Editorial - Zeitgeschichte Museum Ebensee
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Editorial Inhaltsverzeichnis COVID-19 und der Rechtsextremismus Seite 4 Vorweg: COVID- 19 Einschränkungen der persönlichen Freiheit sollen NSDAP und Parteimitgliedschaft in selbstverständlich kritisiert und ihre Rechtsstaatlichkeit und Faktizität über- Ebensee (1923-1945) prüft werden, vor allem dann, wenn Regierungen ohne das Parlament oder von Wolfgang Quatember den Bundestag zu bemühen, diese Beschränkungen erlassen. Gegenwärtig werden jedoch aufmerksame Beobachter des politischen Ge- schehens Zeugen eines interessanten politischen Phänomens. Die extreme Seite 13 Rechte, also die „Alternative für Deutschland“, die „Querdenker“ inklusive Von Hamburg nach Ebensee - der PEGIDA- Bewegung sowie die Identitären und die FPÖ, sieht sich in der Die Verfolgungsgeschichte von Max Fryc Rolle von Widerstandskämpfern gegen die COVID 19 „Zwangsmaßnah- von Johanna Schmied men“ und gerieren sich zu Verteidigern von Freiheitsrechten und Demokra- tie. In ihrer pervertierten und naiven Geschichtsbetrachtung versuchen manche sogar in die Rolle von Anne Frank und Sophie Scholl zu schlüpfen Seite 16 oder sich den „Judenstern“ anzuheften. Dieses Phänomen ist nicht neu, Franz Stangl und Hartheim - das Urteil, denn auch Strache hatte sich schon 2012 angesichts der Proteste gegen das nie verkündet wurde! den WKR- Ball zum Sager verstiegen: „Wir sind die neuen Juden“ und Ana- von Andre Otte Stensager logien zum „Novemberpogrom“ herzustellen versucht. Vor Jahren schon war ich auf einer KZ- Gedenkfeier in Linz Zeuge, als das Gesetz zum Schwan- gerschaftsabbruch mit der Massentötung in Mauthausen gleichgesetzt Seite 24 wurde: „100.000 Tote in Mauthausen“ - „100.000 Abtreibungen jährlich“. Kakao für hungernde Kinder. Das Was passiert in diesem Zusammenhang? Die Politologin Natascha Strobl amerikanische Kinderhilfswerk und das (Thread auf Twitter vom 23.11.2020) ortet drei Phänomene: Zuerst die An- Salzkammergut 1919-1922 eignung von Symbolen, Errungenschaften oder Persönlichkeiten der poli- von Michael Kurz tisch Linken, dann die ideologische Umwertung, damit meint sie, die Symbole werden aus ihrem historischen Umfeld herausgelöst und etwa als „Personen, die für etwas Gutes stehen“ (N. Strobl) für ihre politischen Zwe- Seite 29 cke wieder eingesetzt. Damit wird der dritte Schritt vollzogen, nämlich die Vertrieben - Die jüdische Familie Instrumentalisierung. Obwohl die „Querdenker“ nichts mit Sophie Scholl Morgenstern aus Bad Ischl und Anne Frank verbindet, versuchen sie das Schicksal der Symbolfiguren von Nina Höllinger des Widerstands gegen die NS- Diktatur mit ihrem zu verknüpfen, als wäre die Bundesrepublik Deutschland in irgend einer Weise mit dem Nationalso- zialismus vergleichbar. Ein 11jähriges Mädchen etwa las auf einer „Quer- Seite 32 denker-Demo“ in Karlsruhe eine Rede vor, in der sie sich mit Anne Frank DVD - „An einem Tag im April - Ein Dorf verglich. Sie habe wie Anne Frank, so das Mädchen, wegen der COVID 19 – im Fadenkreuz der Alliierten” Verordnungen bei ihrem Geburtstag mit ihren Freundinnen „mucksmäus- von Wolfgang Quatember chen still sein müssen, um von den Nachbarn nicht verpetzt zu werden“. (Stuttgarter Zeitung, 17.11.2020, online Ausgabe). Abgesehen von der schamlosen Verharmlosung der Verbrechen des Natio- Seite 33 nalsozialismus wird Demokratie mit der NS- Diktatur gleichgesetzt. Dabei Zeithistorisches Relikt. Einbindung in die verschweigen aber die „Querdenker“, dass es ihnen gerade die Demokratie KZ-Gedenkstätte realistisch ermöglicht, auf den Demos „Merkel muss weg!“ zu rufen. Was in der NS- von Wolfgang Quatember Diktatur mit Demonstranten geschehen wäre, die „Hitler muss weg!“ geru- fen hätten, wird geflissentlich ausgeblendet. Rechtsextreme benutzen demo- kratische Rechte, um die Demokratie zu desavouieren und in letzter Seite 34 Konsequenz zu beseitigen. Das haben die 20er und 30er Jahre in Deutsch- Buchshop land und Österreich nachhaltig bewiesen. Das ist auch eine Kernaussage, die in unseren Workshops mit Schüler*innen im Museum immer wieder diskutiert werden muss. Wolfgang Quatember Seite | 3
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 NSDAP und Parteimitgliedschaft in Ebensee (1923-1945) Wolfgang Quatember Traditionelle Heimatsgeschichtsschreibung erschöpft alleistungen und auch die Befreiung vom Militärdienst. sich zumeist in unreflektierter Wiedergabe lokaler histo- Diese Vorzüge bedingten eine hohe Sesshaftigkeit und rischer Ereignisse und listet anekdotenhaft mehr oder Selbstrekrutierung der Arbeitsplätze aus dem eigenen weniger Bedeutungsvolles auf, das in vielen Fällen Nachwuchs, weswegen ein stabiles Netz von Familien- einem von der Leserschaft erwarteten Harmoniebe- und Verwandtschaftsbeziehungen enstand. Dieses dürfnis folgt. Die tatsächliche soziale und politische Standesbewusstsein und der hohe Organisationsgrad, Wirklichkeit erscheint im günstigen Fall als verklärt, ge- beides resultierte auch aus den zahlreichen Konflikten sellschaftspolitische Ursachen bleiben unhinterfragt. mit der Obrigkeit (Reglementierungen im Salzwesen, Insbesondere die Periode des Nationalsozialismus in- Servitute, ausstehende Lohnerhöhungen), schrieben klusive seine langjährige Entstehungsgeschichte wird in das ausgeprägte Protestverhalten fort, das durchaus lokalen Räumen immer noch bewusst ausgeklammert. bis in die Zeit der gewaltsamen Gegenreformation der Trotzdem sind mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Habsburger zurückreichte. Ab dem beginnenden 17. lokal- und dorfgeschichtliche Arbeiten verfasst wor- Jahrhundert zog sich ein großer Teil der Bevölkerung in den, die sich der NS- Zeit in Orten, Städten und Regio- den Kryptoprotestantismus zurück. In den südlichen nen widmen1. Orten des Inneren Salzkammerguts, etwa Bad Goisern, Dabei trugen tausende Männer und Frauen auch in Hallstatt, Obertraun und Gosau existiert bis heute eine den kleinen Ortschaften dazu bei, die NS- Diktatur zu große evangelische Mehrheit. Nicht ohne Grund ent- organisieren und durch Übernahme von Aufgaben und standen aus dieser „Widerborstigkeit“2 in der Folge ab Ämtern zu stabilieren. Hier soll unter anderem der 1867 in der Region die ersten Arbeiterbildungs- und Frage nachgegangen werden, welche Motive die Men- Konsumvereine als Selbsthilfeorganisationen3. schen zu einer Akzeptanz und Mitgliedschaft in einer Die Marktgemeinde Ebensee mit rund 8000 Einwoh- Gliederung des Nationalsozialismus geführt haben. nern liegt am Südufer des Traunsees und wurde erst Im Folgenden wird von einer kursorischen historischen 1861 durch eine Straße und 1877 durch die Kronprinz- Beschreibung der Region Salzkammergut und der Ge- Rudolf-Bahn verkehrstechnisch erschlossen. Bis