Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven

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Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
Eine empirische Studie
                zu weiblicher Genitalverstümmelung
                in Deutschland
                Daten – Zusammenhänge – Perspektiven

gefördert vom
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
Quantitative Studiex

        Eine empirische Studie
        zu weiblicher Genitalverstü̈mmelung
        in Deutschland

        Daten – Zusammenhänge – Perspektiven

Anmerkungen: *Die für Indonesien und Malaysia ausgewiesenen Prävalenzraten basieren lediglich auf Schätzungen. Hierbei wurde jeweils
nur ein Wert für die weibliche Gesamtbevölkerung geschätzt, infolgedessen eine Differenzierung der Prävalenzrate nach den Altersgrup-
pen 15-19 Jahre und 15-49 Jahre nicht möglich ist.
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xDie Autor_innen         xDanksagung                                                                                                                                                                     Danksagungx

Die Autor_innen          Danksagung

Quantitative Studie:     Unser erster und tiefster Dank gilt den vie-                              in Frankfurt, durch TERRE DES FEMMES e.V.                                  verstümmelung, so wurde uns bei der Aus-
- Jann Nestlinger        len Menschen, die sich für diese Studie zur                               in Berlin, durch NALA e.V. in München und                                  wertung der Studie bewusst, kann betroffe-
- Patrick Fischer        Verfügung gestellt haben und bereit waren,                                agisra e.V. in Köln Ansprechpartner_innen                                  nen Menschen und ihrem Umfeld nur dann
                         uns von ihren ganz persönlichen Erfahrun-                                 gehabt zu haben, die sich bereit erklärten,                                hilfreich sein, wenn es respektvoll und ur-
- Sandy Jahn             gen zu berichten.                                                         den Interviewer_innen Anlaufstelle und Be-                                 teilsfrei auf diese Menschen und all ihre Er-
                                                                                                   treuung zu sein. Auch dafür ein großes Dan-                                fahrungen, die sie sowohl im Heimatland als
                         Als nächstes bedanken wir uns bei den In-                                 keschön.                                                                   auch in Deutschland gemacht haben, gerich-
Qualitative Studie:      terviewer_innen in den einzelnen Städten,                                                                                                            tet wird. Neben der quantitativen und quali-
                         die sich sehr engagiert eingesetzt haben,                                 Die Daten des quantitativen Teils der Studie                               tativen Kategorisierung, die die eigentlichen
- Dr. Isabelle Ihring
                         um möglichst wortgetreu die Aussagen der                                  wurden jeweils von den Einzelnen in den                                    Inhalte der Studie sind, kann darin der große
- Frauke Czelinski       Frauen festzuhalten und zusätzlich die vie-                               Städten in eine Maske eingegeben, die von                                  integrationsfördernde Gewinn dieser Studie
                         len unterschiedlichen Muttersprachen in                                   der Firma Ramboll ausgewertet und zur Ver-                                 liegen. Eine bloße Datenverarbeitung solch
                         eine der drei uns bekannten Sprachen                                      öffentlichung aufbereitet wurden. Für diese                                vielschichtigen emotionalen Inhaltes würde
                         (Deutsch, Französisch und Englisch) zu                                    gute Zusammenarbeit sagen wir Danke!                                       die Gefahr in sich bergen, auf die Betroffe-
                         übersetzen. Wir schätzen all das sehr und                                                                                                            nen erneut verletzend zu wirken, wenn diese
                         erkennen hiermit an, dass sie dadurch die ei-                             Wir vom MigraZentrum e.V. in Freiburg und                                  Inhalte wie ein Symptomenkomplex ausge-
                         gentliche Grundlage für diese Studie ge-                                  Plan International Deutschland e.V. in Ham-                                wertet würden, ohne die gesellschaftliche
                         schaffen haben.                                                           burg fühlen uns durch das uns als Durchfüh-                                und persönliche Tragweite zu berücksichti-
                                                                                                   renden von allen Beteiligten entgegenge-                                   gen.
                         Namentlich sind das:                                                      brachte Vertrauen geehrt. Nur durch die
                         - Eli Abeke                                                               gute Zuarbeit all der Koordinatorinnen und                                 Dr. Isabelle Ihring
                         - Fadhumo Musa Afrah                                                      Interviewer_innen in den einzelnen Städten                                 Frauke Czelinski
                         - Djohara Abdi Ali                                                        war es uns möglich, dieses wertvolle Daten-                                (MigraZentrum e.V.)
                         - Samrawit Asgedom                                                        material zu bekommen, das den qualitativen
                         - Helene Batemona                                                         Teil der Studie ausmacht. Diese Sammlung                                   Dr. Anja Stuckert
                         - Pastor Brown                                                            persönlicher Erfahrungsberichte und Mei-                                   (Plan International Deutschland e.V.)
                         - Tiranke Diallo                                                          nungen gibt letztendlich all denjenigen
                         - Fatou Mandiang Diatta                                                   Menschen eine Stimme, die von weiblicher                                   Freiburg, im Januar 2017
                         - Joyce Folwaczny                                                         Genitalverstümmelung und ihren weitrei-
                         - Fadumo Korn                                                             chenden Folgen betroffen sind. Hierfür ganz
                         - Berhane Kunom                                                           herzlichen Dank!
                         - Marie Audrey Banyo Ange Ledjou
                         - Arwah Mohamed                                                           Wir danken Almuth Becker-Wildenroth für
                         - Sarah Negusse                                                           Begleitung, persönliche Unterstützung, Su-
                         - Garnet A. Parris                                                        pervision und Lektorat.
                         - Samrout Segedom
                         - Shewanesh Sium                                                          Unser letzter und gründlichster Dank gilt
                         - Wedeb Tedros                                                            dem Leben als solchem für diese Initiative,
                         - Muna Terlinden                                                          durch die die Aufmerksamkeit der deut-
                                                                                                   schen Gesellschaft auf einen Sachverhalt
                         Ohne eine Koordination vor Ort wäre die                                   gelenkt wird, der jenseits der Grenze per-
                         Organisation um ein vielfaches mühsamer                                   sönlicher und kultureller Intimität jahrhun-
                         gewesen. Deshalb sind wir im Netzwerk                                     dertelang gelebtes Tabu war. Dieses Augen-
                         INTEGRA froh, durch Maisha e.V. und FIM e.V.                              merk auf das Thema weibliche Genital-

2                       Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                              3
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xInhalt                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Inhaltx

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                                                                                                                                                               4.3.1.1 Auswertung der Aussagen von Frauen............................................................................ 33
                                                                                                                                                               4.3.1.2 Interpretative Analyse der Aussagen von Frauen ......................................................... 41
                                                                                                                                                               4.3.2       Männer .................................................................................................................................... 47
1 Einleitung......................................................................................................................................... 06
                                                                                                                                                               4.3.2.1 Auswertung der Aussagen von Männern........................................................................ 47
                                                                                                                                                               4.3.2.2 Interpretative Analyse der Aussagen von Männern...................................................... 51
2 Fokus der Studie........................................................................................................................... 07
                                                                                                                                                               4.3.3       Religiöse Autoritäten........................................................................................................... 53
2.1         Ausgangslage ........................................................................................................................ 07
                                                                                                                                                               4.3.3.1 Auswertung der Aussagen von religiösen Autoritäten ............................................... 53
2.2         Zielsetzung der quantitativen Studie ............................................................................... 10
                                                                                                                                                               4.3.3.2 Interpretative Analyse der Aussagen von religiösen Autoritäten............................. 53
2.3         Zielsetzung der qualitativen Studie................................................................................... 1 1
                                                                                                                                                               4.3.4       Soziale Autoritäten.............................................................................................................. 54
2.3.1       Inhaltliche Zielsetzung.......................................................................................................... 1 1
                                                                                                                                                               4.3.4.1 Auswertung der Aussagen von sozialen Autoritäten .................................................. 54
2.3.2       Grenzen und Möglichkeiten der qualitativen Studie...................................................... 1 1
                                                                                                                                                               4.3.4.2 Interpretative Analyse der Aussagen von sozialen Autoritäten ............................... 56
3 Quantitative Studie: Schätzung der von weiblicher Genitalverstümmelung                                                                                       4.3.5       Fachkräfte .............................................................................................................................. 57
betroffenen oder bedrohten Mädchen und Frauen in Deutschland ................................... 12                                                            4.3.5.1 Auswertung der Aussagen von Fachkräften .................................................................. 57
3.1         Untersuchungsbereiche ....................................................................................................... 12                   4.3.5.2 Interpretative Analyse der Aussagen von Fachkräften............................................... 58
3.1.1       Länder ...................................................................................................................................... 12   4.3.6       Fokusgruppen........................................................................................................................ 58
3.1.2       Zielgruppen............................................................................................................................. 12        4.3.6.1 Auswertung der Aussagen der Fokusgruppen .............................................................. 58
3.2         Methodisches Vorgehen....................................................................................................... 15                    4.3.6.2 Interpretative Analyse der Aussagen der Fokusgruppen ........................................... 63
3.2.1       Forschungsstand.................................................................................................................... 15             4.4         Diskussion der qualitativen Ergebnisse .......................................................................... 66
3.2.2       Quantitative Komponente ................................................................................................... 16
3.2.3       Qualitative Komponente ...................................................................................................... 19                   5 Diskussion der Gesamtergebnisse und Schlussfolgerungen........................................... 71
3.2.4       Schätzen des FGM_C-Risikos ............................................................................................. 20                        5.1         Diskussion der Gesamtergebnisse ..................................................................................... 71
3.3         Ergebnisse der quantitativen Studie................................................................................ 22                             5.2         Schlussfolgerungen ............................................................................................................. 77
3.3.1       Schätzergebnisse zur Zahl von FGM_C betroffener Frauen in Deutschland .......... 22
3.3.2       Modell zur Schätzung der Zahl von FGM_C bedrohten Mädchen                                                                                          6 Nachwort ......................................................................................................................................... 79
            unter 18 Jahren in Deutschland ........................................................................................ 22
3.3.3       Erweiterung des Modells: Einbezug eines empirischen Akkulturationsfaktors ..... 22
                                                                                                                                                               7 Quellen und Literaturverzeichnis ........................................................................................... 80
3.4         Diskussion der quantitativen Ergebnisse........................................................................ 27

