DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN - POSITIONSPAPIER - The Global ...

 
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POSITIONSPAPIER

DROGENPOLITIK
IN DEN STÄDTEN

                  1
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LOUISE ARBOUR                         PAVEL BÉM                              RICHARD BRANSON                           FERNANDO HENRIQUE                              MARIA CATTAUI
Ehemalige UN-Hochkommissarin       Ehemaliger Oberbürgermeister         Unternehmer, Gründer der Virgin Group,                    CARDOSO                           Ehemalige Generalsekretärin der
  für Menschenrechte, Kanada       von Prag, Tschechische Republik              Vereinigtes Königreich                  Ehemaliger Präsident von Brasilien          Internationalen Handelskammer,
                                                                                                                                ( Ehrenvorsitz )                                Schweiz

       HELEN CLARK                          NICK CLEGG                                RUTH DREIFUSS                          MOHAMED ELBARADEI                               GEOFF GALLOP
 Ehemalige Premierministerin        Ehemaliger stellvertretender               Ehemalige Bundesrätin und           Ehemaliger Generaldirektor der      Ehemaliger Premierminister des
      von Neuseeland                Premierminister, Vereinigtes             Präsidentin der Schweizerischen Internationalen Atomenergie-Organisation,   Bundesstaats West Australia
          ( Vorsitz )                       Königreich                              Eidgenossenschaft                         Ägypten

      CÉSAR GAVIRIA                       ANAND GROVER                           MICHEL KAZATCHKINE                      ALEKSANDER KWASNIEWSKI                             RICARDO LAGOS
    Ehemaliger Präsident         Ehemaliger UN-Sonderberichterstatter Ehemaliger geschäftsführender Direktor des                Ehemaliger Präsident                      Ehemaliger Präsident
      von Kolumbien               für das Recht auf Gesundheit, Indien Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids,                      von Polen                                 von Chile
                                                                          Tuberkulose und Malaria, Frankreich

  KGALEMA MOTLANTHE                   OLUSEGUN OBASANJO                          GEORGE PAPANDREOU                             JOSÉ RAMOS-HORTA                            JORGE SAMPAIO
    Ehemaliger Präsident                Ehemaliger Präsident                   Ehemaliger Ministerpräsident                     Ehemaliger Präsident                      Ehemaliger Präsident
       von Südafrika                        von Nigeria                            von Griechenland                                von Osttimor                              von Portugal

  JUAN MANUEL SANTOS                      JAVIER SOLANA                              CASSAM UTEEM                             MARIO VARGAS LLOSA                           ERNESTO ZEDILLO
    Ehemaliger Präsident          Ehemaliger Hoher Vertreter für die                Ehemaliger Präsident                 Schriftsteller und Intellektueller,              Ehemaliger Präsident
      von Kolumbien            Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik                von Mauritius                                     Peru                                 von Mexiko
                                (GASP) der Europäischen Union, Spanien

 http://www.globalcommissionondrugs.org/                  https://www.facebook.com/globalcommissionondrugs/   https://twitter.com/globalcdp   https://www.youtube.com/c/GlobalCommissiononDrugPolicy
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DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN

INHALT

VORWORT                                                                      4

STÄDTE UND DROGEN: SACHSTAND                                                 6

INNOVATIVE STÄDTISCHE DROGENPOLITIK: VOM RAND IN DEN MAINSTREAM              10
    HISTORISCHE BEISPIELE FÜR STÄDTISCHE INNOVATIONEN                        10
    AUSGLEICH GEGENSÄTZLICHER BÜRGERINTERESSEN AUF LOKALER EBENE             12
    BÜNDNISSE UND WISSENSAUSTAUSCH ZWISCHEN STÄDTEN                          13
    VON EUROPA NACH NORDAMERIKA UND DARÜBER HINAUS                           14

STÄDTISCHE PROBLEME IM ZUSAMMENHANG MIT DROGEN:
SICHERHEIT, GEWALT UND STRAFVERFOLGUNG                                       15
    GEWALT UND ILLEGALE DROGEN IN DEN STÄDTEN                                15
    STRAFVERFOLGUNG UND SICHERHEIT                                           16
    WOHLBEFINDEN DER BÜRGER, ÖFFENTLICHE GESUNDHEIT UND SOZIALE WIDERSTAND
    FÄHIGKEIT IN DEN STÄDTEN                                                 17