dahin meinde Ebensee ausgehend, deskriptiv der Aufstieg der war das „Innere Salzkammergut” von Norden her nur lokalen NSDAP von 1922 bis 1938 verfolgt. In einem auf Saumwegen oder per Schiff über den Traunsee er- letzten Teil wird auf die Motivlage für einen NSDAP- reichbar. Ebensee ist historisch gesehen von Großin- Beitritt eingegangen, die aus den Entregistrierungsak- dustrie geprägt (Saline, Solvay Werke, Weberei), wobei ten ehemaliger NSDAP-Mitglieder (Parteigenoss*innen, durch Werksschließungen und Rationalisierungsmaß- SS-Männern, SA- Männern, NSKK (NS Kraftfahrkorps), nahmen die Mehrzahl der Industriearbeitsplätze seit NSFK (NS Fliegerkorps) ableitbar ist, auch wenn diese den 1990er Jahren verloren gingen. aus der Nachkriegszeit datieren, Rechtfertigungsstrate- 1868 entstand in Ebensee einer der ersten Konsumver- gien verfolgen und deswegen aus kritischem Blickwin- eine österreichweit. Die ersten freien Wahlen führten zu kel zu betrachten sind. einer starken sozialdemokratischen Mehrheit. Die In- dustriearbeiter*innen organisierten sich in zahlreichen Das Salzkammergut – Ebensee Arbeitervereinen. In den 1920er und 1930er Jahren Im Salzkammergut ist ein spezifisches, regionales Son- war die Ebenseer Bevölkerung von den Wirtschaftskri- derbewusstsein feststellbar. Das Salzkammergut war sen besonders stark betroffen. Etwa 1934 wurden rund seit Jahrhunderten mit seinem Salzbergbau und der 1000 Arbeitslose gemeldet, wovon zahlreiche Werktä- Forstwirtschaft ein weitgehend autonomes Wirtschafts- tige schon jahrelang „ausgesteuert“, also ohne Unter- gebiet. Die in diesen Betrieben tätigen Menschen ge- stützung waren. Die politische Situation in der Ersten nossen Privilegien, die ein ausgeprägtes Republik kann als konfliktbehaftet beschrieben werden. Standesbewusstein förderten. Zu nennen sind freie Teilweise gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeit, geregelte Arbeitszeiten, Natural- und Sozi- dem Republikanischen Schutzbund und den Heimweh- Seite | 4
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 ren sowie dem Deutschvölkischen Turnverein prägten Jahr NSDAP SA SS HJ BDM Frauen das lokale politische Geschehen. Der Februaraufstand 1928 11 zur Verteidigung demokratischer Rechte führte zu 1930 14 7 einem Generalstreik der Industriearbeiter*innen und 1932 50 4 7 zur Besetzung zentraler Verwaltungs- und Infrastruktur- 1933 60 13 einrichtungen des Ortes durch den Schutzbund. Erst 1934 35 massives Militär- und Heimwehraufgebot führte in 1936 120 Ebensee zum Erfolg der Dollfußdiktatur. Zahlreiche 1938 186 31 23 17 189 Verhaftungen, Enteignungen und Arbeitsplatzverlust Mitgliederentwicklung der NSDAP in Ebensee waren die Folge.4 Quelle: NSDAP-Chronik Ebensee Die NSDAP in Ebensee5 Die ersten Gründungen von NSDAP Ortsgruppen er- folgten im Salzkammergut 1921 in Gmunden, im De- zember 1922 in Ebensee und 1923 in Bad Goisern. Die Proponenten der Partei setzten sich im wesentli- chen aus Mitgliedern des Deutschen Turnvereines zu- sammen. In den ersten Gründungsmonaten hatte die Ebenseer Ortsgruppe bereits 52 Mitglieder. Die erste öffentliche Versammlung der NSDAP fand im Mai 1923 statt. Im Juli desselben Jahres nahm bereits eine Fahrradabteilung der SA, die dem „Sturmtruppenkom- mando Linz“ unterstellt war, mit 15 Mann an einer Führerbesprechung in Salzburg teil. Bemerkenswert ist die in der NSDAP Chronik festgehaltene Selbstbezeich- Plakat der SA Ebensee für die Teilnahme an der Winter-Sonnenwende 1938 Foto: E. Zakarias/Archiv ZME nung der SA als „Vaterländischer Schutzbund“. Offen- sichtlich sollte eine Alternative zu den Verbänden der zialer wie gegen großdeutsches Bürgertum einerseits, „Heimatwehren“ und dem 1923 ebenfalls gegründeten Haft des Führers und Aufspaltung in verschiedene Rich- „Republikanischen Schutzbund“ ins Leben gerufen tungen andererseits, hemmten den Aufstieg der Orts- werden. gruppe.“8 Bei der Gemeinderatswahl im Jahr 1924 stimmten 197 Der Chronik zufolge kam die Parteitätigkeit ab 1925 Ebenseer*innen für die NSDAP, ein Jahr später bei den fast zum Erliegen und erst 1928 konnten wieder Mit- Landtagswahlen 243, womit das Stimmenmaximum gliedsbeiträge eingehoben werden. Erster Ortsgruppen- bis zur letzten demokratischen Wahl 1931 erreicht war leiter war seit Mai 1926 der Salinenschlosser Franz (siehe tabellarische Aufstellung)6. Innerparteiliche Riva- Steinkogler. litäten und österreichweite Richtungsstreitigkeiten Aufgrund der im OÖ. Landesarchiv erhalten gebliebe- hemmten vorerst die Entwicklung der Partei7. nen Entregistrierungsansuchen9 (980 Registrierungsbö- gen für Ebensee, 612 Bad Goisern, 1751 Bad Ischl, Im Chronikrückblick aus dem Jahr 1938 heißt es: „Der 175 Gosau) ist davon auszugehen, dass etwa 1000 schwere politische Kampf gegen die sozialdemokrati- Ebenseer*innen in einer der Gliederungen der NSDAP sche Mehrheit, gegen einen festen Block Christlichso- organisiert waren. Personen in US- Haft (Glasenbach „Camp Marcus W. Orr“), von österreichischen Behör- Wahlen NS-Stimmen M nner Männer Frauen den Inhaftierte und kriegsgefangene Spätheimkehrer GRW 1924 197 100 97 sind in den Entregistrierungbögen nicht enthalten. Wer- LTW 1925 243 145 98 den nur die registrierten Personen (980) zur Berech- GRW 1925 173 97 76 nung herangezogen, ergibt dies einen Prozentanteil von 11,07% der Gesamtbevölkerung (Bevölkerungs- GRW 1929 210 108 102 stand Ebensee 1934: 8.852 Einwohner10 inklusive Min- NRW 1930 230 127 103 derjährige). Im Vergleich dazu waren in Bad Goisern LTW 1931 236 132 104 11,2% der Gesamtbevölkerung in einer registrierungs- NS-Stimmen in Ebensee bei diversen Wahlen 1924-1931 pflichtigen Gliederung der NSDAP organisiert, in Bad Quellen: NSDAP-Chronik Ebensee und https://doris.ooe.gv.at/ Ischl 16,91% und in Gosau 10,48%. Seite | 5