4 Qualitative Studie: Wie stehen die Menschen aus FGM_C praktizierenden Com-                                                                                   8 Anhang............................................................................................................................................. 83
munities zur Thematik und welche Bedürfnisse haben sie im Umgang damit?.......... 29                                                                           8.1         Ergänzungen zur quantitativen Studie ........................................................................... 83
4.1         Methodisches Vorgehen ..................................................................................................... 29                     8.2         Ergänzungen aus der qualitativen Studie ...................................................................... 86
4.2         Zielgruppen............................................................................................................................. 31        8.3         Ergebnisse aus der standardisierten Befragung .......................................................... 86
4.3         Ergebnisse der qualitativen Studie................................................................................... 33                           8.4         Fragebögen ............................................................................................................................ 97
4.3.1       Frauen...................................................................................................................................... 33    8.5         Netzwerk INTEGRA .............................................................................................................. 112

4                                                                              Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland        Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                                                                5
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xEinleitung                                                                                                                                                                                                                                    Fokus der Studiex

1. Einleitung                                                                                                                                  2. Fokus der Studie
                                                                                                                                               2.1. Ausgangslage
In einer vom Bundesministerium für Familie,                           nannten Fokusgruppen, um am Ende eine                                    Weibliche Genitalverstümmelung ist eine                                    ten Ländern jeweils mehr als 90 Prozent der
Senioren, Frauen und Jugend geförderten                               große Bandbreite an unterschiedlichen                                    Praktik, die in weiten Teilen Westafrikas, Ost-                            dort lebenden Frauen und Mädchen infibu-
Studie hat INTEGRA, ein Netzwerk, das aus                             Perspektiven auf die Praktik zu beleuchten                               afrikas und Zentralafrikas sowie in Ländern                                liert. Dabei variiert die Prävalenz entspre-
allen Organisationen in Deutschland be-                               und für die Studie nutzbar zu machen.                                    wie dem Jemen, dem Irak [Anm. d. Verf.: im                                 chend der Bevölkerungsgruppe, der die
steht, die gegen weibliche Genitalverstüm-                                                                                                     Irak besonders bei den Kurd_innen], in Indo-                               Mädchen und Frauen angehören. Außerhalb
melung kämpfen, unter Berücksichtigung                                Diese beiden Erhebungen bilden die Grund-                                nesien und Malaysia3 als kultureller Brauch                                Afrikas liegen bisher nur für wenige Länder
von durch Ramboll Management Consulting                               lage für einen nächsten Schritt, interdiszip-                            weit verbreitet ist. Weltweit sind laut WHO                                verlässliche Statistiken zur FGM_C-Häufig-
erhobenen Daten vorliegende Studie zum                                linäre Konzepte zu entwickeln, die sowohl                                200 Mio. Mädchen und Frauen betroffen4.                                    keit vor. Ferner ist anzunehmen, dass FGM_C
Thema weibliche Genitalverstümmelung                                  bedrohte Mädchen und Frauen schützen als                                 Sie besteht darin, Mädchen im Alter von null                               in weitaus mehr Ländern praktiziert wird als
(Female Genital Mutilation/Female Genital                             auch betroffene Mädchen und Frauen unter-                                bis ca. vierzehn Jahren in einem rituellen                                 bislang bekannt. Hierzu fehlt es jedoch an
Cutting, kurz: FGM_C)1 in Deutschland durch-                          stützen.                                                                 Akt die äußeren Genitalien aus nicht-medi-                                 verlässlichen Erhebungen (EIGE 2015a;
geführt.                                                                                                                                       zinischen Gründen teilweise oder ganz zu                                   ICF International 2015; Koustuv et al. 2015).
                                                                                                                                               entfernen (EIGE 2015a; ICF International
Anhand sowohl offizieller Statistiken als                                                                                                      2015; Koustuv et al. 2015). Die Weltgesund-                                Rechtlich wird FGM_C in den meisten Län-
auch durch empirisch erhobene Daten                                                                                                            heitsorganisation (WHO) unterteilt FGM_C in                                dern als schwere Menschenrechtsverletzung
wurde die Zahl der von weiblicher Genital-                                                                                                     nachfolgende Typen:                                                        verurteilt, da sie das Recht auf körperliche
verstümmelung betroffenen und bedrohten                                                                                                                                                                                   Unversehrtheit verletzt und betroffenen
Mädchen und Frauen in Deutschland ge-                                                                                                          • Typ I ‚Sunna‘: die teilweise oder ganze Ent-                             Mädchen und Frauen sowohl auf physischer
schätzt. Der vorliegende Bericht der quanti-                                                                                                   fernung der Klitoris                                                       als auch psychischer Ebene erheblichen
tativen Erhebung enthält dabei erstmalig                                                                                                       • Typ II ‚Exzision‘: Exzision der Klitoris mit                             Schaden zufügt. Vor diesem Hintergrund
auch Schätzungen zur Akkulturation und                                                                                                         partieller oder totaler Entfernung der klei-                               haben die Vereinten Nationen im Jahr 2012
stellt die Ergebnisse in drei Szenarien u.a.                                                                                                   nen Labien                                                                 ihre Mitgliedsstaaten aufgerufen, entspre-
unter Einbezug der Akkulturation als quali-                                                                                                    • Typ III ‚Infibulation oder Pharaonische Be-                              chende Gesetze zur Abschaffung von
tative Komponente dar.1                                                                                                                        schneidung‘: Entfernung der ganzen oder                                    FGM_C zu erlassen.
                                                                                                                                               eines Teiles der äußeren Genitalien und Ver-
Zum anderen wurde im Rahmen qualitativer                                                                                                       nähen der Wundränder bis auf eine mini-                                    Zudem fordert die Generalversammlung der
Interviews erhoben, wie Menschen aus                                                                                                           male Öffnung. Diese Form ist die weltweit                                  Vereinten Nationen in der Resolution 67/146
FGM_C praktizierenden Bevölkerungsgrup-                                                                                                        am wenigsten verbreitetste Form von                                        „Intensifying global efforts and sharing
pen nach der Einwanderung in ein die                                                                                                           FGM_C.                                                                     good practices to effectively eliminate fe-
Praktik per Gesetz verbietende Einwande-                                                                                                       • Typ IV: Bezeichnet die verschiedenen For-                                male genital mutilations” (No. 13) die Mit-
rungsland zur Thematik stehen. Das Ziel der                                                                                                    men und Variationen der Beschneidung,                                      gliedsstaaten auf, Methoden und Standards
qualitativen Studie ist, die Einstellungen, Be-                                                                                                welche nicht näher klassifiziert werden kön-                               für die Erhebung von Daten über die von
dürfnisse und Wünsche betroffener Frauen                                                                                                       nen. Auch Beschneidungsformen, die nicht                                   FGM betroffenen Frauen und die durch FGM
und Männer bezüglich der Praktik und des                                                                                                       unter die Typen I-III fallen, werden dem                                   gefährdeten Mädchen festzulegen (Vereinte
Umgangs mit ihren sozialen und persönli-                                                                                                       Typ IV zugerechnet.                                                        Nationen 2012).
chen Auswirkungen sichtbar zu machen. Die
qualitativen Interviews richteten sich an                                                                                                      Insbesondere in Ländern wie Ägypten,                                       Die Europäische Kommission hat in ihrer
Frauen und Männer, soziale und religiöse Au-                                                                                                   Dschibuti, Guinea, Mali, Sierra Leone, Soma-                               Mitteilung vom 25.11.2013 an das Europäi-
toritäten und Fachkräfte. Erweitert wurden                                                                                                     lia und im Norden des Sudan wird FGM_C                                     sche Parlament und den Rat Empfehlungen
diese durch Gruppendiskussionen mit soge-                                                                                                      häufig durchgeführt. So sind in den genann-                                zur Abschaffung der weiblichen Genitalver-