STÄDTISCHE DROGENMÄRKTE: WEGE ZUR LOKALEN REGULIERUNG VON CANNABIS 19

EMPFEHLUNGEN                                                                 21

STÄDTEPROFILE UND POLITISCHE ANTWORTEN                                       22

LITERATURNACHWEIS                                                            31
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VORWORT
Im vergangenen Jahrzehnt wurden bei der Reform der Drogenpolitik auf          Heute vollziehen sich in Städten in aller Welt politische Innovationen, und
internationaler, regionaler und nationaler Ebene beispiellose Fortschritte    zwar nicht nur in Ländern mit hohem Einkommen, sondern zunehmend
erzielt. Wir als Mitglieder der Weltkommission für Drogenpolitik haben        auch im Rahmen der Programme und Initiativen kommunaler Einrichtun-
mehrere dieser Veränderungen miterlebt und begleitet. 2016 nahm die           gen in Lateinamerika und der Karibik, in Nordafrika und in Subsahara-Afrika.
Sondertagung der UN-Generalversammlung über das Weltdrogenproblem
ein Ergebnisdokument an, mit dem eine Umsteuerung der Drogenkontrolle         Als Mitglieder der Weltkommission für Drogenpolitik wissen wir, dass die
auf eine ausgewogenere Politik angestrebt wird. 2019 verabschiedete das       Städte selbst dann eine entscheidende Rolle spielen, wenn auf nationaler
UN-System einen gemeinsamen Standpunkt zu Drogenfragen. Einige                Ebene Drogengesetze mit Strafandrohung verabschiedet werden. Wir
Länder haben erste Schritte zur gesetzlichen Regulierung einiger Drogen       wissen, dass die Städte Möglichkeiten haben, den durch eine repressive
unternommen. Parallel dazu erhält die Entkriminalisierung des Besitzes        Drogenkontrolle bedingten Problemen zu begegnen, unter anderem
geringer Drogenmengen für den persönlichen Gebrauch allmählich weltweit       indem sie das Vertrauen der Bevölkerung erlangen, die öffentliche
Auftrieb. Die Mitgliedstaaten der zwischenstaatlichen Regionalforen in        Gesundheit schützen, gegen gewaltsame Revierkämpfe vorgehen und die
Afrika, Amerika und Europa führen mittlerweile Diskussionen auf hoher         Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen verhindern.
Ebene über die Reform der Drogenpolitik.
                                                                              Die Städte verfügen über den rechtlichen Spielraum für die Konzeption
Eine bestimmte Ebene ist in dieser Debatte allerdings nicht offiziell         und Durchführung von Pilotprojekten, die den durch eine strafende
vertreten. Zudem ist dies genau die Ebene, auf der die Politikgestaltung      nationale Politik verursachten Schaden lindern. Doch nicht alle sind mit den
am stärksten mit dem durch eine strafende Drogenpolitik verursachten          gleichen Befugnissen, Kompetenzen oder Ressourcen ausgestattet. Einige
Schaden konfrontiert ist und in der die größte Zahl sozial gefährdeter        verfügen über Gesundheits- und Polizeibehörden, örtliche Haftanstalten
Menschen lebt: in den Städten und Gemeinden.                                  und Wohnungsämter, andere dagegen nicht. Dennoch spielen die
                                                                              Bürgermeister eine zentrale Rolle in der Drogenkontrollpolitik unserer
Die Städte, die die Hauptlast der repressiven nationalen und                  Gesellschaft. Sie sind die gewählten Amtsträger mit dem engsten Kontakt
internationalen Drogenkontrollpolitik tragen, verzeichnen ein rasches         zu ihren Wählern.
Wachstum. Auf die Bevölkerung in den Städten werden bis 2050
insgesamt 68 % der Weltbevölkerung entfallen. Der Drogenhandel, der           Wir legen den Bürgermeistern nahe, breit gefächerte Schadensminde-
lukrativste illegale Wirtschaftszweig für die organisierte Kriminalität,      rungsmaßnahmen für ihre Bevölkerung bereitzustellen und nicht vor wirk-
erzeugt in den Städten eine sichtbare Gewalt, die eingesetzt wird, um die     samen Maßnahmen zurückscheuen, die mitunter – allerdings zu Unrecht
Bevölkerung einzuschüchtern und ihre Loyalität zu erzwingen und um auf        – umstritten sind. Darüber hinaus fordern wir sie auf, ihre kommunalen Po-
Konfrontationskurs zu den Strafverfolgungsbehörden zu gehen und den           lizeikräfte anzuweisen, die Schikanierung von Menschen einzustellen, die
illegalen Handel zu sichern. Besonders deutlich treten die Zusammenhänge      Drogen konsumieren, aber keinen Schaden anrichten. Angst vor Verhaftung
zwischen Gewalt, aggressivem Drogenhandel und einem blindwütig                und Furcht vor Missbrauch dürfen von Drogen abhängige Menschen nicht
punitiven rechtlichen Vorgehen in Lateinamerika und der Karibik zutage,       länger davon abhalten, Dienste zu nutzen, auf die sie rechtlichen Anspruch
wo sich 42 der 50 Städte mit den weltweit höchsten Gewaltraten entlang        haben, darunter Gesundheits-, Wohnungs- und Sozialdienste.
der Kokainhandelsrouten konzentrieren.
                                                                              Die Welt ist von einem rasanten Wandel geprägt, der seit Anfang 2020
Um die Städte bei der Bewältigung der Probleme zu unterstützen, die sich      noch an Fahrt gewonnen hat. Die Reform der Drogenpolitik ist der Schlüssel
aus einer repressiven Politik für ihre Bewohner ergeben, und ihre Reakti-     zum Aufbau einer gerechteren und inklusiveren Gesellschaft. Mittlerweile
onsfähigkeit zu analysieren, haben wir beschlossen, dieses Positionspapier    bestehen internationale Mechanismen für eine angemessene Drogenpolitik.
zu veröffentlichen und es den Bürgermeistern der Städte und Gemeinden         Der Geist der Agenda für nachhaltige Entwicklung bietet in Verbindung
und den Lokalverwaltungen als Informationsgrundlage für ihre Drogenpo-        mit dem Ergebnis der Sondertagung der UN-Generalversammlung über
litik anzubieten. In dem Papier wird ein Überblick darüber gegeben, was die   das Weltdrogenproblem die Voraussetzungen für die Reformen, die
Städte bislang geleistet haben, was sie derzeit unternehmen und welche        durchgeführt werden müssen, damit niemand zurückbleibt. Die Zeit ist
Richtung sie einschlagen.                                                     gekommen, eine wirksame Drogenpolitik zu verfolgen. Als zentrale Akteure
                                                                              des Kampfes für einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheits- und
Lokale Entscheidungsträger sind an der Festlegung der Drogenkontrollpolitik   Sozialleistungen sind die Städte und Gemeinden die effizientesten Träger
– und ihrer Reform – bereits seit den 1930er-Jahren beteiligt, als sie sich   des Wandels.
der Prohibition weniger potenter Drogen widersetzten und auf die Folgen
der Kriminalisierung für die Rechtsstaatlichkeit in Nordamerika hinwiesen.
In den 1980er-Jahren waren sie mit der HIV-Krise konfrontiert, die durch
injizierenden Drogenkonsum ausgelöst wurde. Seitdem haben einige
europäische Städte Maßnahmen zur Schadensminderung eingeführt, um             Helen Clark                                Pavel Bém
die negativen Auswirkungen dieses Verhaltens – ob legal oder illegal –auf     Vorsitz - Ehemalige                        Ehemaliger
ein Mindestmaß zu begrenzen.                                                  Premierministerin                          Oberbürgermeister
                                                                              von Neuseeland                             von Prag

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EMPFEHLUNGEN
Die Städte sind die Verwaltungsebene, die von dem durch eine prohibitive Drogenpolitik verursachten Schaden am stärksten betroffen ist. Wir, die Mitglieder
der Weltkommission für Drogenpolitik (einige von uns waren als Bürgermeister und Mitglieder kommunaler Parlamente tätig), vertreten die Auffassung,
dass die Stadtverwaltungen auch die effizientesten Träger des Wandels im Kampf für einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten
sind. Da bis 2050 68 % der Weltbevölkerung in den Städten leben werden 1 und dort zugleich eine größere Anzahl sozial gefährdeter Menschen konzentriert
sein wird2, empfehlen wir die sofortige Annahme von Maßnahmen zur Verbesserung der städtischen Drogenpolitik.

Die Städte und Kommunen müssen:

eine lokale Drogenpolitik konzipieren und umsetzen, bei der die Ge-            sicherstellen, dass die lokale und die kommunale Drogenpolitik kohä-
sundheit und Sicherheit der Bewohner an erster Stelle steht                    rent sind und eine Plattform zur Einbeziehung aller Beteiligten bieten

Die Städte und die kommunalen Regierungen und Parlamente verfügen              Weder ein einzelner Bereich noch eine einzelne Disziplin ist imstande, alle
über den rechtlichen Spielraum, um Pilotprojekte zur Behebung der durch        Dimensionen der Drogenpolitik abzudecken. Sobald auf städtischer Ebe-
problematischen Drogenkonsum bedingten gesundheitlichen Probleme               ne eine Debatte über die Drogenkontrolle aufgenommen wird, sollten die
auf den Weg zu bringen. Die Politikmaßnahmen sollten prioritär die Sicher-     Bürgermeister alle Beteiligten an einen Tisch bringen: betroffene Familien,
heit in den Wohnvierteln und die Gesundheit der Bevölkerung sowie das          Strafverfolgungsbehörden, Staatsanwälte, Pädagogen, Menschen, die Dro-
friedliche Zusammenleben in städtischen Umfeldern fördern. Gesundheit-         gen konsumieren, kommunale Gesundheits- und Sozialarbeiter, Experten
liche und soziale Interventionen, darunter faktengestützte Therapie-, Scha-    und Vertreter der Zivilgesellschaft. Die Konsensbildung zwischen den ver-
densminderungs- und Präventionsprogramme, verringern die Übertragung           schiedenen Parteien und die Berücksichtigung der Belange jedes Einzelnen
von HIV, Hepatitis und Tuberkulose. Zudem reduzieren sie Kleinkriminalität,    als legitime und relevante Anliegen sind eine wichtige Voraussetzung für die
Gewalt, Herabsetzung und Vertreibung von Gemeinschaften. Sie sind kos-         Erarbeitung fundierter, effektiver und langfristiger drogenpolitischer Strate-
teneffektiv und erfordern keine massive Neuausrichtung der kommunalen          gien, die mit anderen öffentlichen Politikmaßnahmen auf lokaler Ebene im
Ressourcen. Die Erhebung und Überwachung von Daten muss ein integra-           Einklang stehen.
ler Bestandteil der Pilotprojekte sein.