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 rasch und versuchte, durch Terroraktionen auf sich auf- merksam zu machen. Anfangs konzentrierten sich die Anschläge und Schmieraktionen auf Parteiheime und Versammlungssäle der Sozialdemokraten, nach dem Februar 1934 auf Einrichtungen der „Vaterländischen Front“, etwa das Haus des Ebenseer „Frontführers“ Josef Mittendorfer und auf den Pfarrhof. Hakenkreuz- fahnen wurden an unzugänglichen Stellen wie dem Sa- linenschlot angebracht oder Hakenkreuz- Höhenfeuer entzündet. Der Gendarmerie gelang es fallweise die Hintermänner auszuforschen und mit Geldstrafen und Internierung in den Anhaltelagern zu bestrafen. Die Ebenseer NS- Chronik schildert heroisierend ihren pro- pagandistischen Terror: „Der illegale Kampf in Ebensee war schwer und opferreich. Er wurde mit allen geeigne- ten Mitteln geführt und zog vielen Parteigenossen Ar- rest, Konzentrationslager (gemeint sind die Anhalte- lager Wöllersdorf und Kaisersteinbruch, d. Verf.), Ent- ziehung von Geschäftskonzessionen, Außerdienststel- lung, wie Brotlosmachung, zu. Als geheime Ortszeitung erschien in Ebensee alle zwei Wochen der „Nazibeob- achter“, außerdem Flugschriften für das Obere Salz- kammergut in Auflagen bis zu 20.000 Stück, die von Pg. Rudolf Heißl verfaßt und in einem Eiskeller verviel- fältigt wurden.“12 Die Frauen, so die Chronik, sammelten Unterstützungs- Illegale Hakenkreuzfahne am Fabriksschlot der Saline, Februar 1934 Foto: E. Zakarias/Archiv ZME beiträge, Lebensmittel, Kleider, Wäsche für die Inhaf- tierten und ihre Angehörigen. Zusätzlich organisierten Die „Hitlerbewegung“, die sich ab 1928 in Ebensee in- sie regelmäßige Weihnachtssammlungen unter den nerparteilich durchzusetzen begann, zählte 1928 11 Mitgliedern. und 1933 bereits 60 Parteigenoss*innen. Die SA rekru- Obwohl es während des nationalsozialistischen Putsch- tierte sich aus Mitgliedern des Deutschen Turnerbun- versuches am 25. Juli 1934 in Ebensee zu keinen nen- des. Sie übernahm den Saalschutz bei Veranstalt- nenswerten Auseinandersetzungen kam, dürfte im ungen, betrieb die Wahlpropaganda und hatte einen Verlauf der folgenden Verhaftungen und behördlichen eigenen „Motorsturm“, also Männer, die mit eigenen Einvernahmen der 18jährige Matthias Nöhmer miss- Motorrädern ausgestattet waren. 1938 war der Mitglie- handelt worden und ein Jahr später an seinen Verlet- derstand auf 186 Mann in drei „Stürmen“ angewach- zungen gestorben sein. Für ihn und andere „Märtyrer“ sen, die der „SA- Jägerstandarte 6“ (J 6) angehörten. wurden nicht nur SA- Stürme neu benannt, sondern Ab 1939 wurden die Stürme nach „gefallenen Helden auch alljährlich Heldenehrungen durchgeführt. der Bewegung“ wie Matthias Nöhmer, Martin Deubler Im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme oder Karl Traint benannt.11 wurden mindestens 30 namentlich bekannte Eben- Die Schutzstaffel (SS) wurde 1932 mit 4 Männern ge- seer*innen in „Schutzhaft“ genommen. Acht von Ihnen gründet und hatte 1938 31 Mitglieder. Nationalsozia- wurden in Konzentrationslagern und anderen Haftstät- listische Betriebszellen (NSBO) entstanden 1931 in den ten ermordet.13 Großbetrieben etwa den Solvay Werken und der Saline. Die wenigen in Ebensee ansässigen Juden wurden Die „Hitlerjugend“ wurde 1929 geründet, wobei sie bis misshandelt und zur Ausreise gezwungen. Der jüdische 1932 dem Standort in Bad Goisern angeschlossen war. Apotheker Mag. Sigmund Berger ertrank während der Parallel dazu organisierte die NSDAP 1933 eine Mäd- Flucht ins Exil im Atlantik. Der in Mähren geborene Di- chengruppe (BDM) unter der Führung von Franziska rektor der Ebenseer Weberei, Arnold Stukart und seine Ahammer, die bis 1938 auf 17 Mitglieder anwuchs. Frau Berta, wurden im Oktober 1942 in Auschwitz er- Nach dem Parteiverbot der NSDAP Ende Juni 1933 re- mordet14. organisierte sich die Partei in Ebensee in der Illegalität Seite | 6
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 Hitlerjugend und Sturmabteilung (SA) in Ebensee, undatiert Fotos: E. Zakarias/Archiv ZME Wie oben angemerkt, waren etwa 11 Prozent der Eben- meisters verliehen. Privates wurde zum „Dienst am seer Bevölkerung als Mitglieder der NSDAP oder einer Volk“. Zivile Feiern wurden zu Festen des NS-Systems ihrer Gliederungen eingetragen. Darüberhinaus war und mit Pomp und detailreicher Regie versehen. Die eine nicht unerhebliche Anzahl der Bürger*innen in die propagandistische Inszenierung der Partei wurde vor Arbeit der NSDAP miteingebunden, ohne ein Mitglieds- allem an den Sonnwend- und „Julfeiern“ deutlich. Die buch zu besitzen. Lehrer*innen, Heimatforscher und ganze Bevölkerung war eingeladen, Erscheinen wurde Volksbildner, wie etwa Engelbert Koller15, stellten sich zur Pflicht, Fernbleiben registriert. unmittelbar in den Dienst der Partei und hielten Vor- Der Nationalsozialismus bot vielfältige Identifikations- träge. angebote. Die Tatsache, dass laut der Entregistrie- rungsbögen vor allem Gewerbetreibende und Der Mythos der „Volksgemeinschaft” verfehlte in Eben- Kaufleute, öffentliche Bedienstete (Förster, Eisenbah- see seine Wirkung nicht. Die Nationalsozialisten de- ner, Gemeindebedienstete, Gendarmen) Lehrer, Ärzte, monstrierten nach Außen hin Gleichheit, obwohl sich also die „Elite” des Ortes, sich rasch in den Dienst der de facto an den Klassenunterschieden nichts geändert Partei stellte, hatte eine gewisse Vorbildwirkung. Jeder, hatte. Alle Lebensbereiche und Organisationen wurden der wollte, konnte sich somit auch als wichtiges Mit- unter die Kuratel der Partei gestellt, etwa die Feuer- glied fühlen und seine Aufgabe für die „Volksgemein- wehr unter die Führung des Ortsgruppenleiters, die Ge- schaft” erfüllen. Das Durchschnittsalter (411 sangsvereine leitete nunmehr organisatorisch der Entregistrierungsansuchen) betrug 34 Jahre (1938). Kulturrefernt der NS- Ortsgruppe. Für „Pflichterfül- lung“ wurden Ehrungen und Auszeichnungen als Pro- Die Anzahl der Eheschließungen steigerte sich in Eben- pagandamittel geschaffen. Arbeitsjubiläen organisier- see 1938 gegenüber dem Jahr 1937 um 55%, 1939 ten die NS- Betriebsorganisationen (NSBO) in festli- immer noch um weitere 26%. Zweifelsohne schufen chem Rahmen, das Mutterkreuz wurde den Frauen die Nationalsozialisten Anreize zur Eheschließung, för- unter Anwesenheit des Ortsgruppenleiters und Bürger- derten sie mit dem Ehestandsdarlehen, „lösten sie vom Seite | 7
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 Registrierungsformular aus dem Jahr 1947 Foto: Archiv ZME Seite | 8
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 rein privatrechtlichen Kontext“16 und definierten Famili- schluß an das größere stammverwandte Nachbarvolk enpolitik als rassepolitisches und auch arbeitsmarktpoli- einen Aufstieg der eigenen Heimat zu ermöglichen.“ tisches Instrument, da verheiratete Frauen ihre Diese Ansicht kalkuliert die Akzeptanz der Tatsache mit Arbeitsplätze den Männern überlassen sollten. Ab ein, dass der „Deutsche“ auf Kosten „minderwertigerer 1940 ist ein Rückgang der Eheschließungen unter die Völker“ seinen Lebensraum erweitern und dadurch Anzahl von 1937 zu registrieren. Teile der männlichen seine Entwicklung fördern könne. Bevölkerung waren zur Wehrmacht eingezogen wor- Der Sozialismus schien bei anderen ein Beitrittsgrund den, die existentielle Lage der Menschen begann sich gewesen zu sein: „Ich war als Arbeiter seit jeher Sozia- bedingt durch die Kriegswirtschaft zu verschlechtern. list und habe mich auch während meiner Parteizugehö- Die Bevölkerung machte sich trotz Jubelpropaganda rigkeit als solcher gefühlt und benommen.