DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN - POSITIONSPAPIER - The Global ...
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LOUISE ARBOUR PAVEL BÉM RICHARD BRANSON FERNANDO HENRIQUE MARIA CATTAUI Ehemalige UN-Hochkommissarin Ehemaliger Oberbürgermeister Unternehmer, Gründer der Virgin Group, CARDOSO Ehemalige Generalsekretärin der für Menschenrechte, Kanada von Prag, Tschechische Republik Vereinigtes Königreich Ehemaliger Präsident von Brasilien Internationalen Handelskammer, ( Ehrenvorsitz ) Schweiz HELEN CLARK NICK CLEGG RUTH DREIFUSS MOHAMED ELBARADEI GEOFF GALLOP Ehemalige Premierministerin Ehemaliger stellvertretender Ehemalige Bundesrätin und Ehemaliger Generaldirektor der Ehemaliger Premierminister des von Neuseeland Premierminister, Vereinigtes Präsidentin der Schweizerischen Internationalen Atomenergie-Organisation, Bundesstaats West Australia ( Vorsitz ) Königreich Eidgenossenschaft Ägypten CÉSAR GAVIRIA ANAND GROVER MICHEL KAZATCHKINE ALEKSANDER KWASNIEWSKI RICARDO LAGOS Ehemaliger Präsident Ehemaliger UN-Sonderberichterstatter Ehemaliger geschäftsführender Direktor des Ehemaliger Präsident Ehemaliger Präsident von Kolumbien für das Recht auf Gesundheit, Indien Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, von Polen von Chile Tuberkulose und Malaria, Frankreich KGALEMA MOTLANTHE OLUSEGUN OBASANJO GEORGE PAPANDREOU JOSÉ RAMOS-HORTA JORGE SAMPAIO Ehemaliger Präsident Ehemaliger Präsident Ehemaliger Ministerpräsident Ehemaliger Präsident Ehemaliger Präsident von Südafrika von Nigeria von Griechenland von Osttimor von Portugal JUAN MANUEL SANTOS JAVIER SOLANA CASSAM UTEEM MARIO VARGAS LLOSA ERNESTO ZEDILLO Ehemaliger Präsident Ehemaliger Hoher Vertreter für die Ehemaliger Präsident Schriftsteller und Intellektueller, Ehemaliger Präsident von Kolumbien Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von Mauritius Peru von Mexiko (GASP) der Europäischen Union, Spanien http://www.globalcommissionondrugs.org/ https://www.facebook.com/globalcommissionondrugs/ https://twitter.com/globalcdp https://www.youtube.com/c/GlobalCommissiononDrugPolicy
DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN INHALT VORWORT 4 STÄDTE UND DROGEN: SACHSTAND 6 INNOVATIVE STÄDTISCHE DROGENPOLITIK: VOM RAND IN DEN MAINSTREAM 10 HISTORISCHE BEISPIELE FÜR STÄDTISCHE INNOVATIONEN 10 AUSGLEICH GEGENSÄTZLICHER BÜRGERINTERESSEN AUF LOKALER EBENE 12 BÜNDNISSE UND WISSENSAUSTAUSCH ZWISCHEN STÄDTEN 13 VON EUROPA NACH NORDAMERIKA UND DARÜBER HINAUS 14 STÄDTISCHE PROBLEME IM ZUSAMMENHANG MIT DROGEN: SICHERHEIT, GEWALT UND STRAFVERFOLGUNG 15 GEWALT UND ILLEGALE DROGEN IN DEN STÄDTEN 15 STRAFVERFOLGUNG UND SICHERHEIT 16 WOHLBEFINDEN DER BÜRGER, ÖFFENTLICHE GESUNDHEIT UND SOZIALE WIDERSTAND FÄHIGKEIT IN DEN STÄDTEN 17 STÄDTISCHE DROGENMÄRKTE: WEGE ZUR LOKALEN REGULIERUNG VON CANNABIS 19 EMPFEHLUNGEN 21 STÄDTEPROFILE UND POLITISCHE ANTWORTEN 22 LITERATURNACHWEIS 31
VORWORT Im vergangenen Jahrzehnt wurden bei der Reform der Drogenpolitik auf Heute vollziehen sich in Städten in aller Welt politische Innovationen, und internationaler, regionaler und nationaler Ebene beispiellose Fortschritte zwar nicht nur in Ländern mit hohem Einkommen, sondern zunehmend erzielt. Wir als Mitglieder der Weltkommission für Drogenpolitik haben auch im Rahmen der Programme und Initiativen kommunaler Einrichtun- mehrere dieser Veränderungen miterlebt und begleitet. 2016 nahm die gen in Lateinamerika und der Karibik, in Nordafrika und in Subsahara-Afrika. Sondertagung der UN-Generalversammlung über das Weltdrogenproblem ein Ergebnisdokument an, mit dem eine Umsteuerung der Drogenkontrolle Als Mitglieder der Weltkommission für Drogenpolitik wissen wir, dass die auf eine ausgewogenere Politik angestrebt wird. 2019 verabschiedete das Städte selbst dann eine entscheidende Rolle spielen, wenn auf nationaler UN-System einen gemeinsamen Standpunkt zu Drogenfragen. Einige Ebene Drogengesetze mit Strafandrohung verabschiedet werden. Wir Länder haben erste Schritte zur gesetzlichen Regulierung einiger Drogen wissen, dass die Städte Möglichkeiten haben, den durch eine repressive unternommen. Parallel dazu erhält die Entkriminalisierung des Besitzes Drogenkontrolle bedingten Problemen zu begegnen, unter anderem geringer Drogenmengen für den persönlichen Gebrauch allmählich weltweit indem sie das Vertrauen der Bevölkerung erlangen, die öffentliche Auftrieb. Die Mitgliedstaaten der zwischenstaatlichen Regionalforen in Gesundheit schützen, gegen gewaltsame Revierkämpfe vorgehen und die Afrika, Amerika und Europa führen mittlerweile Diskussionen auf hoher Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen verhindern. Ebene über die Reform der Drogenpolitik. Die Städte verfügen über den rechtlichen Spielraum für die Konzeption Eine bestimmte Ebene ist in dieser Debatte allerdings nicht offiziell und Durchführung von Pilotprojekten, die den durch eine strafende vertreten. Zudem ist dies genau die Ebene, auf der die Politikgestaltung nationale Politik verursachten Schaden lindern. Doch nicht alle sind mit den am stärksten mit dem durch eine strafende Drogenpolitik verursachten gleichen Befugnissen, Kompetenzen oder Ressourcen ausgestattet. Einige Schaden konfrontiert ist und in der die größte Zahl sozial gefährdeter verfügen über Gesundheits- und Polizeibehörden, örtliche Haftanstalten Menschen lebt: in den Städten und Gemeinden. und Wohnungsämter, andere dagegen nicht. Dennoch spielen die Bürgermeister eine zentrale Rolle in der Drogenkontrollpolitik unserer Die Städte, die die Hauptlast der repressiven nationalen und Gesellschaft. Sie sind die gewählten Amtsträger mit dem engsten Kontakt internationalen Drogenkontrollpolitik tragen, verzeichnen ein rasches zu ihren Wählern. Wachstum. Auf die Bevölkerung in den Städten werden bis 2050 insgesamt 68 % der Weltbevölkerung entfallen. Der Drogenhandel, der Wir legen den Bürgermeistern nahe, breit gefächerte Schadensminde- lukrativste illegale Wirtschaftszweig für die organisierte Kriminalität, rungsmaßnahmen für ihre Bevölkerung bereitzustellen und nicht vor wirk- erzeugt in den Städten eine sichtbare Gewalt, die eingesetzt wird, um die samen Maßnahmen zurückscheuen, die mitunter – allerdings zu Unrecht Bevölkerung einzuschüchtern und ihre Loyalität zu erzwingen und um auf – umstritten sind. Darüber hinaus fordern wir sie auf, ihre kommunalen Po- Konfrontationskurs zu den Strafverfolgungsbehörden zu gehen und den lizeikräfte anzuweisen, die Schikanierung von Menschen einzustellen, die illegalen Handel zu sichern. Besonders deutlich treten die Zusammenhänge Drogen