinie mit dem dieser den Unfalltod seines zwischen sepulkralkulturellen und kleinen Sohnes bearbeitet. popmusikkulturellen Bearbeitungen des hier behandelten Themenfeldes Die hier versammelten Beiträge de- von „Alter und Tod, Endlichkeit und monstrieren aber nicht nur, welche Einsamkeit“. Vielfalt, welchen Reichtum an künst- lerischen Zugängen zu und existen- tiellen Auseinandersetzungen mit dem Themenfeld dieser Broschüre es hier im Bereich der Popmusikkultur und ihrer konkreten Artefakte ins- gesamt gibt. Sie enthalten auch Hin- weise darauf oder dafür, wie und wo sie im Einzelnen unter Umständen in einem kirchlichen, gemeindlichen Kontext eingebracht, genutzt werden könn(t)en. Diese Hinweise können sich auf Anlässe, thematische An- knüpfungspunkte oder biblische An- klänge, Zitate, Motive und ähnliches mehr beziehen. Manchmal auch auf antithetische Einsatzmöglichkeiten oder dialogische Kontrastmittel zu biblischen Texten, Geschichten, Fi- guren und Zusammenhängen. Ein wichtiger Aspekt von Popkultur zeigt sich stets darin, dass sie populär im Sinne von weit verbreitet und ak- zeptiert ist. Damit einhergehend gibt es eine große Schnittmenge mit dem, was Alltagskultur genannt wird. So gesehen ist Popkultur, in diesem wei- teren, ‚alltäglichen‘ Sinne verstan- den, dann nicht erst in den 1960er 7
Johnny Cash „LIKE THE 309“ und „WE’LL MEET AGAIN“ oder keine Berührungsängste Matthias Surall Rockabilly und Blues über Folk und Pop bis hin zum Alternative Country oder der Americana Music am Ende der 1990er Jahre bis zu seinem Tod in 2003. Mit seinem Namen und Wirken verbinden sich le- gendäre Live-Konzerte in den Gefängnissen Folsom und San Quentin Ende der 1960er Jahre, ebenso legendäre Sessions mit Elvis Presley, Carl Perkins und Jerry Lee Lewis in den 1950er Jahren so- wie mit Bob Dylan 1968. Nach dem Karrieresprung Ende der 1950er Jahre hatte er ab den 1960ern Johnny Cash, dessen Todestag sich eine eigene, lange Jahre laufende am 12. September 2018 zum fünf- TV-Show. Er stand für die Outlaw- zehnten Male jährt, war und ist Bewegung innerhalb des Country- eine Institution in (der Historie) Mainstreams und engagierte sich der Popmusikkultur. Als er mit 73 auch in politischer Hinsicht, zum Jahren starb, war seine Reputation Beispiel für die Rechte der indi- unter Musikerkolleg*innen, Fans und genen Ureinwohner*innen in den Kritiker*innen riesengroß, woran sich USA. Seit Ende der 1970er Jahre bis heute nichts geändert hat. Er ist dümpelte seine Karriere mehr einer der einflussreichsten US-ame- schlecht als recht vor sich hin, bis rikanischen Sänger und Songwriter er 1994 ein fulminantes Comeback gewesen, der sich vorwiegend, aber erlebte. Der Kooperation mit dem keineswegs exklusiv im Countrymusic- Produzenten Rick Rubin führte Genre bewegte. Seine lange Karriere zu einer Neubesinnung auf seine wies etliche Höhen wie Tiefen auf Wurzeln und Ursprünge durch die und umfasste ein breites musika- Kombination kongenial angeeig- lisches Spektrum von Country, Gospel, neter Coverversionen von partiell 8
bekannten und partiell ungewöhn- Reihe mit dem Titel „A Hundred lichen Songs mit eigenen Songs, Highways“. Es handelt sich um den durchgängig sparsam instrumen- letzten eigenen Song, den Johnny tiert und auf Cash hin konzentriert, Cash geschrieben und aufgenommen mit seiner Stimme und großenteils hat – und zwar in der Zeit zwischen auch Gitarre im Fokus. dem Tod seiner geliebten Frau June Das Konzept und die Veröffentli- Carter-Cash im Frühjahr 2003 und chung dieser sogenannten American seinem eigenen Tod wenige Monate Recordings verschafften ihm großes später, im September. Renommee, gerade auch bei jün- geren Fans. Sechs Alben und eine „It should be a while 5-CD-Kompilation sind in dieser Reihe before I see doctor Death erschienen, davon vier zu Lebzeiten So, it would sure be nice von Johnny Cash. Für diese Alben co- if I could get my breath verte Cash unter anderem Songs von Well, I‘m not the cryin‘, Depeche Mode („Personal Jesus“), nor the whinin‘ kind Tom Petty („I Won’t Back Down“), Til I hear the whistle of the 309, of the U2 („One“), Nine Inch Nails („Hurt“) 309, of the 309 und Nick Cave („The Mercy Seat“). Put me in my box on the 309 Die Themen Liebe, Glaube und End- lichkeit sowie Tod sind hier, auf diesen Take me to the depot, put me to bed letzten Alben, noch stärker präsent Blow an electric fan on my gnarly als schon zuvor. Die hier versammel- ol‘ head ten Songs ragen zudem nicht zuletzt Everybody take a look, see, aufgrund ihres Minimalismus und I‘m doin‘ fine ihrer Wahrhaftigkeit heraus. Then load my box on the 309 On the 309, on the 309 Johnny Cash war ein tiefgläubiger Put me in my box on the 309 Christ und