“ der Machthaber Sorgen um die Zukunft. Das Ideal der „Deutschen Volksgemeinschaft“ schwebte einem anderen vor: „Ich trat der Partei im Eine zentrale Frage betrifft die Gründe für den Eintritt guten Glauben bei, dadurch meinem Ideal einer einig in die NSDAP. Was erwarteten die Menschen durch zusammenstehenden Volksgemeinschaft am besten einen Parteieintritt oder einer ihrer Gliederungen? Wel- dienen zu können.“ che Motive bewegten sie, das verbrecherische Regime zu unterstützen? DIE PFLICHTERFÜLLER Bei der Durchsicht der in den ersten Jahren nach „Ich erachtete es als meine Pflicht, der NSDAP beizu- Kriegsende angelegten Entregistrierungsansuchen treten, umsomehr als ich durch den Beamteneid auf (411 Originale von insgesamt 980 sind im Archiv des Hitler persönlich verpflichtet war“, gab ein ehemaliger ZME erhalten17), aus welchen in der Folge anonym zi- Beamter als Entlastungsgrund an. In einem weiteren tiert wird, lassen sich bei aller quellenkritischer Vorsicht, Entregistrierungsansuchen ist zu lesen: „Ich kannte je nach Inhalt der Argumentation und Verteidigungs- nichts als treueste Pflichterfüllung“. Welche Kosequenz strategie sieben Typen von NS-Parteigänger*innen un- die „Pflichterfüllung“ im NS-Staat hatte, wird dadurch terscheiden. Laut NS- Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945 deutlich, dass andere etwa als Entlastung bestätigen, (in der Folge NS- Gesetz 1947) mussten sich alle ehe- sie seien laut Gesetz verpflichtet gewesen, zu denunzie- maligen Nationalsozialisten (PG, SA, SS, NSKK, NSFK) ren, hätten es jedoch nicht getan. Dass Recht im NS- registrieren lassen und wurden je nach Dauer und In- Staat vielfach Unrecht war, dass Gesetze zu volvierung im NS-System und dessen Verbrechen in Unrechts-Gesetzen wurden, war vielen Menschen, Kategorien eingeteilt, nach welchen die Bemessung auch schwer belasteten NS- Verbrechern bewusst, je- von Sühnemaßnahmen erfolgte.18 Den Formularen doch sie beriefen sich in ihren Verteidigungsstrategien sind in fast allen Fällen persönliche Schreiben und ent- auf Pflichterfüllung und Gesetzestreue. Die in nahezu lastende Unterlagen beigefügt, die darauf abzielen, die allen Schreiben angeführte Floskel, „Ich habe nie Beteiligung an der Stabilisierung des NS- Systems gegen bestehende Gesetze verstoßen“, wird so zur möglichst marginal erscheinen zu lassen. Farce. DIE IDEOLOGEN DIE BELEIDIGTEN „...wenn ich an einen Sieg glaubte, so war das nur da- Mehrere bestätigten ihren freiwilligen Eintritt in die rauf zurückzuführen, weil ich es nicht wahr haben NSDAP, führten jedoch ihren angeblich sehr bald ein- wollte, dass Österreich vom Bolschewismus überrannt getretenen Gesinnungswandel als Entlastungsgrund ins werden sollte.“ Angst vor dem Kommunismus, die von Treffen. Abgesehen vom allgemeinen Stimmungsabfall den Nationalsozialisten propagandistisch geschürt etwa drei Jahre nach Kriegsbeginn, liegen die auslö- wurde, war eine Argumentation, ein anderer gab an: senden Momente für ihre Abkehr von der NS-Politik „Die Gründe, die mich damals zum Beitritt veranlaßten, nicht in ethisch-moralischen Bedenken, sondern in per- waren keineswegs materieller, sondern ideeller Art, sönlichen Nachteilen, die sie glaubten, erlitten zu wobei mich der Glaube an eine Verbesserung unserer haben: Ihre NSDAP- Mitgliedschaft habe nur Nachteile nationalen Existenz und an eine günstigere wirtschaftli- gebracht, etwa in der Wehrmacht, durch Kriegsereig- che und damit soziale Entwicklung im allgemeinen nisse, durch unerfüllte Erwartungshaltungen. So etwa nach den vielen Jahren der schweren Not erfüllte, ein sei bei einigen keine Verbesserung der Situation am Ar- Gedanke, der zu dieser Zeit viele Tausende beherrschte beitsplatz eingetreten, die erwartete soziale Besserstel- und in ihnen den Wunsch aufkommen ließ, durch lung sei ausgeblieben. Ab Kriegsbeginn waren plötzlich Schaffung eines größeren Lebensraumes und den An- viele Menschen Restriktionen unterworfen, mit welchen Seite | 9
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 Persönliches Begleitschreiben zum Entregistrierungsansuchen, Beispiel Foto: Archiv ZME Seite | 10
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 sie in der ersten Begeisterung 1938 nicht gerechnet Ein Student gibt an, er habe Nachteile im Studium be- hatten: Ausdehnung der Arbeitszeit und des Arbeitsan- fürchtet, weswegen er der NSDAP beigetreten sei. Eine falles, Einführung von Lebensmittelkarten u.a. Eine mit Lehrerin wurde Parteimitglied, weil sie andernfalls eine der Parteimitgliedschaft angestrebte Bevorzugung trat Festrede nicht hätte halten dürfen. Ein Dentist führt an, nicht ein, etwa wenn sich ein Gendarmeriebeamter er sei nur in der NSDAP gewesen, weil er sonst keine trotz Parteimitgliedschaft nicht gegen SA und SS Patienten bekommen hätte usw. Ein Ebenseer bringt durchsetzen konnte, wenn das freie Zimmer in der diese Argumentation folgendermaßen auf den Punkt: Wohnung trotz guter Beziehungen zur Partei für ausge- „Um Unannehmlichkeiten zu entgehen trat ich der Par- bombte „Reichsdeutsche“ freigegeben werden oder tei bei und nun habe ich genau wegen dieses Schrittes wenn zusätzlich unbedanke Arbeit geleistet werden wiederum Probleme“. musste. DIE GETRIEBENEN DIE SPÄTEN MORALISTEN Druck seitens der Ortseliten oder von Arbeitgebern Moralisch bedingte ablehnende Haltungen gegenüber wurde mehrfach als weiterer Entlastungsgrund angege- dem Nationalsozialismus resultierten in Ebensee viel- ben. Der Parteieintritt wurde laut Angaben in den Ent- fach aus der Tatsache, dass im November 1943 ein registrierungsakten als Zwangsmaßnahme empfunden. KZ- Nebenlager errichtet wurde. Erst mit der Lagerexis- Insbesondere in der Beamtenschaft dominiert dieses tenz im Ort wurde manchen Ebenseer*innen die Be- Argument. stialität des NS- Regimes vor Augen geführt. Erstmals „Mein Beitritt zur NSDAP im Jahr 1938 erfolgte unter wurden Teile der Bevölkerung der grausamen Behand- dem Druck des damaligen Ackerbauministers Ing. lung von KZ Häftlingen ansichtig. Bei einigen Partei- Reinthaller, indem er sagte, er erwarte von jedem Be- mitgliedern bewirkte diese persönliche unmittelbare amten und Angestellten seines Ressorts, daß er der Konfrontation mit dem vom NS- System bis zur physi- NSDAP angehöre.