konsumieren, aber keinen Schaden anrichten. Angst vor Verhaftung zwischen Gewalt, aggressivem Drogenhandel und einem blindwütig und Furcht vor Missbrauch dürfen von Drogen abhängige Menschen nicht punitiven rechtlichen Vorgehen in Lateinamerika und der Karibik zutage, länger davon abhalten, Dienste zu nutzen, auf die sie rechtlichen Anspruch wo sich 42 der 50 Städte mit den weltweit höchsten Gewaltraten entlang haben, darunter Gesundheits-, Wohnungs- und Sozialdienste. der Kokainhandelsrouten konzentrieren. Die Welt ist von einem rasanten Wandel geprägt, der seit Anfang 2020 Um die Städte bei der Bewältigung der Probleme zu unterstützen, die sich noch an Fahrt gewonnen hat. Die Reform der Drogenpolitik ist der Schlüssel aus einer repressiven Politik für ihre Bewohner ergeben, und ihre Reakti- zum Aufbau einer gerechteren und inklusiveren Gesellschaft. Mittlerweile onsfähigkeit zu analysieren, haben wir beschlossen, dieses Positionspapier bestehen internationale Mechanismen für eine angemessene Drogenpolitik. zu veröffentlichen und es den Bürgermeistern der Städte und Gemeinden Der Geist der Agenda für nachhaltige Entwicklung bietet in Verbindung und den Lokalverwaltungen als Informationsgrundlage für ihre Drogenpo- mit dem Ergebnis der Sondertagung der UN-Generalversammlung über litik anzubieten. In dem Papier wird ein Überblick darüber gegeben, was die das Weltdrogenproblem die Voraussetzungen für die Reformen, die Städte bislang geleistet haben, was sie derzeit unternehmen und welche durchgeführt werden müssen, damit niemand zurückbleibt. Die Zeit ist Richtung sie einschlagen. gekommen, eine wirksame Drogenpolitik zu verfolgen. Als zentrale Akteure des Kampfes für einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheits- und Lokale Entscheidungsträger sind an der Festlegung der Drogenkontrollpolitik Sozialleistungen sind die Städte und Gemeinden die effizientesten Träger – und ihrer Reform – bereits seit den 1930er-Jahren beteiligt, als sie sich des Wandels. der Prohibition weniger potenter Drogen widersetzten und auf die Folgen der Kriminalisierung für die Rechtsstaatlichkeit in Nordamerika hinwiesen. In den 1980er-Jahren waren sie mit der HIV-Krise konfrontiert, die durch injizierenden Drogenkonsum ausgelöst wurde. Seitdem haben einige europäische Städte Maßnahmen zur Schadensminderung eingeführt, um Helen Clark Pavel Bém die negativen Auswirkungen dieses Verhaltens – ob legal oder illegal –auf Vorsitz - Ehemalige Ehemaliger ein Mindestmaß zu begrenzen. Premierministerin Oberbürgermeister von Neuseeland von Prag 4
EMPFEHLUNGEN Die Städte sind die Verwaltungsebene, die von dem durch eine prohibitive Drogenpolitik verursachten Schaden am stärksten betroffen ist. Wir, die Mitglieder der Weltkommission für Drogenpolitik (einige von uns waren als Bürgermeister und Mitglieder kommunaler Parlamente tätig), vertreten die Auffassung, dass die Stadtverwaltungen auch die effizientesten Träger des Wandels im Kampf für einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten sind. Da bis 2050 68 % der Weltbevölkerung in den Städten leben werden 1 und dort zugleich eine größere Anzahl sozial gefährdeter Menschen konzentriert sein wird2, empfehlen wir die sofortige Annahme von Maßnahmen zur Verbesserung der städtischen Drogenpolitik. Die Städte und Kommunen müssen: eine lokale Drogenpolitik konzipieren und umsetzen, bei der die Ge- sicherstellen, dass die lokale und die kommunale Drogenpolitik kohä- sundheit und Sicherheit der Bewohner an erster Stelle steht rent sind und eine Plattform zur Einbeziehung aller Beteiligten bieten Die Städte und die kommunalen Regierungen und Parlamente verfügen Weder ein einzelner Bereich noch eine einzelne Disziplin ist imstande, alle über den rechtlichen Spielraum, um Pilotprojekte zur Behebung der durch Dimensionen der Drogenpolitik abzudecken. Sobald auf städtischer Ebe- problematischen Drogenkonsum bedingten gesundheitlichen Probleme ne eine Debatte über die Drogenkontrolle aufgenommen wird, sollten die auf den Weg zu bringen. Die Politikmaßnahmen sollten prioritär die Sicher- Bürgermeister alle Beteiligten an einen Tisch bringen: betroffene Familien, heit in den Wohnvierteln und die Gesundheit der Bevölkerung sowie das Strafverfolgungsbehörden, Staatsanwälte, Pädagogen, Menschen, die Dro- friedliche Zusammenleben in städtischen Umfeldern fördern. Gesundheit- gen konsumieren, kommunale Gesundheits- und Sozialarbeiter, Experten liche und soziale Interventionen, darunter faktengestützte Therapie-, Scha- und Vertreter der Zivilgesellschaft. Die Konsensbildung zwischen den ver- densminderungs- und Präventionsprogramme, verringern die Übertragung schiedenen Parteien und die Berücksichtigung der Belange jedes Einzelnen von HIV, Hepatitis und Tuberkulose. Zudem reduzieren sie Kleinkriminalität, als legitime und relevante Anliegen sind eine wichtige Voraussetzung für die Gewalt, Herabsetzung und Vertreibung von Gemeinschaften. Sie sind kos- Erarbeitung fundierter, effektiver und langfristiger drogenpolitischer Strate- teneffektiv und erfordern keine massive Neuausrichtung der kommunalen gien, die mit anderen öffentlichen Politikmaßnahmen auf lokaler Ebene im Ressourcen. Die Erhebung und Überwachung von Daten muss ein integra- Einklang stehen. ler Bestandteil der Pilotprojekte sein. sicherstellen, dass in der lokalen Drogenpolitik moderne Abschre- die Kontrolle über lokale Drogenmärkte übernehmen, indem sie den ckungsstrategien zum Einsatz kommen und gezielt die Verringerung Zugang zu derzeit illegalen Drogen gesetzlich regulieren der von illegalen Drogenmärkten ausgehenden Gewalt angegangen wird, um in den Städten ein friedliches Zusammenleben für alle zu Die Stadtverwaltungen und kommunalen Parlamente sollten die Möglich- ermöglichen. keit in Betracht ziehen, derzeit illegale Drogen versuchsweise innerhalb ihrer städtischen Gebiete zu regulieren. Diese Versuche sollten streng eva- Die Kommunal- und Stadtverwaltungen müssen akzeptieren, dass die Er- luiert werden, schrittweise erfolgen und inklusiv sein. Denkbar wären Pilot- wartung, den illegalen Drogenmarkt zu beseitigen, unrealistisch ist und projekte, zunächst mit Substanzen, die leichter kontrollierbar sind und zu dass langfristig weitaus bessere Strategien darin bestehen, diesen Markt zu denen bereits Erkenntnisse über die am besten geeignete Art der Regulie- steuern und zu kontrollieren, um sichere, widerstandsfähige und inklusive rung vorliegen, etwa Cannabis, oder mit Substanzen, die für medizinische Städte zu gewährleisten. Unterschiedslose repressive Maßnahmen müssen Behandlungen, z. B. Opioid-Agonisten-Therapien (Substitutionstherapien), durch gezielte, auf eine Verhaltensänderung gerichtete Eindämmungsstrate- verwendet werden. Sofern sie angemessen umgesetzt werden, könnten gien ersetzt werden, unter anderem indem der Verkauf illegaler Drogen von diese Pilotprojekte den Nachweis erbringen, dass es innerhalb einer Stadt sensiblen Bereichen wie Schulen oder Therapiezentren ferngehalten und an Alternativen zur Kontrolle von Drogen durch Repression gibt. andere Orte verlagert wird. Die Strafverfolgungsbehörden können die vom Drogenmarkt ausgehende Gewalt mit gezielten Interventionen reduzieren. Dazu müssen sie bei ihren Operationen einen proaktiven und analytischen Ansatz verfolgen, der auf Informationsbeschaffung und einem Verständnis der sozioökonomischen Verhältnisse im lokalen Kontext beruht und sich an den lokalen Bedürfnissen und verfügbaren Ressourcen orientiert. 5