trat als solcher auch öf- … fentlich in Erscheinung. In seinen I hear the sound of a railroad train Songs gibt es keine Berührungs- The whistle blows and I‘m gone again ängste gegenüber spirituellen, re- … ligiösen und christlichen Themen Write me a letter, sing me a song und Perspektiven auf das Leben Tell me all about it, what I did wrong und in späteren Jahren dann eben Meanwhile, I will be doin‘ fine auch Sterben. Er selber war beson- Then load my box on the 309 ders in seinen letzten Lebensjahren On the 309, on the 309 durch Krankheiten und zunehmende Gonna get outta here on the 309”1 Schwäche gekennzeichnet, aber seine Arbeit mit Rick Rubin an der Aufnahme alter und neuer Songs dauerte bis zuletzt an. 1 Der hier auszugsweise zitierte Song- text findet sich zum Beispiel auf dieser Seite im Internet: Der Song „LIKE THE 309“ stammt vom https://www.lyricsmode.com/lyrics/j/ fünften, 2004 posthum erschienenen johnny_cash/like_the_309.html – aufge- Album der American Recordings- rufen am 11.09.2018. 9
Das Thema Tod rahmt und durch- • Das lyrische Ich betont schon zu zieht den Song wie ein roter oder Beginn, kein ‚Weichei‘ zu sein, das schwarzer Faden. Von der ersten nah am Wasser gebaut hätte. Zeile mit ihrer Hoffnung, dem Tod • Es weist deutlich darauf hin, dass noch etwas aus dem Weg gehen zu es ihm gut gehe. Siehe zweite können, bis zur letzten Zeile, die Strophe: „I’m doin‘ fine“. den Auszug aus dieser irdischen • Es fordert einen Kuss seiner Lieb- Welt mit Hilfe des 309ers in den sten ein und will ein Bad nehmen, Blick nimmt. wie es in Strophe drei verdeutlicht wird. Auffällig ist hier das Zug-Motiv. Der • Es hat sein Glück gefunden und Zug, in diesem Fall eben der mit der macht einen zufriedenen, lebens- Nummer 309, ist ein in Johnny Cashs satten Eindruck. So kommt es in Werk sehr oft begegnendes Motiv. den beiden finalen Strophen fünf Dabei geht es zunächst um Bewe- und sechs des Songs deutlich zum gung, um Mobilität, aber damit Ausdruck. verbunden auch stets um Freiheit und Leben, um ein entscheidendes Und doch ist der Tod fast durchweg Mittel zum Zweck. Man vergleiche implizit bis explizit mit von der hierzu beispielhaft den Johnny- Partie: zum einen wegen der om- Cash-Song „Train Of Love“ von nipräsenten „box“, zum anderen seinem zweiten Studioalbum „Sings wegen der deutlich hervortretenden the Songs That Made Him Famous“ Abschiedsstimmung, wie sie am Ende aus dem 1958. der fünften und am Anfang der sechsten Strophe anklingt. Der Zug als solcher ist bei Johnny Cash durchgängig positiv besetzt. Insgesamt gesehen wirkt der Song Auch in diesem Song hat man den auf mich so, dass Johnny Cash of- Eindruck, dem Tod wird fast ein we- fensichtlich genau weiß, dass er am nig die brutale und beängstigende Ende seines intensiven Lebens ange- Spitze genommen, weil es eben ein kommen ist. Er tritt dem Tod ohne Zug ist, der hier den Sänger, Das Angst entgegen, und die Aufnahme lyrische Ich, transportiert. und Nutzung des Zug-Motivs akzen- tuiert das deutlich. Denn mit dem Interessanterweise ist der Zug in Zug-Motiv kombiniert JC kongenial diesem Falle das Transportmittel für ein klares Zeichen von Lebendigkeit die „box“, den Kasten, oder genauer mit dem nahenden Tod. Er setzt ihm den Sarg des Sängers, so dass es etwas entgegen, was bei ihm, dem eigentlich um die Überführung von tiefgläubigen Christen, fast so etwas dessen Leichnam in seine Heimat wie eine implizite Auferstehungs- geht. Gleichzeitig strotzt der Song hoffnung atmet. nur so von lebensfrohen und -satten Bildern und Bezügen, was die den Wie nun lässt sich dieser Song in typischen Railway-Sound kopieren- einem kirchlichen Kontext nutzen? de, leicht stampfende Musik noch Ich sehe da vor allem zwei Möglich- verstärkt: keiten: Einerseits kann er gut zum 10
Einsatz kommen, wenn in einer Ge- Hierbei handelt es sich um einen sprächsreihe über Sterben und Tod programmatischen Song und Titel, nachgedacht und gesprochen wird. der seit bald siebzig Jahren auf ganz Da könnte er als Beispiel für eine verschiedenen Ebenen und in un- gelebte „Tod, wo ist dein Stachel?“- terschiedlichen Bezügen Hoffnung Haltung im paulinischen Sinne von transportiert und Trost spendet. 