NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD

Die Seite wird erstellt Moritz Wiese
 
WEITER LESEN
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
NOT DARK YET
Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit
in Pop- und Rocksongs
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
NOT DARK YET – Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit
in Pop- und Rocksongs

Herausgeber: Haus kirchlicher Dienste der
Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
Verantwortlich: Arbeitsfeld Kunst und Kultur, Dr. Matthias Surall (V.i.S.d.P.)
Hausanschrift: Archivstraße 3, 30169 Hannover
Postanschrift: Postfach 2 65, 30002 Hannover
Fon: 0511 1241-431/-432 Fax: 0511 1241-499
E-Mail: kunst.kultur@kirchliche-dienste.de
Internet: www.kunstinfo.net
Fotos: AnnenMayKantereit, Pressefoto Tourankündigung 2019, Martin-
Lamberty; Bob Dylan 2009, Foto William Claxton (Sony Music); Dolly Par-
ton, Pressefoto 2016 © Courtesy of Dolly Parton Entertainment (Sony Mu-
sic); Eric Clapton, 2002, Lester Cohen © Warner Media Group; Patti Smith
2012, Foto Steven Sebring (Sony Music); tocotronic © Michael Petersohn;
Tom Jones, Live At Cardiff Castle © Warner Media Group; Deine Lakaien,
© ODYSSEY MUSIC NETWORK; Leonard Cohen, Foto: Laszlo (Sony Music);
Johnny Cash © Warner Media Group; Johnny Cash, Photo live close up
1959 © Sony Music; Paul Simon © Warner Media Group; Paul Simon 1980
© Louis Goldman, Sony Music Archives; Udo Lindenberg 2002, Foto Fritz
Brinkmann (Sony Music); Dr. Matthias Surall (Titelbild, S.2,5,14,19,26,29,33,
37,39,44,50,60,66,70/71,77)
Bildnachweise der Porträtbilder: Dr. Matthias Surall (Dr. V. Bastert), Gunnar
Schulz-Achelis (Dr. M. Surall), Norman Klaß (A. Behr), Jens Schulze (A. de
Vries), Andreas Schoelzel (J. H. Claussen), Elena Bokelmann/HkD (M. Käth-
ler), Lukas Mücke (C. Schröder), Fotoraum Reinhold (I. Schwarz), Bundes-
ESG (Dr. U.-K. Plisch)
Satz und Layout: HkD (11936)
Druck: MHD Druck und Service GmbH, Hermannsburg,
gedruckt auf Recyclingpapier aus 100% Altpapier
Auflage: 1000 Ausgabe: Oktober 2018
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
Inhaltsverzeichnis

Einführung Dr. Matthias Surall ...................................................................................... 3

Johnny Cash „LIKE THE 309“ und „WE’LL MEET AGAIN“
oder keine Berührungsängste Dr. Matthias Surall ................................................... 8

Patti Smith „GONE AGAIN“
oder Alles ist eitel Dr. Uwe-Karsten Plisch ................................................................13

Bob Dylan „NOT DARK YET“ und „MARCHIN’ TO THE CITY”
oder Alter schützt vor Sehnsucht nicht Dr. Matthias Surall ................................17

Tom Jones „SEXBOMB“ und „TOWER OF SONG“
oder Alter, Sexualität und Würde Dr. Matthias Surall ..........................................23

Dolly Parton „BACKWOODS BARBIE“
oder was wirklich zählt Imke Schwarz ....................................................................28

Leonard Cohen „YOU WANT IT DARKER“
oder zwischen Zweifel und Zuflucht Imke Schwarz ............................................31

Deine Lakaien „LONELY“
Ein Klagepsalm aus der Gothic-Szene Andreas Behr ...........................................34

John Prine „GOD ONLY KNOWS “ und „WHEN I GET TO HEAVEN”
oder heitere Ergebung Dr. Johann Hinrich Claussen ................................................39

Paul Simon mit „OUTRAGEOUS“ und „AFTERLIFE“
gegen unsere Ängste Dr. Volker Bastert ..................................................................45

Tocotronic „IM KELLER“ und „ABSCHAFFEN“
oder angstfrei im Souterrain Christine Schröder ...................................................51

AnnenMayKantereit „21, 22, 23“ und „OFT GEFRAGT“
oder das Alter aus der Perspektive von Twentysomethings Dr. Matthias Surall...58

Udo Lindenberg „JACK“
oder im Himmel ist Jahrmarkt! Und überhaupt … Martin Käthler...................62

Eric Clapton „TEARS IN HEAVEN“
oder vom Umgang mit dem Unfassbaren Arend de Vries...................................68

Die Autor*innen ............................................................................................. 74
Das Arbeitsfeld Kunst und Kultur ................................................................. 75
Materialien und Kontakt................................................................................ 76
                                                                                                                          1
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
2
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
Einführung
                                                                     Dr. Matthias Surall

„Es dauert sehr lange,                        hat die Generation der
     bis man jung wird.“      Pablo Picasso   sogenannten „Silver-Ager“
                                              fest im Blick; der Deutsche
„Ah, but I was so much older then             Evangelische Kirchentag
I’m younger than that now”1                   wird von aktiven Ü60er-
         Bob Dylan („The Picasso of Song” –   Scharen bevölkert, und
     Leonard Cohen), „My Back Pages“, 1964    auch Kunst und Kultur ha-
                                              ben das Altersthema längst entdeckt
                                              und entstaubt, was nicht zuletzt
Es ist eine unleugbare Tatsache: Die          die 2017/2018 präsentierte famose
Menschen werden immer älter, zu-              Ausstellung „Silberglanz – Von der
mindest in den westlichen Industrie-          Kunst des Alters“ im Landesmuseum
nationen. Ob der demographische               Hannover belegt hat.
Wandel bemüht oder die umge-
drehte Alterspyramide angeführt               Mit der verstärkten Entdeckung
wird – klar ist: Der Anteil der Gene-         und Behandlung des Altersthemas
rationen Ü60 und Ü70 bis Ü80 an der           verknüpft oder quasi in seinem Wind-
Gesamtbevölkerung nimmt stetig zu.            schatten segelnd ist inzwischen auch
Und dies ist erst der Anfang. Denn            seine Zuspitzung auf Endlichkeit, Ster-
im nächsten Jahrzehnt steht die               ben und Tod hin aus der Tabuzone
Verrentung und Pensionierung der              herausgekommen. Dazu beigetragen
Generation der „Babyboomer“ aus               hat auch die ambulante und statio-
den 1960er Jahren an.                         näre Hospizbewegung und -arbeit,
                                              der Ausbau palliativmedizinischer
Diese evidente und virulente Ent-             Angebote sowie die künstlerisch-
wicklung zeitigt etliche Konse-               existentielle Auseinandersetzung
quenzen. Dazu gehört, dass das                mit dem eigenen nahen Tod wie im
Themenspektrum dieser Broschüre               Falle von Christoph Schlingensief und
„Alter und Tod, Endlichkeit und               Wolfgang Herrndorf.
Einsamkeit“ nicht (mehr) quasi unter
der Ladentheke gehandelt, tabuisiert          Aber wie verhält es sich mit diesem
oder ignoriert, sondern vielfältig und        Themenfeld im Bereich der Pop-
offensiv behandelt wird. Altersrat-           musikkultur? Gebietet es nicht die
geber boomen; persönliche Veröf-              Redlichkeit, sich im 50. Jubiläumsjahr
fentlichungen älterer Promis finden           der 68er-Unruhen und -Bewegung
reißenden Absatz; die Werbung                 hier zweierlei klarzumachen:

                                              1.   Noch 1968 war die Pop- und
1 Der komplette Songtext dieses frühen
Dylan Titels findet sich hier auf seiner
                                                   Rockmusik exklusiv die Musik
Homepage: https://www.bobdylan.com/                der Jugend und diente der
songs/my-back-pages/ – aufgerufen am               Abgrenzung von der älteren
02.10.2018.                                        Generation, vom Mief der
                                                                                        3
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
Nachkriegszeit und ihrer Ver-             Verkaufen und Vorgaukeln
        drängungsszenarien. Für junge             ‚ewiger‘ Jugend.
        Popkünstler wie die damaligen
        Beatles mit Mitte bis Ende 20        Doch entgegen dieser Reminis-
        war das Alter kein wirkliches        zenz und Klischees ist mittlerweile
        Thema – jenseits von leicht hu-      festzuhalten: Die Popmusikkultur
        morvoll getränkter Annäherung        ist ein Spiegel und Bestandteil un-
        an mehr oder minder spießige         serer postmodernen Gesellschaft.
        Altersvorstellungen wie in dem       Das heißt, dass sich auch in ihr der
        Song „When I’m 64“ auf „Sgt.         gesamtgesellschaftliche Trend zur
        Pepper’s Lonely Hearts Club          Umgehensweise mit dem Thema
        Band“ von 1967. Es gab einfach       Alter, Sterben und Tod – wie oben
        keine wirklich alten Popstars.       ansatzweise skizziert – wiederfindet:
        Zudem widersprach das Alter          Da gibt es natürlich nach wie vor
        der verbreiteten Attitüde vieler     das Phänomen von Verdrängung
        Pop- und Rockmusiker nach dem        bis Tabuisierung oder Schönfärberei
        Motto aus „My Generation“ von        des Alters, seiner Begleitumstände
        The Who: „Hope I die before I        und Folgeerscheinungen, wie die
        get old“. Kurz: Alter war spießig,   Ausdrücke „Silver-Ager“ oder „Best-
        uncool, kein Thema.                  Ager“ belegen.