STÄDTE UND DROGEN: SACHSTAND „Drogenpolitik ist immer lokal“ – so äußerte sich 2006 ein Experte zum The- Aus dieser Kluft heraus entsteht ein bis heute ungelöster Konflikt: Städte in ma Städte und Drogen.3 In der Frage, wie die Drogenpolitik angegangen aller Welt treten für Änderungen der Drogenpolitik ein, doch sind ihre Be- und umgesetzt werden soll, sind nicht die nationalen Regierungen, sondern fugnisse begrenzt, und ihr Handlungsspielraum hängt in hohem Maß vom die Stadtverwaltungen die wichtigsten Akteure und Entscheidungsträger. nationalen und internationalen Kontext ab. Allerdings setzt sich allmählich Historisch gesehen gehörten sie zu den ersten, die Schadensminderung die Erkenntnis durch, dass eine stärker lokal ausgerichtete Drogenpolitik, und ehrgeizigere Reformen der Drogengesetzgebung befürwortet haben. insbesondere auf kommunaler Ebene, wirksamer sein kann als wenn dies Dennoch, so stellte der Experte weiter fest, „sind die nationalen Regierun- auf nationaler Ebene erfolgt, da sie kulturellen Unterschieden, den sozialen gen im weltweiten Prohibitionssystem diejenigen, auf die es ankommt, Gegebenheiten und der Lokalpolitik besser Rechnung tragen kann.4 während die Stadtverwaltungen irrelevant sind, da die Vertragsparteien der internationalen Drogenabkommen und die Mitglieder des UN-[Drogenkon- Vor allem große Städte tragen häufig die Hauptlast der nationalen troll-]Systems die Mitgliedstaaten selbst sind.“ Drogenprobleme und der Folgen der nationalen Drogenpolitik. Die Städte haben mit Störungen der öffentlichen Ordnung, verursacht durch den Straßenhandel mit Drogen, mit Problemen im sozialen Bereich und TROTZ DER COVID-19-PANDEMIE HALTEN DIE STÄDTE IHRE SCHA- in der öffentlichen Gesundheit, bedingt durch einen problematischen DENSMINDERUNGSANGEBOTE AUFRECHT Drogenkonsum, und mit den hohen Kosten der Durchsetzung prohibitionistischer Drogengesetze zu kämpfen. Dieser Trend wird sich Weltweit betrachtet werden Schadensminderungsdienste vor weiter verstärken, denn bis 2050 werden 68 % der Weltbevölkerung in allem in städtischen Gebieten angeboten, in denen zahlreiche Städten leben5, wo sich eine größere Anzahl sozial gefährdeter Menschen Menschen in unmittelbarer räumlicher Nähe leben. Zwar hat konzentrieren wird6. New York beispielsweise verzeichnet einen hohen die COVID-19-Pandemie deutlich gemacht, dass die Städte in problematischen Konsum von Opioiden, wobei sich der „Anteil der Todesfälle der Lage sind, auf Herausforderungen zu reagieren, jedoch auch durch Drogenvergiftung aufgrund des Konsums von Opioidanalgetika tief verwurzelte Ungerechtigkeit, Ungleichheit und einen unein- zwischen 2000 und 2011 um 267 Prozent erhöht [hat]“.7 In Südafrika heitlichen Zugang zu den Angeboten zwischen Stadtteilen und weisen Kapstadt und die Provinz Westkap mit mehr als einem Drittel der Bevölkerungsgruppen zutage treten lassen. Drogendelikte landesweit die höchste Belastung durch Drogenkriminalität auf.8 In Shanghai sind Methamphetamine mittlerweile die am meisten Menschen, die Drogen injizieren, gelten in vielen Rechtsordnun- konsumierte Droge, ein Trend, der in ganz Ostasien zu beobachten ist.9 gen als gefährdet. In Lausanne (Schweiz) können Gesundheitsfach- kräfte daher seit Einführung der Beschränkungen Anfang 2020 Die Drogenpolitik ist mit zahlreichen anderen Politikbereichen verknüpft, diese Menschen zu Hause aufsuchen, um Substitutionstherapien darunter öffentliche Gesundheit, Sozialhilfe, Strafverfolgung, Stadtplanung anzuwenden.10 In Abidjan (Côte d’Ivoire) haben Gemeindemitar- und sozialer Zusammenhalt, um nur einige zu nennen. Die damit einher- beiter mit Unterstützung der lokalen Behörden trotz politischer In- gehenden Politikmaßnahmen beeinflussen sich gegenseitig und können, stabilität weiter Angebote zur Schadensminderung für Menschen, sofern sie nicht sorgfältig koordiniert werden, einander entgegenwirken. die Drogen konsumieren, erbracht.11 In Toronto (Kanada) wurden Große Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der Befugnisse und spezielle Kampagnen zur Prävention von COVID-19 eingeleitet. Kompetenzen ebenso wie der finanziellen und institutionellen Ressourcen, Hierbei werden Menschen, die Drogen injizieren, dazu aufgefor- mit denen die Stadtverwaltungen ausgestattet sind. Die meisten Städte dert, dies an eigens dafür eingerichteten Orten unter der Aufsicht genießen ein erhebliches Maß an Autonomie in der Sozial- und Gesund- von Gesundheits- und Sozialfachkräften zu tun.12 heitspolitik. Auf Fragen der Strafjustiz haben sie dagegen kaum Einfluss. Diese fallen in den Zuständigkeitsbereich der nationalen, bundesstaatli- Dank innovativer Ansätze dieser Art konnten die Folgen von CO- chen oder föderalen Behörden und unterliegen im Fall der Drogenpolitik VID-19 für Menschen, die Drogen konsumieren, abgemildert auch den Anforderungen, die sich aus internationalen Übereinkommen werden. Ihr Erfolg ist auch ein Indiz für das neuerliche Engage- über Drogenkontrolle ergeben. Einige Stadtverwaltungen verfügen über ment der städtischen Behörden und Sozialarbeiter. eigene Polizeibehörden, viele jedoch nicht. Einige stellen umfassende Ge- sundheits- und Sozialdienste bereit, während es anderen Städten in vielen Fällen, insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, an den dafür nötigen Mitteln mangelt. Einige nutzen ausgereifte Systeme für die Konsultation mit ihren Bewohnern, andere verfolgen eher einen hi- Es sollte in Betracht gezogen werden, Initiativen für eine erarchischen Ansatz. nachhaltige städtische Entwicklung zugunsten der von illegalen Aktivitäten im Zusammenhang mit Drogen Es ist nicht möglich, all diesen aufeinander einwirkenden Governance- betroffenen