1
  Die Verfasser_innen verwenden in dieser Studie auch den Begriff ‚weibliche Genitalbeschneidung‘, da die Mehrheit der Befragten diesen        3
                                                                                                                                                   http://www.fgm-survey-tool.net/ [Stand: 19.12.2016]
  Begriff benutzt und durch die Wortwahl einer Stigmatisierung vorgebeugt werden soll.                                                         4
                                                                                                                                                   http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs241/en/
2
  Näheres zu Akkulturation im Kapitel 2.2 Zielsetzung der quantitativen Studie

6                                                                   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                              7
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xFokus der Studie                                                                                                                                                                                                          Fokus der Studiex

stümmelung formuliert. Eines der Ziele die-      oder bedrohten in Deutschland lebenden                                    ben daher diejenigen stumm, die in direkter                                befragten Frauen und Männer die Migration
ser Mitteilung lautet, ein besseres Verständ-    Mädchen und Frauen liefern. An erster                                     Weise von FGM_C betroffen sind, was zur                                    in ein FGM_C ablehnendes Land sowohl als
nis für die Problematik der weiblichen           Stelle sind die Studien von TERRE DES                                     Folge hatte, dass etliche Unterstützungs-                                  Hürde als auch als Chance sehen. So ist es
Genitalverstümmelung innerhalb der EU zu         FEMMES aus dem Jahr 2016 sowie die von                                    und Aufklärungsangebote aus unterschied-                                   zwar auf der einen Seite als betroffene Frau
erlangen. Hierzu wurden drei Maßnahmen           Behrendt et al. 2010 für Hamburg durch-                                   lichen Gründen an den Menschen vorbeigin-                                  schwer, in Deutschland adäquat medizinisch
formuliert (vgl. Europäische Kommission          geführte Studie „Listening to African                                     gen (vgl. Asefaw 2007; vgl. Behrendt 2011;                                 versorgt und begleitet zu werden, auf der
2013):                                           Voices – Female Genital Mutilation/Cutting                                vgl. Ihring 2006). Im Rahmen der Studie                                    anderen Seite bietet das Leben in einem Ein-
                                                 among Immigrants in Hamburg: Knowledge,                                   von Behrendt (2011) wurden neben der                                       wanderungsland erstmals die Möglichkeit,
• die Aufforderung des Europäischen Insti-       Attitudes and Practice“ zu nennen.                                        Erhebung von statistischen Daten auch                                      offen über FGM_C zu sprechen und die Prak-
tuts für geschlechtliche Gleichstellung                                                                                    qualitative Interviews mit insgesamt 685 be-                               tik zu hinterfragen (Ihring 2015: 166).
(EIGE), gemeinsame Methoden und Indika-          Unter Heranziehung von statistischen Daten                                troffenen Frauen und 1082 Männern durch-
toren zur Verbreitung von FGM zu entwi-          und unter der Annahme, dass sich die Zahl                                 geführt (Behrendt 2011: 7). Diese Interviews                               Zusammenfassend ist festzuhalten, wie
ckeln und die Zahl der von FGM gefährdeten       der Gefährdeten und Betroffenen pro Gene-                                 haben gezeigt, dass die große Mehrheit der                                 bedeutsam es für eine reale zukünftige
Frauen und Mädchen sowie die Zahl der von        ration halbiert, beziffert TERRE DES                                      Interviewpartner_innen gut über die negati-                                Abschaffung von FGM_C ist, betroffene
FGM betroffenen Frauen in der EU zu schätzen     FEMMES die Zahl der von FGM_C betroffe-                                   ven Konsequenzen von FGM_C informiert ist                                  Menschen direkt zu Wort kommen zu lassen.
• die Prüfung, inwiefern es möglich ist,         nen oder bedrohten in Deutschland leben-                                  und die meisten Befragten nicht länger an                                  Mithilfe qualitativer Forschung ist es mög-
quantitative und qualitative Erhebungen zur      den Frauen und Mädchen auf insgesamt                                      der Fortführung von FGM_C festhalten (Beh-                                 lich, individuelle Bedürfnisse, subjektive
weiblichen Genitalverstümmelung durchzu-         58.092 Personen (9.322 Gefährdete und                                     rendt 2011: 97ff.). Die Ergebnisse lassen ver-                             Handlungsstrategien und individuelle Ein-
führen                                           48.770 Betroffene). Die Schätzergebnisse                                  muten, dass ein Leben in einem FGM_C                                       stellungen zu FGM_C sichtbar zu machen.
• die Ermutigung der EU-Mitgliedsstaaten,        fußen auf der Betrachtung von 35 Ländern                                  ablehnenden Land in vielen Fällen dazu                                     Dieses erforschte Wissen kann der Entwick-
spezifische Indikatoren zur Genitalverstüm-      unter Berücksichtigung von Datenmaterial                                  führt, dass die Praktik in Frage gestellt und                              lung von sinnvollen, angemessenen und
melung zu entwickeln.                            des Statistischen Bundesamts zum Stich-                                   aufgegeben wird.                                                           nachhaltigen Unterstützungs- und Aufklä-
                                                 tag 31.12.2015. Mädchen und Frauen ohne                                                                                                              rungsangeboten dienen.
Infolgedessen veröffentlichte EIGE im            Papiere, bereits eingebürgerte Frauen und                                 Die Medizinerin Asefaw untersuchte im Rah-
Jahr 2015 eine Studie mit dem Titel „Esti-       gefährdete deutsche Mädchen wurden von                                    men ihrer Dissertation (2007) mithilfe qua-                                Aufgrund dieser Ausgangslage ergibt sich
mation of girls at risk of female genital mu-    TERRE DES FEMMES bei der Berechnung                                       litativer Interviews mit eritreischen Frauen,                              die Notwendigkeit, eine deutschlandweite
tilation in the European Union“. Ziel der        der Schätzergebnisse nicht berücksichtigt.                                welche physischen und psychischen Folgen                                   quantitative und qualitative Erhebung mit
Studie war es, einen methodischen Ansatz                                                                                   Betroffene zu erleiden und welche Erfahrun-                                nachfolgenden Zielsetzungen vorzunehmen.
zur Schätzung der von FGM_C betroffenen          Gemäß Behrendt et al. waren im Jahr 2011                                  gen sie im deutschen Gesundheitswesen
sowie bedrohten Mädchen und Frauen zu            902 Frauen von FGM_C in Hamburg betrof-                                   damit gemacht haben. Die Studie zeigt u.a.,
entwickeln, der als Bezugsrahmen für die         fen, während die Zahl der gefährdeten                                     dass betroffene Mädchen und Frauen beson-
Berechnung nationaler FGM_C-Raten in der         Mädchen mit Wohnsitz in Hamburg auf                                       ders nach der Migration in ein FGM_C ableh-
EU dienen sollte. Der von EIGE entwickelte       200 geschätzt wurde. Bei der Berechnung                                   nendes Land mit psychischen Problemen
Ansatz zeichnet sich durch die Kombination       der Schätzergebnisse wurden insgesamt                                     kämpfen, da der Eingriff im gesellschaft-
quantitativer und qualitativer Daten aus und     26 Länder betrachtet. Als Datenquelle nutz-                               lichen Kontext des Einwanderungslandes
zeigt zugleich eine Vielzahl an methodi-         ten Behrendt et al. das Zahlenwerk des Sta-                               an Sinn und Bedeutung verliert (Ase-
schen Herausforderungen auf. Dies betref-        tistischen Landesamts für Hamburg und                                     faw 2008: 69). Eine weitere Erkenntnis
fen insbesondere die Erhebung einer              Schleswig-Holstein. Analog zur Studie von                                 dieser Studie ist, dass Betroffene sehr
verlässlichen Datenlage sowie den Zugang         TERRE DES FEMMES wurden auch hier nur                                     viele negative Erfahrungen im deut-
zu den relevanten Zielgruppen mit Blick auf      registrierte Migrantinnen berücksichtigt.                                 schen Gesundheitswesen gesammelt haben
die Erhebung qualitativen Datenmaterials                                                                                   (ebd., S. 74).
(EIGE 2015a).                                    Neben den bislang nicht quantitativ erhobe-
                                                 nen Daten zur Verbreitung von FGM_C in                                    Im Rahmen der Dissertation von Ihring (2015)
Für Deutschland existieren bisher nur we-        Deutschland existierten auch kaum Studien,                                wurden ebenfalls betroffene Frauen und
nige Studien jüngeren Datums, die Schät-         die die Sichtweisen betroffener Menschen                                  Männer mittels qualitativer Interviews be-
zungen zur Zahl der von FGM_C betroffenen        dokumentieren. Über lange Zeit hinweg blie-                               fragt. Besonders hervorzuheben ist, dass die