    2. Es gibt einige hartnäckige Kli-       Aber es gibt eben auch eine deut-
       schees, die gegen die Verbindung      liche Verlagerung, Verschiebung der
       von Popmusikkultur einerseits         Grenzen von Alter, Aktivität und Tod.
       und Alter, Endlichkeit und Tod        Und es ist zudem eine neue Art bis
       andererseits sprechen:                Ehrlichkeit des Umgehens mit dem
       • Pop und Alter passen und ge-        Alter bis hin zur Thematisierung des
          hen einfach nicht zusammen:        Todes zu beobachten.
          Pop steht für Sex and drugs
          and rock’n’roll. Und das wird      Weiter bleibt zu konstatieren: Auch
          exklusiv mit Jugend assoziiert.    Pop- und Rockstars werden älter und
       • Popstars werden nicht alt.          alt. Zahlreiche ihrer führenden und
          Sie sterben mit 27 oder wer-       bekannten Vertreter*innen sind in
          den jedenfalls keine 50: Jimi      die Jahre gekommen und weiterhin
          Hendrix, Kurt Cobain, Michael      aktiv, ob es sich um Paul McCartney
          Hutchence, Janis Joplin, Jim       handelt oder um Bob Dylan, beide
          Morrison, Brian Jones, Gram        im 8. Lebensjahrzehnt unterwegs,
          Parsons, Keith Moon, Amy           die Rolling Stones mit dem Mitt-
          Winehouse und Elvis Presley        siebziger Mick Jagger, um Emmylou
          belegen das.                       Harris, Patti Smith oder Annette und
       • Popstars können nicht altern,       Inga Humpe. Auch Madonna ist ganz
          nicht mit dem Alter, der ei-       aktuell 60 geworden.
          genen Endlichkeit umgehen.
          Denn Popmusik steht syno-          Dann ist es auch bei Pop- und Rock-
          nym für Jugendkult, und das        stars inzwischen der Normalfall,
          ist gleichbedeutend mit dem        dass sie altersbedingt bzw. an mehr

4
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
oder minder typischen Alterskrank-       ren eine quasi materiell inszenierte
heiten sterben. Ich denke an Johnny      Verleugnung in zweierlei Hinsicht:
Cash, Tom Petty und David Bowie,         einmal durch chirurgische Eingriffe
an Aretha Franklin und Glenn Frey        und dann durch ein eher jugendlich
von den Eagles, um nur ein paar zu       anmutendes Outfit, Gebaren und
nennen.                                  Auftreten. Auch hier gilt: Das ist
                                         völlig legitim und eine je individuelle
Letztlich zeigt sich bei den noch        Entscheidung, die es zu respektie-
lebenden älteren Popheroen, wie          ren gilt. Schließlich gibt es auch die
bei anderen Künstler*innen und           inhaltliche Auseinandersetzung mit
Normalsterblichen dito, eine sehr        dem Thema und seinen diversen
unterschiedliche Herangehenswei-         Facetten in der eigenen Kunst. Hier
se an den Themenkomplex von              nenne ich stellvertretend Johnny
„Alter und Tod, Endlichkeit und          Cash, der von schwerer Krankheit
Einsamkeit“: Zum einen eine inhalt-      gezeichnet, ja den eigenen Tod schon
liche Verdrängung bis Negation des       vor Augen stehend, eben diesen in
Themas als solches, auch wenn es         verschiedener Hinsicht thematisiert
autobiographisch angesagt wäre bis       hat. Dies zeigt meine Besprechung
ist. Es gibt ja Popkünstler*innen, die   zweier seiner späten Songs hier in
einfach immer weitermachen, ohne         der Broschüre. Weiter nenne ich
das Altersthema zu einem solchen         Patti Smith, die sich, auch durch
zu machen oder es sich anmerken          etliche Todesfälle in ihrem Umfeld
bis aufdrängen zu lassen. Und das ist    bedingt, bereits seit Jahrzehnten
ja auch ihr gutes Recht. Zum ande-       mit Tod und Trauer und der damit
                                                                                   5
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
einhergehenden Einsamkeit der           Diese widmet sich zudem dem Ti-
    Hinterbliebenen befasst und dieses      telsong „You Want It Darker“ vom
    Themenfeld beständig beackert.          finalen Album des kanadischen
    Ihrem diesbezüglich prägnanten          Songpoeten Leonard Cohen, das
    Song „Gone Again“ widmet sich hier      kurz vor seinem Tod erschien und
    Uwe-Karsten Plisch.                     in Anbetracht desselben entstan-
                                            den ist.
    Die Mannigfaltigkeit der künstle-
    rischen Auseinandersetzung mit          Das deutsche Avantgarde-Duo aus
    „Alter und Tod, Endlichkeit und Ein-    der Gothic-Szene Deine Lakaien
    samkeit“ wird bei der Vielfalt auch     wird mit seinem hier als Klagepsalm
    der weiteren, hier versammelten         interpretierten Song „Lonely“ von
    Künstler*innen und Songs sowie          Andreas Behr in den Blick genommen.
    anhand ihrer jeweiligen Zugänge
    und Fokussierungen deutlich: Neben      Der 71-jährige Singer/Songwriter
    den schon Genannten ist zunächst        John Prine kommt mit den beiden
    Bob Dylan anzuführen, der auf sei-      sein aktuelles Album „The Tree Of
    nem epochalen Album „Time Out           Forgiveness“ beschließenden Songs
    Of Mind“ von 1997, von dem und          vor. Nach zwei Krebsoperationen
    aus dessen Entstehungszeit die hier     nimmt es nicht wunder, dass er sich
    von mir besprochenen zwei Songs         der eigenen Endlichkeit stellt. Darü-
    stammen, die Themen Alter, Einsam-      ber hinaus wagt er aber auch einen
    keit und Endlichkeit, Rückblick und     augenzwinkernden Blick über die
    Glaubenssehnsucht intensiv behan-       Grenze des Todes hinaus. Johann
    delt. Das Ganze tief im Genre und       Hinrich Claussen befasst sich hiermit.
    der Bildsprache des Blues verwurzelt,
    für den das Thema Alter noch nie        Einer der beiden, hier durch Volker
    obsolet war.                            Bastert vorgestellten Songs von Paul
                                            Simon, nämlich „Afterlife“, beschrei-
    Der walisische Popsänger Tom Jones      tet einen thematisch sehr ähnlichen
    ist mit zwei von mir thematisierten     Weg, kommt jedoch zu anderen
    Songs vertreten. Der eine, „Sex         Ergebnissen.
    Bomb“, bescherte dem lange Zeit
    als männliches Sexsymbol geltenden      Christine Schröder nimmt zwei Songs
    Tiger mit Ende 50 einen Smash-Hit.      der deutschen Indierock-Band Toco-
    Der andere, „Tower Of Song“, steht      tronic unter die Lupe, die geradezu
    für den Kurswechsel auf seinen          philosophisch existentiell um die
    drei letzten Alben, die voller Blues,   politischen, individuellen und par-
    Gospel und Americana stecken und        tiell auch spirituellen Aspekte von
    existentielle Themen umkreisen.         Endlichkeit, Tod und der Frage nach
                                            dem Bleibenden kreisen.
    Weiter begegnet hier die Country-
    Ikone Dolly Parton mit ihrem ent-       Mit den beiden von mir bespro-
    waffnend ehrlichen persönlichen         chenen Songs der jungen deutschen
    Song „Backwoods Barbie“, den Imke       Band AnnenMayKantereit kommt
    Schwarz behandelt.                      eine intergenerative Perspektive ins