sicherstellen, dass in der lokalen Drogenpolitik moderne Abschre-              die Kontrolle über lokale Drogenmärkte übernehmen, indem sie den
ckungsstrategien zum Einsatz kommen und gezielt die Verringerung               Zugang zu derzeit illegalen Drogen gesetzlich regulieren
der von illegalen Drogenmärkten ausgehenden Gewalt angegangen
wird, um in den Städten ein friedliches Zusammenleben für alle zu              Die Stadtverwaltungen und kommunalen Parlamente sollten die Möglich-
ermöglichen.                                                                   keit in Betracht ziehen, derzeit illegale Drogen versuchsweise innerhalb
                                                                               ihrer städtischen Gebiete zu regulieren. Diese Versuche sollten streng eva-
Die Kommunal- und Stadtverwaltungen müssen akzeptieren, dass die Er-           luiert werden, schrittweise erfolgen und inklusiv sein. Denkbar wären Pilot-
wartung, den illegalen Drogenmarkt zu beseitigen, unrealistisch ist und        projekte, zunächst mit Substanzen, die leichter kontrollierbar sind und zu
dass langfristig weitaus bessere Strategien darin bestehen, diesen Markt zu    denen bereits Erkenntnisse über die am besten geeignete Art der Regulie-
steuern und zu kontrollieren, um sichere, widerstandsfähige und inklusive      rung vorliegen, etwa Cannabis, oder mit Substanzen, die für medizinische
Städte zu gewährleisten. Unterschiedslose repressive Maßnahmen müssen          Behandlungen, z. B. Opioid-Agonisten-Therapien (Substitutionstherapien),
durch gezielte, auf eine Verhaltensänderung gerichtete Eindämmungsstrate-      verwendet werden. Sofern sie angemessen umgesetzt werden, könnten
gien ersetzt werden, unter anderem indem der Verkauf illegaler Drogen von      diese Pilotprojekte den Nachweis erbringen, dass es innerhalb einer Stadt
sensiblen Bereichen wie Schulen oder Therapiezentren ferngehalten und an       Alternativen zur Kontrolle von Drogen durch Repression gibt.
andere Orte verlagert wird. Die Strafverfolgungsbehörden können die vom
Drogenmarkt ausgehende Gewalt mit gezielten Interventionen reduzieren.
Dazu müssen sie bei ihren Operationen einen proaktiven und analytischen
Ansatz verfolgen, der auf Informationsbeschaffung und einem Verständnis
der sozioökonomischen Verhältnisse im lokalen Kontext beruht und sich an
den lokalen Bedürfnissen und verfügbaren Ressourcen orientiert.

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STÄDTE UND DROGEN: SACHSTAND
„Drogenpolitik ist immer lokal“ – so äußerte sich 2006 ein Experte zum The-   Aus dieser Kluft heraus entsteht ein bis heute ungelöster Konflikt: Städte in
ma Städte und Drogen.3 In der Frage, wie die Drogenpolitik angegangen         aller Welt treten für Änderungen der Drogenpolitik ein, doch sind ihre Be-
und umgesetzt werden soll, sind nicht die nationalen Regierungen, sondern     fugnisse begrenzt, und ihr Handlungsspielraum hängt in hohem Maß vom
die Stadtverwaltungen die wichtigsten Akteure und Entscheidungsträger.        nationalen und internationalen Kontext ab. Allerdings setzt sich allmählich
Historisch gesehen gehörten sie zu den ersten, die Schadensminderung          die Erkenntnis durch, dass eine stärker lokal ausgerichtete Drogenpolitik,
und ehrgeizigere Reformen der Drogengesetzgebung befürwortet haben.           insbesondere auf kommunaler Ebene, wirksamer sein kann als wenn dies
Dennoch, so stellte der Experte weiter fest, „sind die nationalen Regierun-   auf nationaler Ebene erfolgt, da sie kulturellen Unterschieden, den sozialen
gen im weltweiten Prohibitionssystem diejenigen, auf die es ankommt,          Gegebenheiten und der Lokalpolitik besser Rechnung tragen kann.4
während die Stadtverwaltungen irrelevant sind, da die Vertragsparteien der
internationalen Drogenabkommen und die Mitglieder des UN-[Drogenkon-          Vor allem große Städte tragen häufig die Hauptlast der nationalen
troll-]Systems die Mitgliedstaaten selbst sind.“                              Drogenprobleme und der Folgen der nationalen Drogenpolitik. Die
                                                                              Städte haben mit Störungen der öffentlichen Ordnung, verursacht durch
                                                                              den Straßenhandel mit Drogen, mit Problemen im sozialen Bereich und
     TROTZ DER COVID-19-PANDEMIE HALTEN DIE STÄDTE IHRE SCHA-                 in der öffentlichen Gesundheit, bedingt durch einen problematischen
     DENSMINDERUNGSANGEBOTE AUFRECHT                                          Drogenkonsum, und mit den hohen Kosten der Durchsetzung
                                                                              prohibitionistischer Drogengesetze zu kämpfen. Dieser Trend wird sich
     Weltweit betrachtet werden Schadensminderungsdienste vor                 weiter verstärken, denn bis 2050 werden 68 % der Weltbevölkerung in
     allem in städtischen Gebieten angeboten, in denen zahlreiche             Städten leben5, wo sich eine größere Anzahl sozial gefährdeter Menschen
     Menschen in unmittelbarer räumlicher Nähe leben. Zwar hat                konzentrieren wird6. New York beispielsweise verzeichnet einen hohen
     die COVID-19-Pandemie deutlich gemacht, dass die Städte in               problematischen Konsum von Opioiden, wobei sich der „Anteil der Todesfälle
     der Lage sind, auf Herausforderungen zu reagieren, jedoch auch           durch Drogenvergiftung aufgrund des Konsums von Opioidanalgetika
     tief verwurzelte Ungerechtigkeit, Ungleichheit und einen unein-          zwischen 2000 und 2011 um 267 Prozent erhöht [hat]“.7 In Südafrika
     heitlichen Zugang zu den Angeboten zwischen Stadtteilen und              weisen Kapstadt und die Provinz Westkap mit mehr als einem Drittel der
     Bevölkerungsgruppen zutage treten lassen.                                Drogendelikte landesweit die höchste Belastung durch Drogenkriminalität
                                                                              auf.8 In Shanghai sind Methamphetamine mittlerweile die am meisten
     Menschen, die Drogen injizieren, gelten in vielen Rechtsordnun-          konsumierte Droge, ein Trend, der in ganz Ostasien zu beobachten ist.9
     gen als gefährdet. In Lausanne (Schweiz) können Gesundheitsfach-
     kräfte daher seit Einführung der Beschränkungen Anfang 2020              Die Drogenpolitik ist mit zahlreichen anderen Politikbereichen verknüpft,
     diese Menschen zu Hause aufsuchen, um Substitutionstherapien             darunter öffentliche Gesundheit, Sozialhilfe, Strafverfolgung, Stadtplanung
     anzuwenden.10 In Abidjan (Côte d’Ivoire) haben Gemeindemitar-            und sozialer Zusammenhalt, um nur einige zu nennen. Die damit einher-
     beiter mit Unterstützung der lokalen Behörden trotz politischer In-      gehenden Politikmaßnahmen beeinflussen sich gegenseitig und können,
     stabilität weiter Angebote zur Schadensminderung für Menschen,           sofern sie nicht sorgfältig koordiniert werden, einander entgegenwirken.
     die Drogen konsumieren, erbracht.11 In Toronto (Kanada) wurden           Große Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der Befugnisse und
     spezielle Kampagnen zur Prävention von COVID-19 eingeleitet.             Kompetenzen ebenso wie der finanziellen und institutionellen Ressourcen,
     Hierbei werden Menschen, die Drogen injizieren, dazu aufgefor-           mit denen die Stadtverwaltungen ausgestattet sind. Die meisten Städte
     dert, dies an eigens dafür eingerichteten Orten unter der Aufsicht       genießen ein erhebliches Maß an Autonomie in der Sozial- und Gesund-
     von Gesundheits- und Sozialfachkräften zu tun.12                         heitspolitik. Auf Fragen der Strafjustiz haben sie dagegen kaum Einfluss.
                                                                              Diese fallen in den Zuständigkeitsbereich der nationalen, bundesstaatli-
     Dank innovativer Ansätze dieser Art konnten die Folgen von CO-           chen oder föderalen Behörden und unterliegen im Fall der Drogenpolitik
     VID-19 für Menschen, die Drogen konsumieren, abgemildert                 auch den Anforderungen, die sich aus internationalen Übereinkommen
     werden. Ihr Erfolg ist auch ein Indiz für das neuerliche Engage-         über Drogenkontrolle ergeben. Einige Stadtverwaltungen verfügen über
     ment der städtischen Behörden und Sozialarbeiter.                        eigene Polizeibehörden, viele jedoch nicht. Einige stellen umfassende Ge-
                                                                              sundheits- und Sozialdienste bereit, während es anderen Städten in vielen
                                                                              Fällen, insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen,
                                                                              an den dafür nötigen Mitteln mangelt. Einige nutzen ausgereifte Systeme
                                                                              für die Konsultation mit ihren Bewohnern, andere verfolgen eher einen hi-
          Es sollte in Betracht gezogen werden, Initiativen für eine          erarchischen Ansatz.
          nachhaltige städtische Entwicklung zugunsten der von
          illegalen Aktivitäten im Zusammenhang mit Drogen                    Es ist nicht möglich, all diesen aufeinander einwirkenden Governance-
          betroffenen Personen zu erarbeiten, um die Beteiligung              Variablen und Politikoptionen Rechnung zu tragen. Daher werden in diesem
          der Öffentlichkeit an der Verbrechensverhütung, den                 Positionspapier nur einige positive und innovative Beispiele beleuchtet.
          Zusammenhalt der Gemeinschaft, Schutz und Sicherheit                Ziel ist es, lokale politische Entscheidungsträger, kommunale Beamte
          zu fördern und Anreize für Innovation, Unternehmertum               und Sachbearbeiter – sowie besorgte Anwohner, Sozialaktivisten und
          und Beschäftigung zu schaffen.                                      Menschen, die Drogen konsumieren – über die Möglichkeiten und Grenzen
          Operative Empfehlung zur Stärkung der internationalen               der öffentlichen Drogenpolitik in den Städten zu informieren. Zwangsläufig
          Zusammenarbeit auf der Grundlage des Prinzips der                   stammen die Beispiele in der Regel aus Hocheinkommensländern in Europa
          gemeinsamen und geteilten Verantwortung, UNGASS 2016,               und Nordamerika, deren Städte über mehr finanzielle Ressourcen, robustere
          Abschlussdokument „Our joint commitment to effectively addressing   Institutionen und längere Erfahrung auf dem Gebiet der Stadtplanung, der
          and countering the world drug problem“.