1 Kor 15 angeführt werden und Im Jahr des Kriegsbeginns 1939 als Basis sowie Ausgangspunkt für entstanden – getextet von Hughie die Diskussion der Frage dienen: Charles und komponiert von Ross Wie komme ich zu einer solchen Parker – wurde er während des 2. Haltung der frohen Gelassenheit im Weltkrieges durch die britische Sän- Angesicht des Todes? Was braucht gerin Vera Lynn populär gemacht. es dafür? Der optimistische Ton, die hoff- nungsfrohe Aussage wurde dabei Andererseits kann „Like The 309“ zunächst auf die Kriegsheimkehr der natürlich auch gut im Rahmen einer Soldaten bezogen. Doch der Treff- Andacht oder Predigt Verwendung punkt konnte natürlich ebensogut finden, die im Spannungsfeld von zu einem viel späteren Zeitpunkt Koh 3,19-22 und 1 Kor 15,54b-57 die- veranschlagt werden. Der Song sel- sen Song, der gerade dann unbedingt ber legt hier ausdrücklich nichts fest auch zu Gehör zu bringen ist, quasi als außer der deutlichen Hoffnung auf Trialogpartner nutzt und einbringt. das Wiedersehen selber: „We‘ll meet again, don‘t know where, don‘t know when, but I know we‘ll meet again some sunny day! Keep smiling through, just like you always do, ‚till the blue skies drive the dark clouds far away! So, will you please say hello to the folks that I know? Tell them I won‘t be long! They‘ll be happy to know that as you saw me go, I was singin‘ this song: We‘ll meet again…”2 „WE’LL MEET AGAIN“ ist der Titel des zweiten, jetzt hier in den Blick zu nehmenden Songs vom vierten Album aus der American-Recordings- 2 Der hier wiederum in Auszügen zitierte Songtext findet sich im Internet Reihe mit dem Titel „The Man Comes unter anderem unter dieser Adresse: Around”, das letzte zu Johnny Cashs http://www.metrolyrics.com/well- Lebzeiten im Jahr 2002 erschienene meet-again-lyrics-johnny-cash.html – Album. aufgerufen am 12.09.2018. 11
Ein wichtiges Element dafür, dass verfügen auch Menschen noch zu dieser Song sozusagen ‚funktioniert‘, ihren Lebzeiten, dass dieser Song ist die frohgemute und durch den bei ihrer Trauerfeier zu hören sein Einsatz einer Klarinette auch musi- soll. Damit sollten Pastor*innen kalisch entsprechend unterstützte als Hauptverantwortliche für eine Aufforderung zur Weitergabe der Trauerfeier gut leben können. Nicht Hoffnung auf das Wiedersehen an zuletzt deshalb, weil sich der Song die Freunde. Sie sollen wissen, dass auch gut als ‚Unterfütterung‘ einer der Absender diesen Song auf seinen Ansprache über 1 Kor 13,13 unter der Lippen hatte, als er zuletzt gesichtet Fragestellung: „Was bleibt?“ nutzen und gehört wurde! und einsetzen lässt. Die hier be- und gesungene Hoff- nung lässt sich natürlich auch spiritu- ell deuten. Für Christen kommt hier deutlich die Auferstehungshoffnung zum Tragen. Das ist es, was die Cover- version von Johnny Cash aus der Mas- se der zahlreichen anderen Cover- versionen dieses Songs hervorhebt. Denn dieser Song ist eben das letzte Stück auf dem letzten, zu seinen Lebzeiten erschienenen Album, wo- mit der Bezug zum Thema Tod noch deutlicher wird. Mit seinem schon von Krankheit und Alter ,verwunde- ten‘, unvergleichlichen Bassbariton ergreifend intoniert, entfacht der Song eine fast schon magische Kraft – ganz besonders, wenn am Ende das „wir“ des Songs von einem Chorge- sang der kompletten ,Cash-Gang‘ mit akustischem Leben gefüllt wird. Ein Abgesang, der tief berührt, weil er eine Tür der Hoffnung öffnet und letztlich also kein Punkt hinter dem Tod ist, sondern ein Doppelpunkt in Richtung Auferstehungshoffnung. Ein guter, ja adäquater Ort für die kirchlichgemeindliche Einbettung oder Nutzung dieses ergreifenden Songs ist der Kasus der Trauerfeier. Hierfür wird er ohnehin bereits von etlichen trauernden Angehörigen selbst ins Spiel gebracht. Teilweise 12
Patti Smith „GONE AGAIN“ oder Alles ist eitel Uwe-Karsten Plisch Windhauch, Windhauch, Jahre nach ihrem rauhen sagte Kohelet, Erstling „Horses“. Das Al- Windhauch, Windhauch, bum reflektiert den Tod alles ist Windhauch. langjähriger Weggefähr- Kohelet 1,2 ten und Freunde, darun- ter Patti Smith‘ 1994 verstorbener Ehemann Fred „Sonic“ Smith, der bei „Gone Again“ auch als Co-Autor aufgeführt wird. „Mourning becomes electric“ (Trauer wird elektrisch) schrieb der Rolling Stone in einer Rezension des Albums. Jeff Buckleys Gesangs- part auf „Beneath The Southern Cross“ ist zugleich dessen letzte Studioperformance, ein Jahr vor seinem Tod. Das unverwechsel- bare Coverphoto von Annie Lei- bowitz zeigt eine in sich gekehrte Patti Smith, deren Gesicht hinter vorgehaltener Hand kaum zu erkennen ist. Ein Songtext ist ein Songtext ist ein Songtext. Seine Bedeutung erschließt sich in der Regel nicht beim einfachen Lesen (es sei denn, man hat den Song im Ohr), sondern, idealerweise, in der voll- „GONE AGAIN“1 ist der Titelsong kommenen Verschmelzung von Text von Patti Smith‘ 1996 erschienenem und Musik. Das ist bei „Gone Again“ sechstem Studioalbum, zwanzig der Fall. Doch nicht zu vergessen, Patti Smith trat als Dichterin ins Ram- penlicht: „Christ died for somebody‘s 1 Der komplette Text dieses Songs ist zu finden entweder im Booklet des Albums sins, but not mine ...“, heißt es in oder z.B. hier im Internet: https://www. dem frühen Gedicht „Oath“, und azlyrics.com/lyrics/pattismith/goneagain. ein Würdigungsartikel zu ihrem 70. html – aufgerufen am 25.09.2018. Geburtstag vermerkt: „Die Mutter ist 13