Personen zu erarbeiten, um die Beteiligung Variablen und Politikoptionen Rechnung zu tragen. Daher werden in diesem der Öffentlichkeit an der Verbrechensverhütung, den Positionspapier nur einige positive und innovative Beispiele beleuchtet. Zusammenhalt der Gemeinschaft, Schutz und Sicherheit Ziel ist es, lokale politische Entscheidungsträger, kommunale Beamte zu fördern und Anreize für Innovation, Unternehmertum und Sachbearbeiter – sowie besorgte Anwohner, Sozialaktivisten und und Beschäftigung zu schaffen. Menschen, die Drogen konsumieren – über die Möglichkeiten und Grenzen Operative Empfehlung zur Stärkung der internationalen der öffentlichen Drogenpolitik in den Städten zu informieren. Zwangsläufig Zusammenarbeit auf der Grundlage des Prinzips der stammen die Beispiele in der Regel aus Hocheinkommensländern in Europa gemeinsamen und geteilten Verantwortung, UNGASS 2016, und Nordamerika, deren Städte über mehr finanzielle Ressourcen, robustere Abschlussdokument „Our joint commitment to effectively addressing Institutionen und längere Erfahrung auf dem Gebiet der Stadtplanung, der and countering the world drug problem“. 6
öffentlichen Gesundheit und der sozialen Kontrolle verfügen. In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen ordnet sich die Drogenpolitik in STÄDTE, DIE DIE WELT VERÄNDERN: DAS NETZWERK C40 UND einen Kontext ein, in dem rasch wachsende Städte mit noch dringlicheren SEINE ERKLÄRUNG ÜBER SAUBERE BUSSE Problemen im Zusammenhang mit Armut und Entwicklung konfrontiert sind. Derzeit lebt etwa 1 Milliarde Menschen unter Slumbedingungen und 2016 unterzeichneten 26 der 96 Mitglieder des Städtenetzwerks ist ohne Zugang zu grundlegenden Diensten, etwa zu sauberem Wasser C40 unter Führung von London, Los Angeles und Paris die und sanitären Einrichtungen.13 Erklärung über saubere Busse, in der sie sich verpflichteten, ab 2025 nur noch emissionsfreie Busse einzusetzen. Die Erklärung International setzt sich zunehmend die Erkenntnis über die Bedeutung von ermöglichte es den Städten, ihre Fähigkeit zur Einflussnahme Städten in globalen Governance-Strukturen, den schweren Schaden, den auf die Wirtschaft zu messen, und erstreckte sich auf 140 illegale drogenbezogene Aktivitäten anrichten können, und das Potenzial Millionen Menschen sowie bis zu 800.000 Busse. einer entwicklungsorientierten Drogenpolitik zur Schadensminderung in Entwicklungsländern durch. Im Ergebnisdokument der Sondertagung der Durch diesen gemeinsamen Ansatz entstand ein potenzieller UN-Generalversammlung über das Weltdrogenproblem von April 2016 Markt, der Busherstellern Anreize für Investitionen in forderten die Staaten dazu auf, „die Erarbeitung von Initiativen für eine umweltfreundliche und elektrisch betriebene Busse und die nachhaltige Stadtentwicklung“ in Betracht zu ziehen, um „die Beteiligung Senkung der Kosten der Fahrzeuge für die Städte bot. London der Öffentlichkeit an der Verbrechensverhütung, den Zusammenhalt der etwa konnte neue E-Busse mit einem Preisnachlass von 10 Gemeinschaft, Schutz und Sicherheit zu fördern und Anreize für Innovation, Prozent bestellen. Unternehmertum und Beschäftigung zu schaffen“ und so den Folgen illegaler drogenbezogener Aktivitäten entgegenzuwirken.14 Derartige Initiativen stünden voll im Einklang mit dem Ziel 11 der UN-Nachhaltigkeitsziele: Städte inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten.15 Jede Stadt muss selbst ermitteln, wie sie eine effektive und innovative Drogenpolitik in einer Weise umsetzen kann, die ihren eigenen Realitäten, Befug- nissen, Kompetenzen und Ressourcen entspricht. Die Städte haben nur begrenzte formale Befugnisse, wenn es darum geht, bestimmte Kernaspekte der Drogenpolitik wie das Strafrecht zu gestalten und die organisierte Kriminalität und den internationalen Drogenhandel zu bekämpfen. Dennoch haben sie oft eine entscheidende Rolle beim Übergang von herkömmlichen strafrechtlichen Ansätzen zu einer effektiveren Schadensminderung und einer umfassen- deren Reform der Drogengesetzgebung gespielt und sind dabei oft deutlich weiter gegangen als die nationalen Regierungen. Diese wesentliche Rolle der Stadtverwaltungen ist unter anderem dadurch zu erklären, dass die gewählten Amtsträger in den Städten weitaus engeren Kontakt zu ihren Wählern haben als ihre Kollegen auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene. Stadtverwaltungen bevorzugen pragmatische Lösungen für ihre lokalen Probleme und vermeiden häufig eine vor allem von dogmatischem Denken und Parteilichkeit geprägte Politik. Dadurch können sie ein hohes Maß an Experimentierfreude und Flexibilität erreichen, was im nationalen Rahmen weniger oft der Fall ist. Angesichts der politischen Trägheit auf nationaler und internationaler Ebene haben sich oft innovative, auf Paradigmen der Schadensminderung beruhende lokale Lösungsansätze für den Umgang mit problematischem Drogenkonsum herausgebildet, die in den 1990er-Jahren als umstritten angese- hen wurden und politischen Widerstand hervorriefen, aufgrund dessen die Maßnahmen eingeschränkt oder sogar umgekehrt wurden. Dennoch bemühten sich die Städte um die Instrumente, Bündnisse und Befugnisse, die sie benötigten, um die repressive nationale Politik an die unmittelbaren Bedrohungen für ihre Bevölkerung anzupassen. Dieser Prozess der „Anpassung an den lokalen Kontext“ hat zu einer Politik beigetragen, die besser auf die ganz besonde- ren Bedürfnisse der Städte und lokalen Gemeinschaften zugeschnitten ist. Konsultation der Weltkommission zum Thema Städtische Drogenpolitik, öffentliche Sicherheit und Gesundheit, London, 9. September 2019. 7