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DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN - POSITIONSPAPIER - The Global ...
öffentlichen Gesundheit und der sozialen Kontrolle verfügen. In Ländern
mit niedrigem und mittlerem Einkommen ordnet sich die Drogenpolitik in                STÄDTE, DIE DIE WELT VERÄNDERN: DAS NETZWERK C40 UND
einen Kontext ein, in dem rasch wachsende Städte mit noch dringlicheren               SEINE ERKLÄRUNG ÜBER SAUBERE BUSSE
Problemen im Zusammenhang mit Armut und Entwicklung konfrontiert
sind. Derzeit lebt etwa 1 Milliarde Menschen unter Slumbedingungen und                2016 unterzeichneten 26 der 96 Mitglieder des Städtenetzwerks
ist ohne Zugang zu grundlegenden Diensten, etwa zu sauberem Wasser                    C40 unter Führung von London, Los Angeles und Paris die
und sanitären Einrichtungen.13                                                        Erklärung über saubere Busse, in der sie sich verpflichteten, ab
                                                                                      2025 nur noch emissionsfreie Busse einzusetzen. Die Erklärung
International setzt sich zunehmend die Erkenntnis über die Bedeutung von              ermöglichte es den Städten, ihre Fähigkeit zur Einflussnahme
Städten in globalen Governance-Strukturen, den schweren Schaden, den                  auf die Wirtschaft zu messen, und erstreckte sich auf 140
illegale drogenbezogene Aktivitäten anrichten können, und das Potenzial               Millionen Menschen sowie bis zu 800.000 Busse.
einer entwicklungsorientierten Drogenpolitik zur Schadensminderung in
Entwicklungsländern durch. Im Ergebnisdokument der Sondertagung der                  Durch diesen gemeinsamen Ansatz entstand ein potenzieller
UN-Generalversammlung über das Weltdrogenproblem von April 2016                      Markt, der Busherstellern Anreize für Investitionen in
forderten die Staaten dazu auf, „die Erarbeitung von Initiativen für eine            umweltfreundliche und elektrisch betriebene Busse und die
nachhaltige Stadtentwicklung“ in Betracht zu ziehen, um „die Beteiligung             Senkung der Kosten der Fahrzeuge für die Städte bot. London
der Öffentlichkeit an der Verbrechensverhütung, den Zusammenhalt der                 etwa konnte neue E-Busse mit einem Preisnachlass von 10
Gemeinschaft, Schutz und Sicherheit zu fördern und Anreize für Innovation,           Prozent bestellen.
Unternehmertum und Beschäftigung zu schaffen“ und so den Folgen
illegaler drogenbezogener Aktivitäten entgegenzuwirken.14 Derartige
Initiativen stünden voll im Einklang mit dem Ziel 11 der UN-Nachhaltigkeitsziele: Städte inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten.15

Jede Stadt muss selbst ermitteln, wie sie eine effektive und innovative Drogenpolitik in einer Weise umsetzen kann, die ihren eigenen Realitäten, Befug-
nissen, Kompetenzen und Ressourcen entspricht. Die Städte haben nur begrenzte formale Befugnisse, wenn es darum geht, bestimmte Kernaspekte der
Drogenpolitik wie das Strafrecht zu gestalten und die organisierte Kriminalität und den internationalen Drogenhandel zu bekämpfen. Dennoch haben sie
oft eine entscheidende Rolle beim Übergang von herkömmlichen strafrechtlichen Ansätzen zu einer effektiveren Schadensminderung und einer umfassen-
deren Reform der Drogengesetzgebung gespielt und sind dabei oft deutlich weiter gegangen als die nationalen Regierungen. Diese wesentliche Rolle der
Stadtverwaltungen ist unter anderem dadurch zu erklären, dass die gewählten Amtsträger in den Städten weitaus engeren Kontakt zu ihren Wählern haben
als ihre Kollegen auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene.

Stadtverwaltungen bevorzugen pragmatische Lösungen für ihre lokalen Probleme und vermeiden häufig eine vor allem von dogmatischem Denken und
Parteilichkeit geprägte Politik. Dadurch können sie ein hohes Maß an Experimentierfreude und Flexibilität erreichen, was im nationalen Rahmen weniger oft
der Fall ist. Angesichts der politischen Trägheit auf nationaler und internationaler Ebene haben sich oft innovative, auf Paradigmen der Schadensminderung
beruhende lokale Lösungsansätze für den Umgang mit problematischem Drogenkonsum herausgebildet, die in den 1990er-Jahren als umstritten angese-
hen wurden und politischen Widerstand hervorriefen, aufgrund dessen die Maßnahmen eingeschränkt oder sogar umgekehrt wurden. Dennoch bemühten
sich die Städte um die Instrumente, Bündnisse und Befugnisse, die sie benötigten, um die repressive nationale Politik an die unmittelbaren Bedrohungen
für ihre Bevölkerung anzupassen. Dieser Prozess der „Anpassung an den lokalen Kontext“ hat zu einer Politik beigetragen, die besser auf die ganz besonde-
ren Bedürfnisse der Städte und lokalen Gemeinschaften zugeschnitten ist.

                                                                                                    Konsultation der Weltkommission zum Thema Städtische Drogenpolitik,
                                                                                                       öffentliche Sicherheit und Gesundheit, London, 9. September 2019.