6
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
Spiel sowie der Blick junger Erwach-       Jahren aufgekommen, sondern ein
sener auf das Thema Älterwerden.           bereits viel älteres Phänomen, das
                                           im Bereich der Kunst auch etwas mit
Martin Käthler widmet sich einem           der Verbreitung und Akzeptanz von
schon älteren Songtitel von Udo Lin-       Bildern, Symbolen und Zeichen und
denberg, der in „Jack“ den Tod eines       der Reproduzierbarkeit von Kunst-
Freundes und überhaupt behandelt.          werken zu tun hat. Dessen einge-
                                           denk begegnet in dieser Broschüre in
Schließlich beschäftigt sich Arend de      Gestalt von hier auch eingestreuten
Vries noch mit dem bekannten Song          Fotos aus dem Friedhofskontext eine
„Tears In Heaven“ von Eric Clapton,        alltagskulturelle Verbindungslinie
mit dem dieser den Unfalltod seines        zwischen sepulkralkulturellen und
kleinen Sohnes bearbeitet.                 popmusikkulturellen Bearbeitungen
                                           des hier behandelten Themenfeldes
Die hier versammelten Beiträge de-         von „Alter und Tod, Endlichkeit und
monstrieren aber nicht nur, welche         Einsamkeit“.
Vielfalt, welchen Reichtum an künst-
lerischen Zugängen zu und existen-
tiellen Auseinandersetzungen mit
dem Themenfeld dieser Broschüre es
hier im Bereich der Popmusikkultur
und ihrer konkreten Artefakte ins-
gesamt gibt. Sie enthalten auch Hin-
weise darauf oder dafür, wie und wo
sie im Einzelnen unter Umständen
in einem kirchlichen, gemeindlichen
Kontext eingebracht, genutzt werden
könn(t)en. Diese Hinweise können
sich auf Anlässe, thematische An-
knüpfungspunkte oder biblische An-
klänge, Zitate, Motive und ähnliches
mehr beziehen. Manchmal auch auf
antithetische Einsatzmöglichkeiten
oder dialogische Kontrastmittel zu
biblischen Texten, Geschichten, Fi-
guren und Zusammenhängen.

Ein wichtiger Aspekt von Popkultur
zeigt sich stets darin, dass sie populär
im Sinne von weit verbreitet und ak-
zeptiert ist. Damit einhergehend gibt
es eine große Schnittmenge mit dem,
was Alltagskultur genannt wird. So
gesehen ist Popkultur, in diesem wei-
teren, ‚alltäglichen‘ Sinne verstan-
den, dann nicht erst in den 1960er
                                                                                  7
NOT DARK YET Alter und Tod, Endlichkeit und Einsamkeit in Pop- und Rocksongs - HKD
Johnny Cash „LIKE THE 309“
und „WE’LL MEET AGAIN“
oder keine Berührungsängste
Matthias Surall

                                                       Rockabilly und Blues über
                                                       Folk und Pop bis hin zum
                                                       Alternative Country oder
                                                       der Americana Music am
                                                       Ende der 1990er Jahre bis
                                                       zu seinem Tod in 2003.
                                                       Mit seinem Namen und
                                                       Wirken verbinden sich le-
                                                       gendäre Live-Konzerte in
                                                       den Gefängnissen Folsom
                                                       und San Quentin Ende
                                                       der 1960er Jahre, ebenso
                                                       legendäre Sessions mit
                                                       Elvis Presley, Carl Perkins
                                                       und Jerry Lee Lewis in
                                                       den 1950er Jahren so-
                                                       wie mit Bob Dylan 1968.
                                                       Nach dem Karrieresprung
                                                       Ende der 1950er Jahre
                                                       hatte er ab den 1960ern
     Johnny Cash, dessen Todestag sich       eine eigene, lange Jahre laufende
     am 12. September 2018 zum fünf-         TV-Show. Er stand für die Outlaw-
     zehnten Male jährt, war und ist         Bewegung innerhalb des Country-
     eine Institution in (der Historie)      Mainstreams und engagierte sich
     der Popmusikkultur. Als er mit 73       auch in politischer Hinsicht, zum
     Jahren starb, war seine Reputation      Beispiel für die Rechte der indi-
     unter Musikerkolleg*innen, Fans und     genen Ureinwohner*innen in den
     Kritiker*innen riesengroß, woran sich   USA. Seit Ende der 1970er Jahre
     bis heute nichts geändert hat. Er ist   dümpelte seine Karriere mehr
     einer der einflussreichsten US-ame-     schlecht als recht vor sich hin, bis
     rikanischen Sänger und Songwriter       er 1994 ein fulminantes Comeback
     gewesen, der sich vorwiegend, aber      erlebte. Der Kooperation mit dem
     keineswegs exklusiv im Countrymusic-    Produzenten Rick Rubin führte
     Genre bewegte. Seine lange Karriere     zu einer Neubesinnung auf seine
     wies etliche Höhen wie Tiefen auf       Wurzeln und Ursprünge durch die
     und umfasste ein breites musika-        Kombination kongenial angeeig-
     lisches Spektrum von Country, Gospel,   neter Coverversionen von partiell
8
bekannten und partiell ungewöhn-           Reihe mit dem Titel „A Hundred
lichen Songs mit eigenen Songs,            Highways“. Es handelt sich um den
durchgängig sparsam instrumen-             letzten eigenen Song, den Johnny
tiert und auf Cash hin konzentriert,       Cash geschrieben und aufgenommen
mit seiner Stimme und großenteils          hat – und zwar in der Zeit zwischen
auch Gitarre im Fokus.                     dem Tod seiner geliebten Frau June
Das Konzept und die Veröffentli-           Carter-Cash im Frühjahr 2003 und
chung dieser sogenannten American          seinem eigenen Tod wenige Monate
Recordings verschafften ihm großes         später, im September.
Renommee, gerade auch bei jün-
geren Fans. Sechs Alben und eine           „It should be a while
5-CD-Kompilation sind in dieser Reihe      before I see doctor Death
erschienen, davon vier zu Lebzeiten        So, it would sure be nice
von Johnny Cash. Für diese Alben co-       if I could get my breath
verte Cash unter anderem Songs von         Well, I‘m not the cryin‘,
Depeche Mode („Personal Jesus“),           nor the whinin‘ kind
Tom Petty („I Won’t Back Down“),           Til I hear the whistle of the 309, of the
U2 („One“), Nine Inch Nails („Hurt“)       309, of the 309
und Nick Cave („The Mercy Seat“).          Put me in my box on the 309
Die Themen Liebe, Glaube und End-
lichkeit sowie Tod sind hier, auf diesen   Take me to the depot, put me to bed
letzten Alben, noch stärker präsent        Blow an electric fan on my gnarly
als schon zuvor. Die hier versammel-       ol‘ head
ten Songs ragen zudem nicht zuletzt        Everybody take a look, see,
aufgrund ihres Minimalismus und            I‘m doin‘ fine
ihrer Wahrhaftigkeit heraus.               Then load my box on the 309
                                           On the 309, on the 309
Johnny Cash war ein tiefgläubiger          Put me in my box on the 309
Christ und trat als solcher auch öf-       …
fentlich in Erscheinung. In seinen         I hear the sound of a railroad train
Songs gibt es keine Berührungs-            The whistle blows and I‘m gone again
ängste gegenüber spirituellen, re-         …
ligiösen und christlichen Themen           Write me a letter, sing me a song
und Perspektiven auf das Leben             Tell me all about it, what I did wrong
und in späteren Jahren dann eben           Meanwhile, I will be doin‘ fine
auch Sterben. Er selber war beson-         Then load my box on the 309
ders in seinen letzten Lebensjahren        On the 309, on the 309
durch Krankheiten und zunehmende           Gonna get outta here on the 309”1
Schwäche gekennzeichnet, aber
seine Arbeit mit Rick Rubin an der
Aufnahme alter und neuer Songs
dauerte bis zuletzt an.                    1 Der hier auszugsweise zitierte Song-
                                           text findet sich zum Beispiel auf dieser
                                           Seite im Internet:
Der Song „LIKE THE 309“ stammt vom         https://www.lyricsmode.com/lyrics/j/
fünften, 2004 posthum erschienenen         johnny_cash/like_the_309.html – aufge-
Album der American Recordings-             rufen am 11.09.2018.