In der Folge wurden diese politischen Innovationen von anderen Vorreiterstädten bei Notlagen aufgegriffen und umgesetzt und/oder an die lokalen Gegebenheiten angepasst. Diese Art der Politikdiffusion hält bis heute an. Politische Maßnahmen, die ursprünglich auf städtischer Ebene Kopenhagen ist oft tonangebend bei Themen, die das entwickelt wurden, finden Anklang bei nationalen Regierungen und werden nationale politische System noch nicht verstanden oder von ihnen übernommen. Das in den 1980er- und 1990er-Jahren erstmals mit denen es sich noch nicht befasst hat. So begann die von den Schweizer Stadtverwaltungen verfolgte „Vier-Säulen-Modell“ – Debatte über die Zulassung von Lebenspartnerschaften Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression – ist mittlerweile zwischen homosexuellen Paaren 1987 bei uns im Bestandteil der nationalen Politik und genießt international Anerkennung Rathaus, und das trotz des Widerstands der nationalen als Richtschnur für eine Neuausrichtung der Drogenpolitik.16 Das Modell, Politiker. Doch hielten wir unseren Druck aufrecht, und das bei seiner Einführung 1994 als politisch umstritten galt, dient heute als seit 1989 sind sie erlaubt. Ein weiteres Beispiel sind Inspiration für Städte und Länder, die nach wirksamen politischen Ansätzen Drogenabhängige, die gezwungen waren, ihre Drogen suchen. Das im Modell verankerte Prinzip der Schadensminderung auf der Straße oder in Treppenhäusern zu konsumieren. fand allmählich Rückhalt in der Schweizer Bevölkerung und wurde nach Zudem haben wir darauf gedrängt, dass die Stadträte immerhin fast einem Jahrzehnt 2003 von der Weltgesundheitsorganisation sichere Injektionsräume einrichten dürfen, und in (WHO) und 2008 von der Europäischen Union (EU) anerkannt.17 diesem Jahr wurde in Kopenhagen der erste von einem Stadtrat betriebene legale Injektionsraum eröffnet. Die teilweise Übernahme des Konzepts der Schadensminderung in Iran Frank Jensen, Oberbürgermeister von Kopenhagen, und in China in den vergangenen 20 Jahren verdeutlicht, wie diese von Dänemark, 2012 unten nach oben verlaufenden Reformprozesse allmählich in eine Reform von oben nach unten übergehen. Unabhängig davon, ob sich politische Neuerungen nun horizontal zwischen Städten oder durch eine Aufwärts- und eine anschließende Abwärtsbewegung ausbreiten, die internationale Gremien im Bereich Drogenpolitik, Nationalstaaten oder andere Regierungsebenen erfasst, spielt die wahrnehmbare Überzeugungsarbeit der Städte eine zentrale Rolle bei der Umgestaltung des politischen Umfelds und dem Wandel der öffentlichen Meinung. Die Städte können somit als „politische Labore“ und Katalysatoren für Reformen jenseits ihrer eigenen Grenzen fungieren.18 DIE ERKLÄRUNG VON PRAG: SIEBEN KOMMUNALE GRUNDSÄTZE FÜR DIE STÄDTISCHE DROGENPOLITIK 2010 legte eine Gruppe europäischer Bürgermeister unter der Leitung von Pavel Bém, zum damaligen Zeitpunkt Oberbürgermeister von Prag und heute Mitglied der Weltkommission, die Drogenpolitik der Städte in der sogenannten „Erklärung von Prag“ dar.19 In der Erklärung wird festgestellt, dass „die lokale/kommunale/städtische Drogenpolitik sich am unmittelbarsten auf die Drogensituation auswirkt“20. Zudem werden darin sieben Grundprinzipien für eine wirksame lokale Drogenpolitik aufgestellt: 1. Es gibt keine pauschale Lösung – die Drogenpolitik muss an den lokalen Kontext angepasst werden. 2. Realitätsnähe ist entscheidend – das Ziel einer drogenfreien Welt ist unrealistisch und schädlich. 3. Menschenrechte gelten insbesondere für Kranke – Drogenabhängigkeit ist eine chronische Krankheit, und wer daran leidet, sollte nicht kriminalisiert oder seiner Menschenrechte beraubt werden. 4. Belange der öffentlichen Gesundheit und der öffentlichen Sicherheit dürfen nicht als Widerspruch angesehen werden – Schadensminderung ist keine Kompromisslösung, denn sowohl beim Gesundheits- als auch beim Sicherheitsansatz geht es um Schadensminderung. 5. Entscheidungen müssen immer faktengestützt sein – alle Entscheidungen müssen wissenschaftlich, nicht nur ideologisch begründet sein. 6. Evaluierung und Überwachung – um kontinuierliche Verbesserungen zu ermöglichen, sollte die Überwachung ein wesentliches Element der Programme sein, und die Daten sollten auf lokaler Ebene aufgeschlüsselt werden. 7. Ein konstanter und ständig verbesserter Informationsfluss zwischen der lokalen, der nationalen und der internationalen Ebene der Drogenpolitik durch eine gemeinsame Stimme – die nationale und die internationale Politik müssen auf lokalen Erfahrungen beruhen.21 Im Bereich der Drogenpolitik zeugen diese Prinzipien von einem wachsenden Bestand an internationalen wissenschaftlichen Arbeiten und politischen Konzepten, in denen die entscheidende Rolle von Städten als Governance-Räumen hervorgehoben wird. In der 2014 vom Ausschuss der Regionen der Europäischen Union verabschiedeten Charta der Multi-Level-Governance heißt es wie folgt: „Keine Ebene [der Governance] kann die bevorstehenden Herausforderungen im Alleingang bewältigen“. Mit der Charta „sollen Regionen und Städte in ganz Europa miteinander verbunden (...) werden“.22 8
KOHÄRENZ UND FLEXIBILITÄT DER POLITIK: ANPASSUNG AN DEN LOKALEN KONTEXT Nach dem Prinzip der Subsidiarität in der Governance müssen die Probleme, die Städte und menschliche Siedlungen betreffen, auf der Instanzenebene angegangen werden, die den Wählern am nächsten ist, etwa den Stadtverwaltungen und den kommunalen Regierungen und Parlamenten. Aufgrund von Kompetenzüberschneidungen ist die Gestaltung der Drogenpolitik jedoch sehr komplex. In die Bereiche, die den Konsum und die Regulierung von Drogen in den Städten betreffen, können verschiedene Regierungsebenen sowie unterschiedliche Agenturen, Gremien, Regulierungsbehörden und Dienststellen einbezogen sein. Die „Anpassung an den lokalen Kontext“ kann einen Handlungsrahmen bieten, in dem die zur Unterstützung bereiten Staaten die Beiträge der Städte zur Politikentwicklung in Konzepte fassen und legitimieren und die Städte Multi-Akteur-Plattformen zur Koordinierung vor Ort einrichten können. In diesem Handlungsrahmen müssen Kohärenz und Flexibilität der Politik in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Wird der Schwerpunkt zu sehr auf die Rolle der Strafgesetzgebung und anderer Kompetenzen auf nationaler Ebene gesetzt, fühlen sich lokale Entscheidungsträger möglicherweise durch eine restriktive Politik eingeengt und außer Stande, den komplexen Bedürfnissen ihrer Bürger zu entsprechen. Fehlt ein kohärenter übergeordneter Handlungsrahmen, kann dies den Boden für eine lokale Politik bereiten, die für die Bürger verwirrend ist und Lücken, Unklarheiten und „graue Märkten“ entstehen lässt. Die Städte bringen ihre Erfahrungen ein, die sie bei ihren häufig erfolgreichen Bemühungen um die Umgestaltung repressiver Drogenkontrollsysteme und die Einführung von Schadensminderungsstrategien gewonnen haben. Das Netzwerk European Cities on Drug Policy sowie andere Organisationen und Bündnisse haben den lokalen Regierungen ein Gefühl für ihre eigenen Kapazitäten und ihr legitimes Interesse an der Umgestaltung der Drogenpolitik vermittelt. Wie die Geschichte der Schadensminderung und weiterer politischer Innovationen allerdings zeigt, waren die Beziehungen zu anderen Regierungsebenen nicht immer von Solidarität geprägt. In mehreren Ländern haben sich Gruppen von Städten „horizontal“ zusammengeschlossen und waren dadurch in einer stärkeren Position, ihre Flexibilität und Möglichkeiten so auszuhandeln, dass sie von den nationalen Regierungen toleriert