                                                                                                                                                                           7
DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN - POSITIONSPAPIER - The Global ...
In der Folge wurden diese politischen Innovationen von anderen
Vorreiterstädten bei Notlagen aufgegriffen und umgesetzt und/oder an die
lokalen Gegebenheiten angepasst. Diese Art der Politikdiffusion hält bis
heute an. Politische Maßnahmen, die ursprünglich auf städtischer Ebene                 Kopenhagen ist oft tonangebend bei Themen, die das
entwickelt wurden, finden Anklang bei nationalen Regierungen und werden                nationale politische System noch nicht verstanden oder
von ihnen übernommen. Das in den 1980er- und 1990er-Jahren erstmals                    mit denen es sich noch nicht befasst hat. So begann die
von den Schweizer Stadtverwaltungen verfolgte „Vier-Säulen-Modell“ –                   Debatte über die Zulassung von Lebenspartnerschaften
Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression – ist mittlerweile              zwischen homosexuellen Paaren 1987 bei uns im
Bestandteil der nationalen Politik und genießt international Anerkennung               Rathaus, und das trotz des Widerstands der nationalen
als Richtschnur für eine Neuausrichtung der Drogenpolitik.16 Das Modell,               Politiker. Doch hielten wir unseren Druck aufrecht, und
das bei seiner Einführung 1994 als politisch umstritten galt, dient heute als          seit 1989 sind sie erlaubt. Ein weiteres Beispiel sind
Inspiration für Städte und Länder, die nach wirksamen politischen Ansätzen             Drogenabhängige, die gezwungen waren, ihre Drogen
suchen. Das im Modell verankerte Prinzip der Schadensminderung                         auf der Straße oder in Treppenhäusern zu konsumieren.
fand allmählich Rückhalt in der Schweizer Bevölkerung und wurde nach                   Zudem haben wir darauf gedrängt, dass die Stadträte
immerhin fast einem Jahrzehnt 2003 von der Weltgesundheitsorganisation                 sichere Injektionsräume einrichten dürfen, und in
(WHO) und 2008 von der Europäischen Union (EU) anerkannt.17                            diesem Jahr wurde in Kopenhagen der erste von einem
                                                                                       Stadtrat betriebene legale Injektionsraum eröffnet.
Die teilweise Übernahme des Konzepts der Schadensminderung in Iran                      Frank Jensen, Oberbürgermeister von Kopenhagen,
und in China in den vergangenen 20 Jahren verdeutlicht, wie diese von                   Dänemark, 2012
unten nach oben verlaufenden Reformprozesse allmählich in eine Reform
von oben nach unten übergehen. Unabhängig davon, ob sich politische
Neuerungen nun horizontal zwischen Städten oder durch eine Aufwärts- und
eine anschließende Abwärtsbewegung ausbreiten, die internationale Gremien im Bereich Drogenpolitik, Nationalstaaten oder andere Regierungsebenen
erfasst, spielt die wahrnehmbare Überzeugungsarbeit der Städte eine zentrale Rolle bei der Umgestaltung des politischen Umfelds und dem Wandel der
öffentlichen Meinung. Die Städte können somit als „politische Labore“ und Katalysatoren für Reformen jenseits ihrer eigenen Grenzen fungieren.18

      DIE ERKLÄRUNG VON PRAG: SIEBEN KOMMUNALE GRUNDSÄTZE FÜR DIE STÄDTISCHE DROGENPOLITIK

      2010 legte eine Gruppe europäischer Bürgermeister unter der Leitung von Pavel Bém, zum damaligen Zeitpunkt Oberbürgermeister von Prag
      und heute Mitglied der Weltkommission, die Drogenpolitik der Städte in der sogenannten „Erklärung von Prag“ dar.19 In der Erklärung wird
      festgestellt, dass „die lokale/kommunale/städtische Drogenpolitik sich am unmittelbarsten auf die Drogensituation auswirkt“20. Zudem werden
      darin sieben Grundprinzipien für eine wirksame lokale Drogenpolitik aufgestellt:

      1. Es gibt keine pauschale Lösung – die Drogenpolitik muss an den lokalen Kontext angepasst werden.
      2. Realitätsnähe ist entscheidend – das Ziel einer drogenfreien Welt ist unrealistisch und schädlich.
      3. Menschenrechte gelten insbesondere für Kranke – Drogenabhängigkeit ist eine chronische Krankheit, und wer daran leidet, sollte nicht
         kriminalisiert oder seiner Menschenrechte beraubt werden.
      4. Belange der öffentlichen Gesundheit und der öffentlichen Sicherheit dürfen nicht als Widerspruch angesehen werden –
         Schadensminderung ist keine Kompromisslösung, denn sowohl beim Gesundheits- als auch beim Sicherheitsansatz geht es um
         Schadensminderung.
      5. Entscheidungen müssen immer faktengestützt sein – alle Entscheidungen müssen wissenschaftlich, nicht nur ideologisch begründet sein.
      6. Evaluierung und Überwachung – um kontinuierliche Verbesserungen zu ermöglichen, sollte die Überwachung ein wesentliches Element
         der Programme sein, und die Daten sollten auf lokaler Ebene aufgeschlüsselt werden.
      7. Ein konstanter und ständig verbesserter Informationsfluss zwischen der lokalen, der nationalen und der internationalen Ebene
         der Drogenpolitik durch eine gemeinsame Stimme – die nationale und die internationale Politik müssen auf lokalen Erfahrungen
         beruhen.21

      Im Bereich der Drogenpolitik zeugen diese Prinzipien von einem wachsenden Bestand an internationalen wissenschaftlichen Arbeiten
      und politischen Konzepten, in denen die entscheidende Rolle von Städten als Governance-Räumen hervorgehoben wird. In der 2014 vom
      Ausschuss der Regionen der Europäischen Union verabschiedeten Charta der Multi-Level-Governance heißt es wie folgt: „Keine Ebene [der
      Governance] kann die bevorstehenden Herausforderungen im Alleingang bewältigen“. Mit der Charta „sollen Regionen und Städte in ganz
      Europa miteinander verbunden (...) werden“.22

8
DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN - POSITIONSPAPIER - The Global ...
KOHÄRENZ UND FLEXIBILITÄT DER POLITIK: ANPASSUNG AN DEN LOKALEN KONTEXT

Nach dem Prinzip der Subsidiarität in der Governance müssen die Probleme, die Städte und menschliche Siedlungen betreffen, auf der Instanzenebene
angegangen werden, die den Wählern am nächsten ist, etwa den Stadtverwaltungen und den kommunalen Regierungen und Parlamenten. Aufgrund von
Kompetenzüberschneidungen ist die Gestaltung der Drogenpolitik jedoch sehr komplex. In die Bereiche, die den Konsum und die Regulierung von Drogen
in den Städten betreffen, können verschiedene Regierungsebenen sowie unterschiedliche Agenturen, Gremien, Regulierungsbehörden und Dienststellen
einbezogen sein. Die „Anpassung an den lokalen Kontext“ kann einen Handlungsrahmen bieten, in dem die zur Unterstützung bereiten Staaten die Beiträge
der Städte zur Politikentwicklung in Konzepte fassen und legitimieren und die Städte Multi-Akteur-Plattformen zur Koordinierung vor Ort einrichten können.

In diesem Handlungsrahmen müssen Kohärenz und Flexibilität der Politik in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Wird der Schwerpunkt zu
sehr auf die Rolle der Strafgesetzgebung und anderer Kompetenzen auf nationaler Ebene gesetzt, fühlen sich lokale Entscheidungsträger möglicherweise
durch eine restriktive Politik eingeengt und außer Stande, den komplexen Bedürfnissen ihrer Bürger zu entsprechen. Fehlt ein kohärenter übergeordneter
Handlungsrahmen, kann dies den Boden für eine lokale Politik bereiten, die für die Bürger verwirrend ist und Lücken, Unklarheiten und „graue Märkten“
entstehen lässt.

Die Städte bringen ihre Erfahrungen ein, die sie bei ihren häufig erfolgreichen Bemühungen um die Umgestaltung repressiver Drogenkontrollsysteme und die
Einführung von Schadensminderungsstrategien gewonnen haben. Das Netzwerk European Cities on Drug Policy sowie andere Organisationen und Bündnisse
haben den lokalen Regierungen ein Gefühl für ihre eigenen Kapazitäten und ihr legitimes Interesse an der Umgestaltung der Drogenpolitik vermittelt.

Wie die Geschichte der Schadensminderung und weiterer politischer Innovationen allerdings zeigt, waren die Beziehungen zu anderen Regierungsebenen
nicht immer von Solidarität geprägt. In mehreren Ländern haben sich Gruppen von Städten „horizontal“ zusammengeschlossen und waren dadurch in einer
stärkeren Position, ihre Flexibilität und Möglichkeiten so auszuhandeln, dass sie von den nationalen Regierungen toleriert und anerkannt werden. Indem die
Städte nationale oder internationale Netzwerke bilden, können sie bewährte Praktiken austauschen, Faktensammlung betreiben, gemeinsame Programme
der politischen Überzeugungsarbeit auf den Weg bringen, ihren Stimmen eine größere Reichweite verschaffen und angesichts der Zögerlichkeit anderer
Regierungsebenen auf politische Reformen drängen.