“ schen Vernichtung ausgebeuteten Menschen, so geben Ein weiterer schreibt, dass er ohne Vorinformationen sie an, einen Gesinnungswandel. mit anderen in den Gemeindesaal geladen wurde, wo der Bürgermeister mitteilte, er hätte die Funktion eines DIE OPPORTUNISTEN Blockleiters zu übernehmen. Die Direktoren der Webe- Die gewollte und geplante Erreichung persönlicher Vor- rei und Molkerei etwa gaben an, dass ihnen der Partei- teile bzw. die Vermeidung von Nachteilen durch eine eintritt nahegelegt worden sei. In der Polizeidienststelle NSDAP-Mitgliedschaft wird in zahlreichen Entregistrie- habe ein SS- Oberscharführer von seinen Beamten ulti- rungsansuchen als Entlastungsgrund angegeben. Ei- mativ verlangt, der SS beizutreten, andernfalls er ent- nige Beispiele: Ein kränklicher Hilfsarbeiter trat der SA lassen werde. In einer Staatsgewerbeschule wurde von bei, weil er sich von der SA Mitgliedschaft Unterstüt- den Schüler*innen der Eintritt in eine Parteiformation zung erwartete. verlangt. Eine Hausgehilfin eines Ebenseer Fleischhau- Viele Männer in Ebensee erhofften sich Arbeit nach ers gibt an, ihr Chef „hätte es gerne gesehen“, wenn einer nachgewiesenen Mitgliedschaft wenigstens in der sie der NSDAP angehören würde. Der Ortsgruppenlei- SA. Nach der Entlassung aller „politisch Untragbaren“ ter habe mit der sofortigen Einberufung zur Wehrmacht in den Betrieben im März 1938 setzte sich der Bürger- gedroht, wenn eine Mitarbeit in der Partei abgelehnt meister tatsächlich in erster Linie für die Aufnahme von worden wäre. Ein Frau bestätigte: „Man gab allgemein Parteigenossen ein. Für je 40 Mann einer Betriebsge- bereitwillig dem Druck nach“. folgschaft musste ein SA- oder SS- Mitglied aufgenom- men werden, vermutlich auch um eine politische DIE „IRREGELEITETEN“ UND „UNPOLITISCHEN“ Überwachung der Arbeiter*innen zu gewährleisten. Darüberhinaus existierte eine große Gruppe jener, die Die SA bot ihren Mitgliedern an, sich in der SA- Berufs- sich nach 1945 als Geblendete und Getäuschte, als schule weiterzubilden, wovon einige Ebenseer Ausgenützte und Irregeleitete bezeichnen und behaup- Gebrauch machten und dies in ihren Entlastungs- ten, sich niemals politisch in irgendeiner Weise betätigt schreiben angaben. zu haben. Auch die Ausstellung eines Gewerbescheines sei durch Sie gaben „politische Unmündigkeit“ an und seien der die Parteimitgliedschaft leichter möglich gewesen. Um Propaganda „Brot für alle“ erlegen: „Die Nazi haben also beruflich oder im Geschäft keine Nachteile zu meine trostlose Lage ausgenützt und mich an ihre Seite haben, sei man einer Gliederung der Partei beigetre- gerissen“. „Ich führte damals eine Spielschar in Eben- ten. see, die eigentlich keine politische Betätigung darstellte. Seite | 11
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 Unsere Heimabende wurden ausschließlich mit Singen, am 19.11. 2020, Gemeinderatswahlergebnisse in der Chronik Volkstanz und Tanzmusik ausgefüllt.“ der NSDAP Ebensee 7 Siehe u.a.: Die Nationalsozialistische Partei In: Emmerich Fazit Tálos, Herbert Dachs u.a. (Hrsg.): Handbuch des politischen Systems Österreichs: Erste Republik 1918–1933, Manz, Wien Alle an dieser Stelle charakterisierten Verhaltensmuster 1995, S. 231–244) halfen auf ihre Weise, das NS- System zu stabilisieren. 8 Parteichronik der NSDAP Ebensee, Erscheinungsjahr 1938, Will man den Verteidigungsstrategien, bei allen kriti- Abschrift, Archiv ZME, S. 204 schen Vorbehalten, Glauben schenken, erfolgten die 9 LA OÖ, Politische Akten, „Nationalsozialisten-Akten” der Be- Beitritte zur NSDAP freiwillig oder unter Druck, aus Be- zirkshauptmannschaft Gmunden. Mein Dank gilt Hrn. Franz Scharf vom LA OÖ für seine Hilfestellung quemlichkeit oder aus Angst, aus eigennützigen Moti- 10 https://www.land-oberoesterreich.gv.at/files/statistik/gesell- ven oder aus politischer Überzeugung. schaftundsoziales/bevstand/bevstand_40704.pdf Ebensee, abge- Pauschale Verurteilungen sind ebenso unangebracht rufen am 17.11.2020) wie eine generelle Entschuldigung. Biographien verlau- 11 Rundbrief des Führers der Jägerstandarte 6, Standartenfüh- fen niemals linear und sind ohne Brüche zu beurteilen. rer Zwettler, vom 6. März 1939, Archiv ZME, SG VIII-B13 Wesentlich ist jedoch, dass Menschen zu jeder Zeit, 12 Parteichronik der NSDAP Ebensee, Erscheinungsjahr 1938, Abschrift, Archiv ZME, S. 206 auch im Nationalsozialismus, Handlungsspielräume 13 7 Opfern ist ein Denkmal und ein Gedenkstein am Ebenseer vorfanden, die alternatives Agieren möglich machten. Ortsfriedhof gewidmet: Truckenthanner Franz, Ortner Alois, Das beweisen die Biographien von Männern und Promberger Karl, Loidl Josef, Weikl Karl, Promberger Karoline, Frauen, die „anständig“19 geblieben sind, dem NS- Re- Schleicher Hermine, Stummer Franz; Schrempf Johann wurde in gime ihre Gefolgschaft partiell entzogen, zur Gänze Majdanek ermordet und blieb bisher unerwähnt. verweigerten oder sich zum Widerstand entschlossen. 14 Nina Höllinger, Arnold Stukart. Webereidirektor in Ebensee – ermordet am 1. Juni 1942 in Auschwitz In: betrifft widerstand, Anmerkungen: 135/Dez. 2019, S. 32ff. 15 Generalappell des Sturmbannes J/6 Ebensee In: Salzkam- 1 Herausragend zu erwähnen sind das OÖ Landesarchiv mit mergut Zeitung, 28. Juli 1938 zahlreichen Publikationen in der Reihe: OÖ in der Zeit des Na- 16 Josef Goldberger, NS-Gesundheitspolitik in Oberdonau, S. 69 tionalsozialismus und das Archiv der Stadt Linz mit Veröffentli- (Reihe: OÖ in der Zeit des Nationalsozialismus, Band 1, Linz chungen zur Stadtgeschichte. Schon 1983 erschienen unter 2008) Herausgabe von Helmut Konrad und Wolfgang Neugebauer 17 Im Gemeindearchiv Ebensee lagerten bis ins Jahr 2000 411 unter dem Titel „Arbeiterbewegung-Faschismus-Nationalbe- Entregistrierungbögen, die damals ins Archiv des ZME über- wusstsein wichtige Beiträge zur Regionalgeschichte des Natio- nommen wurdem. 569 Bögen fehlten aus unbekannten Grün- nalsozialismus, etwa: Ernst Hanisch, Nationalsozialismus im den. Dorf: Salzburger Beobachtungen, S. 69ff 18 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Europaverlag Zum Widerstand gegen den NS seien die Publikationen des Wien 1981; Walter Schuster, Wolfgang Weber, Entnazifizierung DÖW erwähnt (z. B. Widerstand in OÖ, Salzburg...) im regionalen Vergleich, Archiv der Stadt Linz 2004; Roland Zur KZ Geschichte von Mauthausener Nebenlagern, Zwangsar- Pichler „Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonde- beiter- und Kriegsgefangenenlagern entstanden in den letzten rer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volks- 30 Jahren zahlreiche Arbeiten (Florian Freund, Bertrand Perz gericht Wien“, Diss., Wien 2016; Winfried R. Garscha, u.a.) Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS- Verbrechen, 2 Der Bad Goiserer Widerstandskämpfer, Politiker und Schrift- In: Talos, Hanisch, Neugebauer, Sieder (Hg.), NS- Herrschaft in steller Franz Kain bevorzugte den Ausdruck „Widerborstigkeit“ Österreich, S. 852ff. als Charakterisierung für die Widerständigkeit der Salzkammer- 19 Weit gefasster Widerstandsbegriff nach Prof. Karl Stadler, gutbewohner Karl Stadler, Österreich 1938-1945 im Spiegel der NS-Akten, 3 Zur frühen Arbeiterbewegung, Konsum- und Bildungsvereinen Wien 1966, S. 11. im Salzkammergut siehe Gerhart Baron, Der Beginn. Die An- fänge der Arbeiterbildungsvereine in OÖ, Linz 1971 Zur Geschichte des Salzkammerguts sei neben zahlreichen an- deren Texten besonders empfohlen: Franz Hufnagl, Die Maut zu Redaktionelle Richtigstellung Gmunden. Entwicklungsgeschichte des Salzkammergutes, Böhlau, Wien 2008 Jan-Ruth Mills begehrt folgende Veröffentlichung: 4 Zur Geschichte der Ersten und Zweiten Republik im Salzkam- Der Artikel „Ingenieur Karl Fiebinger (1913 - 2014) mergut: Quatember, Felber, Rolinek. Das Salzkammergut. Seine Bauingenieur im Auftrag der SS” von Wolfgang Qua- politische Kultur in der Ersten und Zweiten Republik, Grünbach tember in der Ausgabe Nr. 133 (Juli 2019), S.14-19 in 1999 5 Parteichronik der NSDAP Ebensee, Erscheinungsjahr 1938, „betrifft widerstand” basiert auf den historischen Re- Abschrift, Archiv ZME cherchen von Jan-Ruth Mills. 6 Landtags- und NR- Wahlergebnisse in Ebensee, https://www.doris.at/themen/geschichte/wahlen.aspx, abgerufen Seite | 12