und anerkannt werden. Indem die Städte nationale oder internationale Netzwerke bilden, können sie bewährte Praktiken austauschen, Faktensammlung betreiben, gemeinsame Programme der politischen Überzeugungsarbeit auf den Weg bringen, ihren Stimmen eine größere Reichweite verschaffen und angesichts der Zögerlichkeit anderer Regierungsebenen auf politische Reformen drängen. Ein an der Entwicklung der bahnbrechenden Drogenstrategie von Vancouver (Kanada) beteiligter Amtsträger untersuchte die Kräfte, die radikale Reformen in der Stadt möglich machten. Seiner Argumentation zufolge wurde die Stadt in der Strategie aufgefordert, verschiedene traditionelle und legitime Rollen der Kommunen wahrzunehmen: als Anbieter von Unterstützung für gefährdete Bevölkerungsgruppen als Vermittler von Dienstleistungen als Vermittler beim Aufbau von Kapazitäten als Vermittler bei der Kommunikation und dem Dialog als Fürsprecher als Regulierungsinstanz und als Vorbild23 Die Maßnahmen, mit denen die Städte innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs die Krise im Zusammenhang mit injizierbaren Drogen in Angriff nehmen, können radikal wirken und sie in eine Position bringen, in der sie sich den politischen Vorgaben anderer Regierungsebenen entgegenstellen oder ihnen zuwiderhandeln müssen. Hervorzuheben ist allerdings, dass sich diese Maßnahmen auf die in den Städten bereits vorhandenen Kernkapazitäten und -verantwortlichkeiten stützen, die von der Betreuung gefährdeter Bürger über das Aushandeln von für alle Seiten vorteilhaften Lösungen zwischen Bewohnern mit widerstreitenden Interessen bis hin zur Erprobung neuer Ansätze und der Zusammenarbeit mit anderen Regierungsebenen reichen. Ruth Dreifuss, Mitglied der Weltkommision, und Svante Myrick, Bürgermeister von Ithaca (NY, USA) erörtern den Ithaca-Plan zur Reform der Drogenpolitik, November 2016. 9
INNOVATIVE STÄDTISCHE DROGENPOLITIK: VOM RAND IN DEN MAINSTREAM HISTORISCHE BEISPIELE FÜR STÄDTISCHE INNOVATIONEN In aller Welt wird die nationale Drogenpolitik bislang vor dem Hintergrund eines globalen Prohibitionsregimes formuliert, das durch das Einheits-Übereinkommen von 1961 über Suchtstoffe und das Übereinkommen von 1971 über psychotrope Stoffe geschaffen wurde. Diese Übereinkommen der Vereinten Nationen (UN) schränkten die Verfügbarkeit von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen ein, indem sie ihre Verwendung allein für medizinische und wissenschaftliche ALS NEW YORK DER WELT BEI CANNABIS UM JAHRZEHNTE Zwecke gestatteten und darauf abzielten, ihre Umleitung in illegale VORAUS WAR Kanäle zu verhindern. Mit dem UN-Übereinkommen von 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen wurden die Eines der ersten Beispiele für eine Stadt, die versuchte, einen von der Verpflichtungen der Länder, strafrechtliche Sanktionen zur Bekämpfung aller nationalen Drogenpolitik abweichenden Ansatz zu verfolgen, war New Aspekte der illegalen Herstellung, des illegalen Besitzes und des illegalen York unter dem beliebten und unkonventionellen dreimaligen Bürger- Handels mit Drogen anzuwenden, erheblich verstärkt. meister Fiorello LaGuardia (1934–45). LaGuardia hatte sich offen gegen die Alkoholprohibition in den Vereinigten Staaten (1920–33) ausge- Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass dieses internationale sprochen. Er war nicht überzeugt von der wachsenden Medienhysterie Regime zu starr ist, um den Städten eine flexible und lokal angesiedelte um Cannabis, wie sie der Film Reefer Madness von 1936 verkörperte, Reaktion zu ermöglichen, und den komplexen und vielfältigen und hielt das Marihuana-Steuergesetz von 1937, das zum Verbot der Situationen vor Ort nicht Rechnung trägt.24 Stattdessen kommen die Substanz in den Vereinigten Staaten führte, nicht für klug.26 angemessensten, am stärksten bedarfsorientierten und effektivsten Ansätze bislang aus der entgegengesetzten Richtung. Zahlreiche innovative 1938 setzte LaGuardia den LaGuardia-Ausschuss für Marihuana mit und anfangs umstrittene Initiativen werden zunächst von Aktivisten und dem Auftrag ein, eine klinische Untersuchung zu den Auswirkungen Dienstleistungserbringern im ehrenamtlichen und kommunalen Bereich, von Cannabis sowie eine soziologische Erhebung zum Cannabis-Kon- darunter von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGO, sum in der Stadt durchzuführen und so „die maßgeblichen Fakten entwickelt oder erprobt, bevor sie von den lokalen Behörden übernommen zu dieser Form der Drogenabhängigkeit und der Notwendigkeit ihrer und schließlich als bewährte und genehmigte Interventionen auf nationaler Kontrolle“ zu ermitteln. 1944 legte der Ausschuss seine Erkenntnis- Ebene eingeführt werden.25 Letztlich können sie sogar auf internationaler se vor. The Marihuana Problem in the City of New York war eine der Ebene vom UN-Drogenkontrollsystem akzeptiert werden, wie es bei den ersten Studien, in denen die auf Betreiben von Harry Anslinger, dem Angeboten zur Schadensminderung der Fall war. Leiter des Federal Bureau of Narcotics (FBN), eingeführte Canna- bis-Prohibition infrage gestellt wurde. Anslinger wurde später einer Insbesondere in Australien, Europa und Nordamerika rückte die Fähigkeit der Hauptarchitekten der weltweiten Drogenprohibition nach dem der Städte, sich als Labore der Schadensminderung zu betätigen, in Zweiten Weltkrieg. Die Ergebnisse des Berichts bestätigten LaGuardi- den Vordergrund, und zwar als Reaktion auf die Krise, die durch den as anfängliche Vermutungen, dass es in New York keine gravierenden injizierenden Drogenkonsum in Kombination mit der HIV/Aids-Epidemie Probleme im Zusammenhang mit Cannabis gab. Zudem wurde fest- ab Mitte der 1980er-Jahre ausgelöst wurde. Diese wegweisenden Beispiele gestellt, dass die Substanz weder süchtig machte noch einen Kausal- und die organisierte Überzeugungsarbeit der Städte trugen maßgeblich zusammenhang mit delinquentem Verhalten aufwies.27 dazu bei, dass innovative Maßnahmen „vom Rand in den Mainstream“ der nationalen und internationalen Drogenpolitik gelangten.29 Das FBN, dessen Auftrag in der Kontrolle von Drogen mit strafrechtli- chen Mitteln bestand, konnte LaGuardia und andere Gegner der Pro- Anfang der 1990er-Jahre propagierte das Netzwerk European Cities on hibition von der Umsetzung der Ergebnisse der Studie und möglichen Drug Policy, in dem zunächst deutsche, niederländische und schweizerische Reformen abhalten. Nachfolgende Studien zu den Auswirkungen von Städte vertreten waren, für neue und zum damaligen Zeitpunkt kontroverse Cannabis, die insbesondere in den 1970er-Jahren von mehreren na- Initiativen. 