                                                                                       9
Das Thema Tod rahmt und durch-          • Das lyrische Ich betont schon zu
     zieht den Song wie ein roter oder         Beginn, kein ‚Weichei‘ zu sein, das
     schwarzer Faden. Von der ersten           nah am Wasser gebaut hätte.
     Zeile mit ihrer Hoffnung, dem Tod       • Es weist deutlich darauf hin, dass
     noch etwas aus dem Weg gehen zu           es ihm gut gehe. Siehe zweite
     können, bis zur letzten Zeile, die        Strophe: „I’m doin‘ fine“.
     den Auszug aus dieser irdischen         • Es fordert einen Kuss seiner Lieb-
     Welt mit Hilfe des 309ers in den          sten ein und will ein Bad nehmen,
     Blick nimmt.                              wie es in Strophe drei verdeutlicht
                                               wird.
     Auffällig ist hier das Zug-Motiv. Der   • Es hat sein Glück gefunden und
     Zug, in diesem Fall eben der mit der      macht einen zufriedenen, lebens-
     Nummer 309, ist ein in Johnny Cashs       satten Eindruck. So kommt es in
     Werk sehr oft begegnendes Motiv.          den beiden finalen Strophen fünf
     Dabei geht es zunächst um Bewe-           und sechs des Songs deutlich zum
     gung, um Mobilität, aber damit            Ausdruck.
     verbunden auch stets um Freiheit
     und Leben, um ein entscheidendes        Und doch ist der Tod fast durchweg
     Mittel zum Zweck. Man vergleiche        implizit bis explizit mit von der
     hierzu beispielhaft den Johnny-         Partie: zum einen wegen der om-
     Cash-Song „Train Of Love“ von           nipräsenten „box“, zum anderen
     seinem zweiten Studioalbum „Sings       wegen der deutlich hervortretenden
     the Songs That Made Him Famous“         Abschiedsstimmung, wie sie am Ende
     aus dem 1958.                           der fünften und am Anfang der
                                             sechsten Strophe anklingt.
     Der Zug als solcher ist bei Johnny
     Cash durchgängig positiv besetzt.       Insgesamt gesehen wirkt der Song
     Auch in diesem Song hat man den         auf mich so, dass Johnny Cash of-
     Eindruck, dem Tod wird fast ein we-     fensichtlich genau weiß, dass er am
     nig die brutale und beängstigende       Ende seines intensiven Lebens ange-
     Spitze genommen, weil es eben ein       kommen ist. Er tritt dem Tod ohne
     Zug ist, der hier den Sänger, Das       Angst entgegen, und die Aufnahme
     lyrische Ich, transportiert.            und Nutzung des Zug-Motivs akzen-
                                             tuiert das deutlich. Denn mit dem
     Interessanterweise ist der Zug in       Zug-Motiv kombiniert JC kongenial
     diesem Falle das Transportmittel für    ein klares Zeichen von Lebendigkeit
     die „box“, den Kasten, oder genauer     mit dem nahenden Tod. Er setzt ihm
     den Sarg des Sängers, so dass es        etwas entgegen, was bei ihm, dem
     eigentlich um die Überführung von       tiefgläubigen Christen, fast so etwas
     dessen Leichnam in seine Heimat         wie eine implizite Auferstehungs-
     geht. Gleichzeitig strotzt der Song     hoffnung atmet.
     nur so von lebensfrohen und -satten
     Bildern und Bezügen, was die den        Wie nun lässt sich dieser Song in
     typischen Railway-Sound kopieren-       einem kirchlichen Kontext nutzen?
     de, leicht stampfende Musik noch        Ich sehe da vor allem zwei Möglich-
     verstärkt:                              keiten: Einerseits kann er gut zum

10
Einsatz kommen, wenn in einer Ge-         Hierbei handelt es sich um einen
sprächsreihe über Sterben und Tod         programmatischen Song und Titel,
nachgedacht und gesprochen wird.          der seit bald siebzig Jahren auf ganz
Da könnte er als Beispiel für eine        verschiedenen Ebenen und in un-
gelebte „Tod, wo ist dein Stachel?“-      terschiedlichen Bezügen Hoffnung
Haltung im paulinischen Sinne von         transportiert und Trost spendet.
1 Kor 15 angeführt werden und             Im Jahr des Kriegsbeginns 1939
als Basis sowie Ausgangspunkt für         entstanden – getextet von Hughie
die Diskussion der Frage dienen:          Charles und komponiert von Ross
Wie komme ich zu einer solchen            Parker – wurde er während des 2.
Haltung der frohen Gelassenheit im        Weltkrieges durch die britische Sän-
Angesicht des Todes? Was braucht          gerin Vera Lynn populär gemacht.
es dafür?                                 Der optimistische Ton, die hoff-
                                          nungsfrohe Aussage wurde dabei
Andererseits kann „Like The 309“          zunächst auf die Kriegsheimkehr der
natürlich auch gut im Rahmen einer        Soldaten bezogen. Doch der Treff-
Andacht oder Predigt Verwendung           punkt konnte natürlich ebensogut
finden, die im Spannungsfeld von          zu einem viel späteren Zeitpunkt
Koh 3,19-22 und 1 Kor 15,54b-57 die-      veranschlagt werden. Der Song sel-
sen Song, der gerade dann unbedingt       ber legt hier ausdrücklich nichts fest
auch zu Gehör zu bringen ist, quasi als   außer der deutlichen Hoffnung auf
Trialogpartner nutzt und einbringt.       das Wiedersehen selber:

                                          „We‘ll meet again, don‘t know where,
                                          don‘t know when,
                                          but I know we‘ll meet again
                                          some sunny day!
                                          Keep smiling through,
                                          just like you always do,
                                          ‚till the blue skies drive the dark
                                          clouds far away!
                                          So, will you please say hello to the
                                          folks that I know?
                                          Tell them I won‘t be long!
                                          They‘ll be happy to know
                                          that as you saw me go,
                                          I was singin‘ this song:
                                          We‘ll meet again…”2
„WE’LL MEET AGAIN“ ist der Titel
des zweiten, jetzt hier in den Blick
zu nehmenden Songs vom vierten
Album aus der American-Recordings-        2 Der hier wiederum in Auszügen
                                          zitierte Songtext findet sich im Internet
Reihe mit dem Titel „The Man Comes        unter anderem unter dieser Adresse:
Around”, das letzte zu Johnny Cashs       http://www.metrolyrics.com/well-
Lebzeiten im Jahr 2002 erschienene        meet-again-lyrics-johnny-cash.html –
Album.                                    aufgerufen am 12.09.2018.

                                                                                      11
Ein wichtiges Element dafür, dass         verfügen auch Menschen noch zu
     dieser Song sozusagen ‚funktioniert‘,     ihren Lebzeiten, dass dieser Song
     ist die frohgemute und durch den          bei ihrer Trauerfeier zu hören sein
     Einsatz einer Klarinette auch musi-       soll. Damit sollten Pastor*innen
     kalisch entsprechend unterstützte         als Hauptverantwortliche für eine
     Aufforderung zur Weitergabe der           Trauerfeier gut leben können. Nicht
     Hoffnung auf das Wiedersehen an           zuletzt deshalb, weil sich der Song
     die Freunde. Sie sollen wissen, dass      auch gut als ‚Unterfütterung‘ einer
     der Absender diesen Song auf seinen       Ansprache über 1 Kor 13,13 unter der
     Lippen hatte, als er zuletzt gesichtet    Fragestellung: „Was bleibt?“ nutzen
     und gehört wurde!                         und einsetzen lässt.

     Die hier be- und gesungene Hoff-
     nung lässt sich natürlich auch spiritu-
     ell deuten. Für Christen kommt hier
     deutlich die Auferstehungshoffnung
     zum Tragen. Das ist es, was die Cover-
     version von Johnny Cash aus der Mas-
     se der zahlreichen anderen Cover-
     versionen dieses Songs hervorhebt.
     Denn dieser Song ist eben das letzte
     Stück auf dem letzten, zu seinen
     Lebzeiten erschienenen Album, wo-
     mit der Bezug zum Thema Tod noch
     deutlicher wird. Mit seinem schon
     von Krankheit und Alter ,verwunde-
     ten‘, unvergleichlichen Bassbariton
     ergreifend intoniert, entfacht der
     Song eine fast schon magische Kraft –
     ganz besonders, wenn am Ende das
     „wir“ des Songs von einem Chorge-
     sang der kompletten ,Cash-Gang‘
     mit akustischem Leben gefüllt wird.
     Ein Abgesang, der tief berührt, weil
     er eine Tür der Hoffnung öffnet und
     letztlich also kein Punkt hinter dem
     Tod ist, sondern ein Doppelpunkt in
     Richtung Auferstehungshoffnung.

