Editorial - Zeitgeschichte Museum Ebensee

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Editorial
                                                                                  Inhaltsverzeichnis

COVID-19 und der Rechtsextremismus
                                                                                  Seite 4
Vorweg: COVID- 19 Einschränkungen der persönlichen Freiheit sollen                NSDAP und Parteimitgliedschaft in
selbstverständlich kritisiert und ihre Rechtsstaatlichkeit und Faktizität über-   Ebensee (1923-1945)
prüft werden, vor allem dann, wenn Regierungen ohne das Parlament oder            von Wolfgang Quatember
den Bundestag zu bemühen, diese Beschränkungen erlassen.
Gegenwärtig werden jedoch aufmerksame Beobachter des politischen Ge-
schehens Zeugen eines interessanten politischen Phänomens. Die extreme            Seite 13
Rechte, also die „Alternative für Deutschland“, die „Querdenker“ inklusive        Von Hamburg nach Ebensee -
der PEGIDA- Bewegung sowie die Identitären und die FPÖ, sieht sich in der         Die Verfolgungsgeschichte von Max Fryc
Rolle von Widerstandskämpfern gegen die COVID 19 „Zwangsmaßnah-                   von Johanna Schmied
men“ und gerieren sich zu Verteidigern von Freiheitsrechten und Demokra-
tie. In ihrer pervertierten und naiven Geschichtsbetrachtung versuchen
manche sogar in die Rolle von Anne Frank und Sophie Scholl zu schlüpfen           Seite 16
oder sich den „Judenstern“ anzuheften. Dieses Phänomen ist nicht neu,             Franz Stangl und Hartheim - das Urteil,
denn auch Strache hatte sich schon 2012 angesichts der Proteste gegen             das nie verkündet wurde!
den WKR- Ball zum Sager verstiegen: „Wir sind die neuen Juden“ und Ana-           von Andre Otte Stensager
logien zum „Novemberpogrom“ herzustellen versucht. Vor Jahren schon war
ich auf einer KZ- Gedenkfeier in Linz Zeuge, als das Gesetz zum Schwan-
gerschaftsabbruch mit der Massentötung in Mauthausen gleichgesetzt                Seite 24
wurde: „100.000 Tote in Mauthausen“ - „100.000 Abtreibungen jährlich“.            Kakao für hungernde Kinder. Das
Was passiert in diesem Zusammenhang? Die Politologin Natascha Strobl              amerikanische Kinderhilfswerk und das
(Thread auf Twitter vom 23.11.2020) ortet drei Phänomene: Zuerst die An-          Salzkammergut 1919-1922
eignung von Symbolen, Errungenschaften oder Persönlichkeiten der poli-            von Michael Kurz
tisch Linken, dann die ideologische Umwertung, damit meint sie, die
Symbole werden aus ihrem historischen Umfeld herausgelöst und etwa als
„Personen, die für etwas Gutes stehen“ (N. Strobl) für ihre politischen Zwe-      Seite 29
cke wieder eingesetzt. Damit wird der dritte Schritt vollzogen, nämlich die       Vertrieben - Die jüdische Familie
Instrumentalisierung. Obwohl die „Querdenker“ nichts mit Sophie Scholl            Morgenstern aus Bad Ischl
und Anne Frank verbindet, versuchen sie das Schicksal der Symbolfiguren           von Nina Höllinger
des Widerstands gegen die NS- Diktatur mit ihrem zu verknüpfen, als wäre
die Bundesrepublik Deutschland in irgend einer Weise mit dem Nationalso-
zialismus vergleichbar. Ein 11jähriges Mädchen etwa las auf einer „Quer-          Seite 32
denker-Demo“ in Karlsruhe eine Rede vor, in der sie sich mit Anne Frank           DVD - „An einem Tag im April - Ein Dorf
verglich. Sie habe wie Anne Frank, so das Mädchen, wegen der COVID 19 –           im Fadenkreuz der Alliierten”
Verordnungen bei ihrem Geburtstag mit ihren Freundinnen „mucksmäus-               von Wolfgang Quatember
chen still sein müssen, um von den Nachbarn nicht verpetzt zu werden“.
(Stuttgarter Zeitung, 17.11.2020, online Ausgabe).
Abgesehen von der schamlosen Verharmlosung der Verbrechen des Natio-              Seite 33
nalsozialismus wird Demokratie mit der NS- Diktatur gleichgesetzt. Dabei          Zeithistorisches Relikt. Einbindung in die
verschweigen aber die „Querdenker“, dass es ihnen gerade die Demokratie           KZ-Gedenkstätte realistisch
ermöglicht, auf den Demos „Merkel muss weg!“ zu rufen. Was in der NS-             von Wolfgang Quatember
Diktatur mit Demonstranten geschehen wäre, die „Hitler muss weg!“ geru-
fen hätten, wird geflissentlich ausgeblendet. Rechtsextreme benutzen demo-
kratische Rechte, um die Demokratie zu desavouieren und in letzter                Seite 34
Konsequenz zu beseitigen. Das haben die 20er und 30er Jahre in Deutsch-           Buchshop
land und Österreich nachhaltig bewiesen. Das ist auch eine
Kernaussage, die in unseren Workshops mit Schüler*innen im
Museum immer wieder diskutiert werden muss.

Wolfgang Quatember

                                                             Seite | 3
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

 NSDAP und Parteimitgliedschaft in Ebensee
 (1923-1945)
 Wolfgang Quatember

Traditionelle Heimatsgeschichtsschreibung erschöpft           alleistungen und auch die Befreiung vom Militärdienst.
sich zumeist in unreflektierter Wiedergabe lokaler histo-     Diese Vorzüge bedingten eine hohe Sesshaftigkeit und
rischer Ereignisse und listet anekdotenhaft mehr oder         Selbstrekrutierung der Arbeitsplätze aus dem eigenen
weniger Bedeutungsvolles auf, das in vielen Fällen            Nachwuchs, weswegen ein stabiles Netz von Familien-
einem von der Leserschaft erwarteten Harmoniebe-              und Verwandtschaftsbeziehungen enstand. Dieses
dürfnis folgt. Die tatsächliche soziale und politische        Standesbewusstsein und der hohe Organisationsgrad,
Wirklichkeit erscheint im günstigen Fall als verklärt, ge-    beides resultierte auch aus den zahlreichen Konflikten
sellschaftspolitische Ursachen bleiben unhinterfragt.         mit der Obrigkeit (Reglementierungen im Salzwesen,
Insbesondere die Periode des Nationalsozialismus in-          Servitute, ausstehende Lohnerhöhungen), schrieben
klusive seine langjährige Entstehungsgeschichte wird in       das ausgeprägte Protestverhalten fort, das durchaus
lokalen Räumen immer noch bewusst ausgeklammert.              bis in die Zeit der gewaltsamen Gegenreformation der
Trotzdem sind mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche       Habsburger zurückreichte. Ab dem beginnenden 17.
lokal- und dorfgeschichtliche Arbeiten verfasst wor-          Jahrhundert zog sich ein großer Teil der Bevölkerung in
den, die sich der NS- Zeit in Orten, Städten und Regio-       den Kryptoprotestantismus zurück. In den südlichen
nen widmen1.                                                  Orten des Inneren Salzkammerguts, etwa Bad Goisern,
Dabei trugen tausende Männer und Frauen auch in               Hallstatt, Obertraun und Gosau existiert bis heute eine
den kleinen Ortschaften dazu bei, die NS- Diktatur zu         große evangelische Mehrheit. Nicht ohne Grund ent-
organisieren und durch Übernahme von Aufgaben und             standen aus dieser „Widerborstigkeit“2 in der Folge ab
Ämtern zu stabilieren. Hier soll unter anderem der            1867 in der Region die ersten Arbeiterbildungs- und
Frage nachgegangen werden, welche Motive die Men-             Konsumvereine als Selbsthilfeorganisationen3.
schen zu einer Akzeptanz und Mitgliedschaft in einer          Die Marktgemeinde Ebensee mit rund 8000 Einwoh-
Gliederung des Nationalsozialismus geführt haben.             nern liegt am Südufer des Traunsees und wurde erst
Im Folgenden wird von einer kursorischen historischen         1861 durch eine Straße und 1877 durch die Kronprinz-
Beschreibung der Region Salzkammergut und der Ge-             Rudolf-Bahn verkehrstechnisch erschlossen. Bis dahin
meinde Ebensee ausgehend, deskriptiv der Aufstieg der         war das „Innere Salzkammergut” von Norden her nur
lokalen NSDAP von 1922 bis 1938 verfolgt. In einem            auf Saumwegen oder per Schiff über den Traunsee er-
letzten Teil wird auf die Motivlage für einen NSDAP-          reichbar. Ebensee ist historisch gesehen von Großin-
Beitritt eingegangen, die aus den Entregistrierungsak-        dustrie geprägt (Saline, Solvay Werke, Weberei), wobei
ten ehemaliger NSDAP-Mitglieder (Parteigenoss*innen,          durch Werksschließungen und Rationalisierungsmaß-
SS-Männern, SA- Männern, NSKK (NS Kraftfahrkorps),            nahmen die Mehrzahl der Industriearbeitsplätze seit
NSFK (NS Fliegerkorps) ableitbar ist, auch wenn diese         den 1990er Jahren verloren gingen.
aus der Nachkriegszeit datieren, Rechtfertigungsstrate-       1868 entstand in Ebensee einer der ersten Konsumver-
gien verfolgen und deswegen aus kritischem Blickwin-          eine österreichweit. Die ersten freien Wahlen führten zu
kel zu betrachten sind.                                       einer starken sozialdemokratischen Mehrheit. Die In-
                                                              dustriearbeiter*innen organisierten sich in zahlreichen
Das Salzkammergut – Ebensee                                   Arbeitervereinen. In den 1920er und 1930er Jahren
Im Salzkammergut ist ein spezifisches, regionales Son-        war die Ebenseer Bevölkerung von den Wirtschaftskri-
derbewusstsein feststellbar. Das Salzkammergut war            sen besonders stark betroffen. Etwa 1934 wurden rund
seit Jahrhunderten mit seinem Salzbergbau und der             1000 Arbeitslose gemeldet, wovon zahlreiche Werktä-
Forstwirtschaft ein weitgehend autonomes Wirtschafts-         tige schon jahrelang „ausgesteuert“, also ohne Unter-
gebiet. Die in diesen Betrieben tätigen Menschen ge-          stützung waren. Die politische Situation in der Ersten
nossen Privilegien, die ein ausgeprägtes                      Republik kann als konfliktbehaftet beschrieben werden.
Standesbewusstein förderten. Zu nennen sind freie             Teilweise gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen
Lohnarbeit, geregelte Arbeitszeiten, Natural- und Sozi-       dem Republikanischen Schutzbund und den Heimweh-