Ein an der Entwicklung der bahnbrechenden Drogenstrategie von Vancouver (Kanada) beteiligter Amtsträger untersuchte die Kräfte, die radikale Reformen in
der Stadt möglich machten. Seiner Argumentation zufolge wurde die Stadt in der Strategie aufgefordert, verschiedene traditionelle und legitime Rollen der
Kommunen wahrzunehmen:

    als Anbieter von Unterstützung für gefährdete Bevölkerungsgruppen                                    als Vermittler von Dienstleistungen
    als Vermittler beim Aufbau von Kapazitäten                                                           als Vermittler bei der Kommunikation und dem Dialog
    als Fürsprecher                                                                                      als Regulierungsinstanz und als Vorbild23

Die Maßnahmen, mit denen die Städte innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs die Krise im Zusammenhang mit injizierbaren Drogen in Angriff nehmen, können
radikal wirken und sie in eine Position bringen, in der sie sich den politischen Vorgaben anderer Regierungsebenen entgegenstellen oder ihnen zuwiderhandeln
müssen. Hervorzuheben ist allerdings, dass sich diese Maßnahmen auf die in den Städten bereits vorhandenen Kernkapazitäten und -verantwortlichkeiten
stützen, die von der Betreuung gefährdeter Bürger über das Aushandeln von für alle Seiten vorteilhaften Lösungen zwischen Bewohnern mit widerstreitenden
Interessen bis hin zur Erprobung neuer Ansätze und der Zusammenarbeit mit anderen Regierungsebenen reichen.

                                 Ruth Dreifuss, Mitglied der Weltkommision, und Svante Myrick, Bürgermeister von Ithaca (NY, USA) erörtern den Ithaca-Plan zur Reform der Drogenpolitik, November 2016.

                                                                                                                                                                                                          9
DROGENPOLITIK IN DEN STÄDTEN - POSITIONSPAPIER - The Global ...
INNOVATIVE STÄDTISCHE DROGENPOLITIK: VOM RAND IN DEN MAINSTREAM
HISTORISCHE BEISPIELE FÜR STÄDTISCHE INNOVATIONEN

In aller Welt wird die nationale Drogenpolitik bislang vor dem Hintergrund eines globalen Prohibitionsregimes formuliert, das durch das Einheits-Übereinkommen
von 1961 über Suchtstoffe und das Übereinkommen von 1971 über psychotrope Stoffe geschaffen wurde. Diese Übereinkommen der Vereinten Nationen (UN)
                                                                                    schränkten die Verfügbarkeit von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen ein,
                                                                                    indem sie ihre Verwendung allein für medizinische und wissenschaftliche
    ALS NEW YORK DER WELT BEI CANNABIS UM JAHRZEHNTE                                Zwecke gestatteten und darauf abzielten, ihre Umleitung in illegale
    VORAUS WAR                                                                      Kanäle zu verhindern. Mit dem UN-Übereinkommen von 1988 gegen den
                                                                                    unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen wurden die
    Eines der ersten Beispiele für eine Stadt, die versuchte, einen von der         Verpflichtungen der Länder, strafrechtliche Sanktionen zur Bekämpfung aller
    nationalen Drogenpolitik abweichenden Ansatz zu verfolgen, war New              Aspekte der illegalen Herstellung, des illegalen Besitzes und des illegalen
    York unter dem beliebten und unkonventionellen dreimaligen Bürger-              Handels mit Drogen anzuwenden, erheblich verstärkt.
    meister Fiorello LaGuardia (1934–45). LaGuardia hatte sich offen gegen
    die Alkoholprohibition in den Vereinigten Staaten (1920–33) ausge-              Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass dieses internationale
    sprochen. Er war nicht überzeugt von der wachsenden Medienhysterie              Regime zu starr ist, um den Städten eine flexible und lokal angesiedelte
    um Cannabis, wie sie der Film Reefer Madness von 1936 verkörperte,              Reaktion zu ermöglichen, und den komplexen und vielfältigen
    und hielt das Marihuana-Steuergesetz von 1937, das zum Verbot der               Situationen vor Ort nicht Rechnung trägt.24 Stattdessen kommen die
    Substanz in den Vereinigten Staaten führte, nicht für klug.26                   angemessensten, am stärksten bedarfsorientierten und effektivsten
                                                                                    Ansätze bislang aus der entgegengesetzten Richtung. Zahlreiche innovative
    1938 setzte LaGuardia den LaGuardia-Ausschuss für Marihuana mit                 und anfangs umstrittene Initiativen werden zunächst von Aktivisten und
    dem Auftrag ein, eine klinische Untersuchung zu den Auswirkungen                Dienstleistungserbringern im ehrenamtlichen und kommunalen Bereich,
    von Cannabis sowie eine soziologische Erhebung zum Cannabis-Kon-                darunter von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGO,
    sum in der Stadt durchzuführen und so „die maßgeblichen Fakten                  entwickelt oder erprobt, bevor sie von den lokalen Behörden übernommen
    zu dieser Form der Drogenabhängigkeit und der Notwendigkeit ihrer               und schließlich als bewährte und genehmigte Interventionen auf nationaler
    Kontrolle“ zu ermitteln. 1944 legte der Ausschuss seine Erkenntnis-             Ebene eingeführt werden.25 Letztlich können sie sogar auf internationaler
    se vor. The Marihuana Problem in the City of New York war eine der              Ebene vom UN-Drogenkontrollsystem akzeptiert werden, wie es bei den
    ersten Studien, in denen die auf Betreiben von Harry Anslinger, dem             Angeboten zur Schadensminderung der Fall war.
    Leiter des Federal Bureau of Narcotics (FBN), eingeführte Canna-
    bis-Prohibition infrage gestellt wurde. Anslinger wurde später einer            Insbesondere in Australien, Europa und Nordamerika rückte die Fähigkeit
    der Hauptarchitekten der weltweiten Drogenprohibition nach dem                  der Städte, sich als Labore der Schadensminderung zu betätigen, in
    Zweiten Weltkrieg. Die Ergebnisse des Berichts bestätigten LaGuardi-            den Vordergrund, und zwar als Reaktion auf die Krise, die durch den
    as anfängliche Vermutungen, dass es in New York keine gravierenden              injizierenden Drogenkonsum in Kombination mit der HIV/Aids-Epidemie
    Probleme im Zusammenhang mit Cannabis gab. Zudem wurde fest-                    ab Mitte der 1980er-Jahre ausgelöst wurde. Diese wegweisenden Beispiele
    gestellt, dass die Substanz weder süchtig machte noch einen Kausal-             und die organisierte Überzeugungsarbeit der Städte trugen maßgeblich
    zusammenhang mit delinquentem Verhalten aufwies.27                              dazu bei, dass innovative Maßnahmen „vom Rand in den Mainstream“ der
                                                                                    nationalen und internationalen Drogenpolitik gelangten.29
    Das FBN, dessen Auftrag in der Kontrolle von Drogen mit strafrechtli-
    chen Mitteln bestand, konnte LaGuardia und andere Gegner der Pro-               Anfang der 1990er-Jahre propagierte das Netzwerk European Cities on
    hibition von der Umsetzung der Ergebnisse der Studie und möglichen              Drug Policy, in dem zunächst deutsche, niederländische und schweizerische
    Reformen abhalten. Nachfolgende Studien zu den Auswirkungen von                 Städte vertreten waren, für neue und zum damaligen Zeitpunkt kontroverse
    Cannabis, die insbesondere in den 1970er-Jahren von mehreren na-                Initiativen. 2001 lieferte das Netzwerk eine aufschlussreiche Erklärung für
    tionalen Kommissionen durchgeführt wurden, bestätigten viele der                die Dynamik der Drogenpolitik in den Städten:
    Ergebnisse des Berichts des LaGuardia-Ausschusses.28
                                                                                                  „Die Städte erleben soziale Phänomene und die im Zusammenhang
                                                                                                  damit auftretenden Spannungen unmittelbar. Zugleich sind sie aber
                                                                                                  auch der Ort, an dem ein wahrer sozialer Dialog entstehen und auf
                                                                                                  die Verhältnisse einwirken kann, die alle Bürger der Gemeinschaft
                                                                                                  täglich mehr oder weniger direkt betreffen. Daher sind lokale Ansät-
                                                                                                  ze vor allem wegen ihrer Problemnähe und deshalb wichtig, weil die
                                                                                                  Antworten unmittelbar umgesetzt, erlebt und verstanden werden
                                                                                                  können. Zudem lassen sich finanzielle und personelle Ressourcen auf
                                                                                                  lokaler Ebene rascher und effektiver einsetzen – ein Argument, das
                                                                                                  immer mehr an Bedeutung gewinnt, da auch für die Drogenpolitik zu-
                                                                                                  nehmend das Gebot der „Kostenwirksamkeit“ gilt und die gewaltigen
                           Der Letten in Zürich, damals die größte offene Drogenszene der Welt    lokalen Budgets, die in den frühen 1990er-Jahren für diesen Bereich
                                                                    © Martin Rütschi / Keystone   bereitgestellt wurden, mittlerweile gekürzt oder umverteilt werden."30