     Ein guter, ja adäquater Ort für die
     kirchlichgemeindliche Einbettung
     oder Nutzung dieses ergreifenden
     Songs ist der Kasus der Trauerfeier.
     Hierfür wird er ohnehin bereits von
     etlichen trauernden Angehörigen
     selbst ins Spiel gebracht. Teilweise
12
Patti Smith „GONE AGAIN“
                                           oder Alles ist eitel
                                                                   Uwe-Karsten Plisch

Windhauch, Windhauch,                       Jahre nach ihrem rauhen
sagte Kohelet,                              Erstling „Horses“. Das Al-
Windhauch, Windhauch,                       bum reflektiert den Tod
alles ist Windhauch.                        langjähriger Weggefähr-
                              Kohelet 1,2
                                            ten und Freunde, darun-
                                                ter Patti Smith‘ 1994
                                                verstorbener Ehemann
                                                Fred „Sonic“ Smith, der bei
                                                „Gone Again“ auch als Co-Autor
                                                aufgeführt wird. „Mourning
                                                becomes electric“ (Trauer wird
                                                elektrisch) schrieb der Rolling
                                                Stone in einer Rezension des
                                                Albums. Jeff Buckleys Gesangs-
                                                part auf „Beneath The Southern
                                                Cross“ ist zugleich dessen letzte
                                                Studioperformance, ein Jahr vor
                                                seinem Tod. Das unverwechsel-
                                                bare Coverphoto von Annie Lei-
                                                bowitz zeigt eine in sich gekehrte
                                                Patti Smith, deren Gesicht hinter
                                                vorgehaltener Hand kaum zu
                                                erkennen ist.

                                                Ein Songtext ist ein Songtext ist
                                                ein Songtext. Seine Bedeutung
                                                erschließt sich in der Regel nicht
                                                beim einfachen Lesen (es sei
                                                denn, man hat den Song im Ohr),
                                                sondern, idealerweise, in der voll-
„GONE AGAIN“1 ist der Titelsong             kommenen Verschmelzung von Text
von Patti Smith‘ 1996 erschienenem          und Musik. Das ist bei „Gone Again“
sechstem Studioalbum, zwanzig               der Fall. Doch nicht zu vergessen,
                                            Patti Smith trat als Dichterin ins Ram-
                                            penlicht: „Christ died for somebody‘s
1 Der komplette Text dieses Songs ist zu
finden entweder im Booklet des Albums
                                            sins, but not mine ...“, heißt es in
oder z.B. hier im Internet: https://www.    dem frühen Gedicht „Oath“, und
azlyrics.com/lyrics/pattismith/goneagain.   ein Würdigungsartikel zu ihrem 70.
html – aufgerufen am 25.09.2018.            Geburtstag vermerkt: „Die Mutter ist
                                                                                      13
Zeugin Jehovas, der Va-
     ter Atheist. Die Kinder
     werden in strengem
     Glauben erzogen.“ In
     wessen Glauben, des
     Vaters oder der Mutter,
     erwähnt der Artikel
     nicht (klar, es ist die
     Mutter gemeint), aber
     die Spannung zwischen
     religiöser Prägung und
     wütender Absage hin-
     terlässt ihre Spuren in
     Smith‘ Lyrik.2

     Wiewohl das Album
     „Gone Again“ geprägt
     ist von der Erfahrung
     persönlichen Verlusts
     und individueller Trau-
     er ist der gleichnamige
     Eröffnungssong eine
     Reflexion über den
     „Circle of life“, die
     Vergänglichkeit des
     Menschen und die Vergeblichkeit           Die erste Strophe wird umkleidet von
     menschlichen Strebens und darü-           einem Refrain, der nach der zweiten
     ber, was der Mensch dem Menschen          Strophe – mit markanten textlichen
     antut. Der Eröffnungssong macht           Variationen – zweimal hintereinan-
     also klar: Hier geht es um mehr als       der gesungen wird. Die Spiegelach-
     musiktherapeutische Schmerzbe-            se bildet ein gesprochenes, nicht
     wältigung.                                gesungenes Zwischenspiel, eine
                                               Reminiszenz an Smith‘ Herkommen
     Das Lied ist beinahe spiegelbildlich      aus der Poetry-Slam-Tradition, das
     gebaut und bereits dem gedruckten         durch den Verzicht auf Gesang noch
     Text sieht man an, dass hier nicht ein-   an Intensität gewinnt.
     fach eine rockende Singer/Songwri-
     terin am Werk ist, die „Godmother of      Bereits in der ersten Zeile des Re-
     Punk“, die „Princess of Piss“, sondern    frains, mit dem das Lied einsetzt
     eine planvoll vorgehende Dichterin.       und der dann im Verlauf mehrmals
                                               wiederholt wird, bekommt der Song
                                               durch die altmodische Wendung
     2 Silke Wünsch, Patti Smith: Poetin mit
     Punk im Herzen wird 70 auf https://
                                               „man’s own kin“ – des Menschen ei-
     www.dw.com/de/patti-smith-poetin-mit-     genes Geschlecht, die Nachkommen
     punk-im-herzen-wird-70/a-36678507.        Adams – eine religiöse Grundierung,
     Aufgerufen am 25.09.2018.                 die sich im Laufe des Songs durch
14
diverse Anklänge an religiöse Sprache   bloßen Betrachtung des flüchtigen
noch verstärkt. Angerufen wird der      menschlichen Daseins ins Persön-
Mensch, „man’s own kin“, der dem        liche. Das Leitmotiv des „gone
Wind anbefohlen wird. Die fol-          again“ wird im Refrain und in den
genden Bilder (grateful arms, grate-    beiden Hälften der ersten Strophe
ful limbs, grateful soul / dankbare     dreifach variiert: von „he’s gone
Arme, dankbare Glieder, dankbare        again“ (der Mensch) über „they’re
Seele)3 evozieren die Szenerie eines    gone again“ (die unsteten Her-
Gottesdienstes – doch schon muss        zen), bis dahin, dass sich die Sän-
der Mensch wieder fort: gone again.     gerin schließlich mit „we’re gone
                                        we’re gone“ in die Vergänglichkeit
In der ersten Strophe erzählt uns die   menschlicher Existenz mit hinein-
Sängerin ein Wintermärchen – über       nimmt.
unstete Herzen, die ihren Samen in
den Wind säen, nach den Sternen         Den Mittelteil des Stücks bildet ein
greifen (seize the sky) und doch        gesprochenes reimloses Gedicht
sogleich wieder davonmüssen: gone       über den Menschen, der, von seines-
again. Ruhm ist flüchtig (fame is       gleichen gefällt, sich wieder erhebt:
fleeting), wohl wahr, davon weiß
die Sängerin ein Lied zu singen,        Here a man, man‘s own kin
und Gott ist nah (God is nigh), wie     Turned his back and his own people
es anschließend heißt – was aber        shot him
bedeutet das aus dem Munde von          And he fell on his knees
Patti Smith? Man möchte an Ironie       Before the burning plain
glauben, aber nichts liegt diesem       And he beheld fields of gold his land,
traurigen, nüchternen, von Schmerz      his son
grundiertem und gleichzeitig von        And he arose his blood aflame
einem Hauch Abgeklärtheit durch-        Clouds pressed with hand prints
zogenen Lied ferner als Ironie.         stained
Tatsächlich ist die Zeile „fame is
fleeting, God is nigh“ der Auftakt      (Hier ist ein Mensch, ein Verwandter
zu einem kühnen Zweizeiler, der die     Adams
Anbetung Gottes und den Hang des        Er wandte sich ab und seine eigenen
Menschen zur Selbstüberhebung           Leute erschossen ihn
in einen grandiosen Doppelvers          Und er fiel auf die Knie
zwingt:                                 Vor der brennenden Ebene
                                        Und er erblickte goldene Felder sein
we raise our arms to him on high        Land seine Sonne
we shoot our flint into the sun         Und er erhob sich sein Blut kochte
                                        Die Wolken zusammengepresst mit
Genau an dieser Stelle gleitet die      befleckten Handabdrücken)4
Perspektive der Sängerin von der
                                        Nach dem leisen, aber intensiven
3 Übersetzungen von Verszeilen folgen   Zwischenteil nimmt der elektrisch
in der Regel einer Übersetzung von
Christina Torrey.                       4 Übersetzung von Christina Torrey.