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betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

ren sowie dem Deutschvölkischen Turnverein prägten                      Jahr    NSDAP      SA      SS    HJ     BDM     Frauen
das lokale politische Geschehen. Der Februaraufstand                    1928      11
zur Verteidigung demokratischer Rechte führte zu                        1930      14       7
einem Generalstreik der Industriearbeiter*innen und                     1932               50      4      7
zur Besetzung zentraler Verwaltungs- und Infrastruktur-                 1933       60                     13
einrichtungen des Ortes durch den Schutzbund. Erst                      1934                              35
massives Militär- und Heimwehraufgebot führte in                        1936                                                120
Ebensee zum Erfolg der Dollfußdiktatur. Zahlreiche                      1938               186     31     23      17        189
Verhaftungen, Enteignungen und Arbeitsplatzverlust                             Mitgliederentwicklung der NSDAP in Ebensee
waren die Folge.4                                                                     Quelle: NSDAP-Chronik Ebensee

Die NSDAP in Ebensee5
Die ersten Gründungen von NSDAP Ortsgruppen er-
folgten im Salzkammergut 1921 in Gmunden, im De-
zember 1922 in Ebensee und 1923 in Bad Goisern.
Die Proponenten der Partei setzten sich im wesentli-
chen aus Mitgliedern des Deutschen Turnvereines zu-
sammen. In den ersten Gründungsmonaten hatte die
Ebenseer Ortsgruppe bereits 52 Mitglieder. Die erste
öffentliche Versammlung der NSDAP fand im Mai
1923 statt. Im Juli desselben Jahres nahm bereits eine
Fahrradabteilung der SA, die dem „Sturmtruppenkom-
mando Linz“ unterstellt war, mit 15 Mann an einer
Führerbesprechung in Salzburg teil. Bemerkenswert ist
die in der NSDAP Chronik festgehaltene Selbstbezeich-                        Plakat der SA Ebensee für die Teilnahme an der
                                                                        Winter-Sonnenwende 1938 Foto: E. Zakarias/Archiv ZME
nung der SA als „Vaterländischer Schutzbund“. Offen-
sichtlich sollte eine Alternative zu den Verbänden der            zialer wie gegen großdeutsches Bürgertum einerseits,
„Heimatwehren“ und dem 1923 ebenfalls gegründeten                 Haft des Führers und Aufspaltung in verschiedene Rich-
„Republikanischen Schutzbund“ ins Leben gerufen                   tungen andererseits, hemmten den Aufstieg der Orts-
werden.                                                           gruppe.“8
Bei der Gemeinderatswahl im Jahr 1924 stimmten 197                Der Chronik zufolge kam die Parteitätigkeit ab 1925
Ebenseer*innen für die NSDAP, ein Jahr später bei den             fast zum Erliegen und erst 1928 konnten wieder Mit-
Landtagswahlen 243, womit das Stimmenmaximum                      gliedsbeiträge eingehoben werden. Erster Ortsgruppen-
bis zur letzten demokratischen Wahl 1931 erreicht war             leiter war seit Mai 1926 der Salinenschlosser Franz
(siehe tabellarische Aufstellung)6. Innerparteiliche Riva-        Steinkogler.
litäten und österreichweite Richtungsstreitigkeiten               Aufgrund der im OÖ. Landesarchiv erhalten gebliebe-
hemmten vorerst die Entwicklung der Partei7.                      nen Entregistrierungsansuchen9 (980 Registrierungsbö-
                                                                  gen für Ebensee, 612 Bad Goisern, 1751 Bad Ischl,
Im Chronikrückblick aus dem Jahr 1938 heißt es: „Der              175 Gosau) ist davon auszugehen, dass etwa 1000
schwere politische Kampf gegen die sozialdemokrati-               Ebenseer*innen in einer der Gliederungen der NSDAP
sche Mehrheit, gegen einen festen Block Christlichso-             organisiert waren. Personen in US- Haft (Glasenbach
                                                                  „Camp Marcus W. Orr“), von österreichischen Behör-
   Wahlen  NS-Stimmen                     M nner
                                          Männer   Frauen         den Inhaftierte und kriegsgefangene Spätheimkehrer
  GRW 1924     197                         100       97           sind in den Entregistrierungbögen nicht enthalten. Wer-
  LTW 1925     243                         145       98           den nur die registrierten Personen (980) zur Berech-
  GRW 1925     173                          97       76           nung herangezogen, ergibt dies einen Prozentanteil
                                                                  von 11,07% der Gesamtbevölkerung (Bevölkerungs-
  GRW 1929     210                         108       102          stand Ebensee 1934: 8.852 Einwohner10 inklusive Min-
  NRW 1930     230                         127       103          derjährige). Im Vergleich dazu waren in Bad Goisern
  LTW 1931     236                         132       104          11,2% der Gesamtbevölkerung in einer registrierungs-
  NS-Stimmen in Ebensee bei diversen Wahlen 1924-1931             pflichtigen Gliederung der NSDAP organisiert, in Bad
 Quellen: NSDAP-Chronik Ebensee und https://doris.ooe.gv.at/      Ischl 16,91% und in Gosau 10,48%.