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 Von Hamburg nach Ebensee - Die Verfolgungsgeschichte von Max Fryc Johanna Schmied Seit einiger Zeit sind Karteikarten des „Displaced Per- son Camp Ebensee“ online einsehbar.1 Durch Zufall entdeckte das Ausstellungsteam denk.mal Hannover- scher Bahnhof aus Hamburg darunter eine Karte von Max Fryc.2 Er ist einer der wenigen, dessen Lebens- wege nach seiner Zwangsausweisung aus Hamburg während der sogenannten Polenaktion im Jahr 1938 zumindest in Teilen nachvollzogen werden kann. Die US-Armee befreite ihn am 6. Mai 1945 in Ebensee. In seine Heimatstadt Hamburg kehrte er nach Kriegsende nicht zurück. Max Fryc kam am 12. August 1919 in Hamburg, als einziges Kind seiner Eltern Schaje und Golda Fryc, zur Welt. Die Familie besaß die polnische Staatsangehörig- Gedenkstein zur Erinnerung an die Vertreibung der polnischen keit und war in Hamburg Teil der Jüdisch-Israelitischen Jüdinnen und Juden aus Altona 1938 Foto: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Gemeinde. Nach der nationalsozialistischen Macht- Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen, 2011 übernahme im Jahr 1933 war die jüdische Familie zu- nehmend antisemitischen Anfeindungen und Der Anlass für die Deportationen war ein Beschluss des Diskriminierungen ausgesetzt. Schaje Fryc sah für sich polnischen Parlaments aus dem Jahr 1938, welcher und seine Familie unter diesen Umständen in Deutsch- allen polnischen Staatsangehörigen jüdischen Glau- land keine Zukunft mehr und emigrierte im November bens, die länger als fünf Jahre im Ausland lebten, die 1937 nach Argentinien. Seine Frau und sein Sohn soll- Staatsangehörigkeit aberkennen sollte. Nach der Anne- ten nachkommen. Doch dazu kam es nicht. Golda und xion Österreichs im Frühjahr 1938 durch das Deutsche Max Fryc wurden am Tag der „Polenaktion“ in Ham- Reich, befürchtete die polnische Regierung, eine mas- burg verhaftet und in die polnische Grenzstadt Zbązyń senhafte Einwanderung von polnischen Staatsangehö- verschleppt.3 rigen, welche Schutz vor antisemitischer Verfolgung Am 28. Oktober 1938, mussten 17.000 Jüdinnen und suchten. Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft das Deutschen Das NS-Regime nutzte diese Situation und begann mit Reich zwangsweise verlassen. Die sogenannte Polenak- der Ausweisung aller im Deutschen Reich lebenden Jü- tion stellte die erste Zwangsausweisung und Massende- dinnen und Juden polnischer Herkunft. In Hamburg portation von Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen waren von dieser Zwangsausweisung etwa 1.000 Men- Reich dar. Ohne Vorankündigung wurden Kinder, schen betroffen, welche vom Bahnhof Altona mit Frauen und Männer reichsweit verhaftet und in Ge- Zügen in den Ort Zbązyń gebracht wurden. Viele von fängnissen und an Sammelorten festgehalten. Von dort ihnen wurden später in Ghettos und Konzentrationsla- wurden sie mit Sonderzügen an die deutsch-polnische gern ermordet. Heute erinnert ein Gedenkstein in Grenze gebracht. Die Durchführung der Aktion erfolgte Hamburg an die Opfer der „Polenaktion“.5 regional unterschiedlich. Die Verhaftungen kamen für Die Lebensbedingungen in Zbązyń waren vor allem in die Betroffenen völlig überraschend. Sie durften nur den ersten Tagen und Wochen katastrophal. Ohne Ver- wenige Habseligkeiten mitnehmen. An der polnischen sorgung mussten mehr als 8.000 Menschen auf einem Grenze angekommen, wurden die Ausgewiesenen von Kasernengelände in ehemaligen Pferdeställen und Ba- der deutschen Polizei zu Fuß über die Grenze getrieben racken ausharren. Nur langsam entstand, unter den und dort sich selbst überlassen.4 Bemühungen polnisch-jüdischer Hilfsorganisationen, Seite | 13
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 In Częstochowa geriet Max Fryc schon bald erneut unter national- sozialistische Herrschaft. Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde die Stadt durch die Wehrmacht besetzt und fortan Tschenstochau ge- nannt. Im April 1941 errichteten die NS- Besatzer dort ein Ghetto. Insgesamt 35.800 Jüdinnen und Juden aus Częstochowa und um- liegenden Gemeinden waren ge- zwungen in das Ghetto umzusiedeln, darunter auch Max Fryc. Im September 1942 wurde ein Großteil des Ghettos durch Einheiten der SS aufgelöst und fast alle seiner Bewohnerinnen und Bewohner im Vernichtungs- lager Treblinka ermordet.8 Dort musste er in weiteres Jahr verbringen, bis er im März 1943 in das Zwangsarbeitslager Bliżyn verschleppt wurde.9 Das Arbeitslager war zunächst für sowjetische Kriegsgefangene vorgesehen bis zunehmend polni- sche Jüdinnen und Juden aus un- terschiedlichen Ghettos in das Lager gebracht wurden. Ab Feb- ruar 1944 wurde es als Außenla- ger dem KZ Majdanek unterstellt. In seinen zahlreichen Außenlagern mussten Häftlinge Zwangsarbeit in Rüstungsbetrie- ben oder Steinbrüchen leisten.10 Bis zur Auflösung des Lagers DP-Karten von Max Fryc aus Ebensee und Feldafing Archiv: ZME und Arolsen Archives Bliżyn im August 1944 musste Max Fryc dort Zwangsarbeit ver- ein provisorisches Auffanglager.6 Dort lebten die Men- richten. Durch das Vorrücken der Roten Armee räumte schen teilweise monatelang, bis das Lager im Sommer die SS immer mehr Konzentrationslager in Frontnähe. 1939 aufgelöst wurde. Einigen der Ausgewiesen er- Die kriegswichtigen Produktionsanlagen des Lagers laubte das NS-Regime eine vorüberkehrende Rückkehr Bliżyn wurden in das Reichsinnere verlegt, die jüdi- in das Deutsche Reich. Von dort sollte der Besitz ver- schen Häftlinge in das Konzentrations- und Vernich- kauft oder eine Emigration in das Ausland geregelt tungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Fryc musste werden. Wiederum andere durften ins Landesinnere sich am 1. August 1944 im KZ Auschwitz registrieren Polens, jedoch nur dann, wenn sie dort Verwandte lassen.11 7 nachweisen konnten. Zu ihnen zählt auch Max Fryc, Doch wenige Monate später begann auch hier die Auf- dessen Weg in den Geburtsort seiner Mutter lösung des Lagerkomplexes. Den Hamburger Max Fryc Częstochowa führte. Ob ihn Golda Fryc begleitete, ist verschleppte die SS weiter nach Melk.12 Hier mussten nicht überliefert, ihre Spur verliert sich im damaligen Häftlinge noch in der letzten Kriegsphase Stollen in Grenzort Zbązyń. den Berg treiben und Rüstungsgüter herstellen.13 Seite | 14