                                                                                 15
angetriebene Beat sogleich wieder          den Wind, ein Einswerden mit dem
     Fahrt auf und mit der Eröffnungs-          Windhauch. Der dankbare Mensch:
     zeile der zweiten Strophe „one last        er muss davon.
     breath“ (ein letzter Atemzug) wird
     ein Stakkato von Momentaufnah-             Der Song ließe sich gut im Rahmen
     men, Blitzlichtern gleich, eingeleitet     einer Gesprächsreihe über Tod und
     – Liebesknoten geschürzt / ... / Kind      Leben und die Frage nach dem, was
     geboren / ... / Krieger schrie / Krieger   bleibt, einsetzen. Aber auch dann,
     starb / ... / –, das am Ende das Grund-    wenn es um Beispiele für Trauerar-
     thema des Songs wieder aufnimmt:           beit geht, z.B. in einer Gesprächs-
                                                gruppe für Trauernde. Schließlich
     man’s own kin                              erscheint auch seine Verwendung in
     grips the sky                              einer Bibelarbeit über Kohelet denk-
     and he’s gone again                        bar bis empfehlenswert. Weniger
                                                geeignet hingegen ist er sicherlich
     (Adams Same                                für Andacht und Gottesdienst sowie
     greift nach dem Himmel                     Jugendarbeit. Dafür ist er zu kom-
     und ist wieder weg)                        plex und bedarf zu umfangreicher
                                                Einführung und Erklärung.
     Am Ende wird der Refrain zweimal
     wiederholt, aber beide Male mit
     textlichen Variationen, die zeigen,
     wie durchdacht die Dichter-Sängerin
     hier zu Werke geht. Zuhören ist an-
     gesagt, nicht: Feuerzeuge raus und
     mitsingen.

     Hey now man‘s own kin
     we lay down into the wind
     grateful arms grateful limbs
     grateful heart he‘s gone again

     Hey now man‘s own kin
     he ascends into the wind
     grateful heart grateful limbs
     grateful man he‘s gone again

     Die dynamisch vorangetriebene
     Klage wandelt sich, zumindest auf
     der Textebene, in eine vorsichtige
     Bejahung der menschlichen Existenz,
     wie sie, aus Sicht der Sängerin, nun
     einmal ist. Wir gehen über in den
     Wind, das dankbare Herz kommt zur
     Ruhe. Die Himmelfahrt (Ascension)
     ist freilich nur noch ein Aufstieg in
16
Bob Dylan „NOT DARK YET“
                und „MARCHIN’ TO THE CITY”
        oder Alter schützt vor Sehnsucht nicht
                                                                     Matthias Surall

Schaut man auf den heutigen künst-
lerischen Stellenwert von Bob Dylan
und seine globale Reputation, so
fällt es schwer, sich vorzustellen,
dass dem noch vor gut zwanzig
Jahren – gelinde gesagt – anders
war. Als 1997 sein Album „Time Out
Of Mind“ erschien, hatte er zuvor
sieben Jahre lang keine Veröffentli-
chung mit eigenen neuen Songs am
Start gehabt. Und von zwei kreativen
Schüben zu Beginn und am Ende der
1980er Jahre abgesehen, war auch
dieses Jahrzehnt weder das seiner
künstlerisch-kreativen Hochzeit noch
das, in dem ihm besondere Bewun-
derung oder Anerkennung zuteil
wurden. Abgesehen davon, dass Dy-
lan auch in dieser Zeit unermüdlich
als „performing artist“ auf Tour war,
die Bühnen und Hallen dieser Welt
bespielte und ein treues Publikum
teils mit der beständigen Neubear-
beitung seiner Songs erfreute, teils
aber auch in seiner Erwartungshal-
tung verprellte. Doch mit diesem          der Bibel und der Literatur. Und es
oder ab diesem neuen und zugleich         läutet zugleich das Spät- oder Alters-
in doppelter Hinsicht ‚alten‘ Album       werk von Bob Dylan ein, weil er hier
„Time Out Of Mind“ änderte sich das       explizit und intensiv den Themen-
sukzessive radikal. Dylan reüssierte in   komplex Alter, Vergänglichkeit und
der popkulturellen Rezeption durch        Endlichkeit, Rückblick und Sehnsucht
Kritiker*innen und Fans als wieder        über das irdische Ende hinaus sowie
neu wahr- und ernstzunehmender            Liebe und Vergeblichkeit behandelt.
Popkünstler. Dies doppelt alte Album      Und das ganze ist musikalisch und
wurzelt tief in alten, althergebrach-     strukturell tief im Blues verwurzelt
ten und zeitlosen Themen, Motiven         und getränkt sowie mit Elementen
und Bildern des Blues und Gospels,        der New Orleans Musik durchzogen.
                                                                                   17
Auf „Time Out Of Mind“, dieser                Im weiteren Verlauf des Songs kommt
     vom Fachmagazin „Rolling Stone“               es dann – mal implizit quasi zwischen
     zum Album des 20. Jahrhunderts                den Zeilen zu finden, mal explizit
     gekürten Veröffentlichung im Herbst           formuliert – zu folgenden Aussagen
     1997, als Bob Dylan 56 Jahre alt              im Hinblick auf das Alter:
     war, findet sich auch der Song „NOT
     DARK YET“. Dies langsam gespielte             Es ist offensichtlich die Zeit, die Phase
     und gesungene Stück atmet einen               der Reflexion über das gelebte Leben
     ernsten, schweren Ton sowohl in               sowie das Leben an sich. Rückblick,
     musikalischer wie in textlich-inhalt-         und Evaluation sind angesagt. Die
     licher Hinsicht. Hier begegnet eine           Weisheit des Alters erscheint hier als
     größtenteils realistisch abgeklärte           Abgeklärtheit und Abgestumpftheit
     bis weh- oder reumütige Sicht der             im Gegensatz zu Idealismus und
     Dinge, der Welt, des eigenen vorwie-          Romantizismus der Jugend. Damit
     gend bereits gelebten Lebens.                 verbindet sich dann diese konkrete
                                                   desillusionierte Haltung: Mir macht
     Die Ausgangssituation ist so skizziert:       niemand etwas vor. Ich habe alles
     Das Tageslicht schwindet, der Abend           gesehen und erlebt. Ich bin Realist,
     ist da, die Nacht nah. Das lyrische Ich       vielleicht sogar Zyniker. Es gibt
     kann nicht schlafen und hängt seinen          keine Schönheit ohne Schmerz. Die
     Gedanken nach. Das durch die länger           Welt wird von Lüge dominiert. Und
     werdenden Schatten versinnbildlich-           es könnte sein, dass letztlich alles
     te schwächer werdende Licht dient             sinnlos ist.
     dabei als Metapher für das nahende
     Ende in dreifacher Hinsicht: a) des           „Well, my sense of humanity has
     Tages, b) des Lebens, c) der Welt. So         gone down the drain
     gesehen und verstanden ist deutlich,          Behind every beautiful thing there’s
     dass hier ein lyrisches Ich im Alter und      been some kind of pain
     damit vielleicht auch schon gegen             …
     Ende seines Lebens über eben dieses           I just don’t see
     nachdenkt.                                    why I should even care
                                                   It’s not dark yet, but it’s getting there
     „Shadows are falling                          Well, I’ve been to London
     and I’ve been here all day                    and I’ve been to gay Paree
     It’s too hot to sleep,                        I’ve followed the river
     time is running away                          and I got to the sea
     Feel like my soul has turned into steel       I’ve been down on the bottom
     I’ve still got the scars                      of a world full of lies
     that the sun didn’t heal                      I ain’t looking for nothing
     There’s not even room                         in anyone’s eyes
     enough to be anywhere                         Sometimes my burden
     It’s not dark yet, but it’s getting there”1   seems more than I can bear
                                                   It’s not dark yet, but it’s getting there”2
     1 Zitiert nach: https://www.bobdylan.
     com/songs/not-dark-yet/ – aufgerufen
     am 05.09.2018.                                2 Ebd.