Zeugin Jehovas, der Va- ter Atheist. Die Kinder werden in strengem Glauben erzogen.“ In wessen Glauben, des Vaters oder der Mutter, erwähnt der Artikel nicht (klar, es ist die Mutter gemeint), aber die Spannung zwischen religiöser Prägung und wütender Absage hin- terlässt ihre Spuren in Smith‘ Lyrik.2 Wiewohl das Album „Gone Again“ geprägt ist von der Erfahrung persönlichen Verlusts und individueller Trau- er ist der gleichnamige Eröffnungssong eine Reflexion über den „Circle of life“, die Vergänglichkeit des Menschen und die Vergeblichkeit Die erste Strophe wird umkleidet von menschlichen Strebens und darü- einem Refrain, der nach der zweiten ber, was der Mensch dem Menschen Strophe – mit markanten textlichen antut. Der Eröffnungssong macht Variationen – zweimal hintereinan- also klar: Hier geht es um mehr als der gesungen wird. Die Spiegelach- musiktherapeutische Schmerzbe- se bildet ein gesprochenes, nicht wältigung. gesungenes Zwischenspiel, eine Reminiszenz an Smith‘ Herkommen Das Lied ist beinahe spiegelbildlich aus der Poetry-Slam-Tradition, das gebaut und bereits dem gedruckten durch den Verzicht auf Gesang noch Text sieht man an, dass hier nicht ein- an Intensität gewinnt. fach eine rockende Singer/Songwri- terin am Werk ist, die „Godmother of Bereits in der ersten Zeile des Re- Punk“, die „Princess of Piss“, sondern frains, mit dem das Lied einsetzt eine planvoll vorgehende Dichterin. und der dann im Verlauf mehrmals wiederholt wird, bekommt der Song durch die altmodische Wendung 2 Silke Wünsch, Patti Smith: Poetin mit Punk im Herzen wird 70 auf https:// „man’s own kin“ – des Menschen ei- www.dw.com/de/patti-smith-poetin-mit- genes Geschlecht, die Nachkommen punk-im-herzen-wird-70/a-36678507. Adams – eine religiöse Grundierung, Aufgerufen am 25.09.2018. die sich im Laufe des Songs durch 14
diverse Anklänge an religiöse Sprache bloßen Betrachtung des flüchtigen noch verstärkt. Angerufen wird der menschlichen Daseins ins Persön- Mensch, „man’s own kin“, der dem liche. Das Leitmotiv des „gone Wind anbefohlen wird. Die fol- again“ wird im Refrain und in den genden Bilder (grateful arms, grate- beiden Hälften der ersten Strophe ful limbs, grateful soul / dankbare dreifach variiert: von „he’s gone Arme, dankbare Glieder, dankbare again“ (der Mensch) über „they’re Seele)3 evozieren die Szenerie eines gone again“ (die unsteten Her- Gottesdienstes – doch schon muss zen), bis dahin, dass sich die Sän- der Mensch wieder fort: gone again. gerin schließlich mit „we’re gone we’re gone“ in die Vergänglichkeit In der ersten Strophe erzählt uns die menschlicher Existenz mit hinein- Sängerin ein Wintermärchen – über nimmt. unstete Herzen, die ihren Samen in den Wind säen, nach den Sternen Den Mittelteil des Stücks bildet ein greifen (seize the sky) und doch gesprochenes reimloses Gedicht sogleich wieder davonmüssen: gone über den Menschen, der, von seines- again. Ruhm ist flüchtig (fame is gleichen gefällt, sich wieder erhebt: fleeting), wohl wahr, davon weiß die Sängerin ein Lied zu singen, Here a man, man‘s own kin und Gott ist nah (God is nigh), wie Turned his back and his own people es anschließend heißt – was aber shot him bedeutet das aus dem Munde von And he fell on his knees Patti Smith? Man möchte an Ironie Before the burning plain glauben, aber nichts liegt diesem And he beheld fields of gold his land, traurigen, nüchternen, von Schmerz his son grundiertem und gleichzeitig von And he arose his blood aflame einem Hauch Abgeklärtheit durch- Clouds pressed with hand prints zogenen Lied ferner als Ironie. stained Tatsächlich ist die Zeile „fame is fleeting, God is nigh“ der Auftakt (Hier ist ein Mensch, ein Verwandter zu einem kühnen Zweizeiler, der die Adams Anbetung Gottes und den Hang des Er wandte sich ab und seine eigenen Menschen zur Selbstüberhebung Leute erschossen ihn in einen grandiosen Doppelvers Und er fiel auf die Knie zwingt: Vor der brennenden Ebene Und er erblickte goldene Felder sein we raise our arms to him on high Land seine Sonne we shoot our flint into the sun Und er erhob sich sein Blut kochte Die Wolken zusammengepresst mit Genau an dieser Stelle gleitet die befleckten Handabdrücken)4 Perspektive der Sängerin von der Nach dem leisen, aber intensiven 3 Übersetzungen von Verszeilen folgen Zwischenteil nimmt der elektrisch in der Regel einer Übersetzung von Christina Torrey. 4 Übersetzung von Christina Torrey. 15