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betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

                                                                  rasch und versuchte, durch Terroraktionen auf sich auf-
                                                                  merksam zu machen. Anfangs konzentrierten sich die
                                                                  Anschläge und Schmieraktionen auf Parteiheime und
                                                                  Versammlungssäle der Sozialdemokraten, nach dem
                                                                  Februar 1934 auf Einrichtungen der „Vaterländischen
                                                                  Front“, etwa das Haus des Ebenseer „Frontführers“
                                                                  Josef Mittendorfer und auf den Pfarrhof. Hakenkreuz-
                                                                  fahnen wurden an unzugänglichen Stellen wie dem Sa-
                                                                  linenschlot angebracht oder Hakenkreuz- Höhenfeuer
                                                                  entzündet. Der Gendarmerie gelang es fallweise die
                                                                  Hintermänner auszuforschen und mit Geldstrafen und
                                                                  Internierung in den Anhaltelagern zu bestrafen. Die
                                                                  Ebenseer NS- Chronik schildert heroisierend ihren pro-
                                                                  pagandistischen Terror: „Der illegale Kampf in Ebensee
                                                                  war schwer und opferreich. Er wurde mit allen geeigne-
                                                                  ten Mitteln geführt und zog vielen Parteigenossen Ar-
                                                                  rest, Konzentrationslager (gemeint sind die Anhalte-
                                                                  lager Wöllersdorf und Kaisersteinbruch, d. Verf.), Ent-
                                                                  ziehung von Geschäftskonzessionen, Außerdienststel-
                                                                  lung, wie Brotlosmachung, zu. Als geheime Ortszeitung
                                                                  erschien in Ebensee alle zwei Wochen der „Nazibeob-
                                                                  achter“, außerdem Flugschriften für das Obere Salz-
                                                                  kammergut in Auflagen bis zu 20.000 Stück, die von
                                                                  Pg. Rudolf Heißl verfaßt und in einem Eiskeller verviel-
                                                                  fältigt wurden.“12
                                                                  Die Frauen, so die Chronik, sammelten Unterstützungs-
    Illegale Hakenkreuzfahne am Fabriksschlot der Saline,
          Februar 1934 Foto: E. Zakarias/Archiv ZME               beiträge, Lebensmittel, Kleider, Wäsche für die Inhaf-
                                                                  tierten und ihre Angehörigen. Zusätzlich organisierten
Die „Hitlerbewegung“, die sich ab 1928 in Ebensee in-             sie regelmäßige Weihnachtssammlungen unter den
nerparteilich durchzusetzen begann, zählte 1928 11                Mitgliedern.
und 1933 bereits 60 Parteigenoss*innen. Die SA rekru-             Obwohl es während des nationalsozialistischen Putsch-
tierte sich aus Mitgliedern des Deutschen Turnerbun-              versuches am 25. Juli 1934 in Ebensee zu keinen nen-
des. Sie übernahm den Saalschutz bei Veranstalt-                  nenswerten Auseinandersetzungen kam, dürfte im
ungen, betrieb die Wahlpropaganda und hatte einen                 Verlauf der folgenden Verhaftungen und behördlichen
eigenen „Motorsturm“, also Männer, die mit eigenen                Einvernahmen der 18jährige Matthias Nöhmer miss-
Motorrädern ausgestattet waren. 1938 war der Mitglie-             handelt worden und ein Jahr später an seinen Verlet-
derstand auf 186 Mann in drei „Stürmen“ angewach-                 zungen gestorben sein. Für ihn und andere „Märtyrer“
sen, die der „SA- Jägerstandarte 6“ (J 6) angehörten.             wurden nicht nur SA- Stürme neu benannt, sondern
Ab 1939 wurden die Stürme nach „gefallenen Helden                 auch alljährlich Heldenehrungen durchgeführt.
der Bewegung“ wie Matthias Nöhmer, Martin Deubler                 Im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme
oder Karl Traint benannt.11                                       wurden mindestens 30 namentlich bekannte Eben-
Die Schutzstaffel (SS) wurde 1932 mit 4 Männern ge-               seer*innen in „Schutzhaft“ genommen. Acht von Ihnen
gründet und hatte 1938 31 Mitglieder. Nationalsozia-              wurden in Konzentrationslagern und anderen Haftstät-
listische Betriebszellen (NSBO) entstanden 1931 in den            ten ermordet.13
Großbetrieben etwa den Solvay Werken und der Saline.              Die wenigen in Ebensee ansässigen Juden wurden
Die „Hitlerjugend“ wurde 1929 geründet, wobei sie bis             misshandelt und zur Ausreise gezwungen. Der jüdische
1932 dem Standort in Bad Goisern angeschlossen war.               Apotheker Mag. Sigmund Berger ertrank während der
Parallel dazu organisierte die NSDAP 1933 eine Mäd-               Flucht ins Exil im Atlantik. Der in Mähren geborene Di-
chengruppe (BDM) unter der Führung von Franziska                  rektor der Ebenseer Weberei, Arnold Stukart und seine
Ahammer, die bis 1938 auf 17 Mitglieder anwuchs.                  Frau Berta, wurden im Oktober 1942 in Auschwitz er-
Nach dem Parteiverbot der NSDAP Ende Juni 1933 re-                mordet14.
organisierte sich die Partei in Ebensee in der Illegalität

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                     Hitlerjugend und Sturmabteilung (SA) in Ebensee, undatiert Fotos: E. Zakarias/Archiv ZME

Wie oben angemerkt, waren etwa 11 Prozent der Eben-                meisters verliehen. Privates wurde zum „Dienst am
seer Bevölkerung als Mitglieder der NSDAP oder einer               Volk“. Zivile Feiern wurden zu Festen des NS-Systems
ihrer Gliederungen eingetragen. Darüberhinaus war                  und mit Pomp und detailreicher Regie versehen. Die
eine nicht unerhebliche Anzahl der Bürger*innen in die             propagandistische Inszenierung der Partei wurde vor
Arbeit der NSDAP miteingebunden, ohne ein Mitglieds-               allem an den Sonnwend- und „Julfeiern“ deutlich. Die
buch zu besitzen. Lehrer*innen, Heimatforscher und                 ganze Bevölkerung war eingeladen, Erscheinen wurde
Volksbildner, wie etwa Engelbert Koller15, stellten sich           zur Pflicht, Fernbleiben registriert.
unmittelbar in den Dienst der Partei und hielten Vor-              Der Nationalsozialismus bot vielfältige Identifikations-
träge.                                                             angebote. Die Tatsache, dass laut der Entregistrie-
                                                                   rungsbögen vor allem Gewerbetreibende und
Der Mythos der „Volksgemeinschaft” verfehlte in Eben-              Kaufleute, öffentliche Bedienstete (Förster, Eisenbah-
see seine Wirkung nicht. Die Nationalsozialisten de-               ner, Gemeindebedienstete, Gendarmen) Lehrer, Ärzte,
monstrierten nach Außen hin Gleichheit, obwohl sich                also die „Elite” des Ortes, sich rasch in den Dienst der
de facto an den Klassenunterschieden nichts geändert               Partei stellte, hatte eine gewisse Vorbildwirkung. Jeder,
hatte. Alle Lebensbereiche und Organisationen wurden               der wollte, konnte sich somit auch als wichtiges Mit-
unter die Kuratel der Partei gestellt, etwa die Feuer-             glied fühlen und seine Aufgabe für die „Volksgemein-
wehr unter die Führung des Ortsgruppenleiters, die Ge-             schaft” erfüllen. Das Durchschnittsalter (411
sangsvereine leitete nunmehr organisatorisch der                   Entregistrierungsansuchen) betrug 34 Jahre (1938).
Kulturrefernt der NS- Ortsgruppe. Für „Pflichterfül-
lung“ wurden Ehrungen und Auszeichnungen als Pro-                  Die Anzahl der Eheschließungen steigerte sich in Eben-
pagandamittel geschaffen. Arbeitsjubiläen organisier-              see 1938 gegenüber dem Jahr 1937 um 55%, 1939
ten die NS- Betriebsorganisationen (NSBO) in festli-               immer noch um weitere 26%. Zweifelsohne schufen
chem Rahmen, das Mutterkreuz wurde den Frauen                      die Nationalsozialisten Anreize zur Eheschließung, för-
unter Anwesenheit des Ortsgruppenleiters und Bürger-               derten sie mit dem Ehestandsdarlehen, „lösten sie vom

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Registrierungsformular aus dem Jahr 1947 Foto: Archiv ZME