18
Das Alter bringt offenbar Lasten mit    dern‘ könnte dann der Verweis auf
sich, die einsam und alleine kaum zu    Mt 11,28ff und oder Gal 6,2 in Korre-
tragen sind. Dabei lässt der Begriff    spondenz zu der zitierten Songzeile
„Lasten“ bei biblisch geprägten und     darstellen, je nachdem, ob man mit
geschulten Menschen wie Bob Dylan       Jesu Zuspruch und Verheißung oder
einiges aus dem Schatz der biblischen   mit dem Anspruch, einander beim
Tradition und Texte anklingen, wie      Lasten-Tragen zu helfen, enden will.
zum Beispiel Mt 11,28ff und auch Gal    Wobei sich beides natürlich auch
6,2. Die zunächst ganz lapidar da-      vortrefflich kombinieren lässt.
herkommende Aussage, manchmal
scheint meine Last mehr zu sein als     Dazu passen schließlich noch zwei
ich zu tragen vermag, kann ja auch      weitere, zarte Sehnsuchts- bis Hoff-
als verkappte Sehnsuchtsaussage         nungsmomente in diesem insgesamt
aufgefasst werden. Dann hieße sie       doch eher düsteren Song. Denn es
übersetzt: Ich kann nicht mehr und      gibt hier eine doppelte, ganz zarte
wünsche mir, meine Last nicht mehr      Öffnung in diesem Sinne am Ende
alleine tragen und bewältigen zu
müssen.                                 a) jeder Strophe, denn noch ist es ja
                                           nicht (ganz) dunkel. Noch könnte
Auf dieser Spur ließe sich „Not Dark       etwas passieren, was den Negati-
Yet“ beispielsweise als poetisch-          vaussagen über das eigene Leben
lakonischer Kommentar zu Ps 90 ein-        und Empfinden nicht nur, aber
setzen. Den Abschluss des möglicher-       besonders im Angesicht von Alter
weise in einer Andacht entfalteten         und Endlichkeit positiv entgegen-
Dialogs zwischen diesen beiden ‚Lie-       zusetzen wäre …
                                                                                19
b) des Songs mit seiner Erwähnung,            Sorrow and pity
        dass das lyrische Ich nicht mal            Rule the earth and the skies
        ein Gebetsmurmeln hört. Darin              Looking for nothing in
        kommt zumindest implizit die               Anyone‘s eyes
        Hoffnung zum Ausdruck, dass es             Once I had pretty girl
        doch anders sein und sich verhal-          Did me wrong
        ten oder entwickeln möge!                  Now I‘m marching to the city
                                                   And the road ain‘t long
     „I can’t even remember what it was I          Snowflakes are falling
     came here to get away from                    Around my head
     Don’t even hear a murmur of a prayer          Lord have mercy
     It’s not dark yet, but it’s getting there”3   It feel heavy like lead
                                                   I been hit too hard
     Zur Zeit der Entstehung des Albums            Seen too much
     „Time Out Of Mind“, also im Um-               Nothing can heal me now
     feld der dafür vorgenommenen                  But your touch”4
     Aufnahmesessions, wurden, wie in
     den kreativen Hochphasen von Bob              Die Gesamtstimmung des Songs ist
     Dylan üblich, noch etliche weitere,           erneut tief im Blues getränkt, und
     zum Teil ebenfalls hochkarätige               das wiederum sowohl musikalisch
     Songs aufgenommen, die es am Ende             wie textlich-inhaltlich. Das allgemei-
     nicht auf das Album schafften. Unter          ne Elend „Sorrow and pity / Rule the
     diesen, größtenteils 2008 im Rahmen           earth and the skies”5 findet seine
     der sogenannten „Bootleg Series“              Entsprechung im persönlichen Er-
     als „Volume 8“ unter dem Titel „Tell          leben: Die Schneeflocken in der 2.
     Tale Signs“ von Dylans Plattenfirma           Strophe fühlen sich für das lyrische
     endlich veröffentlichten Songs findet         Ich wie Bleikugeln an. Die damit
     sich auch das Juwel „MARCHIN‘ TO              auch angedeutete, offensichtlich
     THE CITY“.                                    winterliche Jahreszeit kann dabei als
                                                   Bild für das nahe Lebensende dieses
     In diesem sich musikalisch langsam            Ichs verstanden werden.
     entwickelnden und steigernden
     Song begegnet das Thema Tod                   Um das alte Blues-Klischee herum,
     quasi im dünnen Negligé des The-              dass ein Mann von einer Frau ver-
     menfeldes Endlichkeit, Sterblichkeit          lassen worden ist, die ihn schlecht
     und Tristesse des Alters. Es ist dabei        behandelt hat, baut Dylan hier einen
     in der Perspektive des singenden
     Ichs gehalten und somit persönlich            4 Der Songtext findet sich nicht in offiziell
     existentiell geerdet.                         publizierter Form, also weder im großen
                                                   „Lyrics 1962 – 2012“– Buch, das auch zwei-
                                                   sprachig englisch-deutsch vorliegt, noch
     „Well I‘m sitting in church
                                                   auf der offiziellen Dylan-Homepage. Ein
     In an old wooden chair                        Internet-Fundort unter anderen ist aber
     I knew nobody                                 gleichwohl dieser: http://lyrics.wikia.com/
     Would look for me there                       wiki/Bob_Dylan:Marchin‘_27_To_The_City
                                                   – aufgerufen am 07.09.2018.
     3 Ebd.                                        5 Ebd.

20
Kosmos der abgeklärten Verzagtheit      Glänzen und Lächeln der geliebten
und des Trotzes dagegen auf: Es geht    und besungenen Frau.
um Einsamkeit und Vergänglichkeit,
um Retrospektive, Träume und Hoff-      Und auch hier, in diesem Song gibt es
nungen, die sich überlebt haben. Es     eine implizite bis evidente spirituelle,
geht um die Sehnsucht nach Freiheit,    religiöse Sehnsucht. In der 2. Strophe
auch und gerade in Anbetracht eines     kommt der Sänger zu dem Schluss,
nicht mehr wirklich fernen Todes.       dass ihn nichts anderes heilen könne
                                        als ‚deine Berührung‘. Da die direkt
„I‘m chained to the earth               zuvor genannte ‚Person‘ Gott selber
Like a silent slave                     ist, kann es hier nur um den Wunsch
Trying to break free                    nach Berührung durch ihn gehen.
Out of death‘s dark cave”6              Diese Berührung kann wörtlich und
                                        übertragen verstanden werden. Eine
Dylan ist – wie so oft gerade in sei-   wirkliche Berührung des singenden
nem Spätwerk – alles andere als frei    Ichs durch Gott kann für das Ende der
von Zynismus: Hier werden nicht         Zeit, die Erlösung imaginiert werden,
etwa die Letzten die Ersten sein        eine Berührung, ein Angerührt-Wer-
oder die Schwachen aufgerichtet.        den durch Gott(es Wort) im Innersten
Nein, hier werden die Schwachen         des Menschen hingegen schon in die-
ausdrücklich noch schwächer, wäh-       sem Leben stattfinden. Der Kontakt
rend die Starken stark bleiben. Eine    mit Gott begegnet hier so oder so als
fatalistisch anmutende Umkehrung        hoffnungstiftende Option inmitten
eines biblischen Verheißungshori-       der abgeklärt-melancholisch-bitteren
zontes durch einen, der schon zu viel   Retrospektive.
gesehen und erlebt hat.
                                        In der 4. Strophe denkt das singende
„Well the weak get weaker               Ich weiter über das Paradies nach,
And the strong stay strong              wieder ein sanfter Hinweis auf diese
The train keeps rolling                 Sehnsucht nach Erlösung.
All night long
She looked at me                        Weiter mischen sich im „You“ der
With an irresistable glance             letzten Strophe der Hörer des Songs
With a smile                            die Frau, die ihm übel mitgespielt
That could make all the planets         hat, die er aber selbstverständlich
dance”7                                 nicht vergessen kann, und Gott,
                                        wenn es heißt: Du wirst dich an
Doch so abgeklärt bis sarkastisch       meinen Namen erinnern, wenn ich
noch der Anfang dieser Strophe da-      gegangen sein werde. Sofern Gott
herkommt, so persönlich anrührend       hier gemeint ist, kommt damit eine
ist die lebendige Erinnerung des ly-    implizite Auferstehungshoffnung
rischen Ichs an das unwiderstehliche    zum Ausdruck.