angetriebene Beat sogleich wieder den Wind, ein Einswerden mit dem Fahrt auf und mit der Eröffnungs- Windhauch. Der dankbare Mensch: zeile der zweiten Strophe „one last er muss davon. breath“ (ein letzter Atemzug) wird ein Stakkato von Momentaufnah- Der Song ließe sich gut im Rahmen men, Blitzlichtern gleich, eingeleitet einer Gesprächsreihe über Tod und – Liebesknoten geschürzt / ... / Kind Leben und die Frage nach dem, was geboren / ... / Krieger schrie / Krieger bleibt, einsetzen. Aber auch dann, starb / ... / –, das am Ende das Grund- wenn es um Beispiele für Trauerar- thema des Songs wieder aufnimmt: beit geht, z.B. in einer Gesprächs- gruppe für Trauernde. Schließlich man’s own kin erscheint auch seine Verwendung in grips the sky einer Bibelarbeit über Kohelet denk- and he’s gone again bar bis empfehlenswert. Weniger geeignet hingegen ist er sicherlich (Adams Same für Andacht und Gottesdienst sowie greift nach dem Himmel Jugendarbeit. Dafür ist er zu kom- und ist wieder weg) plex und bedarf zu umfangreicher Einführung und Erklärung. Am Ende wird der Refrain zweimal wiederholt, aber beide Male mit textlichen Variationen, die zeigen, wie durchdacht die Dichter-Sängerin hier zu Werke geht. Zuhören ist an- gesagt, nicht: Feuerzeuge raus und mitsingen. Hey now man‘s own kin we lay down into the wind grateful arms grateful limbs grateful heart he‘s gone again Hey now man‘s own kin he ascends into the wind grateful heart grateful limbs grateful man he‘s gone again Die dynamisch vorangetriebene Klage wandelt sich, zumindest auf der Textebene, in eine vorsichtige Bejahung der menschlichen Existenz, wie sie, aus Sicht der Sängerin, nun einmal ist. Wir gehen über in den Wind, das dankbare Herz kommt zur Ruhe. Die Himmelfahrt (Ascension) ist freilich nur noch ein Aufstieg in 16
Bob Dylan „NOT DARK YET“ und „MARCHIN’ TO THE CITY” oder Alter schützt vor Sehnsucht nicht Matthias Surall Schaut man auf den heutigen künst- lerischen Stellenwert von Bob Dylan und seine globale Reputation, so fällt es schwer, sich vorzustellen, dass dem noch vor gut zwanzig Jahren – gelinde gesagt – anders war. Als 1997 sein Album „Time Out Of Mind“ erschien, hatte er zuvor sieben Jahre lang keine Veröffentli- chung mit eigenen neuen Songs am Start gehabt. Und von zwei kreativen Schüben zu Beginn und am Ende der 1980er Jahre abgesehen, war auch dieses Jahrzehnt weder das seiner künstlerisch-kreativen Hochzeit noch das, in dem ihm besondere Bewun- derung oder Anerkennung zuteil wurden. Abgesehen davon, dass Dy- lan auch in dieser Zeit unermüdlich als „performing artist“ auf Tour war, die Bühnen und Hallen dieser Welt bespielte und ein treues Publikum teils mit der beständigen Neubear- beitung seiner Songs erfreute, teils aber auch in seiner Erwartungshal- tung verprellte. Doch mit diesem der Bibel und der Literatur. Und es oder ab diesem neuen und zugleich läutet zugleich das Spät- oder Alters- in doppelter Hinsicht ‚alten‘ Album werk von Bob Dylan ein, weil er hier „Time Out Of Mind“ änderte sich das explizit und intensiv den Themen- sukzessive radikal. Dylan reüssierte in komplex Alter, Vergänglichkeit und der popkulturellen Rezeption durch Endlichkeit, Rückblick und Sehnsucht Kritiker*innen und Fans als wieder über das irdische Ende hinaus sowie neu wahr- und ernstzunehmender Liebe und Vergeblichkeit behandelt. Popkünstler. Dies doppelt alte Album Und das ganze ist musikalisch und wurzelt tief in alten, althergebrach- strukturell tief im Blues verwurzelt ten und zeitlosen Themen, Motiven und getränkt sowie mit Elementen und Bildern des Blues und Gospels, der New Orleans Musik durchzogen. 17
Auf „Time Out Of Mind“, dieser Im weiteren Verlauf des Songs kommt vom Fachmagazin „Rolling Stone“ es dann – mal implizit quasi zwischen zum Album des 20. Jahrhunderts den Zeilen zu finden, mal explizit gekürten Veröffentlichung im Herbst formuliert – zu folgenden Aussagen 1997, als Bob Dylan 56 Jahre alt im Hinblick auf das Alter: war, findet sich auch der Song „NOT DARK YET“. Dies langsam gespielte Es ist offensichtlich die Zeit, die Phase und gesungene Stück atmet einen der Reflexion über das gelebte Leben ernsten, schweren Ton sowohl in sowie das Leben an sich. Rückblick, musikalischer wie in textlich-inhalt- und Evaluation sind angesagt. Die licher Hinsicht. Hier begegnet eine Weisheit des Alters erscheint hier als größtenteils realistisch abgeklärte Abgeklärtheit und Abgestumpftheit bis weh- oder reumütige Sicht der im Gegensatz zu Idealismus und Dinge, der Welt, des eigenen vorwie- Romantizismus der Jugend. Damit gend bereits gelebten Lebens. verbindet sich dann diese konkrete desillusionierte Haltung: Mir macht Die Ausgangssituation ist so skizziert: niemand etwas vor. Ich habe alles Das Tageslicht schwindet, der Abend gesehen und erlebt. Ich bin Realist, ist da, die