2001 lieferte das Netzwerk eine aufschlussreiche Erklärung für tionalen Kommissionen durchgeführt wurden, bestätigten viele der die Dynamik der Drogenpolitik in den Städten: Ergebnisse des Berichts des LaGuardia-Ausschusses.28 „Die Städte erleben soziale Phänomene und die im Zusammenhang damit auftretenden Spannungen unmittelbar. Zugleich sind sie aber auch der Ort, an dem ein wahrer sozialer Dialog entstehen und auf die Verhältnisse einwirken kann, die alle Bürger der Gemeinschaft täglich mehr oder weniger direkt betreffen. Daher sind lokale Ansät- ze vor allem wegen ihrer Problemnähe und deshalb wichtig, weil die Antworten unmittelbar umgesetzt, erlebt und verstanden werden können. Zudem lassen sich finanzielle und personelle Ressourcen auf lokaler Ebene rascher und effektiver einsetzen – ein Argument, das immer mehr an Bedeutung gewinnt, da auch für die Drogenpolitik zu- nehmend das Gebot der „Kostenwirksamkeit“ gilt und die gewaltigen Der Letten in Zürich, damals die größte offene Drogenszene der Welt lokalen Budgets, die in den frühen 1990er-Jahren für diesen Bereich © Martin Rütschi / Keystone bereitgestellt wurden, mittlerweile gekürzt oder umverteilt werden."30 10
Die Reaktion des öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber Menschen, die Drogen injizieren, und der Ausbreitung von HIV Anfang der 1980er-Jahre ging eher von den Stadtverwaltungen, die mit Aktivisten und nichtstaatlichen Organisationen zusammenarbeiteten, und zwar zunächst von Liverpool und Amsterdam, als von den nationalen Regierungen der betreffenden Länder (Vereinigtes Königreich und Niederlande) aus.31 Viele westeuropäische Städte verzeichneten einen beträchtlichen Anstieg der Zahl von Menschen, die sich Drogen, hauptsächlich Heroin, injizierten, häufig konzentriert in offenen Drogenszenen. Die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung stieg an, andere Infektionskrankheiten wie Hepatitis und Tuberkulose breiteten sich aus, DER FRANKFURTER WEG und die Straßenkriminalität (Drogenhandel auf der Straße, Raubüberfälle, Auto- und Wohnungseinbrüche) nahm zu. In ihrem Zusammenspiel stellten In den 1980er-Jahren gab es in Frankfurt eine große offene Dro- diese Faktoren eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit genszene rund um die Taunusanlage in der Nähe des Hauptbahnhofs. und Sicherheit dar.32, 33 Zwischen 1985 und 1995 erhöhte sich die Zahl In diesem offenen Umfeld bestanden gehäuft erhebliche gesundheit- der Todesfälle durch Überdosierung in 15 EU-Mitgliedstaaten um 150 %, liche Risiken, unter anderem bedingt durch hohe Raten von HIV- und hauptsächlich bedingt durch das Injizieren von Heroin. Im Dezember 1995 Hepatitis-Infektionen und Todesfälle durch Überdosierung. Ebenso waren mehr als 40 % der in Europa gemeldeten kumulativen Aids-Fälle auf wie in anderen europäischen Städten reagierte die Polizei zunächst die Injektion von Drogen zurückzuführen.34 mit regelmäßigen Razzien, die bestenfalls zu einer vorübergehenden Verlagerung der Szene führten. Ab Ende der 1980er-Jahren verfolgte Die anfängliche Reaktion, die darin bestand, diese offenen Drogenszenen die Stadt als erste einen neuen Ansatz, der als „Frankfurter Weg“ be- durch traditionelle repressive Maßnahmen und Schikane aufzulösen, kannt wurde.37 erwies sich als unwirksam. Allmählich wurde ein neuer Ansatz entwickelt: Viele Städte reagierten mit einer Kombination aus Präventions-, Ein zentrales Element dieses neuen Konzepts war die Einrichtung Repressions-, Schadensminderungs- und Therapiemaßnahmen. eines Koordinierungsausschusses im Jahr 1987 und eines Drogenre- Es bildeten sich Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den ferats im Jahr 1989. Diese ämterübergreifende, als „Frankfurter Mon- Gesundheitsdiensten, den Sozialdiensten und der Polizei heraus. tagsrunde“ bekannte Gruppe, die alle zwei Monate zusammentrat, Leicht zugängliche, „niedrigschwellige“ Angebote – mit minimalen wurde vom Oberbürgermeister eingesetzt, um Experten für Drogen- Anforderungen, z. B. ohne den Versuch, die Einnahme von Drogen fragen zusammenzubringen und eine Abstimmung der Politik und bei den Konsumierenden zu kontrollieren – wurden mit dem Ziel Praxis zwischen dem Magistrat, der Polizei, der Staatsanwaltschaft, bereitgestellt, die offenen Drogenszenen zu beseitigen. Dabei handelte dem städtischen Drogenreferat und Vertretern der lokalen Drogenhil- es sich insbesondere um Nadel- und Spritzenprogramme sowie Opioid- fe zu ermöglichen.38 Substitutionstherapien. Diese Maßnahmen wurden um andere Angebote zur Schadensminderung ausgeweitet, etwa die soziale Integration über Mit dieser Struktur konnte die Einführung einer breiten Palette von Wohn- und Arbeitsprogramme, Einrichtungen für sicheren Konsum und Interventionen zur Schadensminderung koordiniert und erleichtert heroingestützte Behandlung.35 Eine Studie über die Maßnahmen in fünf werden. Niedrigschwellige Methadonambulanzen und Fachstellen europäischen Städten – Amsterdam, Frankfurt, Lissabon, Wien und Zürich (Drop-Ins) wurden dezentralisiert und ausgeweitet, und es wurden – gelangte zu folgendem Schluss: überwachte Injektionsräume eingerichtet, der erste 1994 und drei weitere 1996. Im Laufe der Jahre passte die Stadt ihre Drogenpolitik weiter an, um neue Herausforderungen wie Crack zu meistern und „Diese Maßnahmen stützten sich auf eine grundsätzliche Akzeptanz Schwachstellen des ursprünglichen Ansatzes zu beheben, beispiels- von Drogenkonsumierenden, einschließlich derjenigen, die nicht weise durch die Bereitstellung von mehr Wohnraum und anderen willens oder in der Lage waren, den Konsum illegaler Drogen Unterstützungsdiensten.39 einzustellen, wenn auch in Verbindung mit einer Politik, die die Fortsetzung destruktiver Verhaltensweisen in Form von öffentlichen Das Frankfurter Modell soll einen Ausgleich zwischen den Bedürf- Ärgernissen nicht zuließ. Die Städte etablierten eine Politik der nissen und Interessen der Menschen, die Drogen konsumieren, und „Null-Toleranz“ gegenüber öffentlichen Ärgernissen, bemühten sich denen der Gesellschaft allgemein schaffen und setzt zu diesem Zweck aber dennoch um Aussöhnung und erarbeiteten Ansätze für eine auf eine enge Zusammenarbeit mit der städtischen Polizei und eine „Koexistenz“ zwischen der Gesellschaft und den Konsumierenden Politik der „Null-Toleranz gegenüber öffentlichen Ärgernissen“.40 Der illegaler Substanzen. Dies trug dazu bei, unfruchtbare Kontroversen Ansatz hat die Politik in vielen Städten in Europa und weltweit geprägt zwischen liberalen und konservativen Ideologien und Politikkonzepten und dürfte eine Schlüsselrolle dabei gespielt haben, die offene Dro- zu beenden. Die Lösungen sind in einer geeigneten Kombination von genszene in Frankfurt unter Kontrolle zu bekommen. Auf diese Weise Schadensminderungs- und restriktiven Maßnahmen zu finden.