8                                               Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                             9
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xFokus der Studie                                                                                                                                                                                                                               Fokus der Studiex

2.2 Zielsetzung der quantitativen Studie                                                                                                        2.3 Zielsetzung der qualitativen Studie

Mit der vorliegenden Studie soll ein wichti-                          Behrendt et al. sollte der Faktor ‚Akkultura-                             2.3.1 Inhaltliche Zielsetzung                                              sagen zu den Themenbereichen gesammelt
ger Beitrag zur Zielsetzung der Europäi-                              tion‘ explizit bei der Berechnung von Schätz-                                                                                                        und qualitativ ausgewertet werden sollten.
schen Kommission geleistet werden, die ein                            ergebnissen berücksichtigt werden. Die                                    Neben der quantitativen Erhebung soll ein                                  Am Ende der Auswertungen hat sich jedoch
besseres Verständnis für die Problematik                              gesammelten Informationen zum Faktor                                      weiterer Teil der Studie mittels einer quali-                              herausgestellt, dass in den verschiedenen
der weiblichen Genitalverstümmelung erlan-                            ‚Akkulturation‘ flossen in eines der drei Be-                             tativen Erhebung Einblicke in die subjekti-                                Städten spezifische Dynamiken und Schwer-
gen will. Im Fokus der quantitativen Studie                           rechnungsmodelle zur Schätzung der von                                    ven Lebensrealitäten, die Bedürfnisse und                                  punkte zu beobachten sind, die Hinweise auf
steht die Bestimmung der Zahl der von                                 FGM_C bedrohten Frauen und Mädchen ein                                    Wünsche der Migrant_innen geben, die in                                    erfolgreiche Entwicklungen hinsichtlich der
FGM_C betroffenen oder bedrohten Mäd-                                 und konnten so die Schätzergebnisse präzi-                                Deutschland leben.                                                         Abschaffung von FGM_C geben. Um diese
chen und Frauen in Deutschland.                                       sieren. Dies war auf Basis der Datengrund-                                                                                                           konkreten Erkenntnisse verwertbar zu ma-
                                                                      lage für sechs Herkunftsnationen möglich.5                                In einem speziellen Teil werden die Inter-                                 chen, wurden die städtischen Zusammen-
Die Analyse der amtlichen Statistik diente                                                                                                      viewten zu ihren Einstellungen zu FGM_C                                    hänge erkennbar dargestellt.
zudem der Vorbereitung vertiefender quali-                            Somit leistet diese Studie einen Beitrag zur                              befragt. Es ist wichtig, die Perspektive auf
tativer Untersuchungen. So konnten sechs                              Verbesserung der Datenlage. Jedoch blei-                                  den gesamtgesellschaftlichen Kontext in                                    Insofern gibt diese Studie Auskunft darüber,
regionale Schwerpunkte in Deutschland er-                             ben weiterhin Einschränkungen bestehen.                                   Deutschland miteinzubeziehen, um zu er-                                    welche Vorgehensweisen sich im Sinne
mittelt werden, in denen eine besonders                               So können Mädchen und Frauen aus FGM_C-                                   kennen, ob es wechselseitige Interaktionen                                 der Aufklärung der Communities und der
große Zahl an von FGM_C betroffenen                                   Herkunftsländern mit deutscher Staatsan-                                  gibt, die die Abschaffung von FGM_C bestär-                                Abschaffung von FGM_C als zielführend und
Frauen bzw. bedrohten Mädchen lebt. Diese                             gehörigkeit weiterhin nicht systematisch in                               ken können oder für sie hinderlich sind.                                   hilfreich erwiesen haben und wo noch
Schwerpunktregionen dienten INTEGRA,                                  die Betrachtung einbezogen werden. Dies                                                                                                              Lücken für Handlungsbedarf bestehen.
dem Netzwerk gegen weibliche Genitalver-                              wäre erforderlich, um die Zahl der von                                    Es gilt aufzuzeigen, welchen Anteil verschie-
stümmelung, als Ausgangspunkt für die                                 FGM_C bedrohten oder betroffenen Frauen                                   dene Gruppen an der Aufrechterhaltung von                                  Qualitative Studien stellen nicht den An-
Durchführung qualitativer Interviews mit re-                          und Mädchen noch besser schätzen zu kön-                                  FGM_C haben und wo sie für einen Beitrag                                   spruch einer vollständigen Erhebung, son-
levanten Zielgruppen (Betroffene, Bedrohte,                           nen. Aufgrund einer nicht verfügbaren bzw.                                zur Abschaffung der Praktik gewonnen wer-                                  dern beziehen sich immer auf die
und relevante Akteur_innen in den Commu-                              nicht ausreichend differenzierten Datenba-                                den können. Es sollen die Strukturen und                                   Beschreibung subjektiver Lebensrealitäten,
nities).                                                              sis konnten in dieser Studie nur Mädchen                                  Dynamiken beleuchtet werden, die im Hin-                                   was im Kapitel ‚Methodisches Vorgehen‘
                                                                      und Frauen aus FGM_C praktizierenden Her-                                 tergrund wirken und die Menschen in ihren                                  weiter ausgeführt wird.
In den von INTEGRA geführten Interviews                               kunftsländern mit ausländischer Staatsan-                                 Entscheidungen für oder wider FGM_C prä-
wurden neben den individuellen Bedürfnis-                             gehörigkeit betrachtet werden.                                            gen.                                                                       Für einen umfassenden Blick auf eine The-
sen, Notwendigkeiten, Motiven und Sicht-                                                                                                                                                                                   matik ergänzen sich quantitative und quali-
weisen der Zielgruppen auf FGM_C ebenso                                                                                                         Dabei soll vor allem den Erfahrungen, Ge-                                  tative Erhebungen und bedingen sich in der
der Faktor ‚Akkulturation‘ untersucht. Hier-                                                                                                    danken und Vorstellungen all derjenigen                                    Interpretation der Ergebnisse gegenseitig.
bei wird angenommen, dass das kulturelle                                                                                                        Ausdruck verliehen werden, die sonst nur
Umfeld die Einstellungen zu FGM_C beein-                                                                                                        wenig Gehör finden.                                                        In dieser hier vorliegenden Studie wurde
flussen kann. So ist davon auszugehen, dass                                                                                                                                                                                eine handlungsorientierte Lesart des ge-
bei Migration in Staaten, in denen FGM_C                                                                                                                                                                                   samten Datenmaterials verfolgt, um eine
nicht praktiziert wird, sich die Neigung,                                                                                                       2.3.2 Grenzen und Möglichkeiten                                            pragmatische Nutzung in Form von konkre-
FGM_C zu befürworten bzw. anzuwenden,                                                                                                           der qualitativen Studie                                                    ten Handlungsempfehlungen herauszuar-
unter den relevanten Personengruppen                                                                                                                                                                                       beiten, mit denen nachhaltige Maßnahmen
abschwächt (EIGE 2015a; ICF Internatio-                                                                                                         Die qualitative Studie war ursprünglich so                                 zur Abschaffung von FGM_C entwickelt wer-
nal 2015; Koustuv et al. 2015). Anders als in                                                                                                   angelegt, dass aus dem Gesamtpool der Er-                                  den können.
den Studien von TERRE DES FEMMES sowie                                                                                                          hebungen aller Städte anonymisierte Aus-

5
    Auch wenn 140 Somalier_innen an der Befragung teilgenommen haben, konnte für dieses Herkunftsland kein Akkulturationsfaktor
    berechnet werden. Für die relevanten Fragen (wie viele Töchter beschnitten wurden) liegen für Somalia nicht genügend Angaben vor,
    um Ausssagen treffen zu können.