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rein privatrechtlichen Kontext“16 und definierten Famili-        schluß an das größere stammverwandte Nachbarvolk
enpolitik als rassepolitisches und auch arbeitsmarktpoli-        einen Aufstieg der eigenen Heimat zu ermöglichen.“
tisches Instrument, da verheiratete Frauen ihre                  Diese Ansicht kalkuliert die Akzeptanz der Tatsache mit
Arbeitsplätze den Männern überlassen sollten. Ab                 ein, dass der „Deutsche“ auf Kosten „minderwertigerer
1940 ist ein Rückgang der Eheschließungen unter die              Völker“ seinen Lebensraum erweitern und dadurch
Anzahl von 1937 zu registrieren. Teile der männlichen            seine Entwicklung fördern könne.
Bevölkerung waren zur Wehrmacht eingezogen wor-                  Der Sozialismus schien bei anderen ein Beitrittsgrund
den, die existentielle Lage der Menschen begann sich             gewesen zu sein: „Ich war als Arbeiter seit jeher Sozia-
bedingt durch die Kriegswirtschaft zu verschlechtern.            list und habe mich auch während meiner Parteizugehö-
Die Bevölkerung machte sich trotz Jubelpropaganda                rigkeit als solcher gefühlt und benommen.“
der Machthaber Sorgen um die Zukunft.                            Das Ideal der „Deutschen Volksgemeinschaft“
                                                                 schwebte einem anderen vor: „Ich trat der Partei im
Eine zentrale Frage betrifft die Gründe für den Eintritt         guten Glauben bei, dadurch meinem Ideal einer einig
in die NSDAP. Was erwarteten die Menschen durch                  zusammenstehenden Volksgemeinschaft am besten
einen Parteieintritt oder einer ihrer Gliederungen? Wel-         dienen zu können.“
che Motive bewegten sie, das verbrecherische Regime
zu unterstützen?                                                 DIE PFLICHTERFÜLLER
Bei der Durchsicht der in den ersten Jahren nach                 „Ich erachtete es als meine Pflicht, der NSDAP beizu-
Kriegsende angelegten Entregistrierungsansuchen                  treten, umsomehr als ich durch den Beamteneid auf
(411 Originale von insgesamt 980 sind im Archiv des              Hitler persönlich verpflichtet war“, gab ein ehemaliger
ZME erhalten17), aus welchen in der Folge anonym zi-             Beamter als Entlastungsgrund an. In einem weiteren
tiert wird, lassen sich bei aller quellenkritischer Vorsicht,    Entregistrierungsansuchen ist zu lesen: „Ich kannte
je nach Inhalt der Argumentation und Verteidigungs-              nichts als treueste Pflichterfüllung“. Welche Kosequenz
strategie sieben Typen von NS-Parteigänger*innen un-             die „Pflichterfüllung“ im NS-Staat hatte, wird dadurch
terscheiden. Laut NS- Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945              deutlich, dass andere etwa als Entlastung bestätigen,
(in der Folge NS- Gesetz 1947) mussten sich alle ehe-            sie seien laut Gesetz verpflichtet gewesen, zu denunzie-
maligen Nationalsozialisten (PG, SA, SS, NSKK, NSFK)             ren, hätten es jedoch nicht getan. Dass Recht im NS-
registrieren lassen und wurden je nach Dauer und In-             Staat vielfach Unrecht war, dass Gesetze zu
volvierung im NS-System und dessen Verbrechen in                 Unrechts-Gesetzen wurden, war vielen Menschen,
Kategorien eingeteilt, nach welchen die Bemessung                auch schwer belasteten NS- Verbrechern bewusst, je-
von Sühnemaßnahmen erfolgte.18 Den Formularen                    doch sie beriefen sich in ihren Verteidigungsstrategien
sind in fast allen Fällen persönliche Schreiben und ent-         auf Pflichterfüllung und Gesetzestreue. Die in nahezu
lastende Unterlagen beigefügt, die darauf abzielen, die          allen Schreiben angeführte Floskel, „Ich habe nie
Beteiligung an der Stabilisierung des NS- Systems                gegen bestehende Gesetze verstoßen“, wird so zur
möglichst marginal erscheinen zu lassen.                         Farce.

DIE IDEOLOGEN                                                    DIE BELEIDIGTEN
„...wenn ich an einen Sieg glaubte, so war das nur da-           Mehrere bestätigten ihren freiwilligen Eintritt in die
rauf zurückzuführen, weil ich es nicht wahr haben                NSDAP, führten jedoch ihren angeblich sehr bald ein-
wollte, dass Österreich vom Bolschewismus überrannt              getretenen Gesinnungswandel als Entlastungsgrund ins
werden sollte.“ Angst vor dem Kommunismus, die von               Treffen. Abgesehen vom allgemeinen Stimmungsabfall
den Nationalsozialisten propagandistisch geschürt                etwa drei Jahre nach Kriegsbeginn, liegen die auslö-
wurde, war eine Argumentation, ein anderer gab an:               senden Momente für ihre Abkehr von der NS-Politik
„Die Gründe, die mich damals zum Beitritt veranlaßten,           nicht in ethisch-moralischen Bedenken, sondern in per-
waren keineswegs materieller, sondern ideeller Art,              sönlichen Nachteilen, die sie glaubten, erlitten zu
wobei mich der Glaube an eine Verbesserung unserer               haben: Ihre NSDAP- Mitgliedschaft habe nur Nachteile
nationalen Existenz und an eine günstigere wirtschaftli-         gebracht, etwa in der Wehrmacht, durch Kriegsereig-
che und damit soziale Entwicklung im allgemeinen                 nisse, durch unerfüllte Erwartungshaltungen. So etwa
nach den vielen Jahren der schweren Not erfüllte, ein            sei bei einigen keine Verbesserung der Situation am Ar-
Gedanke, der zu dieser Zeit viele Tausende beherrschte           beitsplatz eingetreten, die erwartete soziale Besserstel-
und in ihnen den Wunsch aufkommen ließ, durch                    lung sei ausgeblieben. Ab Kriegsbeginn waren plötzlich
Schaffung eines größeren Lebensraumes und den An-                viele Menschen Restriktionen unterworfen, mit welchen

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Persönliches Begleitschreiben zum Entregistrierungsansuchen, Beispiel Foto: Archiv ZME

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sie in der ersten Begeisterung 1938 nicht gerechnet         Ein Student gibt an, er habe Nachteile im Studium be-
hatten: Ausdehnung der Arbeitszeit und des Arbeitsan-       fürchtet, weswegen er der NSDAP beigetreten sei. Eine
falles, Einführung von Lebensmittelkarten u.a. Eine mit     Lehrerin wurde Parteimitglied, weil sie andernfalls eine
der Parteimitgliedschaft angestrebte Bevorzugung trat       Festrede nicht hätte halten dürfen. Ein Dentist führt an,
nicht ein, etwa wenn sich ein Gendarmeriebeamter            er sei nur in der NSDAP gewesen, weil er sonst keine
trotz Parteimitgliedschaft nicht gegen SA und SS            Patienten bekommen hätte usw. Ein Ebenseer bringt
durchsetzen konnte, wenn das freie Zimmer in der            diese Argumentation folgendermaßen auf den Punkt:
Wohnung trotz guter Beziehungen zur Partei für ausge-       „Um Unannehmlichkeiten zu entgehen trat ich der Par-
bombte „Reichsdeutsche“ freigegeben werden oder             tei bei und nun habe ich genau wegen dieses Schrittes
wenn zusätzlich unbedanke Arbeit geleistet werden           wiederum Probleme“.
musste.
                                                            DIE GETRIEBENEN
DIE SPÄTEN MORALISTEN                                       Druck seitens der Ortseliten oder von Arbeitgebern
Moralisch bedingte ablehnende Haltungen gegenüber           wurde mehrfach als weiterer Entlastungsgrund angege-
dem Nationalsozialismus resultierten in Ebensee viel-       ben. Der Parteieintritt wurde laut Angaben in den Ent-
fach aus der Tatsache, dass im November 1943 ein            registrierungsakten als Zwangsmaßnahme empfunden.
KZ- Nebenlager errichtet wurde. Erst mit der Lagerexis-     Insbesondere in der Beamtenschaft dominiert dieses
tenz im Ort wurde manchen Ebenseer*innen die Be-            Argument.
stialität des NS- Regimes vor Augen geführt. Erstmals       „Mein Beitritt zur NSDAP im Jahr 1938 erfolgte unter
wurden Teile der Bevölkerung der grausamen Behand-          dem Druck des damaligen Ackerbauministers Ing.
lung von KZ Häftlingen ansichtig. Bei einigen Partei-       Reinthaller, indem er sagte, er erwarte von jedem Be-
mitgliedern bewirkte diese persönliche unmittelbare         amten und Angestellten seines Ressorts, daß er der
Konfrontation mit dem vom NS- System bis zur physi-         NSDAP angehöre.“
schen Vernichtung ausgebeuteten Menschen, so geben          Ein weiterer schreibt, dass er ohne Vorinformationen
sie an, einen Gesinnungswandel.                             mit anderen in den Gemeindesaal geladen wurde, wo
                                                            der Bürgermeister mitteilte, er hätte die Funktion eines
DIE OPPORTUNISTEN                                           Blockleiters zu übernehmen. Die Direktoren der Webe-
Die gewollte und geplante Erreichung persönlicher Vor-      rei und Molkerei etwa gaben an, dass ihnen der Partei-
teile bzw. die Vermeidung von Nachteilen durch eine         eintritt nahegelegt worden sei. In der Polizeidienststelle
NSDAP-Mitgliedschaft wird in zahlreichen Entregistrie-      habe ein SS- Oberscharführer von seinen Beamten ulti-
rungsansuchen als Entlastungsgrund angegeben. Ei-           mativ verlangt, der SS beizutreten, andernfalls er ent-
nige Beispiele: Ein kränklicher Hilfsarbeiter trat der SA   lassen werde. In einer Staatsgewerbeschule wurde von
bei, weil er sich von der SA Mitgliedschaft Unterstüt-      den Schüler*innen der Eintritt in eine Parteiformation
zung erwartete.                                             verlangt. Eine Hausgehilfin eines Ebenseer Fleischhau-
Viele Männer in Ebensee erhofften sich Arbeit nach          ers gibt an, ihr Chef „hätte es gerne gesehen“, wenn
einer nachgewiesenen Mitgliedschaft wenigstens in der       sie der NSDAP angehören würde. Der Ortsgruppenlei-
SA. Nach der Entlassung aller „politisch Untragbaren“       ter habe mit der sofortigen Einberufung zur Wehrmacht
in den Betrieben im März 1938 setzte sich der Bürger-       gedroht, wenn eine Mitarbeit in der Partei abgelehnt
meister tatsächlich in erster Linie für die Aufnahme von    worden wäre. Ein Frau bestätigte: „Man gab allgemein
Parteigenossen ein. Für je 40 Mann einer Betriebsge-        bereitwillig dem Druck nach“.
folgschaft musste ein SA- oder SS- Mitglied aufgenom-
men werden, vermutlich auch um eine politische              DIE „IRREGELEITETEN“ UND „UNPOLITISCHEN“
Überwachung der Arbeiter*innen zu gewährleisten.            Darüberhinaus existierte eine große Gruppe jener, die
Die SA bot ihren Mitgliedern an, sich in der SA- Berufs-    sich nach 1945 als Geblendete und Getäuschte, als
schule weiterzubilden, wovon einige Ebenseer                Ausgenützte und Irregeleitete bezeichnen und behaup-
Gebrauch machten und dies in ihren Entlastungs-             ten, sich niemals politisch in irgendeiner Weise betätigt
schreiben angaben.                                          zu haben.
Auch die Ausstellung eines Gewerbescheines sei durch        Sie gaben „politische Unmündigkeit“ an und seien der
die Parteimitgliedschaft leichter möglich gewesen. Um       Propaganda „Brot für alle“ erlegen: „Die Nazi haben
also beruflich oder im Geschäft keine Nachteile zu          meine trostlose Lage ausgenützt und mich an ihre Seite
haben, sei man einer Gliederung der Partei beigetre-        gerissen“. „Ich führte damals eine Spielschar in Eben-
ten.                                                        see, die eigentlich keine politische Betätigung darstellte.