                                        Schließlich der Refrain des Songs:
6 Ebd.                                  Die Stadt, zu der hin der Sänger, Das
7 Ebd.                                  lyrische Ich des Songs, unterwegs ist,
                                                                                   21
sie wird nicht näher benannt. Und         sicht des nicht mehr fernen Todes.
     doch schwingen bei Bob Dylan, der         Schließlich ist auch ein Gespräch mit
     seine Bibel wahrlich gut kennt und        Ps 73,23-26 denkbar, bietet doch
     mit ihren Bildern und Symbolen,           auch dieser Dylan-Song einiges an
     Motiven und Texten mannigfach             „Dennoch“-Aspekten in diesem bi-
     spielt und umgeht, hier Aspekte           blischen Sinne an.
     mit, die einen biblischen Hoffnungs-
     horizont in Anbetracht von Alter,
     Sterblichkeit und Tod andeuten: Die
     Stadt schlechthin ist in der Bibel das
     himmlische Jerusalem, eine Stadt,
     die Dylan während seiner explizit
     christlichen Phase als „City Of Gold“8
     im gleichnamigen Song gepriesen
     und beschrieben hat. Wer zu dieser
     Stadt hin unterwegs und gewiss ist,
     dass die Strecke überschaubar ist,
     der kann nicht frei von Hoffnung
     sein, dass, ich zitiere einen weiteren
     Dylan-Songtitel: „Death Is Not The
     End“9.

     Als biblische Bezugspunkte bzw.
     Dialogpartner dieses Songs kann ich
     mir zum einen Jes 43, 1 vorstellen,
     eine wunderbare Parallele zum Ende
     dieses Songs oder eine Belegstelle für
     die biblische Richtigkeit von Dylans
     finaler Hoffnungsaussage. Aber auch
     1 Kor 13,11-13 als biblischer Anhalts-
     punkt für die Frage nach dem, was
     bleibt, hier im Song angewendet auf
     den Rückblick im Alter und im Ange-

     8 Der Songtext dieses erst im letzten
     Jahr auf der Veröffentlichung „Trou-
     ble No More – The Bootleg Series Vol.
     13/1979-1981“ erschienenen Stückes
     findet sich englisch und deutsch hier:
     Bob Dylan, Lyrics 1962-2012. Sämtliche
     Songtexte. Deutsch von Gisbert Haefs,
     Hamburg 2016, S. 824f.
     9 Zum Songtext dieses Stückes aus
     Dylans explizit christlicher Phase sie-
     he hier: http://www.bobdylan.com/
     songs/death-not-end/ – aufgerufen am
     09.09.2018.

22
Tom Jones „SEXBOMB“
                           und „TOWER OF SONG“
                  oder Alter, Sexualität und Würde
                                                                   Matthias Surall

Der walisische Popsänger Tom Jones,     kneipen und Londoner Bars landete
Jahrgang 1940, kann auf eine lange      er seine ersten Single-Hits von 1965
Karriere mit diversen Hits und Flops,   an. „It’s Not Unusual“, „What’s New,
Wegstrecken, Orten und Umwegen          Pussycat?“ und „Delilah“ sind seine
zurückblicken. Ursprünglich Vertre-     bekanntesten Hit-Titel aus dieser
ter für Staubsauger unternahm er        ersten Karrierephase.
ab 1963 einige Versuche, als Sänger
im Pop-, Rock- und Beat-Bereich mit     Sein Spitzname „Tiger“, eigentlich
verschiedenen Bandformationen Fuß       in der Zeit als Clubsänger Teil seines
zu fassen. Nach einigen Jahren auf      Pseudonyms, blieb ihm bis heute an-
Club-Tour durch walisische Arbeiter-    haften, passte er doch formidabel zu
                                                     seinem Image als männ-
                                                     lichem Sexsymbol, das
                                                     er selber proaktiv be-
                                                     förderte und ausbaute
                                                     – nicht zuletzt durch
                                                     seine Bühnenshow mit
                                                     vollem Körpereinsatz
                                                     im Spiel mit der eigenen
                                                     erotischen Ausstrahlung
                                                     und seine Outfits, siehe
                                                     das Zitat etwas weiter
                                                     unten.

                                                    Zu Beginn der 1970er
                                                    Jahre zog Tom Jones in
                                                    doppelter Hinsicht nach
                                                    Las Vegas, wo er längere
                                                    Zeit schwerpunktmäßig
                                                    lebte und in diversen
                                                    Club- und später auch
                                                    Dinnershows auftrat.
                                                    Er fokussierte sich auf
                                                    Country-Pop wie seinen
                                                    überaus erfolgreichen
                                                    Song „Green, Green
                                                    Grass Of Home“, hatte
                                                    noch einige kleinere
                                                                                 23
Hits, aber seine Karriere dümpelte       Der Songtext beschreibt genüsslich
     gegen Ende des Jahrzehnts und in         ausgeführt das Wechselspiel ero-
     der ersten Hälfte der 1980er Jahre       tischer Anziehungskraft zwischen
     mehr schlecht als recht vor sich hin.    dem singenden Ich und seiner Ge-
     Im Vorwort seiner 2015 im englischen     liebten:
     Original und 2016 auf Deutsch er-
     schienenen Autobiographie „Over          „Sexbomb sexbomb
     The Top And Back“1 wirft Tom Jones       you‘re a sexbomb uh, huh
     selber rückblickend dieses Schlaglicht   You can give it to me when I need to
     auf diese Phase:                         come along give it to me
                                              Sexbomb sexbomb
     „… jetzt sehe ich mich hier im           you‘re my sexbomb
     Garderobenspiegel. Glitzerndes           And baby you can turn me on
     Kurzjackett. Weit offenes Hemd.          baby you can turn me on
     Dicke silberne Halskette. Dunkle,        You know what
     eng anliegende Hose bis zur Taille.      you‘re doing to me don‘t you. ha ha,
     Gürtelschnalle von der Größe eines       I know you do
     Gullydeckels. Schuhe mit Blockab-        No don‘t get me wrong
     satz. Ein Hauch von Las Vegas zieht      ain‘t gonna do you no harm no
     durch Framingham.                        This bomb‘s made for lovin‘
     Zwölf Jahre ohne Hit. Das hatte ich      and you can shoot it far
     so nicht geplant. Wenn es denn einen     I‘m your main target come
     Plan gab.“2                              and help me ignite ow
                                              Love struck holding you tight
     Am Ende der 1980er Jahre brachte         hold me tight darlin‘”3
     sich Jones auch einem jüngeren
     Publikum nachhaltig mit seiner           Der Song funktioniert als eine Art
     kongenialen Aneignung des Prince-        nette, geschmeidige Anmache und
     Songs „Kiss“ in Erinnerung. Daran        demonstriert eindrücklich, dass ein
     knüpfte er gut zehn Jahre später         guter Popsong keineswegs in Abse-
     noch einmal erfolgreich an, als er mit   hung von seiner Musik funktioniert.
     Ende fünfzig das Album „Reload“          Der treibende Beat dieser Musik hier
     veröffentlichte, das etliche Duette      belegt das Gegenteil.
     mit jüngeren, angesagten Künstlern
     wie etwa Robbie Williams und den         Inhaltlich klingt das Thema: Alter
     Cardigans enthielt. Darauf findet sich   und Sexualität an und wird gewis-
     auch der Smash-Hit: „SEXBOMB“, in        sermaßen entstaubt. Es geht ja nicht
     dem der alternde oder gealterte Tom
     Jones im Duett mit Mousse T. leicht      3 Der hier mit einem kurzen Ausschnitt
     selbstironisch mit seinem eigenen        angeführte Songtext wurde geschrie-
     Image als männliches Sexsymbol           ben und komponiert von Narada Mi-
     spielt.                                  chael Walden, Lisa Walden, Allee Willis,
                                              Joni Sledge und Mustafa Gündogdu
                                              (alias Mousse T.). Er findet sich Im In-
     1 Tom Jones, Over The Top And Back –     ternet z.B. hier: https://www.songtexte.
     Die Autobiographie, München 2016.        com/songtext/tom-jones/sexbomb-3bd-
     2 A.a.O., S. 11.                         6bc34.html – aufgerufen am 14.09.2018.

24
Sie können auch lesen