10                                                                   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                             11
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xQuantitative Studie                                                                                                                                                                                 Quantitative Studiex

3. Quantitative Studie:                                                                                                   zum Stichtag 31.05.2016. Als Datengrund-
Schätzung der von weiblicher Genitalverstümmelung                                                                         lage wird die Ausländerstatistik des Statisti-
betroffenen oder bedrohten Mädchen und Frauen in Deutschland                                                              schen Bundesamts herangezogen, die auf
                                                                                                                          der Auswertung des Ausländerzentralregis-
                                                                                                                          ters (AZR) beruht. Das AZR ist eine bundes-
3.1 Untersuchungsbereiche                                                                                                 weite personenbezogene Datei, die zentral
                                                                                                                          vom Bundesamt für Migration und Flücht-
Im Folgenden werden die Untersuchungsbe-        Beschneidung weiblicher Genitalien einge-                                 linge (BAMF) geführt wird. Sie enthält Infor-
reiche der quantitativen Studie vorgestellt.    nommen wird.                                                              mationen über erfasste Ausländerinnen und
Hierbei wird zunächst auf die Zahl der be-                                                                                Ausländer, die sich in Deutschland zum
trachteten FGM_C-Herkunftsländer einge-         Drittens sind nach INTEGRA sowie TERRE                                    Stichtag aufhalten oder aufgehalten haben.
gangen. Zudem werden Art und Umfang der         DES FEMMES in Indonesien und Malaysia                                     Hierbei handelt es sich um Personen, die
Zielgruppen definiert, für die jeweils die      Tendenzen zu beobachten, wonach die Pra-                                  keinen deutschen Pass haben und sich nicht
Zahl der von FGM_C betroffenen oder be-         xis der FGM_C nicht zurü̈ckgehe, sondern                                  nur vorübergehend in Deutschland aufhal-
drohten Mädchen und Frauen geschätzt            eher zunehme. Zwar liegen hierfü̈r keine re-                              ten.
werden soll.                                    präsentativen Prävalenzen vor, es konnte
                                                jedoch auf Basis von Veröffentlichungen                                   Tabelliert werden unter anderem Staatsan-
                                                jeweils ein Schätzwert ermittelt werden.                                  gehörigkeit, Familienstand, Alter und Ge-
3.1.1 Länder                                                                                                              schlecht sowie Aufenthaltsdauer, Aufent-
                                                Aufgrund der schlechten Datenlage wird ex-                                haltsstatus und Aufenthaltstitel. Insbeson-
In dieser Studie werden 31 FGM_C-Her-           plizit darauf verzichtet, Länder wie Oman,                                dere die soziodemografischen Merkmale
kunftsländer in den Blick genommen.             Iran und Thailand zu berücksichtigen. Hier                                Staatsangehörigkeit, Alter sowie Geschlecht
                                                liegen keine (repräsentativen) Daten zur                                  bilden unabdingbare Variablen für die
So werden zunächst alle 29 Länder betrach-      FGM_C-Prävalenz in diesen Ländern vor.                                    Schätzung der von FGM_C bedrohten oder
tet, in denen weibliche Genitalverstümme-                                                                                 betroffenen Mädchen und Frauen mit Wohn-
lung durch nationale Erhebungen der                                                                                       sitz in Deutschland.
„Demographic and Health Surveys“ (DHS)          3.1.2 Zielgruppen
dokumentiert ist. Darüber hinaus wurde im
fachlichen Austausch mit den Vertreterin-       Aufgrund der Tatsache, dass keine ausrei-
nen von INTEGRA entschieden, die Länder         chend differenzierten Daten über in
Indonesien und Malaysia mit einzubeziehen.      Deutschland eingebürgerte Frauen aus
Diese Entscheidung fußt auf drei Argumen-       FGM_C-Risikoländern verfügbar sind, kann
ten:                                            diese Studie lediglich die Teilpopulation der
                                                ausländischen Mädchen und Frauen erster
Erstens ist fü̈r diese Länder insgesamt von     und zweiter Migrantengeneration (also ohne
hohen Prävalenzraten auszugehen, sodass         deutsche Staatsangehörigkeit) untersuchen.
auch in Deutschland die Wahrscheinlichkeit      Grundsätzlich unterschätzen die in dieser
groß ist, dass Frauen und Mädchen von           Studie erhobenen Zahlen deshalb die tat-
FGM_C betroffen bzw. gefährdet sind.            sächliche Zahl der sich in Deutschland auf-
                                                haltenden von FGM_C bedrohten oder
Zweitens hat eine Fatwa aus dem Jahr 2009       betroffenen Frauen und Mädchen.
die Beschneidung weiblicher Genitalien in
Malaysia zur Pflicht gemacht. In Indonesien     Die nachfolgende Tabelle 1 liefert einen
veröffentlichte der indonesische Rat der        Überblick zu den in Deutschland lebenden
Muslimgelehrten (MUI) 2008 eine Fatwa, in       Frauen und Mädchen ohne deutsche Staats-
der eine neutrale Haltung gegenü̈ber der        angehörigkeit aus FGM_C-Risikoländern

12                                             Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                     13
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xQuantitative Studie                                                                                                                                                                                                                                  Quantitative Studiex

     Tabelle 1: Zahl der Frauen und Mädchen ohne                                                                                                   3.2 Methodisches Vorgehen
     deutsche Staatsangehörigkeit aus FGM_C-Risikoländern
                                                                                                                                                   Mit der „Studie zur Schätzung der Anzahl                                   und Genauigkeit der Schätzergebnisse aus-
                                                                                                                                                   der von FGM bedrohten Mädchen in der EU“                                   wirkt. Der Schritt-für-Schritt-Leitfaden defi-
                                                                                                                                                   ist von EIGE ein methodischer Bezugs-                                      niert ein 4-Phasen-Modell, welches sich
                                                                                                                                                   rahmen etabliert worden, der in einen                                      insgesamt aus 16 methodischen Schritten6
                                                                                                                                                   Schritt-für-Schritt-Leitfaden übersetzt wurde                              zusammensetzt (vgl. Abbildung 1).
                                                                                                                                                   (EIGE 2015b). Der in diesem Leitfaden for-
                                                                                                                                                   mulierte „Methodische Ansatz zur Schät-                                    Im Folgenden werden die wichtigsten theo-
                                                                                                                                                   zung des FGM-Risikos in der EU“ legt die                                   retischen Überlegungen hinter den vier Pha-
                                                                                                                                                   Mindestanforderungen für das Schätzen des                                  sen skizziert sowie deren Anwendung und
                                                                                                                                                   FGM_C-Risikos fest und liefert zugleich eine                               Stand der Umsetzung im Rahmen der vor-
                                                                                                                                                   Vielzahl an relevanten Leitlinien, die der                                 liegenden Studie dargestellt.
                                                                                                                                                   Verbesserung der Qualität und Genauigkeit
                                                                                                                                                   von Schätzergebnissen dienen.
                                                                                                                                                                                                                              3.2.1 Forschungsstand
                                                                                                                                                   Die Verwendung dieses methodischen An-
                                                                                                                                                   satzes zeichnet sich durch zwei grundsätz-                                 Die erste Phase ist darauf ausgelegt, die
                                                                                                                                                   liche Vorzüge aus.                                                         jü̈ngsten Forschungsergebnisse zu Präva-

                                                                                                                                                         Abbildung 1: 4-Phasen-Modell nach EIGE

                                                                                                                                                   • Erstens gewährleitstet die Verwendung                                    lenz und Risiko von FGM_C in den betrach-
                                                                                                                                                   des von EIGE entworfenen methodischen                                      teten Ländern zu sichten. Ferner gilt es, sich
                                                                                                                                                   Rahmens die Vergleichbarkeit von Ergebnis-                                 mit den jü̈ngsten Erkenntnissen in Hinblick
                                                                                                                                                   sen auf der EU-Ebene.                                                      auf die Einflussfaktoren Zuwanderung und
                                                                                                                                                   • Zweitens wird neben einer quantitativen                                  Akkulturation auf Einstellung und Verhal-
                                                                                                                                                   ebenso eine qualitative Komponente be-                                     tensweisen gegenü̈ber FGM_C auseinander-
                                                                                                                                                   rücksichtigt, was sich positiv auf die Qualität                            zusetzen.
     Quelle: Bundesamt für Migration und Flü̈chtlinge (2016): Ausländerstatistik (Stichtag: 31.5.2016)

Anmerkungen: * Die für Indonesien und Malaysia ausgewiesenen Prävalenzraten basieren lediglich auf Schätzungen. Hierbei wurde                     6
                                                                                                                                                       An dieser Stelle wird auf eine kleinteilige Darstellung der 16 methodischen Schritte verzichtet. Diese können dem Schritt-fü̈r-Schritt-
jeweils nur ein Wert für die weibliche Gesamtbevölkerung geschätzt, infolgedessen eine Differenzierung der Prävalenzrate nach den                     Leitfaden zur „Schätzung der Anzahl der Mädchen, die in der Europäischen Union von weiblicher Genitalverstümmelung bedroht sind“
Altersgruppen 15-19 Jahre und 15-49 Jahre nicht möglich ist.                                                                                           (vgl. EIGE 2015b) entnommen werden.