Nacht nah. Das lyrische Ich vielleicht sogar Zyniker. Es gibt kann nicht schlafen und hängt seinen keine Schönheit ohne Schmerz. Die Gedanken nach. Das durch die länger Welt wird von Lüge dominiert. Und werdenden Schatten versinnbildlich- es könnte sein, dass letztlich alles te schwächer werdende Licht dient sinnlos ist. dabei als Metapher für das nahende Ende in dreifacher Hinsicht: a) des „Well, my sense of humanity has Tages, b) des Lebens, c) der Welt. So gone down the drain gesehen und verstanden ist deutlich, Behind every beautiful thing there’s dass hier ein lyrisches Ich im Alter und been some kind of pain damit vielleicht auch schon gegen … Ende seines Lebens über eben dieses I just don’t see nachdenkt. why I should even care It’s not dark yet, but it’s getting there „Shadows are falling Well, I’ve been to London and I’ve been here all day and I’ve been to gay Paree It’s too hot to sleep, I’ve followed the river time is running away and I got to the sea Feel like my soul has turned into steel I’ve been down on the bottom I’ve still got the scars of a world full of lies that the sun didn’t heal I ain’t looking for nothing There’s not even room in anyone’s eyes enough to be anywhere Sometimes my burden It’s not dark yet, but it’s getting there”1 seems more than I can bear It’s not dark yet, but it’s getting there”2 1 Zitiert nach: https://www.bobdylan. com/songs/not-dark-yet/ – aufgerufen am 05.09.2018. 2 Ebd. 18
Das Alter bringt offenbar Lasten mit dern‘ könnte dann der Verweis auf sich, die einsam und alleine kaum zu Mt 11,28ff und oder Gal 6,2 in Korre- tragen sind. Dabei lässt der Begriff spondenz zu der zitierten Songzeile „Lasten“ bei biblisch geprägten und darstellen, je nachdem, ob man mit geschulten Menschen wie Bob Dylan Jesu Zuspruch und Verheißung oder einiges aus dem Schatz der biblischen mit dem Anspruch, einander beim Tradition und Texte anklingen, wie Lasten-Tragen zu helfen, enden will. zum Beispiel Mt 11,28ff und auch Gal Wobei sich beides natürlich auch 6,2. Die zunächst ganz lapidar da- vortrefflich kombinieren lässt. herkommende Aussage, manchmal scheint meine Last mehr zu sein als Dazu passen schließlich noch zwei ich zu tragen vermag, kann ja auch weitere, zarte Sehnsuchts- bis Hoff- als verkappte Sehnsuchtsaussage nungsmomente in diesem insgesamt aufgefasst werden. Dann hieße sie doch eher düsteren Song. Denn es übersetzt: Ich kann nicht mehr und gibt hier eine doppelte, ganz zarte wünsche mir, meine Last nicht mehr Öffnung in diesem Sinne am Ende alleine tragen und bewältigen zu müssen. a) jeder Strophe, denn noch ist es ja nicht (ganz) dunkel. Noch könnte Auf dieser Spur ließe sich „Not Dark etwas passieren, was den Negati- Yet“ beispielsweise als poetisch- vaussagen über das eigene Leben lakonischer Kommentar zu Ps 90 ein- und Empfinden nicht nur, aber setzen. Den Abschluss des möglicher- besonders im Angesicht von Alter weise in einer Andacht entfalteten und Endlichkeit positiv entgegen- Dialogs zwischen diesen beiden ‚Lie- zusetzen wäre … 19
b) des Songs mit seiner Erwähnung, Sorrow and pity dass das lyrische Ich nicht mal Rule the earth and the skies ein Gebetsmurmeln hört. Darin Looking for nothing in kommt zumindest implizit die Anyone‘s eyes Hoffnung zum Ausdruck, dass es Once I had pretty girl doch anders sein und sich verhal- Did me wrong ten oder entwickeln möge! Now I‘m marching to the city And the road ain‘t long „I can’t even remember what it was I Snowflakes are falling came here to get away from Around my head Don’t even hear a murmur of a prayer Lord have mercy It’s not dark yet, but it’s getting there”3 It feel heavy like lead I been hit too hard Zur Zeit der Entstehung des Albums Seen too much „Time Out Of Mind“, also im Um- Nothing can heal me now feld der dafür vorgenommenen But your touch”4 Aufnahmesessions, wurden, wie in den kreativen Hochphasen von Bob Die Gesamtstimmung des Songs ist Dylan üblich, noch etliche weitere, erneut tief im Blues getränkt, und zum Teil ebenfalls hochkarätige das wiederum sowohl musikalisch Songs aufgenommen, die es am Ende wie textlich-inhaltlich. Das allgemei- nicht auf das Album schafften. Unter ne Elend „Sorrow and pity / Rule the diesen, größtenteils 2008 im Rahmen earth and the skies”5 findet seine der sogenannten „Bootleg Series“ Entsprechung im persönlichen Er- als „Volume 8“ unter dem Titel „Tell leben: Die Schneeflocken in der 2. Tale Signs“ von Dylans Plattenfirma Strophe fühlen sich für das lyrische endlich veröffentlichten Songs findet Ich wie Bleikugeln an. Die damit sich auch das Juwel „MARCHIN‘ TO auch angedeutete, offensichtlich THE CITY“. winterliche Jahreszeit kann dabei als Bild für das nahe Lebensende dieses