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Unsere Heimabende wurden ausschließlich mit Singen,                am 19.11. 2020, Gemeinderatswahlergebnisse in der Chronik
Volkstanz und Tanzmusik ausgefüllt.“                               der NSDAP Ebensee
                                                                   7 Siehe u.a.: Die Nationalsozialistische Partei In: Emmerich
Fazit                                                              Tálos, Herbert Dachs u.a. (Hrsg.): Handbuch des politischen
                                                                   Systems Österreichs: Erste Republik 1918–1933, Manz, Wien
Alle an dieser Stelle charakterisierten Verhaltensmuster           1995, S. 231–244)
halfen auf ihre Weise, das NS- System zu stabilisieren.            8 Parteichronik der NSDAP Ebensee, Erscheinungsjahr 1938,
Will man den Verteidigungsstrategien, bei allen kriti-             Abschrift, Archiv ZME, S. 204
schen Vorbehalten, Glauben schenken, erfolgten die                 9 LA OÖ, Politische Akten, „Nationalsozialisten-Akten” der Be-
Beitritte zur NSDAP freiwillig oder unter Druck, aus Be-           zirkshauptmannschaft Gmunden. Mein Dank gilt Hrn. Franz
                                                                   Scharf vom LA OÖ für seine Hilfestellung
quemlichkeit oder aus Angst, aus eigennützigen Moti-
                                                                   10 https://www.land-oberoesterreich.gv.at/files/statistik/gesell-
ven oder aus politischer Überzeugung.                              schaftundsoziales/bevstand/bevstand_40704.pdf Ebensee, abge-
Pauschale Verurteilungen sind ebenso unangebracht                  rufen am 17.11.2020)
wie eine generelle Entschuldigung. Biographien verlau-             11 Rundbrief des Führers der Jägerstandarte 6, Standartenfüh-
fen niemals linear und sind ohne Brüche zu beurteilen.             rer Zwettler, vom 6. März 1939, Archiv ZME, SG VIII-B13
Wesentlich ist jedoch, dass Menschen zu jeder Zeit,                12 Parteichronik der NSDAP Ebensee, Erscheinungsjahr 1938,
                                                                   Abschrift, Archiv ZME, S. 206
auch im Nationalsozialismus, Handlungsspielräume
                                                                   13 7 Opfern ist ein Denkmal und ein Gedenkstein am Ebenseer
vorfanden, die alternatives Agieren möglich machten.               Ortsfriedhof gewidmet: Truckenthanner Franz, Ortner Alois,
Das beweisen die Biographien von Männern und                       Promberger Karl, Loidl Josef, Weikl Karl, Promberger Karoline,
Frauen, die „anständig“19 geblieben sind, dem NS- Re-              Schleicher Hermine, Stummer Franz; Schrempf Johann wurde in
gime ihre Gefolgschaft partiell entzogen, zur Gänze                Majdanek ermordet und blieb bisher unerwähnt.
verweigerten oder sich zum Widerstand entschlossen.                14 Nina Höllinger, Arnold Stukart. Webereidirektor in Ebensee –
                                                                   ermordet am 1. Juni 1942 in Auschwitz In: betrifft widerstand,
Anmerkungen:                                                       135/Dez. 2019, S. 32ff.
                                                                   15 Generalappell des Sturmbannes J/6 Ebensee In: Salzkam-
1 Herausragend zu erwähnen sind das OÖ Landesarchiv mit            mergut Zeitung, 28. Juli 1938
zahlreichen Publikationen in der Reihe: OÖ in der Zeit des Na-     16 Josef Goldberger, NS-Gesundheitspolitik in Oberdonau, S. 69
tionalsozialismus und das Archiv der Stadt Linz mit Veröffentli-   (Reihe: OÖ in der Zeit des Nationalsozialismus, Band 1, Linz
chungen zur Stadtgeschichte. Schon 1983 erschienen unter           2008)
Herausgabe von Helmut Konrad und Wolfgang Neugebauer               17 Im Gemeindearchiv Ebensee lagerten bis ins Jahr 2000 411
unter dem Titel „Arbeiterbewegung-Faschismus-Nationalbe-           Entregistrierungbögen, die damals ins Archiv des ZME über-
wusstsein wichtige Beiträge zur Regionalgeschichte des Natio-      nommen wurdem. 569 Bögen fehlten aus unbekannten Grün-
nalsozialismus, etwa: Ernst Hanisch, Nationalsozialismus im        den.
Dorf: Salzburger Beobachtungen, S. 69ff                            18 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Europaverlag
Zum Widerstand gegen den NS seien die Publikationen des            Wien 1981; Walter Schuster, Wolfgang Weber, Entnazifizierung
DÖW erwähnt (z. B. Widerstand in OÖ, Salzburg...)                  im regionalen Vergleich, Archiv der Stadt Linz 2004; Roland
Zur KZ Geschichte von Mauthausener Nebenlagern, Zwangsar-          Pichler „Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonde-
beiter- und Kriegsgefangenenlagern entstanden in den letzten       rer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volks-
30 Jahren zahlreiche Arbeiten (Florian Freund, Bertrand Perz       gericht Wien“, Diss., Wien 2016; Winfried R. Garscha,
u.a.)                                                              Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS- Verbrechen,
2 Der Bad Goiserer Widerstandskämpfer, Politiker und Schrift-      In: Talos, Hanisch, Neugebauer, Sieder (Hg.), NS- Herrschaft in
steller Franz Kain bevorzugte den Ausdruck „Widerborstigkeit“      Österreich, S. 852ff.
als Charakterisierung für die Widerständigkeit der Salzkammer-     19 Weit gefasster Widerstandsbegriff nach Prof. Karl Stadler,
gutbewohner                                                        Karl Stadler, Österreich 1938-1945 im Spiegel der NS-Akten,
3 Zur frühen Arbeiterbewegung, Konsum- und Bildungsvereinen        Wien 1966, S. 11.
im Salzkammergut siehe Gerhart Baron, Der Beginn. Die An-
fänge der Arbeiterbildungsvereine in OÖ, Linz 1971
Zur Geschichte des Salzkammerguts sei neben zahlreichen an-
deren Texten besonders empfohlen: Franz Hufnagl, Die Maut zu
                                                                     Redaktionelle Richtigstellung
Gmunden. Entwicklungsgeschichte des Salzkammergutes,
Böhlau, Wien 2008                                                  Jan-Ruth Mills begehrt folgende Veröffentlichung:
4 Zur Geschichte der Ersten und Zweiten Republik im Salzkam-       Der Artikel „Ingenieur Karl Fiebinger (1913 - 2014)
mergut: Quatember, Felber, Rolinek. Das Salzkammergut. Seine       Bauingenieur im Auftrag der SS” von Wolfgang Qua-
politische Kultur in der Ersten und Zweiten Republik, Grünbach     tember in der Ausgabe Nr. 133 (Juli 2019), S.14-19 in
1999
5 Parteichronik der NSDAP Ebensee, Erscheinungsjahr 1938,
                                                                   „betrifft widerstand” basiert auf den historischen Re-
Abschrift, Archiv ZME                                              cherchen von Jan-Ruth Mills.
6 Landtags- und NR- Wahlergebnisse in Ebensee,
https://www.doris.at/themen/geschichte/wahlen.aspx, abgerufen