14                                                                      Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                                               15
Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland - Daten - Zusammenhänge - Perspektiven
xQuantitative Studie                                                                                                                                                                                                                             Quantitative Studiex

In der ersten Phase der Studie wurde eine                               drohten Frauen und Mädchen möglichst prä-
Vielzahl an nationalen und internationalen                              zise schätzen zu können, hierunter:                                           Tabelle 2: Prävalenzraten und mittleres FGM_C-Alter
Studien jüngeren Datums gesichtet, in deren
Fokus die Schätzung der Zahl von FGM_C                                  • Größe der weiblichen Population im Ziel-
bedrohten oder betroffenen Mädchen und                                  land getrennt nach Herkunftsland, einjähri-
Frauen steht. Zu den wichtigsten nationalen                             ger Altersgruppe sowie erster und zweiter
und internationalen Studien zählen:                                     Generation
                                                                        • Nationale Prävalenzraten in den betrach-
Behrendt, Alice et al. (2011): Listening to                             teten Herkunftsländern
African Voices – Female Genital Mutilation/                             • FGM_C-Durchschnittsalter in den betrach-
Cutting among Immigrants in Hamburg:                                    teten Herkunftsländern
Knowledge, Attitudes and Practice.
                                                                        Wie bereits in Kapitel 3.1 dargelegt, liefert
EIGE (2015a): Estimation of girls at risk of                            die Ausländerstatistik des Statistischen Bun-
female genital mutilation in the European                               desamts eine qualitativ hochwertige Daten-
Union.                                                                  quelle zur Zahl der in Deutschland lebenden
                                                                        Ausländerinnen, die neben Herkunft ebenso
Koustuv, Dalal et al. (2015): Female genital                            Informationen zum Alter sowie Generations-
mutilation: a multi-country study, in: Health-                          zugehörigkeit ausweist.
MED, Vol. 9 (No. 4), 161-167.
                                                                        Im Hinblick auf die Bestimmung der natio-
Leye, Els et al. (2014): Towards a better es-                           nalen Prävalenzraten sowie des jeweiligen
timation of prevalence of female genital mu-                            FGM_C-Durchschnittsalters in den betrach-
tilation in the European Union: interpreting                            teten 31 FGM_C-Risikoländern wurde auf die
existing evidence in all EU Member States,                              Erhebungen des „Demographic and Health
in: Genius, LXXX (No. 1), 99-121.                                       Surveys“ des ICF International aus dem
                                                                        Jahr 2015 zurückgegriffen (ICF Internatio-
Ortensi, Livia Elisa et al. (2015): Impro-                              nal 2015). Die nachfolgende Tabelle 2 gibt
ving estimates of the prevalence of Female                              einen Überblick zu den nationalen Präva-
Genital Mutilation/Cutting among migrants                               lenzraten in Verbindung mit den betrachte-
in Western countries, in: Demographic re-                               ten Zielgruppen. Hierbei ist zu beachten,
search, Volume 18, Article 18, 543-562.                                 dass die Prävalenzrate entsprechend der
                                                                        Bevölkerungsgruppe, der die Mädchen und
TERRE DES FEMMES (2016): Dunkelzif-                                     Frauen angehören, differieren kann. In Tan-
ferstatistik zur weiblichen Genitalverstü̈m-                            sania und Kenia leben beispielsweise die Be-
melung in Deutschland.                                                  völkerungsgruppen der Massai und der Luo.
                                                                        Die Massai praktizieren FGM_C, teilweise
                                                                        auch die Infibulation, während die Mädchen
3.2.2 Quantitative Komponente                                           der Luo nicht beschnitten werden.

Die Umsetzung von Phase 4 „Schätzen des                                 Ziyda und Kollegen (2016) argumentieren7,
FGM_C-Risikos“ erfordert eine Vielzahl an                               dass vor einem Migrationshintergrund die
                                                                                                                                                      Quelle: ICF International (2015): Demographic and Health Surveys; Berechnungen Ramboll Management Consulting. Unicef (2016)
unterschiedlichen Daten, um die Anzahl der                              Schätzung der Zahl gefährdeter Mädchen
in einem EU-Mitgliedsstaat von FGM_C be-                                nicht durch das durchschnittliche Beschnei-

7
    In Berufung auf einen Artikel von Mergaert, Exterkate, O’Brien, Strid und Leye (2015) ü̈ber Möglichkeiten zur Bestimmung der Zahl von         * Die fü̈r Indonesien und Malaysia ausgewiesenen Prävalenzraten basieren lediglich auf Schätzungen. Hierbei wurde jeweils nur ein Wert
    Mädchen, die in Gefahr sind, Opfer von FGM zu werden.                                                                                           fü̈r die weibliche Gesamtbevölkerung geschätzt, infolgedessen eine Differenzierung der Prävalenzrate nach den Altersgruppen
                                                                                                                                                    15-19 Jahre und 15-49 Jahre nicht möglich ist.

16                                                                     Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                                          17
xQuantitative Studie                                                                                                                                                                                                                      Quantitative Studiex