In diesem sich musikalisch langsam Ichs verstanden werden. entwickelnden und steigernden Song begegnet das Thema Tod Um das alte Blues-Klischee herum, quasi im dünnen Negligé des The- dass ein Mann von einer Frau ver- menfeldes Endlichkeit, Sterblichkeit lassen worden ist, die ihn schlecht und Tristesse des Alters. Es ist dabei behandelt hat, baut Dylan hier einen in der Perspektive des singenden Ichs gehalten und somit persönlich 4 Der Songtext findet sich nicht in offiziell existentiell geerdet. publizierter Form, also weder im großen „Lyrics 1962 – 2012“– Buch, das auch zwei- sprachig englisch-deutsch vorliegt, noch „Well I‘m sitting in church auf der offiziellen Dylan-Homepage. Ein In an old wooden chair Internet-Fundort unter anderen ist aber I knew nobody gleichwohl dieser: http://lyrics.wikia.com/ Would look for me there wiki/Bob_Dylan:Marchin‘_27_To_The_City – aufgerufen am 07.09.2018. 3 Ebd. 5 Ebd. 20
Kosmos der abgeklärten Verzagtheit Glänzen und Lächeln der geliebten und des Trotzes dagegen auf: Es geht und besungenen Frau. um Einsamkeit und Vergänglichkeit, um Retrospektive, Träume und Hoff- Und auch hier, in diesem Song gibt es nungen, die sich überlebt haben. Es eine implizite bis evidente spirituelle, geht um die Sehnsucht nach Freiheit, religiöse Sehnsucht. In der 2. Strophe auch und gerade in Anbetracht eines kommt der Sänger zu dem Schluss, nicht mehr wirklich fernen Todes. dass ihn nichts anderes heilen könne als ‚deine Berührung‘. Da die direkt „I‘m chained to the earth zuvor genannte ‚Person‘ Gott selber Like a silent slave ist, kann es hier nur um den Wunsch Trying to break free nach Berührung durch ihn gehen. Out of death‘s dark cave”6 Diese Berührung kann wörtlich und übertragen verstanden werden. Eine Dylan ist – wie so oft gerade in sei- wirkliche Berührung des singenden nem Spätwerk – alles andere als frei Ichs durch Gott kann für das Ende der von Zynismus: Hier werden nicht Zeit, die Erlösung imaginiert werden, etwa die Letzten die Ersten sein eine Berührung, ein Angerührt-Wer- oder die Schwachen aufgerichtet. den durch Gott(es Wort) im Innersten Nein, hier werden die Schwachen des Menschen hingegen schon in die- ausdrücklich noch schwächer, wäh- sem Leben stattfinden. Der Kontakt rend die Starken stark bleiben. Eine mit Gott begegnet hier so oder so als fatalistisch anmutende Umkehrung hoffnungstiftende Option inmitten eines biblischen Verheißungshori- der abgeklärt-melancholisch-bitteren zontes durch einen, der schon zu viel Retrospektive. gesehen und erlebt hat. In der 4. Strophe denkt das singende „Well the weak get weaker Ich weiter über das Paradies nach, And the strong stay strong wieder ein sanfter Hinweis auf diese The train keeps rolling Sehnsucht nach Erlösung. All night long She looked at me Weiter mischen sich im „You“ der With an irresistable glance letzten Strophe der Hörer des Songs With a smile die Frau, die ihm übel mitgespielt That could make all the planets hat, die er aber selbstverständlich dance”7 nicht vergessen kann, und Gott, wenn es heißt: Du wirst dich an Doch so abgeklärt bis sarkastisch meinen Namen erinnern, wenn ich noch der Anfang dieser Strophe da- gegangen sein werde. Sofern Gott herkommt, so persönlich anrührend hier gemeint ist, kommt damit eine ist die lebendige Erinnerung des ly- implizite Auferstehungshoffnung rischen Ichs an das unwiderstehliche zum Ausdruck. Schließlich der Refrain des Songs: 6 Ebd. Die Stadt, zu der hin der Sänger, Das 7 Ebd. lyrische Ich des Songs, unterwegs ist, 21
sie wird nicht näher benannt. Und sicht des nicht mehr fernen Todes. doch schwingen bei Bob Dylan, der Schließlich ist auch ein Gespräch mit seine Bibel wahrlich gut kennt und Ps 73,23-26 denkbar, bietet doch mit ihren Bildern und Symbolen, auch dieser Dylan-Song einiges an Motiven und Texten mannigfach „Dennoch“-Aspekten in diesem bi- spielt und umgeht, hier Aspekte blischen Sinne an. mit, die einen biblischen Hoffnungs- horizont in Anbetracht von Alter, Sterblichkeit und Tod andeuten: Die Stadt schlechthin ist in der Bibel das himmlische Jerusalem, eine Stadt, die Dylan während seiner explizit christlichen Phase als „City Of Gold“8 im gleichnamigen Song gepriesen und beschrieben hat. Wer zu dieser Stadt hin unterwegs und gewiss ist, dass die Strecke überschaubar ist, der kann nicht frei von Hoffnung sein, dass, ich zitiere einen weiteren Dylan-Songtitel: „Death Is Not The End“9. Als biblische Bezugspunkte bzw. Dialogpartner dieses Songs kann ich mir zum einen Jes 43, 1 vorstellen, eine wunderbare Parallele zum Ende dieses Songs oder eine Belegstelle für die biblische Richtigkeit von Dylans finaler Hoffnungsaussage. Aber auch 1 Kor 13,11-13 als biblischer Anhalts- punkt für die Frage nach dem, was bleibt, hier im Song angewendet auf den Rückblick im Alter und im Ange- 8 Der Songtext dieses erst im letzten Jahr auf der Veröffentlichung „Trou- ble No More – The Bootleg Series Vol. 13/1979-1981“ erschienenen Stückes findet sich englisch und deutsch hier: Bob Dylan, Lyrics 1962-2012. Sämtliche Songtexte. Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2016, S. 824f. 9 Zum Songtext dieses Stückes aus Dylans explizit christlicher Phase sie- he hier: http://www.bobdylan.com/ songs/death-not-end/ – aufgerufen am 09.09.2018. 22