“36 war es möglich, wichtige Zugewinne im Bereich der öffentlichen Ge- sundheit zu erzielen, Leben zu retten und die öffentliche Sicherheit zu erhöhen.41 In vielen Städten beruhte der Prozess der politischen Innovation auf einem Ansatz, der in Spanien mit „lieber um Verzeihung bitten als um Erlaubnis“ beschrieben wird. Einige öffentliche Amtsträger und Aktivisten, die sich durch den Rückhalt in einem bestimmten Teil ihrer Wähler bestärkt fühlen, betreiben eine rechtlich riskante Politik, anstatt sich um die Zustimmung anderer Regierungsebenen zu bemühen und von vornherein eine Absage zu riskieren. Viele Städte in Europa haben mit dieser Strategie vollendete Tatsachen geschaffen, was der Strategie zivilgesellschaftlicher Gruppen entspricht, die umstrittene Dienste – etwa überwachte Konsumeinrichtungen – in Form von Notfallmaßnahmen bereitstellen, anstatt darauf zu warten, dass Unterstützung auf städtischer Ebene gewährt wird. 11
AUSGLEICH GEGENSÄTZLICHER BÜRGERINTERESSEN AUF LOKALER EBENE Wenn lokale Behörden aktiv wurden, geschah dies allerdings nicht immer aus eigenem Antrieb. Oft wurden unorthodoxe Maßnahmen zur Krisenbe- wältigung durch zivilen Ungehorsam gefördert. In den 1980er-Jahren etwa spielte der Junkiebond (ein Verband, der die Interessen von Drogenkon- Ich verfolge einen fortschrittlichen Ansatz, der die Menschen- sumierenden vertritt) in Amsterdam und Rotterdam eine Vorreiterrolle in rechte achtet und keine Hemmschwellen aufweist: Deshalb Bezug auf den Spritzentausch und ein höchst unkonventionelles „niedrig- hat Paris aktiv an der Umsetzung des Plans zur Bekämpfung schwelliges“ Methadonprogramm, das statt auf Abstinenz auf Stabilisie- von Crack, auch als „Anti-Crack-Plan“ bekannt, mitgewirkt. rung und Schadensminderung setzte. Diese Innovationen wurden darauf- Uns geht es nicht darum, Menschen, die Crack konsumie- hin in beiden Städten vom städtischen Gesundheitsdienst und vom lokalen ren, zu bekämpfen, sondern ihnen zu helfen, indem wir die Gesundheitsamt übernommen.42 In Liverpool und im Großraum Merseysi- Schadensminderung so finanzieren, dass sie sich als konkrete de kamen ähnliche Guerilla-Taktiken zum Zuge.43 Auch in Australien war für Politik etabliert. Wir müssen eng mit den NGO zusammenar- das erste Nadel- und Spritzenprogramm Sydneys und das erste medizinisch beiten, ihnen Gehör schenken und vor allem stärkere Partner- überwachte Injektionszentrum, die beide zum Zeitpunkt ihrer Gründung schaften mit anderen Städten aufbauen. (1986 bzw. 1999) noch illegal waren, „tolerierter“ ziviler Ungehorsam er- Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, 2020 forderlich.44 SICHERE KONSUMEINRICHTUNG IN PARIS In Frankreich werden seit den 1990er-Jahren neben Nadel- und Spritzenprogrammen auch Opioid-Substitutionstherapien ange- boten.45 Schadensminderungsmaßnahmen werden jedoch nach wie vor kontrovers diskutiert, insbesondere Einrichtungen für den sicheren Konsum. Die öffentliche Meinung zu den „Druckstuben“ („salles de shoot“), wie sie vor Ort bezeichnet werden, scheint seit Langem geteilt. Politiker haben Befürchtungen geäußert, dass mit diesen Angeboten der Drogenkonsum offenbar stillschweigend geduldet oder möglicherweise das Injizieren von Drogen befeuert wird.46 Trotz des wissenschaftlichen Konsenses darüber, dass sichere Spritzentausch 1988. © San Francisco AIDS Foundation Konsumeinrichtungen sich eher positiv als negativ auf die lokalen offenen Drogenszenen auswirken47, hat der anhaltende Widerstand Die Stadtverwaltungen haben auch mit Reaktionen verärgerter Anwohnern von Anwohnern und Verfechtern einer drogenfreien Gesellschaft nach dem Motto „Nicht in meinem Vorgarten“ zu kämpfen, die Interventionen Versuche behindert, solche Einrichtungen in Paris zu etablieren. zur Schadensminderung ebenso förderlich wie hinderlich sein können. In den Schweizer Städten Zürich und Bern wurden Drogenkonsumräume unter ande- Die erste Einrichtung für den überwachten Konsum – ein sechsjäh- rem aufgrund der weit verbreiteten Unzufriedenheit der Bürger mit den offe- riges Pilotprojekt – wurde 2016 in der Nähe der Gare du Nord, des nen Drogenszenen eingerichtet. Die Reaktionen der Anwohner bezogen sich größten Bahnhofs Europas, eröffnet, der bekannt ist für seine nahe- auf die Nebeneffekte des Drogenkonsums, darunter Kriminalität, Ladendieb- gelegene offene Drogenszene und für Kleinkriminalität.48 Sie bietet stähle, Raubüberfälle und Einbrüche, die Präsenz schwerkranker Menschen auf einen geschützten Raum sowie niedrigschwellige Therapie- und Be- der Straße und Todesfälle, zu denen es trotz aufsuchender Gesundheitsarbeit ratungsangebote für Menschen, die Drogen injizieren.49 immer wieder kam – vor allem am berüchtigten Platzspitz im Zentrum von Zü- rich, der als „Needle Park“ bekannt wurde.50,51 Zugleich lehnen Anwohner mitunter Interventionen wie die Einrichtung siche- rer Konsumorte ab, weil sie befürchten, dass dadurch die öffentliche Ordnung gestört wird. Solche Schadensminderungsmaßnahmen sind jedoch unerläss- Die Drogenpolitik sollte auf Schadensminderung bei Men- lich, weshalb ihre Erfolge publik gemacht und ihre Defizite behoben werden schen, die Drogen konsumieren, setzen, anstatt die mit müssen, damit sie Unterstützung finden und weniger Widerstand hervorrufen. der Kriminalisierung des Drogenkonsums verbundene Stigmatisierung zu verstärken. Dank der Ausweitung der Diese Form des Ausgleichs gegensätzlicher Bürgerinteressen, die ein Mitein- Schadensminderungsangebote in Lissabon und in Portugal ander im städtischen Raum ermöglicht, ist eines der Markenzeichen der kom- konnte die Zahl neuer HIV-Fälle bei Menschen, die Drogen munalen Politik. Während der Heroinkrise hatten die Städte es auf der einen injizieren, deutlich gesenkt werden. Seite mit Verbänden von Menschen, die Drogen konsumieren, ihren Familien, Fernando Medina, Bürgermeister von Lissabon, 2020 Reformern der Drogenpolitik und Verfechtern der Schadensminderung zu tun. Auf der anderen Seite drohten wütende Anwohner, die sich vom Ärgernis „ge- duldeter“ offener Drogenszenen gestört fühlten, mitunter damit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und zwar mit Unterstützung von Befürwortern einer konservativen Drogenpolitik, deren Angebote sich auf Abstinenzprogramme beschränkten.52, 53 12
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