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betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

 Von Hamburg nach Ebensee -
 Die Verfolgungsgeschichte von Max Fryc
 Johanna Schmied

Seit einiger Zeit sind Karteikarten des „Displaced Per-
son Camp Ebensee“ online einsehbar.1 Durch Zufall
entdeckte das Ausstellungsteam denk.mal Hannover-
scher Bahnhof aus Hamburg darunter eine Karte von
Max Fryc.2 Er ist einer der wenigen, dessen Lebens-
wege nach seiner Zwangsausweisung aus Hamburg
während der sogenannten Polenaktion im Jahr 1938
zumindest in Teilen nachvollzogen werden kann. Die
US-Armee befreite ihn am 6. Mai 1945 in Ebensee. In
seine Heimatstadt Hamburg kehrte er nach Kriegsende
nicht zurück.

Max Fryc kam am 12. August 1919 in Hamburg, als
einziges Kind seiner Eltern Schaje und Golda Fryc, zur
Welt. Die Familie besaß die polnische Staatsangehörig-      Gedenkstein zur Erinnerung an die Vertreibung der polnischen
keit und war in Hamburg Teil der Jüdisch-Israelitischen                 Jüdinnen und Juden aus Altona 1938
                                                             Foto: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur
Gemeinde. Nach der nationalsozialistischen Macht-
                                                                 Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen, 2011
übernahme im Jahr 1933 war die jüdische Familie zu-
nehmend antisemitischen Anfeindungen und                  Der Anlass für die Deportationen war ein Beschluss des
Diskriminierungen ausgesetzt. Schaje Fryc sah für sich    polnischen Parlaments aus dem Jahr 1938, welcher
und seine Familie unter diesen Umständen in Deutsch-      allen polnischen Staatsangehörigen jüdischen Glau-
land keine Zukunft mehr und emigrierte im November        bens, die länger als fünf Jahre im Ausland lebten, die
1937 nach Argentinien. Seine Frau und sein Sohn soll-     Staatsangehörigkeit aberkennen sollte. Nach der Anne-
ten nachkommen. Doch dazu kam es nicht. Golda und         xion Österreichs im Frühjahr 1938 durch das Deutsche
Max Fryc wurden am Tag der „Polenaktion“ in Ham-          Reich, befürchtete die polnische Regierung, eine mas-
burg verhaftet und in die polnische Grenzstadt Zbązyń     senhafte Einwanderung von polnischen Staatsangehö-
verschleppt.3                                             rigen, welche Schutz vor antisemitischer Verfolgung
Am 28. Oktober 1938, mussten 17.000 Jüdinnen und          suchten.
Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft das Deutschen     Das NS-Regime nutzte diese Situation und begann mit
Reich zwangsweise verlassen. Die sogenannte Polenak-      der Ausweisung aller im Deutschen Reich lebenden Jü-
tion stellte die erste Zwangsausweisung und Massende-     dinnen und Juden polnischer Herkunft. In Hamburg
portation von Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen        waren von dieser Zwangsausweisung etwa 1.000 Men-
Reich dar. Ohne Vorankündigung wurden Kinder,             schen betroffen, welche vom Bahnhof Altona mit
Frauen und Männer reichsweit verhaftet und in Ge-         Zügen in den Ort Zbązyń gebracht wurden. Viele von
fängnissen und an Sammelorten festgehalten. Von dort      ihnen wurden später in Ghettos und Konzentrationsla-
wurden sie mit Sonderzügen an die deutsch-polnische       gern ermordet. Heute erinnert ein Gedenkstein in
Grenze gebracht. Die Durchführung der Aktion erfolgte     Hamburg an die Opfer der „Polenaktion“.5
regional unterschiedlich. Die Verhaftungen kamen für      Die Lebensbedingungen in Zbązyń waren vor allem in
die Betroffenen völlig überraschend. Sie durften nur      den ersten Tagen und Wochen katastrophal. Ohne Ver-
wenige Habseligkeiten mitnehmen. An der polnischen        sorgung mussten mehr als 8.000 Menschen auf einem
Grenze angekommen, wurden die Ausgewiesenen von           Kasernengelände in ehemaligen Pferdeställen und Ba-
der deutschen Polizei zu Fuß über die Grenze getrieben    racken ausharren. Nur langsam entstand, unter den
und dort sich selbst überlassen.4                         Bemühungen polnisch-jüdischer Hilfsorganisationen,

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betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

                                                                                    In Częstochowa geriet Max Fryc
                                                                                    schon bald erneut unter national-
                                                                                    sozialistische Herrschaft. Nach
                                                                                    dem Überfall auf Polen am 1.
                                                                                    September 1939 wurde die Stadt
                                                                                    durch die Wehrmacht besetzt
                                                                                    und fortan Tschenstochau ge-
                                                                                    nannt. Im April 1941 errichteten
                                                                                    die NS- Besatzer dort ein Ghetto.
                                                                                    Insgesamt 35.800 Jüdinnen und
                                                                                    Juden aus Częstochowa und um-
                                                                                    liegenden Gemeinden waren ge-
                                                                                    zwungen in das Ghetto
                                                                                    umzusiedeln, darunter auch Max
                                                                                    Fryc. Im September 1942 wurde
                                                                                    ein Großteil des Ghettos durch
                                                                                    Einheiten der SS aufgelöst und
                                                                                    fast alle seiner Bewohnerinnen
                                                                                    und Bewohner im Vernichtungs-
                                                                                    lager Treblinka ermordet.8
                                                                                    Dort musste er in weiteres Jahr
                                                                                    verbringen, bis er im März 1943
                                                                                    in das Zwangsarbeitslager Bliżyn
                                                                                    verschleppt wurde.9
                                                                                    Das Arbeitslager war zunächst
                                                                                    für sowjetische Kriegsgefangene
                                                                                    vorgesehen bis zunehmend polni-
                                                                                    sche Jüdinnen und Juden aus un-
                                                                                    terschiedlichen Ghettos in das
                                                                                    Lager gebracht wurden. Ab Feb-
                                                                                    ruar 1944 wurde es als Außenla-
                                                                                    ger dem KZ Majdanek
                                                                                    unterstellt. In seinen zahlreichen
                                                                                    Außenlagern mussten Häftlinge
                                                                                    Zwangsarbeit in Rüstungsbetrie-
                                                                                    ben oder Steinbrüchen leisten.10
                                                                                    Bis zur Auflösung des Lagers
  DP-Karten von Max Fryc aus Ebensee und Feldafing Archiv: ZME und Arolsen Archives Bliżyn im August 1944 musste
                                                                                    Max Fryc dort Zwangsarbeit ver-
ein provisorisches Auffanglager.6 Dort lebten die Men-        richten. Durch das Vorrücken der Roten Armee räumte
schen teilweise monatelang, bis das Lager im Sommer           die SS immer mehr Konzentrationslager in Frontnähe.
1939 aufgelöst wurde. Einigen der Ausgewiesen er-             Die kriegswichtigen Produktionsanlagen des Lagers
laubte das NS-Regime eine vorüberkehrende Rückkehr Bliżyn wurden in das Reichsinnere verlegt, die jüdi-
in das Deutsche Reich. Von dort sollte der Besitz ver-        schen Häftlinge in das Konzentrations- und Vernich-
kauft oder eine Emigration in das Ausland geregelt            tungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Fryc musste
werden. Wiederum andere durften ins Landesinnere              sich am 1. August 1944 im KZ Auschwitz registrieren
Polens, jedoch nur dann, wenn sie dort Verwandte              lassen.11
                        7
nachweisen konnten. Zu ihnen zählt auch Max Fryc,             Doch wenige Monate später begann auch hier die Auf-
dessen Weg in den Geburtsort seiner Mutter                    lösung des Lagerkomplexes. Den Hamburger Max Fryc
Częstochowa führte. Ob ihn Golda Fryc begleitete, ist         verschleppte die SS weiter nach Melk.12 Hier mussten
nicht überliefert, ihre Spur verliert sich im damaligen       Häftlinge noch in der letzten Kriegsphase Stollen in
Grenzort Zbązyń.                                              den Berg treiben und Rüstungsgüter herstellen.13