Tom Jones „SEXBOMB“ und „TOWER OF SONG“ oder Alter, Sexualität und Würde Matthias Surall Der walisische Popsänger Tom Jones, kneipen und Londoner Bars landete Jahrgang 1940, kann auf eine lange er seine ersten Single-Hits von 1965 Karriere mit diversen Hits und Flops, an. „It’s Not Unusual“, „What’s New, Wegstrecken, Orten und Umwegen Pussycat?“ und „Delilah“ sind seine zurückblicken. Ursprünglich Vertre- bekanntesten Hit-Titel aus dieser ter für Staubsauger unternahm er ersten Karrierephase. ab 1963 einige Versuche, als Sänger im Pop-, Rock- und Beat-Bereich mit Sein Spitzname „Tiger“, eigentlich verschiedenen Bandformationen Fuß in der Zeit als Clubsänger Teil seines zu fassen. Nach einigen Jahren auf Pseudonyms, blieb ihm bis heute an- Club-Tour durch walisische Arbeiter- haften, passte er doch formidabel zu seinem Image als männ- lichem Sexsymbol, das er selber proaktiv be- förderte und ausbaute – nicht zuletzt durch seine Bühnenshow mit vollem Körpereinsatz im Spiel mit der eigenen erotischen Ausstrahlung und seine Outfits, siehe das Zitat etwas weiter unten. Zu Beginn der 1970er Jahre zog Tom Jones in doppelter Hinsicht nach Las Vegas, wo er längere Zeit schwerpunktmäßig lebte und in diversen Club- und später auch Dinnershows auftrat. Er fokussierte sich auf Country-Pop wie seinen überaus erfolgreichen Song „Green, Green Grass Of Home“, hatte noch einige kleinere 23
Hits, aber seine Karriere dümpelte Der Songtext beschreibt genüsslich gegen Ende des Jahrzehnts und in ausgeführt das Wechselspiel ero- der ersten Hälfte der 1980er Jahre tischer Anziehungskraft zwischen mehr schlecht als recht vor sich hin. dem singenden Ich und seiner Ge- Im Vorwort seiner 2015 im englischen liebten: Original und 2016 auf Deutsch er- schienenen Autobiographie „Over „Sexbomb sexbomb The Top And Back“1 wirft Tom Jones you‘re a sexbomb uh, huh selber rückblickend dieses Schlaglicht You can give it to me when I need to auf diese Phase: come along give it to me Sexbomb sexbomb „… jetzt sehe ich mich hier im you‘re my sexbomb Garderobenspiegel. Glitzerndes And baby you can turn me on Kurzjackett. Weit offenes Hemd. baby you can turn me on Dicke silberne Halskette. Dunkle, You know what eng anliegende Hose bis zur Taille. you‘re doing to me don‘t you. ha ha, Gürtelschnalle von der Größe eines I know you do Gullydeckels. Schuhe mit Blockab- No don‘t get me wrong satz. Ein Hauch von Las Vegas zieht ain‘t gonna do you no harm no durch Framingham. This bomb‘s made for lovin‘ Zwölf Jahre ohne Hit. Das hatte ich and you can shoot it far so nicht geplant. Wenn es denn einen I‘m your main target come Plan gab.“2 and help me ignite ow Love struck holding you tight Am Ende der 1980er Jahre brachte hold me tight darlin‘”3 sich Jones auch einem jüngeren Publikum nachhaltig mit seiner Der Song funktioniert als eine Art kongenialen Aneignung des Prince- nette, geschmeidige Anmache und Songs „Kiss“ in Erinnerung. Daran demonstriert eindrücklich, dass ein knüpfte er gut zehn Jahre später guter Popsong keineswegs in Abse- noch einmal erfolgreich an, als er mit hung von seiner Musik funktioniert. Ende fünfzig das Album „Reload“ Der treibende Beat dieser Musik hier veröffentlichte, das etliche Duette belegt das Gegenteil. mit jüngeren, angesagten Künstlern wie etwa Robbie Williams und den Inhaltlich klingt das Thema: Alter Cardigans enthielt. Darauf findet sich und Sexualität an und wird gewis- auch der Smash-Hit: „SEXBOMB“, in sermaßen entstaubt. Es geht ja nicht dem der alternde oder gealterte Tom Jones im Duett mit Mousse T. leicht 3 Der hier mit einem kurzen Ausschnitt selbstironisch mit seinem eigenen angeführte Songtext wurde geschrie- Image als männliches Sexsymbol ben und komponiert von Narada Mi- spielt. chael Walden, Lisa Walden, Allee Willis, Joni Sledge und Mustafa Gündogdu (alias Mousse T.). Er findet sich Im In- 1 Tom Jones, Over The Top And Back – ternet z.B. hier: https://www.songtexte. Die Autobiographie, München 2016. com/songtext/tom-jones/sexbomb-3bd- 2 A.a.O., S. 11. 6bc34.html – aufgerufen am 14.09.2018. 24
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