10
Die Reaktion des öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber Menschen, die Drogen injizieren, und der Ausbreitung von HIV Anfang der 1980er-Jahre
ging eher von den Stadtverwaltungen, die mit Aktivisten und nichtstaatlichen Organisationen zusammenarbeiteten, und zwar zunächst von Liverpool und
Amsterdam, als von den nationalen Regierungen der betreffenden Länder (Vereinigtes Königreich und Niederlande) aus.31 Viele westeuropäische Städte
verzeichneten einen beträchtlichen Anstieg der Zahl von Menschen, die sich
Drogen, hauptsächlich Heroin, injizierten, häufig konzentriert in offenen
Drogenszenen. Die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung stieg an, andere
Infektionskrankheiten wie Hepatitis und Tuberkulose breiteten sich aus,          DER FRANKFURTER WEG
und die Straßenkriminalität (Drogenhandel auf der Straße, Raubüberfälle,
Auto- und Wohnungseinbrüche) nahm zu. In ihrem Zusammenspiel stellten            In den 1980er-Jahren gab es in Frankfurt eine große offene Dro-
diese Faktoren eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit          genszene rund um die Taunusanlage in der Nähe des Hauptbahnhofs.
und Sicherheit dar.32, 33 Zwischen 1985 und 1995 erhöhte sich die Zahl           In diesem offenen Umfeld bestanden gehäuft erhebliche gesundheit-
der Todesfälle durch Überdosierung in 15 EU-Mitgliedstaaten um 150 %,            liche Risiken, unter anderem bedingt durch hohe Raten von HIV- und
hauptsächlich bedingt durch das Injizieren von Heroin. Im Dezember 1995          Hepatitis-Infektionen und Todesfälle durch Überdosierung. Ebenso
waren mehr als 40 % der in Europa gemeldeten kumulativen Aids-Fälle auf          wie in anderen europäischen Städten reagierte die Polizei zunächst
die Injektion von Drogen zurückzuführen.34                                       mit regelmäßigen Razzien, die bestenfalls zu einer vorübergehenden
                                                                                 Verlagerung der Szene führten. Ab Ende der 1980er-Jahren verfolgte
Die anfängliche Reaktion, die darin bestand, diese offenen Drogenszenen          die Stadt als erste einen neuen Ansatz, der als „Frankfurter Weg“ be-
durch traditionelle repressive Maßnahmen und Schikane aufzulösen,                kannt wurde.37
erwies sich als unwirksam. Allmählich wurde ein neuer Ansatz entwickelt:
Viele Städte reagierten mit einer Kombination aus Präventions-,                  Ein zentrales Element dieses neuen Konzepts war die Einrichtung
Repressions-, Schadensminderungs-           und Therapiemaßnahmen.               eines Koordinierungsausschusses im Jahr 1987 und eines Drogenre-
Es bildeten sich Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den                     ferats im Jahr 1989. Diese ämterübergreifende, als „Frankfurter Mon-
Gesundheitsdiensten, den Sozialdiensten und der Polizei heraus.                  tagsrunde“ bekannte Gruppe, die alle zwei Monate zusammentrat,
Leicht zugängliche, „niedrigschwellige“ Angebote – mit minimalen                 wurde vom Oberbürgermeister eingesetzt, um Experten für Drogen-
Anforderungen, z. B. ohne den Versuch, die Einnahme von Drogen                   fragen zusammenzubringen und eine Abstimmung der Politik und
bei den Konsumierenden zu kontrollieren – wurden mit dem Ziel                    Praxis zwischen dem Magistrat, der Polizei, der Staatsanwaltschaft,
bereitgestellt, die offenen Drogenszenen zu beseitigen. Dabei handelte           dem städtischen Drogenreferat und Vertretern der lokalen Drogenhil-
es sich insbesondere um Nadel- und Spritzenprogramme sowie Opioid-               fe zu ermöglichen.38
Substitutionstherapien. Diese Maßnahmen wurden um andere Angebote
zur Schadensminderung ausgeweitet, etwa die soziale Integration über             Mit dieser Struktur konnte die Einführung einer breiten Palette von
Wohn- und Arbeitsprogramme, Einrichtungen für sicheren Konsum und                Interventionen zur Schadensminderung koordiniert und erleichtert
heroingestützte Behandlung.35 Eine Studie über die Maßnahmen in fünf             werden. Niedrigschwellige Methadonambulanzen und Fachstellen
europäischen Städten – Amsterdam, Frankfurt, Lissabon, Wien und Zürich           (Drop-Ins) wurden dezentralisiert und ausgeweitet, und es wurden
– gelangte zu folgendem Schluss:                                                 überwachte Injektionsräume eingerichtet, der erste 1994 und drei
                                                                                 weitere 1996. Im Laufe der Jahre passte die Stadt ihre Drogenpolitik
                                                                                 weiter an, um neue Herausforderungen wie Crack zu meistern und
      „Diese Maßnahmen stützten sich auf eine grundsätzliche Akzeptanz           Schwachstellen des ursprünglichen Ansatzes zu beheben, beispiels-
      von Drogenkonsumierenden, einschließlich derjenigen, die nicht             weise durch die Bereitstellung von mehr Wohnraum und anderen
      willens oder in der Lage waren, den Konsum illegaler Drogen                Unterstützungsdiensten.39
     einzustellen, wenn auch in Verbindung mit einer Politik, die die
     Fortsetzung destruktiver Verhaltensweisen in Form von öffentlichen           Das Frankfurter Modell soll einen Ausgleich zwischen den Bedürf-
     Ärgernissen nicht zuließ. Die Städte etablierten eine Politik der            nissen und Interessen der Menschen, die Drogen konsumieren, und
     „Null-Toleranz“ gegenüber öffentlichen Ärgernissen, bemühten sich            denen der Gesellschaft allgemein schaffen und setzt zu diesem Zweck
     aber dennoch um Aussöhnung und erarbeiteten Ansätze für eine                 auf eine enge Zusammenarbeit mit der städtischen Polizei und eine
     „Koexistenz“ zwischen der Gesellschaft und den Konsumierenden                Politik der „Null-Toleranz gegenüber öffentlichen Ärgernissen“.40 Der
     illegaler Substanzen. Dies trug dazu bei, unfruchtbare Kontroversen          Ansatz hat die Politik in vielen Städten in Europa und weltweit geprägt
     zwischen liberalen und konservativen Ideologien und Politikkonzepten         und dürfte eine Schlüsselrolle dabei gespielt haben, die offene Dro-
     zu beenden. Die Lösungen sind in einer geeigneten Kombination von            genszene in Frankfurt unter Kontrolle zu bekommen. Auf diese Weise
     Schadensminderungs- und restriktiven Maßnahmen zu finden.“36                 war es möglich, wichtige Zugewinne im Bereich der öffentlichen Ge-
                                                                                  sundheit zu erzielen, Leben zu retten und die öffentliche Sicherheit
                                                                                  zu erhöhen.41
In vielen Städten beruhte der Prozess der politischen Innovation auf einem
Ansatz, der in Spanien mit „lieber um Verzeihung bitten als um Erlaubnis“
beschrieben wird. Einige öffentliche Amtsträger und Aktivisten, die sich
durch den Rückhalt in einem bestimmten Teil ihrer Wähler bestärkt fühlen, betreiben eine rechtlich riskante Politik, anstatt sich um die Zustimmung anderer
Regierungsebenen zu bemühen und von vornherein eine Absage zu riskieren. Viele Städte in Europa haben mit dieser Strategie vollendete Tatsachen
geschaffen, was der Strategie zivilgesellschaftlicher Gruppen entspricht, die umstrittene Dienste – etwa überwachte Konsumeinrichtungen – in Form von
Notfallmaßnahmen bereitstellen, anstatt darauf zu warten, dass Unterstützung auf städtischer Ebene gewährt wird.