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betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

                             Stolpersteine für die Familie in der Diagonalstraße 13 Foto: Uwe Rohwedder
Als sich die Alliierten Mitte April 1945 dem Lager Melk             3 Stolperstein Biografie Max Fryc: https://www.stolpersteine-
näherten, wurden die 7.401 noch im Lager lebenden                   hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=5827, zuletzt
                                                                    aufgerufen am 13.11.2020.
Häftlinge in das Stammlager Mauthausen und in das
                                                                    4 Vgl. Vagt, Kristina: „Wie ein Gefangener“. Die „Polenaktion“
Außenlager Ebensee transportiert. Ursprünglich plante               am 28. Oktober 1938 in Hamburg, in: Bothe, Alina; Pickhan,
die SS die Inhaftierten in die Stollenanlage zu treiben             Gertrud (Hg.), unter Mitarbeit von Meibeck, Christine: Ausgewie-
und diese durch eine Sprengung zu ermorden. Am 5.                   sen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der „Polenaktion“, Ber-
und 6. Mai 1945 konnten die Konzentrationslager                     lin 2018, S. 138-147, hier S. 138.
Mauthausen und Ebensee durch amerikanische Trup-                    5 Gedenkstätten in Hamburg: https://www.gedenkstaetten-in-
                                                                    hamburg.de/gedenkstaetten/gedenkort/gedenkstein-fuer-die-ver-
pen befreit werden.14
                                                                    treibung-von-polnischen-juden/, zuletzt aufgerufen am
Unter den Überlebenden befand sich auch Max Fryc.                   13.11.2020.
Eine Weile war er in dem Lager für „Displaced Persons“              6 Das Jüdisch Historische Institut Warschau zeigte bis 2019 die
untergebracht, welches nach der Befreiung auf dem                   Ausstellung „Ausgewiesen! Berlin, 28.Oktober 1938 – Die Ge-
Gelände des Konzentrationslagers Ebensee errichtet                  schichte der »Polenaktion«“, welche von dem Fachbereich Ge-
worden war. Im November 1945 lebte er einige Mo-                    schichte des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin und
                                                                    dem Aktiven Museum in Berlin unter der Leitung von Alina
nate im DP- Camp Feldafing in Bayern, ehe er sich in
                                                                    Bothe entwickelt wurde: https://www.aktives-museum.de/ausstel-
der französischen Stadt Montreuil an der Seine nieder-              lungen/ausgewiesen/, zuletzt aufgerufen am 14.11.2020.
ließ.15                                                             7 Vgl. Jah, Akim; Gryglewski, Marcus: „Ihre Grabstätten befin-
An seinem ehemaligen Wohnort in Hamburg erinnern                    den sich nicht im hiesigen Bezirk“. Quellen zu Deportationen der
heute Stolpersteine an seine Familie. Sein verschlunge-             Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Materialien für den
ner Weg führte Max Fryc aus Hamburg durch das na-                   Unterricht und die außerschulische Bildung, hrsg. vom Interna-
                                                                    tional Trading Service und der Gedenk- und Bildungsstätte Haus
tionalsozialistische Ghetto- und Lagersystem, bis er im
                                                                    der Wannsee-Konferenz, Berlin/Leipzig 2018, S. 18.
Mai 1945 im Konzentrationslager Ebensee in Öster-                   8 Vgl. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas:
reich befreit werden konnte. Er war einer der ersten                https://www.memorialmuseums.org/staettens/druck/865, zuletzt
Opfer der nationalsozialistischen Deportationen.                    aufgerufen am 13.11.2020.
                                                                    9 TD Akte Max Fryc: ITS Digital Archive, 6.3.3.2./ 111101228.
                                                                    10 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: Kl. Die Geschichte der National-
Anmerkungen:                                                        sozialistischen Konzentrationslager, München 2018, S. 386.
1 Website Museum Zeitgeschichte Ebensee: https://memorial-          11 Stolperstein Biografie Max Fryc: https://www.stolpersteine-
ebensee.at/website/index.php/de/start-gedenkstaette, zuletzt auf-   hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=5827, zuletzt
gerufen am 14.11.2020.                                              aufgerufen am 13.11.2020.
2 Das derzeit entstehende Dokumentationszentrum denk.mal            12 Individuelle Häftlingsunterlagen KL Mauthausen: ITS Digital
Hannoverscher Bahnhof möchte ab 2023 mit einer Daueraus-            Archive, 1.1.26.3/ 1446430.
stellung an die die Deportation von Jüdinnen und Jüdinnen und       13 Website der Gedenkstätte Melk: https://www.melk-memo-
Juden, Sinti*zze und Rom*nja aus Hamburg und Norddeutsch-           rial.org/de/geschichte, zuletzt aufgerufen am 14.11.2020.
land erinnern. 2017 wurde bereits ein Gedenkort in der Ham-         14 Stolperstein Biografie Max Fryc: https://www.stolpersteine-
burger HafenCity eingeweiht. In der kommenden Daueraus-             hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=5827, zuletzt
stellung wird auch die Polenaktion 1938 genauer beleuchtet.         aufgerufen am 13.11.2020.
Nähere Informationen: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und          15 TD Akte: ITS Digital Archive, 6.3.3.2./ 111101229.
Lernort an die Opfer der NS-Verbrechen: https://www.gedenksta-
etten-hamburg.de/de/, zuletzt aufgerufen am 14.11.2020.

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betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

 Franz Stangl und Hartheim - das Urteil, das nie
 verkündet wurde!
 Anders Otte Stensager