dungsalter im Herkunftsland beschränkt                             zeigt deutlich, dass das mittlere Beschnei-                               schnittliche FGM_C-Alter des Herkunftslan-                                 weder realistisch, dass überhaupt keine
werden sollte. Die Aufrechterhaltung dieser                        dungsalter für Mädchen der zweiten Gene-                                  des noch nicht überschritten haben. Dieses                                 oder aber vollkommene Akkulturation er-
Traditionen und Riten des Herkunftslandes,                         ration tendenziell höher ausfällt als das                                 alternative Modell findet sich im Anhang                                   folgt. Ziyada et al. sowie das Europäische In-
welche ein spezifisches Alter für den FGM_C                        bekannte durchschnittliche FGM_C-Alter                                    dieses Berichts.                                                           stitut für Gleichstellungsfragen (EIGE 2015)
Akt vorsehen, verliert zunehmend an Be-                            im Herkunftsland laut „Demographic and                                                                                                               empfehlen deshalb, statt eines binären Fak-
deutung nach der Zuwanderung. Dadurch                              Health Surveys“.                                                                                                                                     tors einen empirischen Wert zwischen
verschiebt sich das Alter bei Mädchen, in                                                                                                    3.2.3 Qualitative Komponente                                               0 und 1 zu bestimmen. Hierdurch kann ein
welchem FGM_C bei ihnen durchgeführt                               Aus diesem Grund wurde entschieden, bei                                                                                                              gradueller Einfluss der Migration beschrie-
wird – meist nach oben, da die Gelegenheit                         der Schätzmethode vom EIGE-Leitfaden ab-                                  Die qualitative Komponente des Untersu-                                    ben werden.
zur Beschneidung wichtiger wird. Eine sol-                         zuweichen: Statt bei der Schätzung nur                                    chungsdesigns hat die Bemessung des Ein-
che Beschränkung der Zahl bedrohter Mäd-                           Mädchen zu berücksichtigen, die das durch-                                flusses von Zuwanderung und Akkulturation                                  Durch unseren Kooperationspartner für den
chen würde dementsprechend zu einer                                schnittliche FGM_C-Alter des Herkunftslan-                                auf Einstellungen und Verhaltensweisen ge-                                 qualitativen Teil der Studie – das Netzwerk
Unterschätzung der tatsächlichen Zahl der                          des noch nicht überschritten haben, werden                                genüber FGM_C zum Gegenstand. Anders                                       INTEGRA – konnten für sechs der 31 betrach-
Bedrohten führen. Deshalb sollte man statt-                        alle Mädchen zwischen 0-18 Jahren bei der                                 als im Fall der quantitativen Komponente,                                  teten Herkunftsländer (Äthiopien, Eritrea,
dessen alle Mädchen zwischen 0-18 Jahren                           Schätzung berücksichtigt. So wird die                                     legt der EIGE Schritt-für-Schritt-Leitfaden                                Gambia, Guinea, Kenia und Senegal) mittels
als potentiell bedroht klassifizieren und zur                      Gefahr minimiert, die Anzahl der bedrohten                                kein standardisiertes Verfahren fest, wel-                                 Fragebögen zusätzlich quantitative Daten
Bestimmung der Zahl der Bedrohten heran-                           Mädchen aufgrund von Einflüssen der                                       ches zur Anwendung kommen soll. Vielmehr                                   erhoben werden, die in die Bestimmung
ziehen. Auch die Hamburger Studie von                              Migration auf die Praxis von FGM_C zu un-                                 ist es den Forscher_innen freigestellt, ob die                             eines Akkulturationsfaktors für die Berech-
Behrendt et al. 2011 hat u.a. gezeigt, dass es                     terschätzen.                                                              Erfassung von Einflüssen über Fokusgrup-                                   nung der in Deutschland bedrohten Mäd-
                                                                                                                                             pengespräche, gründliche Befragungen,                                      chen einfließen.
                                                                                                                                             Umfragen und/oder gemeinschaftsbasierte
     Tabelle 3: Vergleich des durchschnittlichen Beschneidungs-                                                                              partizipative Forschung erfolgt. Welche                                    Für die Berechnung eines solchen Faktors
     alters der Befragten mit dem durchschnittlichen Beschnei-                                                                               Methoden und in welcher Kombination diese                                  auf Grundlage der von INTEGRA erhobenen
     dungsalter im Herkunftsland                                                                                                             angewandt werden, hängt nicht zuletzt von                                  Daten fließen die Angaben von insgesamt
                                                                                                                                             den Forschungsfragen, der Zielgruppe sowie                                 123 Befragten der ersten Migrantengenera-
                                                                                                                                             deren Besonderheiten ab. Ziyada, Norberg-                                  tion mit Herkunft aus einem der sechs be-
                                                                                                                                             Schulz und Johansen (2016) beschreiben                                     trachteten Herkunftsländer ein.
                                                                                                                                             den Migrations- und Akkulturationsfaktor als
                                                                                                                                             binären Faktor, der zur Berechnung zweier                                  In den geführten Interviews wurde erhoben,
                                                                                                                                             idealtypischer Szenarien führt.                                            ob und wenn ja wie viele Töchter die Befrag-
                                                                                                                                                                                                                        ten haben, ob diese in Deutschland leben
                                                                                                                                             • Szenario 1 beschreibt eine vollkommene                                   und ob diese beschnitten wurden. Zwar wird
                                                                                                                                             Akkulturation im Sinne einer Anpassung der                                 in der von EIGE entwickelten Formel zur Be-
                                                                                                                                             eigenen Einstellung bezüglich kultureller                                  rechnung der Zahl bedrohter Mädchen und
                                                                                                                                             Praxen an die des Migrationslandes. Der Ak-                                Frauen formal für den Akkulturationsfaktor
                                                                                                                                             kulturationsfaktor beträgt hierbei 1.                                      keine Unterscheidung zwischen erster und
                                                                                                                                             • In Szenario 2 beträgt der Akkulturations-                                zweiter Generation getroffen. Der Akkultu-
                                                                                                                                             faktor 0: Es wird also davon ausgegangen,                                  rationsfaktor wird sich jedoch für die zweite
     Quelle: ICF International (2015): Demographic and Health Surveys; INTEGRA Befragungen 2016, Berechnungen Ramboll Manage-                dass die Migration keinerlei Einfluss auf die                              Generation der Töchter anders darstellen,
     ment. N pro Land zwischen 24 und 254)
                                                                                                                                             Einstellung der Zugewanderten hat und                                      als im Herkunftsland, da sich nur für diese
                                                                                                                                             damit die Gefahr einer Beschneidung ge-                                    laut Ziyada und Kollegen ein Effekt der Ein-
nicht zuverlässig ist, die Prävalenzzahlen aus                     Zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit zu                                nauso groß wie im Herkunftsland bleibt.                                    wanderung erwarten lässt.
den Heimatländern einfach zu übertragen.                           Schätzungen aus anderen EU-Staaten nach
                                                                   der EIGE-Methode wurde ergänzend ein Mo-                                  Die beiden Szenarien skizzieren theoretisch                                Ein Kriterium bei der Auswahl der zu be-
Die Befragungsergebnisse von INTEGRA                               dell gerechnet, das bei der Schätzung nur                                 den Bereich, in dem sich der Einfluss durch                                trachtenden Anzahl an Mädchen zweiter Ge-
stützen die These auch empirisch. Tabelle 3                        Mädchen berücksichtigt, die das durch-                                    Akkulturation bewegen kann. Es ist jedoch                                  neration ist das Herkunftsland der Mutter.

18                                                                Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                              19
xQuantitative Studie                                                                                                                                                                                                   Quantitative Studiex