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 Stolpersteine für die Familie in der Diagonalstraße 13 Foto: Uwe Rohwedder Als sich die Alliierten Mitte April 1945 dem Lager Melk 3 Stolperstein Biografie Max Fryc: https://www.stolpersteine- näherten, wurden die 7.401 noch im Lager lebenden hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=5827, zuletzt aufgerufen am 13.11.2020. Häftlinge in das Stammlager Mauthausen und in das 4 Vgl. Vagt, Kristina: „Wie ein Gefangener“. Die „Polenaktion“ Außenlager Ebensee transportiert. Ursprünglich plante am 28. Oktober 1938 in Hamburg, in: Bothe, Alina; Pickhan, die SS die Inhaftierten in die Stollenanlage zu treiben Gertrud (Hg.), unter Mitarbeit von Meibeck, Christine: Ausgewie- und diese durch eine Sprengung zu ermorden. Am 5. sen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der „Polenaktion“, Ber- und 6. Mai 1945 konnten die Konzentrationslager lin 2018, S. 138-147, hier S. 138. Mauthausen und Ebensee durch amerikanische Trup- 5 Gedenkstätten in Hamburg: https://www.gedenkstaetten-in- hamburg.de/gedenkstaetten/gedenkort/gedenkstein-fuer-die-ver- pen befreit werden.14 treibung-von-polnischen-juden/, zuletzt aufgerufen am Unter den Überlebenden befand sich auch Max Fryc. 13.11.2020. Eine Weile war er in dem Lager für „Displaced Persons“ 6 Das Jüdisch Historische Institut Warschau zeigte bis 2019 die untergebracht, welches nach der Befreiung auf dem Ausstellung „Ausgewiesen! Berlin, 28.Oktober 1938 – Die Ge- Gelände des Konzentrationslagers Ebensee errichtet schichte der »Polenaktion«“, welche von dem Fachbereich Ge- worden war. Im November 1945 lebte er einige Mo- schichte des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin und dem Aktiven Museum in Berlin unter der Leitung von Alina nate im DP- Camp Feldafing in Bayern, ehe er sich in Bothe entwickelt wurde: https://www.aktives-museum.de/ausstel- der französischen Stadt Montreuil an der Seine nieder- lungen/ausgewiesen/, zuletzt aufgerufen am 14.11.2020. ließ.15 7 Vgl. Jah, Akim; Gryglewski, Marcus: „Ihre Grabstätten befin- An seinem ehemaligen Wohnort in Hamburg erinnern den sich nicht im hiesigen Bezirk“. Quellen zu Deportationen der heute Stolpersteine an seine Familie. Sein verschlunge- Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Materialien für den ner Weg führte Max Fryc aus Hamburg durch das na- Unterricht und die außerschulische Bildung, hrsg. vom Interna- tional Trading Service und der Gedenk- und Bildungsstätte Haus tionalsozialistische Ghetto- und Lagersystem, bis er im der Wannsee-Konferenz, Berlin/Leipzig 2018, S. 18. Mai 1945 im Konzentrationslager Ebensee in Öster- 8 Vgl. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas: reich befreit werden konnte. Er war einer der ersten https://www.memorialmuseums.org/staettens/druck/865, zuletzt Opfer der nationalsozialistischen Deportationen. aufgerufen am 13.11.2020. 9 TD Akte Max Fryc: ITS Digital Archive, 6.3.3.2./ 111101228. 10 Vgl. Wachsmann, Nikolaus: Kl. Die Geschichte der National- Anmerkungen: sozialistischen Konzentrationslager, München 2018, S. 386. 1 Website Museum Zeitgeschichte Ebensee: https://memorial- 11 Stolperstein Biografie Max Fryc: https://www.stolpersteine- ebensee.at/website/index.php/de/start-gedenkstaette, zuletzt auf- hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=5827, zuletzt gerufen am 14.11.2020. aufgerufen am 13.11.2020. 2 Das derzeit entstehende Dokumentationszentrum denk.mal 12 Individuelle Häftlingsunterlagen KL Mauthausen: ITS Digital Hannoverscher Bahnhof möchte ab 2023 mit einer Daueraus- Archive, 1.1.26.3/ 1446430. stellung an die die Deportation von Jüdinnen und Jüdinnen und 13 Website der Gedenkstätte Melk: https://www.melk-memo- Juden, Sinti*zze und Rom*nja aus Hamburg und Norddeutsch- rial.org/de/geschichte, zuletzt aufgerufen am 14.11.2020. land erinnern. 2017 wurde bereits ein Gedenkort in der Ham- 14 Stolperstein Biografie Max Fryc: https://www.stolpersteine- burger HafenCity eingeweiht. In der kommenden Daueraus- hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=5827, zuletzt stellung wird auch die Polenaktion 1938 genauer beleuchtet. aufgerufen am 13.11.2020. Nähere Informationen: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und 15 TD Akte: ITS Digital Archive, 6.3.3.2./ 111101229. Lernort an die Opfer der NS-Verbrechen: https://www.gedenksta- etten-hamburg.de/de/, zuletzt aufgerufen am 14.11.2020. Seite | 15
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 Franz Stangl und Hartheim - das Urteil, das nie verkündet wurde! Anders Otte Stensager Unter den relativ wenigen Österreichern, die eine ent- flucht gesucht hatten. Wie bereits erwähnt, ist dieser scheidende Rolle bei der Ermordung der europäischen Teil von Stangls Leben bereits beschrieben. Es wird Juden gespielt haben, finden sich Namen wie der SS- daher empfohlen, zuerst den Artikel von Wolfgang und Polizeiführervon Lublin und Leiter der "Aktion Rein- Schmutz zu lesen, wenn man sich über diese Zeit in hardt", Odilo Globocnik, der Kommandant des jüdi- Stangls Leben informieren möchte.1 schen KZ-Lagers Theresienstadt in Böhmen, Siegfried In diesem Artikel habe ich mich jedoch entschieden,auf Seidl, der Kommandant des Arbeitslagers Płaszów/Kra- eine weniger bekannte Periode in Stangls Leben einzu- ków, Amon Göth, der eine zentrale Rolle bei der Evaku- gehen, nämlich seine Flucht und seine Auslieferung zur ierung des Ghettos der Stadt spielte und Franz Stangl Strafverfolgung. Insbesondere die diplomatischen He- aus Altmünster, der Kommandant der beiden Vernich- rausforderungen, die sich im Zusammenhang mit sei- tungslager Sobibor und Treblinka in Polen war. ner Auslieferung von Brasilien nach Westdeutschland Dies ist jedoch nicht das erste Mal, dass der Name vor seiner Verurteilung ergaben, wurden bisher nicht Franz Stangl für die Leser von Betrifft Widerstand prä- untersucht und beschrieben. Ein Fall, der auch die sentiert wird. Der Pädagoge Wolfgang Schmutz österreichischen Behörden in ein sehr großes Dilemma schrieb 2012 eine Kurzbiographie über Stangl, seine brachte. Der vorliegende Artikel basiert auf eigenen Zeit in Ebensee am Traunsee, wo er mit seiner Mutter, Forschungen des Autors zu Franz Stangl. Ein Projekt, seinem Stiefvater und seiner Schwester Anna an der das im Herbst 2020 zur Veröffentlichung der ersten Adresse Audorf 9 lebte, ein Haus, das es nicht mehr umfassenden Biographie von Franz Stangl