Unter den relativ wenigen Österreichern, die eine ent-     flucht gesucht hatten. Wie bereits erwähnt, ist dieser
scheidende Rolle bei der Ermordung der europäischen        Teil von Stangls Leben bereits beschrieben. Es wird
Juden gespielt haben, finden sich Namen wie der SS-        daher empfohlen, zuerst den Artikel von Wolfgang
und Polizeiführervon Lublin und Leiter der "Aktion Rein-   Schmutz zu lesen, wenn man sich über diese Zeit in
hardt", Odilo Globocnik, der Kommandant des jüdi-          Stangls Leben informieren möchte.1
schen KZ-Lagers Theresienstadt in Böhmen, Siegfried        In diesem Artikel habe ich mich jedoch entschieden,auf
Seidl, der Kommandant des Arbeitslagers Płaszów/Kra-       eine weniger bekannte Periode in Stangls Leben einzu-
ków, Amon Göth, der eine zentrale Rolle bei der Evaku-     gehen, nämlich seine Flucht und seine Auslieferung zur
ierung des Ghettos der Stadt spielte und Franz Stangl      Strafverfolgung. Insbesondere die diplomatischen He-
aus Altmünster, der Kommandant der beiden Vernich-         rausforderungen, die sich im Zusammenhang mit sei-
tungslager Sobibor und Treblinka in Polen war.             ner Auslieferung von Brasilien nach Westdeutschland
Dies ist jedoch nicht das erste Mal, dass der Name         vor seiner Verurteilung ergaben, wurden bisher nicht
Franz Stangl für die Leser von Betrifft Widerstand prä-    untersucht und beschrieben. Ein Fall, der auch die
sentiert wird. Der Pädagoge Wolfgang Schmutz               österreichischen Behörden in ein sehr großes Dilemma
schrieb 2012 eine Kurzbiographie über Stangl, seine        brachte. Der vorliegende Artikel basiert auf eigenen
Zeit in Ebensee am Traunsee, wo er mit seiner Mutter,      Forschungen des Autors zu Franz Stangl. Ein Projekt,
seinem Stiefvater und seiner Schwester Anna an der         das im Herbst 2020 zur Veröffentlichung der ersten
Adresse Audorf 9 lebte, ein Haus, das es nicht mehr        umfassenden Biographie von Franz Stangl führte, die
gibt. Dort wurde auch seine Karriere erst als Weber bei    genau auf dem historischen Quellenmaterial basiert,
der Pottendorfer Spinnerei in Ebensee und später bei       das sowohl in deutschen als auch in österreichischen
der Polizei in Linz beschrieben. Eine Karriere, die ihn    Archiven vorhanden ist.2
nach dem „Anschluss“ 1938 zur Gestapo und in die
Tarnorganisation „Gemeinnützige Stiftung für Anstalts-     Unser Wissen über das Leben und die Karriere von
pflege“ in der Tiergartenstraße 4 in Berlin führte, auch   Franz Stangl stammt hauptsächlich aus dem großen
„Stiftung” oder „T4” genannt. Durch diese Organisa-        Treblinka-Prozess, der Anfang der 1960er Jahre in Düs-
tion wurde er in die sogenannte „Euthanasie“-Anstalt       seldorf stattfand. Hier wurden 11 Mittäter Stangls an-
Schloss Hartheim außerhalb von Linz geschickt, wo er       geklagt, die auch von Stangls Taten berichten konnten,
als Verwaltungsleiter beim Standesamt arbeitete. Ob-       die hauptsächlich in Treblinka stattgefunden hatten.
wohl er bei der physischen Tötung beeinträchtigter         1967 wurde Stangl ausgeliefert und 1970 nach mehr-
Menschen in Hartheim keine aktive Rolle spielte, unter-    jährigen Verhören und Ermittlungen zu seinen Verbre-
zeichnete er z.B. fiktive Sterbeurkunden mit seinem        chen verurteilt. Dieses Quellenmaterial bildet
Decknamen „Staud” und war auch verantwortlich für          zusammen mit dem Material, das bei der Verurteilung
die Sterberegister.                                        der vorherigen 11 Täter verwendet wurde, den Kern
Im Frühjahr 1942 wurde er zusammen mit dem Rest            des Wissens, das wir über Stangl haben. Ein Material,
des männlichen Personals von Hartheim nach Polen           das heute in der ”Zentralen Stelle der Landesjustizver-
geschickt und zum Lagerkommandant von Sobibor und          waltung” in Ludwigsburg aufbewahrt wird. Darüber hi-
ab Sommer 1942 von Treblinka ernannt. Ab Ende              naus gibt es im Oberösterreichischen Landesarchiv in
1943 wurde er deshalb nach Italien befohlen, um Parti-     Linz auch wertvolles Material über Stangl und seine
sanen entlang des Adriatischen Küstenraumes unter          Mitschuldigen,Täter- und Täterinnen der „Euthanasie”-
der „Sonderabteilung R” mit Hauptsitz in Triest zu be-     Anstalt Hartheim. Das ganze Material zu Stangls Aus-
kämpfen. Vor Kriegsende im Mai 1945 gelang es              lieferung zur Strafverfolgung befindet sich ebenfalls im
Stangl aus Norditalien zu seiner Familie nach Lembach      österreichischen Staatsarchiv in Wien. Schließlich
(Mühlviertel) zurückzukehren, wo seine Frau Theresia       führte die in Österreich geborene Journalistin Gitta Se-
und seine drei Töchter Brigitte, Renate und Isolde Zu-     reny 1971 ein mehr als 70-stündiges Interview mit

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betrifft widerstand 138 | Dezember 2020

                                                             amerikanischen Kriegsgefangenlager „Camp Marcus
                                                             W. Orr” in Glasenbach in der Nähe von Salzburg über-
                                                             gaben.4
                                                             Er blieb hier bis die Voruntersuchung gegen ihn und
                                                             einen Teil des ehemaligen Personals von Hartheim
                                                             1947 am Landesgericht in Linz begann. Als der Fall
                                                             gegen Stangl 1948 schließlich vor Gericht kam, war
                                                             ihm die Flucht gelungen. Das Landesgericht in Linz
                                                             wusste zu diesem Zeitpunkt nichts über die Verbre-
                                                             chen, die er in Polen begangen hatte. Der Fokus lag al-
                                                             lein auf zwei Taten. Eine davon war Stangls mögliche
                                                             illegale Mitgliedschaft in der NSDAP vor dem An-
                                                             schluss im Jahr 1938. Der zweite Aspekt war Stangls
                                                             Funktion in Hartheim und seine Rolle bei der Ermor-
                                                             dung von beeinträchtigten Menschen. Der Fall gegen
                                                             Stangl wurde jedoch nicht auf Eis gelegt, im Gegenteil.
                                                             Obwohl Stangl für die nächsten zwanzig Jahre in Syrien
                                                             und dann in Brasilien residierte, wurde sein Name
                                                             immer mehr bekannt und bald darauf auch mit den
                                                             Kriegsverbrechen in Sobibor und Treblinka in Verbin-
                                                             dung gebracht. Der Fall in Hartheim stellte sich nun als
                                                             einer von mehreren Fällen heraus, aber auch als im
                                                             Verhältnis geringfügigste Anklage. Stangl wurde von
                   Franz Stangl im Gefängnis                 den Justizbehörden in Österreich und Westdeutschland
           Foto: The Daily Telegraph/Don Honeyman
                                                             international gesucht und war sogar einer der Täter an
                                                             der Spitze von Simon Wiesenthals Liste der gesuchten
Stangl, unmittelbar nachdem er zu lebenslanger Haft
                                                             NS-Kriegsverbrecher, vergleichbar mit Adolf Eichmann
verurteilt worden war. Ein Interview, das 1974 unter
                                                             und Josef Mengele.
dem Titel „Into that Darkness“ („Am Abgrund: Gesprä-
                                                             Kehren wir in die Zeit vor Stangls Flucht aus Europa
che mit dem Henker“) veröffentlicht wurde. Dieses In-
                                                             zurück. Während er in amerikanischer Gefangenschaft
terview wurde oft von Historikern und Historikerinnen
                                                             war, zogen Theresia und seine drei Töchter in ihr Haus
als primäre Quelle für Stangls Leben und Karriere ver-
                                                             in Wels an die Adresse Leopold Bauer Strasse 7 zurück.
wendet, aber es ist in vielerlei Hinsicht problematisch.
                                                             Ein Haus, das inzwischen geplündert worden war. The-
In erster Linie, weil Stangl selbst von seinem Leben er-
                                                             resia hatte es schwer, über die Runden zu kommen und
zählt. Einige seiner Informationen sind falsch oder je-
                                                             hatte praktisch kein Geld, um Lebensmittel für die Kin-
denfalls ungenau. Wenn man die Informationen, die
                                                             der zu besorgen. Unter anderem musste sie Äpfel und
Stangl Sereny erzählte, mit dem historischen Quellen-
                                                             Gemüse von den Bauern stehlen, bis sie einen Job in
material aus den oben genannten Archiven vergleicht,
                                                             der Brennerei Bartl & Co in der Hinterschweigergasse
gibt es Grund, einer Reihe seiner Aussagen skeptisch
                                                             in Wels bekam. Obwohl sie nicht viel Geld verdiente,
gegenüberzustehen. An anderer Stelle im Interview
                                                             war es genug, um für Essen zu sorgen. Zur gleichen
sind sie jedoch sehr präzise und gleichlautend.3
                                                             Zeit wurde Stangl in das Internierungslager Glasen-
                                                             bach verlegt, worüber er berichtet, dass die Bedingun-
Was ist mit Stangl nach dem Krieg passiert?
                                                             gen ziemlich hart waren, da die Gefangenen keine
Als Stangl im Mai 1945 mit seiner Familie in Lembach
                                                             Betten zum Schlafen in den Baracken hatten. Im Som-
wieder vereint war, erkannte er, dass er nicht weiter hier
                                                             mer 1947 wurde Stangl von Glasenbach nach Linz in
bleiben konnte und floh deshalb weiter zur Rieder
                                                             das Untersuchungsgefängnis verlegt. Die Staatsanwalt-
Hütte am Feuerkogelplateau in der Nähe von Ebensee,
                                                             schaft Linz hatte Stangl 1946 wegen Mitschuld an in
wo er sich versteckte. Doch kurz darauf wurde Stangl
                                                             Hartheim begangenen Morden angeklagt und stand
vermutlich von einem Hans Promberger aus Ebensee
                                                             nun vor dem Prozess gegen ihn und mehrere andere
gemeldet, der ihn laut seiner Frau Theresia schon frü-
                                                             ehemalige Mitarbeiter von Hartheim. Als der Prozess
her kannte. Stangl wurde dann von der österrei-
                                                             schließlich im Mai 1948 vor Landesgericht Linz begin-
chischen Polizei verhaftet, die ihn später dem
                                                             nen sollte, war Stangl geflohen, während er für ein

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