Ziyada und Kollegen (2016) argumentieren         valenz der in Deutschland lebenden Töchter                                Bei der Berechnung der Schätzergebnisse                                    In die Schätzungen können aufgrund der
zwar, dass lediglich Töchter gefährdet sind,     wurde berechnet, indem die Anzahl der                                     kommt die sogenannte „Methode der Extra-                                   eingeschränkten Datenlage lediglich Frauen
bei denen beide Elternteile aus einem Land       Mädchen in unserer Stichprobe, welche                                     polation der Prävalenzdaten aus FGM_C-                                     und Mädchen aus FGM_C-Risikoländern
kommen, in dem FGM_C eine gängige Praxis         FGM_C erfahren haben und in Deutschland                                   praktizierenden Ländern“ zum Einsatz.                                      ohne deutsche Staatsangehörigkeit einbe-
ist. EIGE definieren in ihrem Report von 2015    leben, in das Verhältnis gesetzt wurde zur                                Dabei handelt es sich um eine effiziente                                   zogen werden. Der Einfluss von Generati-
jedoch auch Mädchen zweiter Generation           Anzahl aller in Deutschland lebenden Töch-                                Schätzmethode, bei der lediglich wenige                                    onseffekten wurde berücksichtigt, während
als Risikogruppe, die entweder selbst in         ter (unabhängig vom Beschneidungsstatus),                                 Faktoren bei der Berechnung einbezogen                                     der Faktor Akkulturation mangels qualitati-
einem Risikoland geboren sind oder nur           deren Eltern befragt wurden. Äquivalent                                   werden müssen, wobei Einflussfaktoren wie                                  ver und quantitativer Daten für den Großteil
deren Mütter in einem Risikoland geboren         dazu wurde die Feldprävalenz der in Afrika                                Zuwanderung und Akkulturation trotzdem                                     der betrachteten Herkunftsnationalitäten
sind. Ein weiteres Kriterium, das gewöhnlich     lebenden Mädchen zweiter Generation aus                                   berücksichtigt werden (können). Mit Einbe-                                 (25 von 31 Ländern) nicht zur Verfügung
zur Bestimmung der Anzahl potentiell be-         der Stichprobe ermittelt.                                                 ziehung der quantitativen und qualitativen                                 standen.
drohter Mädchen zweiter Generation heran-                                                                                  Komponenten stellt sich die anzuwendende
gezogen wird, ist das durchschnittliche          Der Akkulturationsfaktor wird nun bestimmt                                Formel wie folgt dar:
Beschneidungsalter im Herkunftsland der          als das Verhältnis dieser beiden Feldpräva-
Mutter. Die Eignung dieses Kriteriums vor        lenzen. Auf diese Weise werden Faktoren
dem Hintergrund der Migration wird aller-        wie Bildung oder sozialer Status der Eltern
dings sowohl von EIGE als auch von Ziyada        konstant gehalten. Dies wäre nicht der Fall,
und Kollegen (2016) angezweifelt, da beide       wenn man die Feldprävalenz der in Deutsch-
davon ausgehen, dass das Risiko der Be-          land lebenden Töchter zum Beispiel mit der
                                                                                                                                       xc = (ac=first * pc * (1-m)) + (ac=second * pc * (1-m))
schneidung nach der Migration in ein Land,       nationalen Prävalenz im Herkunftsland ver-
in welchem FGM_C gesetzlich verboten ist,        gleichen würde, da hier zwei sehr viel hete-
weniger vom Alter der Mädchen als von der        rogenere Gruppen als Grundlage des
                                                                                                                                       xc = Anzahl der von FGM_C bedrohten Mädchen, die aus einem bestimmten
Gelegenheit abhängt, FGM_C durchzufüh-           Vergleichs herangezogen werden würden.
                                                                                                                                       Land stammen, in dem FGM_C dokumentiert ist, und in einem EU-Mitglieds-
ren.                                             Laut Ziyada und Kollegen (2016) sind Mi-
                                                                                                                                       staat leben;
                                                 grant_innen gewöhnlich jünger, wohlhaben-
Mit anderen Worten: Das traditionelle durch-     der und gebildeter als im Heimatland
schnittliche Beschneidungsalter, stellt sich     verbliebene Personen, weshalb ein Ver-                                                ac=first = Mädchen der ersten Generation (aus einem bestimmten Land, in
im Aufnahmeland anders dar. Die Beschnei-        gleich zwischen diesen beiden Gruppen
                                                                                                                                       dem FGM_C dokumentiert ist), die im Bezugsjahr noch nicht das im Herkunfts-
dung findet tendenziell später statt, sobald     schwierig ist.
                                                                                                                                       land übliche Durchschnittsalter für die Beschneidung erreicht hatten;
sich die Gelegenheit dazu ergibt, z.B. wird
sie im Rahmen eines ‚Urlaubsaufenthalts‘ im
Herkunftsland nachgeholt. Der Einbezug des       3.2.4 Schätzen des FGM_C-Risikos                                                     ac=second = Mädchen der zweiten Generation (geboren in einem EU-Mitglieds-
durchschnittlichen herkunftsspezifischen
                                                                                                                                      staat von einer Mutter aus einem bestimmten Land, in dem FGM_C dokumen-
FGM_C-Alters in das Berechnungsmodell            Die Schätzung des FGM_C-Risikos für die be-
                                                                                                                                      tiert ist), die im Bezugsjahr noch nicht das im Herkunftsland übliche Durch-
würde die Anzahl der tatsächlich bedrohten       trachteten Herkunftsländer fußt auf den in
                                                                                                                                      schnittsalter für die Beschneidung erreicht hatten;
Mädchen damit unterschätzen. Aus diesem          den Phasen 2 und 3 erhobenen quantitati-
Grund wurde die Anzahl der potentiell be-        ven und qualitativen Daten. Aufgrund der
                                                                                                                                       pc = nationale Prävalenzrate der Altersgruppe 15-19 für das bestimmte Land
drohten Mädchen zweiter Generation an der        besonderen Herausforderungen bei der Be-
                                                                                                                                       (geteilt durch 100);
Altersgrenze 18 Jahre beschränkt.                urteilung des Risikos (und der Prävalenz)
                                                 von FGM_C wird die Risikoschätzung in
                                                                                                                                       m = Faktor Einfluss von Zuwanderung und Akkulturation (zwischen 0 und 1).
Als Berechnungsgrundlage für den Akkultu-        einem Intervall (mit einer oberen und einer
rationsfaktor dienten zwei Größen – die Feld-    unteren Grenze angegeben). Die Angabe
prävalenz der in Deutschland lebenden            einer Unter- und Obergrenze definiert somit
Töchter (= Anteil der Mädchen zweiter Ge-        das Schätzintervall, innerhalb dessen die ge-
neration, bei denen FGM_C durchgeführt           naue Zahl der von FGM_C betroffenen bzw.
wurde) und die Feldprävalenz der nicht in        bedrohten Mädchen und Frauen vermutet
Deutschland lebenden Töchter. Die Feldprä-       wird.

20                                              Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland   Eine empirische Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland                                            21
xQuantitative Studie                                                                                                                                                                                                                            Quantitative Studiex

3.3 Ergebnisse der quantitativen Studie
                                                                                                                                                   Tabelle 4: Zahl der von FGM_C betroffenen Frauen
                                                                                                                                                   in Deutschland (ohne deutsche Staatsangehörigkeit)
                                                                                                                                                   (Stichtag: 31.05.2016)
Im Folgenden werden die Schätzergebnisse                             ohne Einbezug des mittleren Beschnei-
der von FGM_C betroffenen oder bedrohten                             dungsalters. Es fließen alle 0 bis 18 Jährigen
Mädchen und Frauen dargestellt.                                      Mädchen in die Berechnung ein. Es werden
                                                                     zwei Szenarien gegenübergestellt. Das Mini-
• In Kapitel 3.3.1 wird zunächst die Anzahl der                      malszenario geht von einer vollkommenden
betroffen Frauen über 18 Jahren beziffert.                           Akkulturation aus (in der zweiten Genera-
• In Kapitel 3.3.2 wird die Anzahl der bedroh-                       tion werden keine Genitalverstümmelungen
ten Mädchen unter 18 Jahren geschätzt.                               mehr vorgenommen). Das Maximalszenario
Hierbei wird jeweils von einem Minimal-                              geht von keiner Akkulturation aus (auch in
Szenario (vollkommende Akkulturation)                                der zweiten Generation werden Genital-
und einem Maximal-Szenario ausgegangen                               verstümmelungen ungemindert vorgenom-
(keine Akkulturation). Im Ergebnis steht ein                         men). Aus diesen zwei Szenarien ergibt sich
Intervall, in dem die Anzahl der bedrohten                           folgendes Intervall.
Mädchen in Deutschland anzunehmender
Weise liegt.                                                         Die Zahl der von FGM_C bedrohten Mäd-
• In Kapitel 3.3.3 wird das Berechnungsmodell                        chen in Deutschland (ohne deutsche
für sechs ausgewählte Länder durch einen                             Staatsangehörigkeit) liegt zum Stichtag
empirisch ermittelten Akkulturationsfaktor                           31.12.2015 anzunehmender Weise in einem
modifiziert.                                                         Intervall zwischen 1.558 und 5.684 Mäd-
                                                                     chen.

3.3.1 Schätzergebnisse zur Zahl von
FGM_C betroffener Frauen in Deutschland                              3.3.3 Erweiterung des Modells: Einbezug
                                                                     eines empirischen Akkulturationsfaktors
Tabelle 4 beziffert zunächst die Zahl der von
FGM_C betroffenen Frauen in Deutschland.                             Im Folgenden wird die Zahl der von FGM_C
Die Zahl der von FGM_C betroffenen Frauen                            bedrohten ausländischen Mädchen unter
in Deutschland (ohne deutsche Staatsange-                            18 Jahren in Deutschland für sechs Länder
hörigkeit) beträgt mindestens 47.359. Die                            in einem erweiterten Modell geschätzt.
meisten dieser betroffenen Frauen stammen                            Unter Einbezug des empirischen ermittelten
aus Eritrea, Indonesien, Somalia, Ägypten                            Akkulturationsfaktors können für Äthiopien,
und Äthiopien.                                                       Eritrea, Gambia, Guinea, Kenia und Senegal
                                                                     differenzierte Ergebnisse erzielt werden. Es
                                                                     kommt jeweils ein Akkulturationsfaktor zum
3.3.2 Modell zur Schätzung der Zahl von                              Tragen, der überwiegend einen dämpfenden
FGM_C bedrohten Mädchen unter 18 Jahren                              Einfluss auf das Risiko und damit die Größe                                   Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016): Ausländerstatistik (Stichtag: 31.5.2016); ICF International (2015): Demo-
in Deutschland                                                       der anzunehmenden Fallzahlen hat. Hieraus                                     graphic and Health Surveys. Unicef (2016); Berechnungen Ramboll Management Consulting.
                                                                     ergeben sich die in Tabelle 6 dargestellten
Tabelle 5 veranschaulicht die Zahl der von                           Schätzungen zur Zahl der bedrohten Mäd-
FGM_C bedrohten Mädchen in Deutschland                               chen aus den jeweiligen Herkunftsländern.

* Die fü̈r Indonesien und Malaysia ausgewiesenen Prävalenzraten basieren lediglich auf Schätzungen. Hierbei wurde jeweils nur ein Wert
  fü̈r die weibliche Gesamtbevölkerung geschätzt, infolgedessen eine Differenzierung der Prävalenzrate nach den Altersgruppen
  15-19 Jahre und 15-49 Jahre nicht möglich ist.

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