                                                                                                                                                        11
AUSGLEICH GEGENSÄTZLICHER BÜRGERINTERESSEN AUF LOKALER EBENE

Wenn lokale Behörden aktiv wurden, geschah dies allerdings nicht immer
aus eigenem Antrieb. Oft wurden unorthodoxe Maßnahmen zur Krisenbe-
wältigung durch zivilen Ungehorsam gefördert. In den 1980er-Jahren etwa
spielte der Junkiebond (ein Verband, der die Interessen von Drogenkon-                       Ich verfolge einen fortschrittlichen Ansatz, der die Menschen-
sumierenden vertritt) in Amsterdam und Rotterdam eine Vorreiterrolle in                      rechte achtet und keine Hemmschwellen aufweist: Deshalb
Bezug auf den Spritzentausch und ein höchst unkonventionelles „niedrig-                      hat Paris aktiv an der Umsetzung des Plans zur Bekämpfung
schwelliges“ Methadonprogramm, das statt auf Abstinenz auf Stabilisie-                       von Crack, auch als „Anti-Crack-Plan“ bekannt, mitgewirkt.
rung und Schadensminderung setzte. Diese Innovationen wurden darauf-                         Uns geht es nicht darum, Menschen, die Crack konsumie-
hin in beiden Städten vom städtischen Gesundheitsdienst und vom lokalen                      ren, zu bekämpfen, sondern ihnen zu helfen, indem wir die
Gesundheitsamt übernommen.42 In Liverpool und im Großraum Merseysi-                          Schadensminderung so finanzieren, dass sie sich als konkrete
de kamen ähnliche Guerilla-Taktiken zum Zuge.43 Auch in Australien war für                   Politik etabliert. Wir müssen eng mit den NGO zusammenar-
das erste Nadel- und Spritzenprogramm Sydneys und das erste medizinisch                      beiten, ihnen Gehör schenken und vor allem stärkere Partner-
überwachte Injektionszentrum, die beide zum Zeitpunkt ihrer Gründung                         schaften mit anderen Städten aufbauen.
(1986 bzw. 1999) noch illegal waren, „tolerierter“ ziviler Ungehorsam er-                    Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, 2020
forderlich.44

                                                                                          SICHERE KONSUMEINRICHTUNG IN PARIS

                                                                                          In Frankreich werden seit den 1990er-Jahren neben Nadel- und
                                                                                          Spritzenprogrammen auch Opioid-Substitutionstherapien ange-
                                                                                          boten.45 Schadensminderungsmaßnahmen werden jedoch nach
                                                                                          wie vor kontrovers diskutiert, insbesondere Einrichtungen für den
                                                                                          sicheren Konsum. Die öffentliche Meinung zu den „Druckstuben“
                                                                                          („salles de shoot“), wie sie vor Ort bezeichnet werden, scheint seit
                                                                                          Langem geteilt. Politiker haben Befürchtungen geäußert, dass mit
                                                                                          diesen Angeboten der Drogenkonsum offenbar stillschweigend
                                                                                          geduldet oder möglicherweise das Injizieren von Drogen befeuert
                                                                                          wird.46 Trotz des wissenschaftlichen Konsenses darüber, dass sichere
                                   Spritzentausch 1988. © San Francisco AIDS Foundation
                                                                                          Konsumeinrichtungen sich eher positiv als negativ auf die lokalen
                                                                                          offenen Drogenszenen auswirken47, hat der anhaltende Widerstand
Die Stadtverwaltungen haben auch mit Reaktionen verärgerter Anwohnern                     von Anwohnern und Verfechtern einer drogenfreien Gesellschaft
nach dem Motto „Nicht in meinem Vorgarten“ zu kämpfen, die Interventionen                 Versuche behindert, solche Einrichtungen in Paris zu etablieren.
zur Schadensminderung ebenso förderlich wie hinderlich sein können. In den
Schweizer Städten Zürich und Bern wurden Drogenkonsumräume unter ande-                    Die erste Einrichtung für den überwachten Konsum – ein sechsjäh-
rem aufgrund der weit verbreiteten Unzufriedenheit der Bürger mit den offe-               riges Pilotprojekt – wurde 2016 in der Nähe der Gare du Nord, des
nen Drogenszenen eingerichtet. Die Reaktionen der Anwohner bezogen sich                   größten Bahnhofs Europas, eröffnet, der bekannt ist für seine nahe-
auf die Nebeneffekte des Drogenkonsums, darunter Kriminalität, Ladendieb-                 gelegene offene Drogenszene und für Kleinkriminalität.48 Sie bietet
stähle, Raubüberfälle und Einbrüche, die Präsenz schwerkranker Menschen auf               einen geschützten Raum sowie niedrigschwellige Therapie- und Be-
der Straße und Todesfälle, zu denen es trotz aufsuchender Gesundheitsarbeit               ratungsangebote für Menschen, die Drogen injizieren.49
immer wieder kam – vor allem am berüchtigten Platzspitz im Zentrum von Zü-
rich, der als „Needle Park“ bekannt wurde.50,51

Zugleich lehnen Anwohner mitunter Interventionen wie die Einrichtung siche-
rer Konsumorte ab, weil sie befürchten, dass dadurch die öffentliche Ordnung
gestört wird. Solche Schadensminderungsmaßnahmen sind jedoch unerläss-                       Die Drogenpolitik sollte auf Schadensminderung bei Men-
lich, weshalb ihre Erfolge publik gemacht und ihre Defizite behoben werden                   schen, die Drogen konsumieren, setzen, anstatt die mit
müssen, damit sie Unterstützung finden und weniger Widerstand hervorrufen.                   der Kriminalisierung des Drogenkonsums verbundene
                                                                                             Stigmatisierung zu verstärken. Dank der Ausweitung der
Diese Form des Ausgleichs gegensätzlicher Bürgerinteressen, die ein Mitein-                  Schadensminderungsangebote in Lissabon und in Portugal
ander im städtischen Raum ermöglicht, ist eines der Markenzeichen der kom-                   konnte die Zahl neuer HIV-Fälle bei Menschen, die Drogen
munalen Politik. Während der Heroinkrise hatten die Städte es auf der einen                  injizieren, deutlich gesenkt werden.
Seite mit Verbänden von Menschen, die Drogen konsumieren, ihren Familien,                Fernando Medina, Bürgermeister von Lissabon, 2020
Reformern der Drogenpolitik und Verfechtern der Schadensminderung zu tun.
Auf der anderen Seite drohten wütende Anwohner, die sich vom Ärgernis „ge-
duldeter“ offener Drogenszenen gestört fühlten, mitunter damit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und zwar mit Unterstützung von Befürwortern einer
konservativen Drogenpolitik, deren Angebote sich auf Abstinenzprogramme beschränkten.52, 53

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