führte, die gibt. Dort wurde auch seine Karriere erst als Weber bei genau auf dem historischen Quellenmaterial basiert, der Pottendorfer Spinnerei in Ebensee und später bei das sowohl in deutschen als auch in österreichischen der Polizei in Linz beschrieben. Eine Karriere, die ihn Archiven vorhanden ist.2 nach dem „Anschluss“ 1938 zur Gestapo und in die Tarnorganisation „Gemeinnützige Stiftung für Anstalts- Unser Wissen über das Leben und die Karriere von pflege“ in der Tiergartenstraße 4 in Berlin führte, auch Franz Stangl stammt hauptsächlich aus dem großen „Stiftung” oder „T4” genannt. Durch diese Organisa- Treblinka-Prozess, der Anfang der 1960er Jahre in Düs- tion wurde er in die sogenannte „Euthanasie“-Anstalt seldorf stattfand. Hier wurden 11 Mittäter Stangls an- Schloss Hartheim außerhalb von Linz geschickt, wo er geklagt, die auch von Stangls Taten berichten konnten, als Verwaltungsleiter beim Standesamt arbeitete. Ob- die hauptsächlich in Treblinka stattgefunden hatten. wohl er bei der physischen Tötung beeinträchtigter 1967 wurde Stangl ausgeliefert und 1970 nach mehr- Menschen in Hartheim keine aktive Rolle spielte, unter- jährigen Verhören und Ermittlungen zu seinen Verbre- zeichnete er z.B. fiktive Sterbeurkunden mit seinem chen verurteilt. Dieses Quellenmaterial bildet Decknamen „Staud” und war auch verantwortlich für zusammen mit dem Material, das bei der Verurteilung die Sterberegister. der vorherigen 11 Täter verwendet wurde, den Kern Im Frühjahr 1942 wurde er zusammen mit dem Rest des Wissens, das wir über Stangl haben. Ein Material, des männlichen Personals von Hartheim nach Polen das heute in der ”Zentralen Stelle der Landesjustizver- geschickt und zum Lagerkommandant von Sobibor und waltung” in Ludwigsburg aufbewahrt wird. Darüber hi- ab Sommer 1942 von Treblinka ernannt. Ab Ende naus gibt es im Oberösterreichischen Landesarchiv in 1943 wurde er deshalb nach Italien befohlen, um Parti- Linz auch wertvolles Material über Stangl und seine sanen entlang des Adriatischen Küstenraumes unter Mitschuldigen,Täter- und Täterinnen der „Euthanasie”- der „Sonderabteilung R” mit Hauptsitz in Triest zu be- Anstalt Hartheim. Das ganze Material zu Stangls Aus- kämpfen. Vor Kriegsende im Mai 1945 gelang es lieferung zur Strafverfolgung befindet sich ebenfalls im Stangl aus Norditalien zu seiner Familie nach Lembach österreichischen Staatsarchiv in Wien. Schließlich (Mühlviertel) zurückzukehren, wo seine Frau Theresia führte die in Österreich geborene Journalistin Gitta Se- und seine drei Töchter Brigitte, Renate und Isolde Zu- reny 1971 ein mehr als 70-stündiges Interview mit Seite | 16
betrifft widerstand 138 | Dezember 2020 amerikanischen Kriegsgefangenlager „Camp Marcus W. Orr” in Glasenbach in der Nähe von Salzburg über- gaben.4 Er blieb hier bis die Voruntersuchung gegen ihn und einen Teil des ehemaligen Personals von Hartheim 1947 am Landesgericht in Linz begann. Als der Fall gegen Stangl 1948 schließlich vor Gericht kam, war ihm die Flucht gelungen. Das Landesgericht in Linz wusste zu diesem Zeitpunkt nichts über die Verbre- chen, die er in Polen begangen hatte. Der Fokus lag al- lein auf zwei Taten. Eine davon war Stangls mögliche illegale Mitgliedschaft in der NSDAP vor dem An- schluss im Jahr 1938. Der zweite Aspekt war Stangls Funktion in Hartheim und seine Rolle bei der Ermor- dung von beeinträchtigten Menschen. Der Fall gegen Stangl wurde jedoch nicht auf Eis gelegt, im Gegenteil. Obwohl Stangl für die nächsten zwanzig Jahre in Syrien und dann in Brasilien residierte, wurde sein Name immer mehr bekannt und bald darauf auch mit den Kriegsverbrechen in Sobibor und Treblinka in Verbin- dung gebracht. Der Fall in Hartheim stellte sich nun als einer von mehreren Fällen heraus, aber auch als im Verhältnis geringfügigste Anklage. Stangl wurde von Franz Stangl im Gefängnis den Justizbehörden in Österreich und Westdeutschland Foto: The Daily Telegraph/Don Honeyman international gesucht und war sogar einer der Täter an der Spitze von Simon Wiesenthals Liste der gesuchten Stangl, unmittelbar nachdem er zu lebenslanger Haft NS-Kriegsverbrecher, vergleichbar mit Adolf Eichmann verurteilt worden war. Ein Interview, das 1974 unter und Josef Mengele. dem Titel „Into that Darkness“ („Am Abgrund: Gesprä- Kehren wir in die Zeit vor Stangls Flucht aus Europa che mit dem Henker“) veröffentlicht wurde. Dieses In- zurück. Während er in amerikanischer Gefangenschaft terview wurde oft von Historikern und Historikerinnen war, zogen Theresia und seine drei Töchter in ihr Haus als primäre Quelle für Stangls Leben und Karriere ver- in Wels an die Adresse Leopold Bauer Strasse 7 zurück. wendet, aber es ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Ein Haus, das inzwischen geplündert worden war. The- In erster Linie, weil Stangl selbst von seinem Leben er- resia hatte es schwer, über die Runden zu kommen und zählt. Einige seiner Informationen sind falsch oder je- hatte praktisch kein Geld, um Lebensmittel für die Kin- denfalls ungenau. Wenn man die Informationen, die der zu besorgen. Unter anderem musste sie Äpfel und Stangl Sereny erzählte, mit dem historischen Quellen- Gemüse von den Bauern stehlen, bis sie einen Job in material aus den oben genannten Archiven vergleicht, der Brennerei Bartl & Co in der Hinterschweigergasse gibt es Grund, einer Reihe seiner Aussagen skeptisch in Wels bekam. Obwohl sie nicht viel Geld verdiente, gegenüberzustehen. An anderer Stelle im Interview war es genug, um für Essen zu sorgen. Zur gleichen sind sie jedoch sehr präzise und gleichlautend.3 Zeit wurde Stangl in das Internierungslager Glasen- bach verlegt, worüber er berichtet, dass die Bedingun- Was ist mit Stangl nach dem Krieg passiert? gen ziemlich hart waren, da die Gefangenen keine Als Stangl im Mai 1945 mit seiner Familie in Lembach Betten zum Schlafen in den Baracken hatten. Im Som- wieder vereint war, erkannte er, dass er nicht weiter hier mer 1947 wurde Stangl von Glasenbach nach Linz in bleiben konnte und floh deshalb weiter zur Rieder das Untersuchungsgefängnis verlegt. Die Staatsanwalt- Hütte am Feuerkogelplateau in der Nähe von Ebensee, schaft Linz hatte Stangl 1946 wegen Mitschuld an in wo er sich versteckte. Doch kurz darauf wurde Stangl Hartheim begangenen Morden angeklagt und stand vermutlich von einem Hans Promberger aus Ebensee nun vor dem Prozess gegen ihn und mehrere andere gemeldet, der ihn laut seiner Frau Theresia schon frü- ehemalige Mitarbeiter von Hartheim. Als der Prozess her kannte. Stangl wurde dann von der österrei- schließlich im Mai 1948 vor Landesgericht Linz begin- chischen Polizei verhaftet, die ihn später dem nen sollte, war Stangl geflohen, während er für ein Seite | 17
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